Samuel Mumenthaler: «HOT! Jazz als frühe Popkultur»

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«HOT!» ist eine kritische Hommage an die Tanzorchester, die den Jazz in der Schweiz populär machten. «HOT!» erzählt die frühen Geschichten des Jazz, der vor ­hundert Jahren die Schweiz erreichte. Dieser Jazz war nicht Kunst-, sondern Tanzmusik. In den Hotels der Touristenorte, in Dancings und Kellern feierten die Menschen trotz strenger Zeiten zum heissen Sound der Kapellen. «HOT!» bricht eine Lanze für die hart arbeitenden Swing-­ Saisonniers dieser Ära, die oft Gegenwind hatten. Viele sind ­vergessen, auch die Stars ihrer Zeit. Doch ohne Jazzorchester und Tanzbands gäbe es keine Popkultur. Ihr Rhythmus war ein Treiber des gesellschaftlichen Umbruchs. «HOT!» ist ein Stück Musik- und Mediengeschichte und wirft Streiflichter auf erste Jugendbewegungen. Mit neuen Recherchen zu Teddy Stauffer und seinen Original Teddies, Hazy ­Osterwald und vielen anderen Protagonistinnen und Protagonisten.

ISBN 978-3-7296-5150-0

SAMUEL MUMENTHALER

TEDDY, HAZY UND DER ALPENSWING

JAZZ ALS FRÜHE POPKULTUR Samuel Mumenthaler



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© 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Tina Uhlmann Korrektorat: Tobias Weskamp Gestaltung, Layout: Martin Schori Coverfoto: © Armin Haab / Fotostiftung Schweiz Druck: BALTO print, Litauen ISBN: 978-3-7296-5150-0 www.zytglogge.ch


JAZZ ALS FRÜHE POPKULTUR Samuel Mumenthaler



INHALT 6 FUCK ART, LET’S DANCE Einleitung 12

BERLIN, 14. JULI 1936

16 WER HAT DEN KÄSE ZUM BAHNHOF GEROLLT? Die Anfänge der Tanzorchester in der Schweiz 40 TECHNOLOGIESCHÜBE Schallplatte und Radio als Treiber des Jazz 54 MANCHE MÖGENS HEISS Musiker-Elend und Jazz-Enthusiasten 72 TANZ AUF DEM VULKAN Teddy Stauffers sagenhafte Karriere im Dritten Reich 119

AROSA, 22. DEZEMBER 1950

124 DIE ZWEITE STUNDE NULL Der Krieg als Schock und Chance 142 GEH RAUS UND VERKAUFS! Frauenpower, Mundartschlager und eine Flucht ins Exil 158 JE SUIS SWING Swinggirls, Swingboys und die Welle des Amerikanismus 178 YOUNG MAN WITH A HORN Hazy Osterwalds Lehrjahre als Bandleader 209

ZÜRICH, 24. NOVEMBER 1964

212 DURCHHÖRJAZZ Cedric Dumont erfindet den Beromünster-Sound 222 IM LAND DER TAUSEND AMATEURE Stenze, Bopper, Kellerratten und Festivalgänger 244 GEHN SIE MIT DER KONJUNKTUR Zwei Bandleader in der Entertainment-Falle 262 ROLL OVER OSTERWALD Jazz wird Pop - bis die Beatles kommen 291

ANHANG


FUCK ART, LET̕S DANCE


FUCK ART, LET̕ S DANCE

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ass zu Musik getanzt wird, ausgelassen und unbekümmert, dem Schicksal trotzend, manchmal auch wild, wird von vielen «ernsthaft» Musik­interessierten mit einem Lächeln quittiert. Sie interessieren sich nicht für den Tanz als Gesellschaftsspiel und -spiegel und den Kater nach der längst verrauschten Party. Sie sehen eine populäre ­Musik wie den Jazz als Kunstform, als kulturelles Jahrhundertphänomen. Wie die Kunstkritiker bevorzugen auch viele Musikhistoriker die abstrakte Ausdrucksweise. Wer sich unter die Leute begibt, für sie aufspielt, um sie zu amüsieren und in Bewegung zu versetzen, dem blüht das schnelle Vergessen. Im besten Falle bleiben solche «funktionalen» Musiker als «Kunsthandwerker» in ­Erinnerung, wie es der Schweizer Jazzchronist Otto Flückiger formuliert hat. Die Musik des Alltags, die keinen Kunstanspruch erhebt oder post festum verliehen bekommt, sich nicht um diesen kümmert oder gar ­dagegen auflehnt, stösst auf wenig Gegenliebe. Diese Geringschätzung schlug – und schlägt – nicht nur den tanzbaren Spielarten des Jazz entgegen, sondern auch dem Schlager, Rock ’n’ Roll, Beat, Punk und anderen Musikstilen, die nahe bei ihren jugendlichen Zielgruppen waren. Nicht, dass das zu beklagen wäre. Denn populäre Musik wird aus dem Moment heraus gespielt und erhebt keinen Anspruch auf Ewigkeit. Statt der hehren Muse widmet sie sich dem Hormonhaushalt, statt ein beständiges Werk zu schaffen, will sie den Zeitgeist aufgreifen. Es muss schnell gehen in der populären Musik. Denn viele der Musiker, die in Cabarets, Cafés und Clubs spielen, sind auf die Einnahmen ­angewiesen, die ihnen ihr Publikum verschafft, weil es sich amüsiert oder in der Musik wiedererkennt. So gehört, ist diese Musik tatsächlich funktional. Nicht nur aus der Sicht der Musiker, sondern auch aus derjenigen des

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­ ublikums. Dass die Unterhaltungsindustrie diese Funktionalität zum P ­Geschäftsmodell macht und mit ihren Produkten den grösstmöglichen Profit und den kleinsten gemeinsamen kulturellen Nenner sucht, ist auch keine Neuigkeit. Ein Recht auf Vergessen steht darum nicht nur vielen musikalischen Protagonisten der Vergangenheit zu, sondern auch uns Nachgeborenen. Nur ein Bruchteil der Musik, die in den vergangenen hundert Jahren geschaffen wurde, ist zeitlos. Der Grossteil blieb schon in der Entstehungszeit undokumentiert. Doch auch viele Kompositionen und Darbietungen, die auf Noten oder kommerziellen Tonträgern überlebt haben, tönten schon kurz nach ihrer Entstehung antiquiert und belanglos. Sie mögen in Frieden ­ruhen. Ein Problem kann aber dann entstehen, wenn die wirklich populären Musiker einer Generation in der Geschichtsschreibung nur am Rand vorkommen und der Eindruck erweckt wird, dass die Stile der sogenannten populären Musik einzig dann Beachtung verdienen, wenn sie den Kunstanspruch erheben oder «authentisch» sind. Mit dieser einseitigen Wahrnehmung und Verzerrung beschäftigt sich der amerikanische Autor Elijah Wald in seinem Buch «How The Beatles Destroyed Rock ’n’ Roll». Wald rehabilitiert darin auch weisse Tanzorchester aus den 1920er- und 1930er-Jahren wie dasjenige des temporären «Jazz-Königs» Paul ­Whiteman, die fast ganz aus der Geschichte der populären Musik verschwunden sind. In den 1940er-Jahren wurde die selektive Geschichtsschreibung mit Bezug auf den Jazz von wichtigen europäischen Förderern und «JazzPäpsten» wie dem französischen Autor Hugues Panassié und dem Basler Hans Philippi auch in der Schweiz vorangetrieben. Aus ihren berufenen Mündern erhielten Musikinteressierte an Vorträgen und in Radiosendungen Anschauungsunterricht darüber, was guter und was schlechter Jazz sei. Diese frühen Weichenstellungen der Jazz-Didakten führten auch in der damals noch sehr übersichtlichen «seriösen» Literatur über Jazz zu einer zunehmend fokussierten Wahrnehmung. Weisse Orchester wie diejenigen Whitemans oder des Engländers Jack Hylton, die in der Frühphase des Jazz in Europa zunächst das Mass der Dinge gewesen w ­ aren, wurden nun als gewinnsüchtige Muzak-Verbreiter und Abklatsch des

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­chten Jazz aus der Erinnerung getilgt. Dass Schweizer Orchester in e ­solchen Lehrgängen keine Erwähnung fanden, da sie ja eine fremde, aus zweiter oder dritter Hand übernommene oder gar «angeeignete» Musik spielten, liegt auf der Hand. Man soll anerkannten Koryphäen aus der Vorzeit nicht ohne Not ­widersprechen. Doch wer über die Geschichte der angloamerikanischen Musik in der Schweiz schreibt, kommt um die beliebten Tanzbands der Anfänge nicht herum. Dass gerade diese Orchester, die den Jazz zunächst domestizierten, für ein breites Publikum glattstriegelten und in die jahrhundertealte Tradition der symphonischen Orchestermusik einbet­teten, heute als Vertreter einer belanglosen Populärmusik gemieden w ­ erden, wogegen dem ursprünglichen, ungebändigten Jazz der Status ­einer Kunstmusik zugeschrieben wird, ist dennoch bemerkenswert. Der alte Graben zwischen Kunst- und Populärmusik, zwischen ernster und unterhaltender Musik – «E» und «U» – ist auch heute nicht zugeschüttet. Er wird von Experten verteidigt, welche die Geschichte des Jazz bestens kennen und eigentlich darüberstehen könnten. So verweigerte mir der Basler Saxophonist und Jazzhistoriker Mario Schneeberger die Einsicht in die Unterlagen des bereits erwähnten Pioniers Hans Philippi, welche er seit dessen Tod aufbewahrt und in vorbildlicher Weise für die Öffentlichkeit erschlossen hat. Es gehe hier offenbar um ein Buch über Populärmusik, begründete er seine Absage – und keines «über den Kampf um die Anerkennung des Jazz als Kunstmusik». Hans Philippi habe sich diesem Kampf verschrieben und sich immer wieder von der Populärmusik abgegrenzt. Als ob Jazz in den Zeiten seiner Entstehung und bis weit in die 1960er-Jahre hinein nicht auch eine Populärmusik gewesen wäre, die sich gegen die Schmährufe aus den Elfenbeintürmen der klassischen E-Musik und gegen die Traditionalisten der «echten» Schweizer Volksmusik behaupten musste. Die vor gut achtzig Jahren gestellten Weichen der Jazz- und Musik­ rezeption werden hier nicht neu gestellt. Es wird auch nicht über gute und schlechte Musik geurteilt. Die Annahme aber, dass Musik, die gefällt, nichts mehr als gefällig sei und ausser den Beinen der Tanzwütigen nichts erreicht habe, wäre ein Trugschluss. Denn wenn Musik etwas verändern

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will in einer Gesellschaft, dann muss sie wahr­genommen werden, dann muss sie bewegen – nicht die gestrengen Analytiker des Feuilletons oder spätere Historiker, sondern das zeitgenössische Publikum, das sie erreichen will. Dieses Buch beleuchtet die Anfänge der modernen Tanzmusik in der Schweiz. Es konzentriert sich dabei auf die angloamerikanisch beeinflussten Stile, die schon bald nach dem Ersten Weltkrieg auch in unserem Land die traditionelle europäische Salonmusik in Bedrängnis brachten, ja beim jugend­ lichen Publikum regelrecht wegfegten. Bis zum Erscheinen des Rhythm and Blues, des Rock ’n’ Roll und dann der Beat- und Popmusik waren es während rund vier Jahrzehnten diverse Spielarten des Jazz, die auch die Schweiz bewegten. Auf ­diese Zeitspanne von rund vierzig Jahren wird hier fokussiert. Mit dem Anbranden der Beat-Welle war das Ende der jazzig inspirierten Tanz­musik besiegelt. Die Geschichte der frühen Beatund Popmusik in der Schweiz habe ich im Buch «BeatPopProtest – der Sound der Schweizer Sixties» erzählt. Nun liegt mit «HOT!» das Prequel dazu vor. Die Schnittstellen zwischen Tanzmusik und den etablierten Stilgenres der populären Musik sind zahlreich, die Grenzen bleiben fliessend. Wer ein Auskommen als Musiker im Bereich der populären Musik sucht, kann und will sich meist nicht von einem tanzlustigen Publikum abgrenzen. Das gilt besonders für junge, aufstrebende Musikerinnen und Musiker, die zunächst bei ihrer eigenen Generation Fuss fassen müssen. Dabei ist Tanzen immer eine naheliegende Option. Die jazzige Tanzmusik, deren Geschichte hier erzählt wird, war nahe am Puls ihrer Zeit, jagte diesen nach oben, sorgte für Begeisterung oder Irritation, auch wenn sie oft keine eigenständige künstlerische Identität hatte. Dieses Muster zog sich weiter. Auch im Untergrund der Punk- und New-Wave-Kultur, deren Schweizer Spielarten der St. Galler Punkhisto­ri­ ker und Netzwerker Lurker Grand zwei mächtige Standardwerke gewidmet hat, wurde g­ etanzt. Das Publikum hier war kunstaffin, wie es die ­Existenzialisten der frühen 1950er-Jahre auch gewesen waren, die sich in liebevoll dekorierten Kellerlokalen zu Tresterschnaps und traditionellem New-Orleans-Jazz in Ekstase tanzten und – wie später die Pogo tanzenden

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Punks – den Bünzlis den Stinkefinger zeigten. Auch wenn es rückblickend betrachtet viele ­Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Szenen gibt: Für die Punks war der Dixieland ihrer Eltern der Inbegriff des Spiessersounds. Ausgerechnet der englische Punkbarde und Left-Wing-Aktivist Billy Bragg hat in seinem Buch «How Skiffle Changed The World» oft ­geschmähte Trad-Jazzer wie Ken Colyer und Chris Barber gründlich rehabilitiert und sie zu Paten des Rock ’n’ Roll und der Popkultur in Europa erklärt. Ohne Trad kein Punk! Oder, wie man in der Schweiz sagt: Vo nüt chunnt nüt. «Fuck Art, Let’s Dance» war ein Slogan, der in den 1980er-Jahren auf T-Shirts der Postpunk-Ära vor allem an Kunstschulen seine stimulierende Botschaft verbreitete. Er war eine Antwort darauf, dass der Kunstanspruch populäre Musikstile wie den Jazz und den Rock untanzbar gemacht hatte: Art Fucked Up The Dance. Ironischerweise gibt es in der Geschichte der Popmusik kaum eine bedeutende Band, die nicht eine Kunstschülerin oder einen Kunstschüler in ihren Reihen hatte. Doch gerade diejenigen, die in den Akademien dem Handwerk und der Theorie der Kunst mit grösster Sorgfalt auf den Grund gingen, setzten in ihrer Musik radikal auf Eigeninitiative, das «Just do it!»-Prinzip und die unbekümmerte Tanzlust des ­Publikums. Genauso hatten es die Pioniere und Pionierinnen des Jazz im frühen 20. Jahrhundert getan, damals allerdings noch in Ermangelung von ­Alternativen. Dass die Jazzmusik seit den 1920er-Jahren auch die Schweiz zum Tanzen brachte, wie sie hierherkam, wie sie sich entwickelte und wer ihre frühen Protagonistinnen und Protagonisten waren, erzählt dieses Buch.

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er lange Mann legte die Orchester-Arrangements auf dem Dirigentenpult aus. Dann drehte er sich um und warf einen forschenden Blick in den Saal der Berliner Singakademie. Die symmetrisch ausgerichteten Stuhlreihen waren leer, die hoch über ihnen thronende Empore wurde von Säulen im griechischen Stil getragen. Über hundert Jahre hatte die Akademie schon auf dem Buckel. Der Chor, der hier permanentes Gastrecht genoss und dem Gebäude den Namen gegeben hatte, war sogar noch älter. Teddy Stauffer wandte sich wieder seinen Arrangements zu. Er musterte seine Musiker, die ihre Instrumente auspackten und die Mundstücke befeuchteten. Sein alter Freund Pole Guggisberg spannte die Felle der Trommeln, die er per Taxi vom Delphi-Palast an der Kantstrasse, wo Teddys Band The Original Teddies seit dem 1. Juli für vier Monate als Attraktionsorchester engagiert war, in die Singakademie transportiert hatte. Ein Techniker in Arbeitsschürze hantierte mit einem Mikrophon. Draussen war Hochsommer, doch der Himmel war dicht bewölkt. Dennoch herrschte keine graue Alltagsstimmung in Berlin. Die Stadt putzte sich heraus für die Olympischen Sommerspiele. Unter den Linden, vom Rathaus bis zum Brandenburger Tor, wurden Fahnenmasten für die Haken­kreuzbanner aufgestellt, das Reichssportfeld, wo bald die Athleten einmarschieren sollten, war schon blitzblank geputzt. Berlin war bereit für die grosse Propagandaschlacht. Zwei Titel standen an diesem aussergewöhnlichen Dienstag auf dem Plan der ersten Schallplatten-Aufnahme der Original Teddies: «Alone», eine Nummer aus dem Marx-Brothers-Film «A Night At The Opera», der eben erst von Tommy Dorseys Orchester bekanntgemacht worden war.

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Und «Goody Goody», ein Song, den Teddy von Benny Goodman kannte. Textautor war Johnny Mercer, der sich seine Sporen als Sänger in der überaus populären Band von Paul Whiteman abverdient hatte – diese war für so manches europäische Tanzorchester das einsame, amerikanische Mass aller Dinge. Die Teddies orientierten sich allerdings eher an Jack Hylton, dem englischen Bandleader, den Teddy bei einem Konzert in ­seiner Heimatstadt Bern erlebt hatte und dem er seither nacheiferte. So you met someone who set you back on your heels, goody goody! so you met someone and now you know how it feels, goody goody! well you gave him your heart too, just as I gave mine to you and he broke it in little pieces, now how do you do?

Den Text auf den Notenblättern, die Teddy Stauffer dank seiner guten Kontakte nach New York auf dem schnellstmöglichen Weg importiert hatte, verstand niemand so genau, schliesslich war Englisch auch an ­ angesehenen Schweizer Schulen noch keine prioritäre Fremdsprache. ­ ­Billy Toffel, der sich gerade für die Aufnahme bereitmachte, erging es nicht anders. Auch für ihn war Englisch noch eine fremde Sprache. Der zwanzigjährige Sänger und Gitarrist kam aus Lausanne, wo er schon als Teenager mit einer phonetisch nachempfundenen Version des Schlagers «You Made Me Love You» beim Radio den Wettbewerb «Première Chance» gewonnen hatte. Eben erst war der charmant strahlende Jüngling mit dem chicen Mittelscheitel und den weit geschnittenen ­Anzügen von der erfolgreichen Schweizer Jazzformation The Berry’s (sic) zu den noch erfolgreicheren Teddies gestossen. Buddy Bertinats «Goody Goody»-­ ­ Arrangement trug das Seine zur sommerlichen Frische bei. ­Buddy, der eigentlich Hans hiess, wie Teddy aus Bern stammte und wie dieser früher auf einer Bank gearbeitet hatte, war ein exzellenter Pianist und Akkordeonist. Doch als Solist drängte er sich nie in den Vordergrund. Sein liebstes Instrument war das Orchester. Endlich lief die Aufnahme. Drei Posaunen, drei Trompeten und vier Saxophone eröffneten mit einer Fanfare, als gelte es, schon jetzt die Olympischen Spiele einzublasen. Sie platzierten das eingängige Thema von

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«Goody Goody» gleich am Anfang so prominent wie möglich. Dann b ­ egann das Orchester zu swingen, trotz gemässigtem Tempo und leicht zackigem Rhythmus. Die beiden Pianisten umschnörkelten Billy Toffels Gesangs­ linien, während die Violinen schmachtende Sehnsucht verbreiteten. Billy gab den Worten von Johnny Mercer, in denen dieser voller Schadenfreude jubiliert, dass seine Verflossene sich einen Korb bei einem Neuen eingefangen hat, einen unschuldigen, beschwingten Touch. Sein frankophon angehauchter Slang sorgte für zusätzlichen Charme – schliesslich war der Tag der ersten Teddies-Aufnahme auch der französische Nationalfeiertag. Anders als im Original gipfelte das Arrangement in einem «Call and Response»-Teil, wo die Teddies den wonnigen Refrain aus voller Männerbrust nachdoppelten. So you lie awake just singing the blues all night, goody goody! and you found that love’s a barrell of dynamite! hurray and hallelujah, you had it comin’ to ya goody goody for you! goody goody for me! I hope you’re satisfied you rascal you!

Teddy Stauffer musste bei der Aufnahme seinen berüchtigt langen Taktstock kaum zum Einsatz bringen. Das Orchester verfügte über j­ahrelange Spielpraxis, war stark besetzt und wurde für die Aufnahme z ­ usätzlich ­aufgestockt – längst waren neben den Berner Gründern auch ­führende Instrumentalisten aus ganz Europa mit an Bord. Trotz der anfäng­lichen Nervosität lief Teddys Swing-Maschine in der Singakademie wie geschmiert, auch vor einem leeren Saal ohne Aberdutzende von tanzenden Paaren, an die sich das Orchester langsam gewöhnt hatte. Bald konnte der Dirigent die Noten wieder in seiner Mappe verstauen. Der Nach­ mittagsdienst im Delphi rief. Ein Engagement jagte das nächste. Die Krise, die war vorher gewesen. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, dass Teddy ­Stauffer und seine Original Teddies gerade die erfolgreichste europäische Tanzplatte der Vorkriegszeit eingespielt hatten.

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WER HAT DEN KÄSE ZUM BAHNHOF ­GEROLLT?


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is Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Europa seine eigene Tanz­ musik. Die Gesellschaftstänze wechselten in unregelmässigem, gemächlichem Rhythmus. In der Schweiz wurden die alten Volkstänze im 19. Jahrhundert wie im übrigen Europa von neuen Tanzschritten wie Walzer, Schottisch, Mazurka oder Polka verdrängt. Tanz war den Auto­ritäten und auch der Kirche seit jeher suspekt. Zu euphorisierend schien ihnen die Wirkung dieser auf heidnische Brauchtümer zurückzuführenden Bewegungsrituale und die – oft an bestimmte Fest- und Feiertage geknüpften – Ausbrüche der Lebensfreude. Solche Bräuche ­ ­entzogen sich der Kontrolle und wer sie pflegte, foutierte sich um die von den Autoritäten definierten sittlichen Vorschriften, auch wenn das Zeremoniell meist strikten Regeln folgte. Allen Ermahnungen und ­Verboten zum Trotz liess sich das Tanzen nicht unterdrücken oder gar verbieten. Im Gegenteil: Im 19. Jahrhundert galten Tanzveranstaltungen für das städtische Bürgertum als Höhepunkte des gesellschaftlichen ­Lebens. Sie bestimmten die Agenda und dienten als institutionalisierte ­ ergnügen – gerade für die Menschen Heiratsmärkte. Dennoch blieb das V auf dem Land – vielerorts noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts rationiert und auf sogenannte Tanzsonntage beschränkt. «Jedes grössere Dorf hatte seinen Saal, wo der Wirt viermal im Jahr seinen Tanzsonntag ­ abhalten durfte, wenn er die behördliche B ­ ­ ewilligung dafür erhielt», ­erinnerte sich ein Berner Musiker, der in den 1950er-Jahren zum Tanz aufspielte, «es war wie bei ‹Ueli der Knecht›». Albert Bitzius alias­ Jeremias Gotthelf, reformierter Pfarrer und Autor des angesprochenen Werks, war einer, der das öffentliche Tanzen kritisierte. Die Tanzsonn­ tage führten zu Verstössen gegen die Sittlichkeit und zu Schlägereien mit Verletzten oder gar Toten, fürchtete er. «Reicht ein Bursche einem

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Mädchen zum Tanz die Hand, so steigt in demselben gleich ein Fuder Hoffnungen auf.» Wer tanzen wollte, brauchte Musik. Wer professionell ­Musik machte, spielte in kleinen Salon-Formationen zum Tee oder in grösserer Besetzung an rauschenden Bällen und interpretierte leichte Klassik, kombiniert mit europäischen Volkstänzen. Daneben gab es in jeder grösseren Stadt ein Symphonieorchester. Noch war die gängige Musik in der Romantik verwurzelt. Sie bediente sich bei einem Standardrepertoire, das von Barock bis zu Wagner und Liszt reichte und eine bürgerliche Elite bei ­Laune hielt, die allerdings zunehmend unter Druck geriet. Letzteres zeigte sich an einer ins Rampenlicht drängenden musikalischen Avantgarde, die nicht nur die romantischen Töne der europäischen Musik mit allerlei Stör­ geräuschen und industriellen Dissonanzen attackierte, sondern auch ­gängige Moralvorstellungen und gesellschaftliche Rollenverteilungen in Frage stellte. Die Oper war ein Spiegelbild des fortschrittlichen, aber zunehmend zerrissenen Europas und setzte auch politische Akzente. ­ Nicht selten sorgten Operninszenierungen mit ihrer radikalen Eigenständigkeit für gesellschaftliche Skandale, so etwa Richard Strauss’ «Salomé» in Dresden (1905), aber auch Igor Strawinskys Ballettmusik «Sacre du Printemps» in Paris (1913). Während des Ersten Weltkriegs fand sich ein Teil der europäischen Avantgarde im Exil im Zürcher Cabaret ­Voltaire wieder. Dort bearbeiteten die Dadaisten bei ihren Performances auch afrikanische Rhythmusinstrumente und inszenierten ein Begräbnis erster Klasse für die Romantik. Mitten im Niederdorf versuchten sie, den rund um die eingeschlossene Schweiz dröhnenden Kriegslärm mit ihrem eigenen, rhythmischen Lärm zu übertönen. Auch in den USA hatte die aus Europa mitgebrachte, «klassische» Musik lange dominiert. Doch im multikulturellen Schmelztiegel vermischten sich die verschiedensten Einflüsse. Auch die Kultur der einst für die Sklavenarbeit nach Amerika verschleppten Afrikanerinnen und Afrikaner wurde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer präsenter. Clevere Marktschreier stutzten sie für ein amüsierfreudiges weisses ­ ­Publikum mit europäischen Wurzeln zurecht. So war es auch den indianischen Natives ergangen, die an Shows, an Varietés und zirkusähnlichen

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Darbietungen herumgereicht wurden wie exotische Tiere. In der Schweiz wurden entsprechende Veranstaltungen verharmlosend als «Völkerschauen» bezeichnet und fanden noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihr Publikum. Doch die afroamerikanischen Performer packten zwischen Akrobaten, Quacksalbern und Revue-Girls ihre Chance und bewiesen Unter­ nehmergeist: Gerade im aufkeimenden Showbusiness bot sich­ ihnen die Chance, erfolgreich auf eigenen Beinen zu stehen und sozial ­aufzusteigen. In Wanderzirkussen, Revuen und Minstrel-Shows präsentierten schwarze – und schwarz geschminkte weisse, «blackfaced» – Tänzer, Komiker und Musiker ihre komödiantischen Einlagen, sangen CoonSongs und spielten Ragtime. Zwar wurde auch hier ein stereotypes Bild des «Negers» und seines vermeintlichen Wesens transportiert, doch immer häufiger parodierten schwarze Entertainer im Gegenzug die ­ Spleens und Marotten der weissen Bourgeoisie. Der Cakewalk war Ende des 19. Jahrhunderts der erste Tanz, der den Sprung von der schwarzen zur weissen Gesellschaft schaffte und nicht nur auf der Bühne an Minstrel-Shows aufgeführt wurde. Auch in den Ballsälen der weissen Society avancierte er zum Tanzhit. Der exzentrische Paartanz mit seinen hohen Beinen, schlenkernden Hüftbewegungen und Rumpfbeugen, den «Struts» und «Shuffles», war Vorbote eines neuen Zeitalters. Bisher waren die Hüften und Rümpfe der Tanzenden kaum strapaziert worden. Jetzt fuhr der Cakewalk in alle Glieder. «Das Ornamentale des Walzers, die Einheit synchron kreisender Paare – Symbol ­ihres bürgerlichen Einklangs – war perdu», schreiben Astrid Eichstedt und Bernd Polster in ihrem Buch über «Tänze auf der Höhe ihrer Zeit». Die zugehörige Musik, die eigentlich gar nicht zu den ausgelassenen ­Tanzfiguren des Cakewalk passte, war der Ragtime, die kreolische Version von europäischen Salonklängen. Dank des Aufkommens der Tonträger wurde der Ragtime tausendfach kopiert zum Massenphänomen. Das Jazz-Zeitalter war eingeläutet. Wann der Jazz (oder «Jass», wie er zunächst geschrieben wurde) erstmals explizit auch in der Schweiz erwähnt wurde, lässt sich heute kaum mehr rekonstruieren. In England sorgte die renommierte Zeitung «The Times» Anfang 1919 für ein Debut und liess ihre gebildete, punkto

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­ euartiger Tanz- und Varietémusik aber eher unbeleckte Leserschaft in n einem längeren Artikel wissen: «Die Tätigkeit einer Jazz-Band besteht ­offenbar daraus, so viel Lärm wie nur möglich zu produzieren; wie das geschieht, ist unwesentlich, und wenn ab und zu Musik hinten rauskommt, umso besser.» Welche Band er gesehen hatte, verschwieg der Journalist. Es dürfte sich aber kaum um die Original Dixieland Jass Band (ODJB) aus New Orleans gehandelt haben, die im Mai 1917 die Platte «Dixie Jass Band One Step»/«Livery Stable Blues» veröffentlicht hatte, welche üblicher­ weise als erste Jazz-Aufnahme bezeichnet wird. Die ersten Konzerte der ODJB in London brachten im Frühjahr 1919 das Jazz-Phänomen definitiv über den grossen Teich. Die britischen Medien berichteten ausführlich und staunten über die synkopierte Musik und den «Stage Act», der ausschliesslich aus weissen Musikern bestehenden Band, die ihre Häupter mit Zylindern schmückte und auch eine Tänzerin in ihren Reihen hatte. «Diese Jazzmusiker spielen wie ein Bienenschwarm, der seinen Stock verloren hat», schrieb ein Kritiker. Er beklagte das schlechte Zusammenspiel und das uninteressante Entertainment. Obschon – oder gerade weil – ihr erstes England-Engagement schon nach dem ersten Konzert ­gekündigt wurde, stiessen die Jazzmusiker aus den USA auf immer mehr Interesse. Schliesslich blieb die ODJB ganze 15 Monate im Vereinigten König­reich und erhielt gar eine Audienz im Buckingham Palace, wo sie für King George V eine frühe Version des «Tiger Rag» intoniert haben soll. Trotzdem geriet die ODJB schon bald in Vergessenheit – so wie es vielen weissen Bands der ersten Jazzjahre erging. Im Gegensatz zu den grossen, glattpolierten Tanzorchestern, die die frühe Phase des Jazz auch in der Schweiz prägen sollten, war ihre Musik aber noch viel ungeschliffener. Musikalisch war sie kaum prägend. Doch als Initialzündung, welche die «heisse» Spielweise der Jazzmusik und einen darauf aufbauenden «Stage Act» den steifen und stereotypen Konventionen der europäischen Tanzmusik gegenüberstellte, war die ODJB wichtig. Zur gleichen Zeit spielte ein anderes amerikanisches Orchester in England. Es nannte sich Will Marion Cook’s Southern Syncopators und pflegte ein auf europäische Ohren zugeschnittenes, vergleichsweise ­moderates Repertoire. Der Sound der 45(!)-köpfigen Formation verband

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symphonische Elemente mit populären Balladen und Novelty-Einlagen und hatte wenig mit dem zu tun, was man heute als Jazz bezeichnet. Auch wegen ihrer konventionell-konzertanten Musik erhielt die afroamerikanische Grossformation in England deutlich weniger Medienecho als die weisse ODJB mit ihren Showeffekten. Dass ihre Auftritte dennoch ­erstmals zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der neuen Musik führten, haben die Southern Syncopators einem Schweizer zu verdanken. Ernest Ansermet aus Vevey hatte eines ihrer Konzerte in der Royal Philharmonic Hall an der Londoner Tottenham Court Road besucht und war fasziniert. Der einem breiten Publikum noch kaum bekannte Dirigent, der unter anderem das Orchestre Romand leitete und schon mit Persönlichkeiten wie Igor Strawinsky, Pablo Picasso und Erik Satie zusammen­ gearbeitet hatte, schilderte seine Eindrücke der neuen Musik in einem Essay in der Zeitschrift «Revue Romande» vom Oktober 1919. Dieser trug den Titel «Sur un orchestre noir». Was beim Southern Syncopated Orchestra zuerst verblüfft, ist die Perfektion, der gute Geschmack, die Spielfreude. Ich weiss nicht, ob diese Künstler bewusst «aufrichtig» spielen, ob sie von der Würde ihrer Aufgabe überzeugt sind, ob sie das Heilige Feuer und die Verwegenheit in sich tragen, die unsere Geschmackspolizei von den europäischen Künstlern einfordert – ich weiss nicht einmal, ob sie eine gemeinsame «Idee» verbindet. Aber ich sehe durchaus, dass sie die Musik, die sie lieben, sehr genau kennen und dass es ihnen Spass macht, diese den Zuhörern mit ihrer unwiderstehlichen Spielfreude zu vermitteln.

Das tönte schon ganz anders als die süffig-herablassenden Kritiken, die bisher im besten Fall über die afroamerikanische Musik geschrieben worden waren. Ansermet setzte sich in seinem Text mit der Improvisation, dem Blues und dem «Style Nègre» auseinander, entdeckte bisher unbekannte Zwischentöne («Blue Notes») und die Bedeutung der Interpretation in der populären Kunst. Am meisten aber zeigte er sich von einem der Musiker beeindruckt:

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Im Southern Syncopated Orchestra gibt es einen aussergewöhnlichen Klarinettenvirtuosen, der, so scheint es, der erste seiner Rasse ist, der auf seiner Klarinette vollkommen vollendeten Blues komponiert. (...) Dieser Blues ist nicht nur wegen seines ­Erfindergeists bewundernswert, sondern auch wegen der (rhythmischen) Akzente, seiner Kühnheit und dem Mut zum Unvorher­ gesehenen. Diese Bluesstücke geben bereits die Idee eines Stils und die Ausführung war befriedigend, abrupt, hart – mit einem brüsken, gnadenlosen Finale, wie demjenigen des 12. Brandenburgischen Konzerts von Bach. Ich will den Namen dieses genialen Künstlers nennen, den ich selber nie vergessen werde: Er lautet Sidney Bechet.

Ansermets Text gilt als erste seriöse Auseinandersetzung mit dem Jazz überhaupt, auch wenn er diesen Begriff in seinem Text nicht ein einziges Mal verwendet. Die afroamerikanische Musik war auf der Teppichetage der europäischen Hochkultur angekommen. Allerdings wurde der Essay damals kaum beachtet und erst zwanzig Jahre später von der mittlerweile aufgeblühten Jazz-Szene ausgegraben. Wer nun glaubte, mit Ernest ­Ansermet einen etablierten Botschafter des Jazz an seiner Seite zu wissen, lag falsch. An einem Forum bei Radio Lausanne mit dem Titel «Pour ou contre le Jazz» sprach dieser 1946 dem (damals aktuellen) Jazz die Kunsteigenschaft ab. Nach ausschweifenden Exkursen zur Herkunft der afroamerikanischen Musik wurde er konkret: «Ich möchte unterstreichen, dass der Jazz sich weiterhin auf eine Rolle als Vergnügungsmusik beschränkt. Diese Musik arbeitet mit bestehendem Material. Sie modi­ fiziert dieses nicht, poliert höchstens die Oberfläche, in dem sie einige instrumentale oder rhythmische Effekte hinzufügt, die angenehm für das Ohr sind, aber nichts Eigenständiges beifügen. Diese Musik steht damit nicht auf der gleichen Ebene wie die grosse klassische Musik und die ­moderne Kunstmusik.» Trotz solcher Ansichten behielt sich der Maestro alle Optionen offen. Als 1944 in der französischsprachigen Schweiz das erste namhafte Radioorchester umformiert wurde, war es Ansermet, der Symphoniker und Jazzer zusammenführte.

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Ob Kunst oder Vergnügen, das war den Southern Syncopators wohl einerlei. Sie blieben nach ihrem Londoner Gastspiel von 1919 vielbeschäftigt und brachten ihre Musik nach Berlin, Wien, Amsterdam und Paris. Einige Mitglieder des Orchesters fanden im weltoffenen Paris eine neue Bleibe und machten die französische Metropole zum ersten Jazz-­ Brückenkopf auf dem europäischen Kontinent. Zu ihnen gehörte der Trompeter Arthur Briggs, der sich ebenfalls lebhaft an den Star der ­Southern Syncopators erinnerte: «Einige Musiker glaubten, dass Sidney Bechets Klarinettenspiel nur mit einem manipulierten Instrument ­möglich sei und untersuchten es vor Ort – in der Hoffnung, eine bisher unbekannte technische Innovation zu entdecken». Auch für junge Musiker in der Schweiz, die mit den neuen Freiheiten der aus Amerika herüberschwappenden Musik liebäugelten, waren die Herausforderungen gross, wie das Beispiel von Ernest Berner zeigt. Der Polizistensohn, 1904 in Bern geboren, verdiente sich bereits als kaufmännischer Lehrling ein Zubrot am Piano. Während des Ersten Weltkriegs herrschte in der Bundesstadt laut seinen Erinnerungen ein «höllischer Betrieb», Bern sei damals als internationales Spionagezentrum bekannt gewesen. Besonders die Diplomatenkaste nutzte die Freiheiten der von Kriegshandlungen verschonten Schweiz und pflegte ein reges gesellschaftliches Leben. An wöchentlichen Bridge- oder Poker-Nachmittagen mit anschliessendem Tanz spielte der blutjunge Konservatoriums-­Schüler zusammen mit einem Violinisten und einem Cellisten im standesgemässen Café Du Théâtre Salonmusik. Neben konventionellen Klängen stand auch der damals aktuelle Gesellschaftstanz One-Step auf dem Programm. Ein gelegentlich in den USA tätiger Schweizer Diplomat versorgte die lernbegierigen Aspiranten mit Noten einer «ganz neuen» Musik. Doch die importierten Foxtrott-Notationen erwiesen sich für den Berner Teenager zunächst als unspielbar. «Ich glaube, es ist heute völlig unvorstellbar, dass man an eine Musik gerät, die so wahnsinnig fremd ist, wie wir das seinerzeit erlebt haben», schilderte Berner seine Begegnung mit der unbekannten Art. Der Knackpunkt waren die noch unbekannten Synkopen. Statt auf den bisher betonten Taktteilen setzten diese die rhythmischen Akzente in den Zwischenräumen der Tanzmelodien. Das ging auch jungen,

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flexiblen Musikern wie Ernest Berner gegen den Strich: «Wir probierten wochenlang. Um die synkopischen Abweichungen zu begreifen, teilten wir jeden Takt in vier und später in acht Teile auf.» Als die jungen Musiker die DNA des neuen Rhythmus schliesslich dechiffriert zu haben glaubten, waren sie sich einig: Ohne Schlagzeug war hier nichts zu machen. Eine Fotografie aus dem Jahr 1923 zeigt die mittlerweile als Alice Band auftretende Formation um den Pianisten Ernest Berner denn auch mit Schlagzeug – einem eigenartigen Konstrukt aus einer überdimensionierten Regiments-Basspauke, einer Basler Trommel als «Snare»-Ersatz, einem mit dem Fuss bedienten Hi-Hat-Prototyp und allerlei Cinellen ­ ­sowie Blech- und Rassel-Utensilien. Seinen Aufschwung als Instrument hatte das Schlagzeug nicht zuletzt bei der live gespielten Vertonung von Stummfilmen erlebt. Im Kinosaal hatte das Orchester nicht nur die Wirkung der Bilder mit den passenden Tönen zu verstärken, sondern war gleichzeitig auch für die Geräuschkulisse zuständig. Hier waren Schlagzeuger gefragt, die über ein ganzes Arsenal von Klang- und Lärmerzeugern verfügten, von Trillerpfeifen über Donnerbleche bis hin zur Schreckschusspistole. Neben den Kino-Schlagzeugern gab es in der Schweiz Anfang der 1920er-Jahre auch drummende Alleinunterhalter wie einen gewissen Freddie James, der eigentlich Aeschlimann hiess und aus Olten stammte. Er war jahrelang zur See gefahren und konnte später im ­berühmt-berüchtigten Londoner Rector’s Club offenbar mit seinen Trommelkünsten auf sich aufmerksam machen. 1923 kehrte er in die Schweiz zurück. Als einer der ersten Schweizer Showdrummer setzte er ganz auf die exotische Ausstrahlung der Trommeln und lärmte ungehemmt drauflos. Dazu trug er Frack, Zylinder und ein Monokel, mit welchem er die ­Zuhörer fixierte. Dann stand er auf, ging von Tisch zu Tisch, wirbelte mit seinen Stöcken herum und sang «Wer hat den Käse zum Bahnhof gerollt?». Sein Showtalent setzte Aeschlimann auch anlässlich der «Zürcher Seegfrörni» 1929 ein, als er mit seiner Band auf dem schwarzgefrorenen Zürichsee seine Art von Jazz spielte. Allzu heiss war dieser offensichtlich nicht – das Eis hielt stand. Auf dem gar nicht verwegenen, einzigen erhaltenen Foto der Alice Band gibt lediglich das Schlagzeug eine Idee davon, dass man es vielleicht

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mit der ersten Schweizer Jazz-Band zu tun haben könnte. Genau diesen Anspruch erhob Ernest Berner später. Doch er blieb – wen wunderts – nicht allein. Auch der spanischstämmige Genfer Pianist und Bandleader Ladis Illaraz (er wurde in Pamplona geboren, kam aber schon 1914 in die Schweiz) wollte der erste gewesen sein. Und auf uralten Fotos wie dem­ jenigen der Original Jazz-Band eines gewissen Otto Kern, die laut Eigenwerbung sogar einen «berühmten Neger-Jazz-Drummer aus Chicago» in ihren Reihen hatte, oder der Band Varietas um den italienischstämmigen Geiger Luigi Manazza aus Baden, prangte das «Jazzband»-Logo prominent auf der Basstrommel. Ladis Illaraz dürfte der glaubwürdigste Kandidat für den Titel des ersten Schweizer Jazz-Band-Leaders sein. Jedenfalls blieb er der neuen Musik lange treu. Ursprünglich Mitglied eines religiösen Ordens und umgeben von gregorianischen Gesängen, begann er auch in der Schweiz zunächst als Organist in einer Kirche. 1916 startete er in Genf seine weltliche Karriere als Pianist in Brasserien und Tanzorchestern. Illaraz hatte einen Riecher für musikalische Trends und versuchte sich schon 1921 an jazzartiger Musik. 1922 gründete er die erfolgreichen Harmony Six, mit denen er auch in Milano und Monte Carlo moderne Tanzmusik spielte. 1925 stellte er die Hausband für das neue Genfer ­Dancing Fantasio zusammen. In unserem Lande waren es in erster Linie die Hoteliers, die, den Wünschen der exklusiven Gäste nachkommend, die ersten TanzBands in ihren Dienst stellten. Der Erfolg war wider Erwarten ein durchschlagender. Die Frequenz der Etablissements, die solche Bands engagierten, stieg von Saison zu Saison.

Das schrieb Ernest Berner 1932. Er, der mittendrin war in der aufblühenden Jazzszene, musste es wissen. In den 1920er-Jahren wurde die Tanzmusik in der Schweiz zunehmend amerikanischer, synkopierter, rhythmischer. Das ist im Rückblick weniger als kulturelle Revolution denn als kommerzielle Evolution zu verstehen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stellten sich wieder Touristen aus Europa und Amerika in den Schweizer Ferienorten ein. Dass die

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Schweiz im Ersten Weltkrieg neutral geblieben war und die Zerstörungsorgien des Kriegs einigermassen unbeschadet überstanden hatte, steigerte ihre Anziehungskraft als alpines Erholungsparadies. Die Touristen aus Holland, England und den USA, welche bisherige Stammgäste aus Deutschland, Österreich und Italien ablösten, wünschten unterhalten zu werden. Das Tänzchen und der lockere Flirt im Hotel gehörten schon seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Ferienprogramm. Die musikalische Dauerberieselung der Hotelgäste begann oft schon beim Frühstück. Da es sich bei ­dieser Klientel meist um kulturell gebildete, urban ausgerichtete und solvente Kunden handelte, die Wert auf Modernität legten, mussten die Hoteliers die veränderten Bedürfnisse befriedigen. Englisch war nun Pflichtsprache. Besonders beliebt waren exotische Kostümbälle, an denen sich die Gäste und oft auch die Musiker schminkten und verkleideten, und manchmal mehrere Orchester gleichzeitig auftraten. Dazu kamen Modeschauen und musikalisches Rätselraten. Die Musiker waren im Dauereinsatz. Nicht wirklich beliebt bei ihnen waren die «Eiskonzerte» am Rand der Schlittschuhbahnen, wo man bei klirrender Kälte und Temperaturen von bis zu minus zwanzig Grad spielen musste. Immer häufiger wurden für die abendlichen Tanzaktivitäten auch ­eigentliche Dancings eingerichtet. Die Zahl der Orchester, die zur Unterhaltung der Touristen aufspielten, stieg bis Ende der 1920er-Jahre markant. Vermittelt wurden sie von einem immer dichteren Netz von Agen­ turen, die international tätig waren und sich so einen neuen Markt erschliessen wollten. Die Musiker der Orchester wiederum mussten ihr Repertoire umstellen und es mit aktuellen Gesellschaftstänzen wie dem Charleston, Boston, Black Bottom, Shimmy, aber auch dem Tango ergänzen, ohne dabei die europäischen Standardtänze zu vernachlässigen. ­Jazzig waren bei diesen Interpretationen – wenn überhaupt – die Attitüde und das Kokettieren mit der vermeintlichen ungehemmten Lebenslust und dem «ursprünglichen» Rhythmus der Afroamerikaner. Oft war in den Arrange­ments der hiesigen Orchester allerdings kaum etwas von schwarzem Jazz zu hören, ja nicht einmal von dessen weissen Salonadaptionen im Stil von Paul Whiteman und Jack Hylton. Später wurde dieser an Noten gebundenen Spielart das Etikett «Straight Jazz» umgehängt – im Gegen-

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satz zum improvisationsfreudigen «Hot Jazz» der Afroamerikaner. An hiesige und heutige Verhältnisse angepasst könnte man, wie es der Autor Theo Mäusli vorschlägt, beim Straight Jazz auch von Popmusik sprechen. Wie später der Pop veränderte sich auch der Straight Jazz ständig – das Publikum langweilte sich schnell. Jazz war in seinen (Schweizer) Anfängen also ein nur schwer einzugrenzender Sammelbegriff und liess sich musikalisch kaum verorten. ­Alles, was nicht auf einer klassischen europäischen Musiktradition aufbaute, wurde nun unter dem neuen Brand aus den USA verkauft. Ob­ Tango, Tsigane oder Rumba: All diese Stile liefen irgendwie unter Jazz, bloss die europäische Kunst- und Volksmusik blieb draussen vor der Tür. Dennoch kam es mit der Zeit auch zu einer sanften Unterwanderung der europäischen Ballmusik mit afroamerikanischen Elementen, authentischen, aber auch längst kommerzialisierten. Das Resultat könnte man wie der Autor Christian Steulet «urbane Folklore» nennen. Bei der organisierten Musikerschaft stiess die neue Musik zunächst auf Skepsis oder gar offene ­Ablehnung, wie ein Artikel aus dem «Schweizer Musikerblatt» von 1923 unter dem Titel «Jazzband – Ein Notschrei» zeigt. Die Jazz-Musik ist die willige Magd der seit Kriegsende in der Welt grassierenden Tanzwut, und passt vorzüglich hinein in die Welt der Neu-Reichen, die wir alle so lieben. Hotels, Cafés, in welchen früher noch einigermassen Wert auf saubere und gediegene Unterhaltungsmusik gelegt wurde, engagieren jetzt «Jazzbands», nicht weil der Hotelier oder Cafétier das will, sondern weil er muss. Die internationalen Gäste und bald auch die Autochthonen wollen das so. (…) Nun, bis hierher haben sich noch keine ersten Dschähssbänder ­verirrt. Vorläufig haben sie noch drüben genug zu tun. Aber da kommen nun zu uns Amerikaner und Engländer in hellen Scharen, was ja vom Standpunkt der arg in Mitleidenschaft gezogenen Hotel­industrie aus nur zu beglückwünschen ist; aber diese ­verlangen nun leider die gewohnte Jazz-Musik, morgens, mittags, nachmittags, abends und nachts.

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Unter Druck kam auch die instrumentale Zusammensetzung der arbeitenden Orchester in Hotels, Bars und Cabarets, die meist aus drei bis sechs Musikern bestanden. Die traditionellen Streichinstrumente der Pariser Besetzung mit Geige, Cello und Klavier mussten zunehmend Blasinstrumenten wie dem Saxophon Platz machen. Das Schlagzeug, in der Schweiz der Einfachheit halber gleich «Jazz» oder «Jazzband» genannt und von einem «Jazzer» bedient, schien zunehmend unverzichtbar. Die Salon­ orchester von einst mussten bei ihren Hotelengagements extrem wandlungsfähig sein, um den Ansprüchen der Gäste zu genügen. «Eines der schwierigsten Probleme ist die Zusammenstellung des Repertoires für das jeweilige Unternehmen», konstatierte der erfolgreiche deutsche Orchesterleiter Marek Weber, der die «anarchistischen Tendenzen» des Jazz hasste, und sich nicht selten an der Bar einen Drink hinter die Binde goss, wenn seine Kapelle solchen spielte. «In den Cafés, in denen man mit dem traditionellen Marsch, Walzer, Ouvertüre, Fantasie usw. das Programm ­eröffnete, hat diese etwas angestaubte Art einer freieren Auffassung Platz gemacht. Man ist willkürlicher in der Auswahl seiner Stücke geworden und richtet sich da meistens nach dem Geschmack des betreffenden ­Publikums.» Auch in den Schweizer Städten war das Tanzbedürfnis nach den entbehrungsreichen Jahren des Ersten Weltkriegs akut. An Gelegenheiten, dieses auszuleben, mangelte es nicht. Zu Beginn der 1920er-Jahre noch streng rationiert und auf einige wenige Tage pro Monat beschränkt, ­lockerten die zuständigen Kantone für ihre urbanen Zentren rasch die ­Regeln – auch hier nicht zuletzt, um den Bedürfnissen der Tourismusbranche Rechnung zu tragen. So erlaubte der Zürcher Kantonsrat 1928 die Veranstaltung von nachmittäglichen Thé dansants in der Zwingli-Stadt Zürich. Und das war erst der Anfang: Bald hatte jede grös­sere Stadt ihre Nachtclubs, welche sich mondän gaben und regelmässig internationale, zwischendurch auch einheimische Tanzorchester engagierten. In der Taverna in Ascona, im Cécil in Lugano, im Walhalla in St. Gallen, den Grand Cafés Esplanade und Sihlporte in Zürich, im Singerhaus in Basel, der Rotonde in Neuchâtel, im Chikito in Bern, im Fantasio in Biel, im Old Indiana in Lausanne oder im Mac Mahon in Genf drehten sich nun allabendlich die

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Paare zum Sound der Tanzorchester. Dazu kamen Casinos und Kursäle, wo nicht nur gezockt, sondern auch getanzt wurde. Tanz war überall. Nicht mehr nur in den gehobenen Kreisen, die sich beim amerikanischen Cakewalk die Knöchel verstaucht hatten, sondern in a­ llen Bevölkerungsschichten, vor allem natürlich beim jungen Publikum. In einer Schnellbleiche liess man sich im lokalen Tanzinstitut die ent­sprechenden Schritte beibringen: Tanzschulen waren nach dem Ersten Weltkrieg die ersten Orte überhaupt, wo man Jazz hören konnte. Kein Wunder, dass die Medien des gesetzten Bürgertums der neuen, amerikanisierten «Tanzwut» skeptisch gegenüberstanden und «die ­Verrohung der Tanzsitten» sowie die «Verrenkungen und Verdrehungen auf dem Parkett» anprangerten. Schon im Februar 1922 klärte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) ihre Leserschaft im Rahmen einer Buchbesprechung über die Ursprünge von Jazz und Shimmy auf. Sie wusste, dass Jazz ursprünglich «irgendetwas Erotisches» bedeutet habe, der Shimmy hingegen ein Slang-Ausdruck für die französische Chemise sei. «Es ist nicht das erste Mal, dass ein Frauen-Dessous als Bezeichnung für einen Tanz gewählt wird.» Die neuen Tänze seien von den amerikanischen Truppen nach Europa gebracht worden und Ende 1921 sei die «Jazz­ bandwelle» dann so richtig über die Besiegten geschwappt, erklärte der Rezensent. Auch eine Beschreibung der neuen Tänze blieb er nicht schuldig. Sie [die Tanzenden] marschieren ruhig und langsam nach dem Takt der grossen Trommel dahin, aber plötzlich fährt ihnen ein schriller Flötenton in die Knochen, die Knie knicken ihnen ­zusammen, und sie gehen ein paar Schritte mit ganz verrenkten und schlotternden Beinen, bis sie wieder den ruhigen Schritt der grossen Trommel gefunden haben. Aber dann kommt ein Lauf der Klarinette und dreht sie wie einen Korkzieher zusammen, bricht plötzlich ab und zwingt sie, stehen zu bleiben. So macht die Musik mit den Tänzern, was sie will, reisst sie auseinander, bringt sie wieder zusammen und hat sie, Marionetten gleich, am Bändel.

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In seinem Artikel nimmt der Schreiber auch einen interessanten politischen Ansatz des von ihm besprochenen Buchautors auf. Das Hauptverdienst der Jazzmusik sei deren Würdelosigkeit, hatte dieser in die Runde geworfen. «Der Jazz schlägt jeden Ansatz von korrekter Haltung, von Schneidigkeit, von Stehkragen in Grund und Boden. Wären doch alle ­Minister und Geheimen Räte und Professoren und Parlamentarier verpflichtet, zuweilen öffentlich Jazz zu tanzen. Auf welch fröhlich-gesunde Weise würden sie all ihrer Würde entkleidet. (…) Hätte Kaiser Wilhelm Jazz getanzt, niemals wäre das alles passiert.» Dieser kleinen Provokation mochte der NZZ-Korrespondent aus der neutralen Schweiz dann doch nicht beipflichten. Sie sei ein Standpunkt «würdig des Narrenhaufens, zu dem der Weltkrieg Europa gewandelt hat», murrte er. Nicht nur die Medien, auch der patriotisch eingestellte Teil der Schweizer Bevölkerung war wenig angetan von den importierten Tönen aus den USA. So echauffierte sich ein anonymer Berner Student 1933 in der vor allem an volkstümliche Musiker gerichteten «Schweizer Musiker-Revue» (ihr zeitweiliger Herausgeber war der erfolgreiche Ländlermusikant und Geschäftsmann Stocker Sepp) über «eine schwarze Jazzkapelle im Rosengarten Bern». In der hoch über der Altstadt unter alten Baumwipfeln ­gelegenen Gartenanlage englischen Stils pflegte (und pflegt) Tout Bern zu flanieren. Auch «des Landes Zukunft» und die gute Gesellschaft der Bundesstadt traf sich hier nach der Schilderung des anonymen Studiosus anlässlich eines akademischen Sommernachtfests zum fröhlichen Stelldichein. Die von Rosenduft umwehte Lokal-Intelligenzia störte sich am Tanzorchester von Leon Abbey and his Coloured Crew, das in jazzbegeisterten Kreisen als «eines der besten Hot-Orchester» gehandelt wurde. Wir wenden uns an das Organisationskomitee und, weil dieses ­vorwiegend aus Akademikern bestehen dürfte, an die mitorgani­ sierenden Kommilitonen: wohin sie mit ihrem Gefühl für Echtes und Rechtes, für heimische Kultur, nationale Selbstbesinnung und Volksverbundenheit eigentlich hingeraten sind, dass sie ­ausgerechnet in den Berner Rosengarten die Urwaldstimmen und die Urwaldstimmung des dunklen Erdteils verpflanzen müssen?

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«HOT!» ist eine kritische Hommage an die Tanzorchester, die den Jazz in der Schweiz populär machten. «HOT!» erzählt die frühen Geschichten des Jazz, der vor ­hundert Jahren die Schweiz erreichte. Dieser Jazz war nicht Kunst-, sondern Tanzmusik. In den Hotels der Touristenorte, in Dancings und Kellern feierten die Menschen trotz strenger Zeiten zum heissen Sound der Kapellen. «HOT!» bricht eine Lanze für die hart arbeitenden Swing-­ Saisonniers dieser Ära, die oft Gegenwind hatten. Viele sind ­vergessen, auch die Stars ihrer Zeit. Doch ohne Jazzorchester und Tanzbands gäbe es keine Popkultur. Ihr Rhythmus war ein Treiber des gesellschaftlichen Umbruchs. «HOT!» ist ein Stück Musik- und Mediengeschichte und wirft Streiflichter auf erste Jugendbewegungen. Mit neuen Recherchen zu Teddy Stauffer und seinen Original Teddies, Hazy O ­ sterwald und vielen anderen Protagonistinnen und Protagonisten.

ISBN 978-3-7296-5150-0

SAMUEL MUMENTHALER

TEDDY, HAZY UND DER ALPENSWING

JAZZ ALS FRÜHE POPKULTUR Samuel Mumenthaler


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