Daniel Grob: Ein Polizist im falschen Spiel

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Daniel Grob

Ausgerechnet Bühler soll für die ganze betriebliche Organisation sorgen. Je näher das Fest rückt, desto misstrauischer wird der Polizist. Seltsam erscheint ihm nicht nur das Gehabe des neureichen Immobilienmoguls Hofer als OK-Präsident, sondern auch die Aktivitäten im Roten Elefanten, wo das Dokument bei der Renovation des Gasthauses aufgetaucht ist. Als schliesslich der Sohn des Gemeindepräsidenten verschwindet, werden die Karten neu gemischt. Wer spielt den letzten Trumpf aus?

Ein Polizist im falschen Spiel

Daniel Grob

Als dem Gemeindepräsidenten Munzinger ein historisches Dokument zugespielt wird, das die Stadt erstmals vor 900 Jahren erwähnt, ist dieser nicht mehr zu bremsen: Das muss gross gefeiert werden!

Ein Polizist im falschen Spiel

Koni Bühler ist der einzige Polizist in einer Kleinstadt im Schweizer Mittelland. Im Herzen ist er zwar Bauer geblieben, aber auch seiner neuen Aufgabe widmet er sich mit ganzem Engagement.

Roman


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Daniel Grob

EIN POLIZIST IM FALSCHEN SPIEL Roman



Es gibt immer einen Ausweg, man muss nur Augen, Ohren und Herz offen halten und manchmal das Undenkbare denken.



1 Die Kälte war scharf geworden und in den letzten Tagen wehte dazu ein ständiger Wind, der feinen Schneestaub in Wirbeln vor sich hertrieb und in den Ecken der Häuser zu kleinen Schneewehen häufte. Besuchte der Gemeindepräsident wirklich nur wegen dieser Kälte den Gottesdienst am ersten Adventssonntag, wie der Stammtisch im Salmen behauptete? Bühler, der Polizist, bezweifelte es. Er hatte dieses Gerücht auch nur zufällig mitbekommen, als er auf seiner Runde, so nannte man die Kontrolle der Polizeistunde, die er in allen öffentlichen Lokalen der Stadt durchzuführen hatte, sich im Salmen ausnahmsweise einen Kaffee genehmigte. Das tat er selten, aber diesmal war ihm wirklich kalt, denn ausgerechnet jetzt streikte wieder einmal die Heizung in seinem blauen VW Käfer, der in der Stadt bekannter war, als es ein Streifenwagen gewesen wäre. Das Auto kommt in die Jahre, genau wie ich, dachte Bühler. Und mittlerweile, spann er den Gedanken weiter, mittlerweile war auch die heimliche Hoffnung, doch noch den Hof seines Schwiegervaters droben in den Voralpen übernehmen zu können, immer weiter in den Hintergrund gerückt, ja eigentlich bereits aufgegeben. Der Bruder seiner Frau war allein geblieben, keine Familie bevölkerte das alte Haus, und der Junggeselle fuhrwerkte mit dem Alten zusammen verbissen in der herkömmlichen Weise weiter, als könnte es bis in alle Ewigkeit so bleiben. Und keiner von beiden schien auch nur den leisesten Gedanken an ein Aufhören oder gar an eine Weitergabe des Hofes zu hegen, geschweige denn an eine Übergabe an ihn, den Schwiegersohn, an einen Fremden, wie der Alte damals, als es das erste Mal darum gegangen war, gesagt hatte. Und vielleicht wäre

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es nun auch für ihn, Bühler, schwierig geworden. Zu lange war er wohl nur noch Feierabendbauer, mit einem grossen Garten statt Weiden, Wiesen und Wald und mit Kaninchen und Zwergziegen. Tablarkühe und Bonsaigeissen, wie er sich selbst verspottete. Er seufzte. Nein, das war wohl für immer vorbei. «Hast Sorgen, Koni?», fragte Vroni, die Serviertochter im Salmen, leise und stellte ihm den Kaffee hin. Der Polizist lächelte: «Nicht mehr als du, Vroni», sagte er, «wir haben ja alle etwas zu seufzen, nicht? Nein, es ist einfach elend kalt draussen, und mein Käfer heizt mal wieder nicht.» Und eben darum kam die Rede auf den Kirchgang des Gemeindepräsidenten. «Vielleicht», grinste nämlich Twerenbold, der örtliche Elektriker, der wie alle Stammtischler alles hörte und sah, was im Salmen und weit darüber hinaus geschah, «vielleicht solltest du’s machen wie der Pfarrer.» Bühler schaute ihn verständnislos an: «Wie der Pfarrer? Was hat denn der Pfarrer mit meinem VW zu tun?» «Na ja», meinte Twerenbold und leerte sein Bierglas in einem grossen Zug, «noch eins, Vroni!», rief er und blickte den Polizisten herausfordernd an. Bühler lächelte und schaute auf die Uhr: «Letzte Runde, Vroni, geht in Ordnung.» Twerenbold zwinkerte den andern zu und fuhr dann fort, dass eben auch in der Kirche die Heizung saniert werden müsse. Eiseskälte herrsche dort, nicht nur an Tagen wie jetzt. Und nun habe die Kirchgemeinde eine Anfrage um einen Beitrag an die Gemeinde eingereicht. «Gut und recht», sagte der Polizist etwas unwillig, Stammtischgeplapper war ihm eigentlich zuwider. Doch er verstehe noch immer nicht, was diese ganze Geschichte mit seinem VW zu tun habe und warum da ein Zusammenhang

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mit dem Kirchgang des Präsidenten bestehe. Munzinger gehe doch wohl sowieso regelmässig in die Kirche, wie alle aus seiner Generation und insbesondere als Bauer mit einem der grössten Höfe. «Eben nicht», beharrte Twerenbold, das sei nicht mehr wie früher, er, der Polizist, solle sich mal umhören – oder ob etwa er jeden Sonntag in der Kirche anzutreffen sei und dort den Munzinger sehe? Bühler wurde ärgerlich, denn er fühlte sich ein wenig ertappt. War es nicht tatsächlich so gewesen in den jungen Jahren, dass man ganz selbstverständlich am Sonntag in die Kirche ging? Wie war das damals droben im Dorf? Da war man nachher noch zusammengestanden oder im Rössli, dem Gasthof am Dorfplatz, gesessen, man hatte Neuigkeiten erfahren, und nicht zuletzt hatte man dort auch den Mädchen nachgeschaut. Hatten nicht Sophie und er einander die ersten Blicke auch auf dem Kirchplatz zugeworfen? Aber schon während der Zollzeit war diese Gewohnheit gebröckelt, meistens waren die Kirchen weit von den Zollhäusern entfernt, oder er musste am Sonntag Wachdienst verrichten. Nach dem Tod von zweien ihrer Kinder besuchten sie zwar wieder öfter einen Gottesdienst, aber richtig geholfen hatten die Kirchgänge weder ihm noch seiner Frau. Die Trauer war unverändert der ständige Begleiter von Sophie geblieben und auch hier, in der Stadt, hatte sich nichts verändert, obwohl Pfarrer Schäuble ganz zu Beginn seiner Tätigkeit bei ihnen zu Hause vorbeigekommen war. Vielleicht hatte Twerenbold ja recht, vielleicht waren regelmässige Kirchenbesuche auch bei den Alteingesessenen nicht mehr üblich, aber das Stammtischgetratsche war ihm trotzdem zuwider. Der Elektriker nahm Bühlers Schweigen als Zustimmung. «Eben», sagte er, und als Munzinger und sein Gemeinderat das Gesuch der Kirche rundweg abgeschmettert hätten, sei

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das dem Herrn Pfarrer in den falschen Hals geraten, und er habe überall erzählt, dass man sich ja nicht wundern müsse über diesen Entscheid, wenn keiner aus dem Gemeinderat, und vor allem auch der Präsident selbst, nie in der kalten Kirche anzutreffen sei. Da könne einer ja gar nicht wissen, wie marode es um das Gotteshaus stehe. Und jetzt, sagte Twerenbold triumphierend, jetzt sei Munzinger eben am vergangenen Sonntag tatsächlich wieder einmal in der Kirche gewesen, und er, Twerenbold, wette, dass es da ein Rückkommen auf die Anfrage geben werde. Jedenfalls habe er gehört, dass der Herr Gemeindepräsident ordentlich geschlottert habe. Und so, meinte dann Twerenbold weiter, so müsse er, Bühler, das halt auch anpacken, er solle doch Munzinger mal mit auf eine Dienstfahrt nehmen, vielleicht werde ihm dann die Heizungsreparatur von der Gemeinde bezahlt. Da zeige es sich halt: Nur wer frech genug sei und seine Möglichkeiten auszunutzen wisse, komme zu Geld! Am Stammtisch lachten alle grölend. Bühler schüttelte nur den Kopf. Leeres Geplapper, wie es eben an Stammtischen üblich war. «So, die Herren, zahlen, und danach ist Schluss. Kann ich mich drauf verlassen?» Die Runde murrte, aber es war nicht wirklich böse gemeint. Bühler verstand sie auch ein wenig, obwohl er selbst nicht viel davon hielt: Die Männer hier hatten meistens harte Arbeitstage hinter sich, und manche, wie Twerenbold, mit eigenen Geschäften, arbeiteten fast sieben Tage die Woche und meistens länger als acht Stunden, da war ihnen doch ein Bier spätabends zu gönnen, oder nicht? Oder war man deswegen schon ein Alkoholiker, wie Sophie, Bühlers Frau, all den Beizenhöcklern nachsagte? War nicht auch gerade der Stammtisch ein gutes Ventil für manchen Ärger, dem man dort Luft machen konnte? Manchmal war auch in den Stammtisch-

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weisheiten ein Körnchen Wahrheit, man musste es nur in all dem nutzlosen Schwemmgut zu finden wissen. Bühler hörte darum auf seinen Runden ab und zu dort rein, sei es im Salmen oder sonst in einer der Beizen, in denen immer auch Leute aus bestimmten Kreisen oder Quartieren ihren festen Stuhl hatten. Und er wusste recht gut zu unterscheiden, was denn nun dieses Körnchen Wahrheit war und was eben nur leeres Geschwätz. So konnte er auch nicht recht glauben, dass Munzinger tatsächlich nur wegen der Heizungsanfrage in der Kirche gewesen sein sollte, obwohl es natürlich schon so war, dass ein Politiker, der wieder gewählt werden wollte, darauf achten musste, was um ihn her erzählt wurde. Er kannte das ja auch von seinem Amtsvorsteher Nüssli, der stets wie ein scheues Wild durch die Stadt eilte, sehr darauf bedacht, niemanden ausser Acht zu lassen oder etwa gar einen Gruss zu verpassen. Aber umgekehrt traute Bühler nun dem Pfarrer wiederum nicht zu, dass der so berechnend sein sollte – ach was, er kannte sich in diesem ganzen Gesellschaftsgeflecht ohnehin nicht aus, das merkte er immer wieder. Besser, man vergass das Gewäsch des Stammtisches gleich wieder, dachte Bühler, als er aus der Kneipentüre in die Kälte hinaustrat, die einen wie immer nach einem warmen Raum noch bissiger dünkte. Ein paar Schritte weiter hatte er sich aber bereits daran gewöhnt, und auch sein VW dünkte ihn nun nicht mehr so kalt. Oder sollte etwa –? Er nahm eine Hand vom Lenkrad und fühlte am Lüftungsgitterchen – tatsächlich, offenbar hatte bereits die Erwähnung der Kirchenepisode genügt, um das Auto zur Raison zu bringen. Sachte zwar erst, aber spürbar heizte das Gebläse wieder. Bühler lächelte. Also hatte der Kirchgang doch sein Gutes gehabt, dachte er.

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Mit Sophie lachte er an jenem Abend beim Kaffee noch ein wenig über die Kirchganggeschichte und die dadurch erweckte Heizung seines Autos. Immerhin aber fand sie die Geschichte mit den Gerüchten zur kalten Kirche nicht ganz so abwegig. Der neue Pfarrer, meinte sie, der wisse eben schon, wie die hohe Politik ticke und habe schnell begriffen, wie man sich seinen Platz und seine Mittel beschaffen könne. Anders laufe es doch mit den anderen Geschäften auch nicht, er als Polizist müsse das doch am besten wissen, er erlebe es ja selbst tagtäglich. Aber Bühler seufzte. Das sei eben nicht seine Stärke, er wisse das schon. Sophie legte ihre Hand auf die seine, blickte ihn an, und Bühler wusste auch gleich, woran sie dachte. Hätte er sich gegenüber ihrem Vater auch anders behaupten müssen? Wären sie dann jetzt Bauer und Bäuerin auf dem Tanneck, oben im Dorf in den Voralpen? Aber ob er glücklicher wäre, wenn er es auf eine solche Weise geschafft hätte? «Ich kann eben auch nicht aus meiner Haut», sagte er leise. Und trotz allem lächelte Sophie und nickte: «Das wär auch gar nicht gut. Ich bin ja auch noch da.» Bühler nickte. Wenn er nur jeweils wieder dran denken würde. «Hast recht», meinte er und wusch seine Kaffeetasse im Spültrog aus, «so anders als hier läuft’s ja droben im Dorf auch nicht.» Und irgendwie hatte dieser Gedanke etwas Tröstliches.

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2 Kaum eine Woche war seit jenem Abend im Salmen vergangen, als der Polizist von Elvira Wülser, der Vorzimmerdame seines Amtsvorstehers Nüssli, eine Notiz erhielt, wonach er sich zusammen mit Werkmeister Bamert gleich am nächsten Vormittag um zehn Uhr beim Gemeindepräsidenten einzufinden habe. Bühler spürte ein mulmiges Gefühl aufsteigen. Aber die Wülser beruhigte ihn, als er mit der Notiz zu ihr ging. Soweit sie mitbekommen habe, gehe es um ein Dokument, über das Munzinger gestolpert sei, und offenbar sei nun daraus eine Idee entstanden, die er mit ihm, Bühler, und dem Werkmeister besprechen wolle. «Aber warum denn mit uns?», fragte Bühler, denn eigentlich war er direkt Amtsvorsteher Nüssli unterstellt und gehörte damit nicht zum Präsidialamt, das allen andern übergeordnet war. Aber natürlich konnte der Gemeindepräsident durchaus auch über Beamte anderer Abteilungen verfügen. Allerdings tat er das sehr selten, und Bühler selbst hatte es in den bald fünf Jahren, in denen er nun der Polizist war im Städtchen, noch keine zwei, drei Mal erlebt. Nicht mal in jener ersten, schlimmen Zeit, als man gegen die Tollwut kämpfte, war das der Fall gewesen. Natürlich hatte das auch damit zu tun, dass Amtsvorsteher Nüssli eifersüchtig über sein Einflussgebiet wachte. «Ist es mit Nüssli abgesprochen?», fragte er darum weiter. Die Wülser lächelte: «Alles gut, Koni. Nüssli hat zugestimmt, unter der Bedingung, dass er, wie immer, über alles informiert werde, was man euch aufträgt. Aber das ist nicht dein Bier, dafür schau ich dann schon.»

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Bühler schüttelte den Kopf: «Gefällt mir nicht, das Ganze, gefällt mir trotz allem nicht. Ich trample nicht gerne in fremden Gärtchen rum. Und das hier sieht verflixt danach aus.» Jetzt lachte die Wülser erst richtig: «Also, dass du trampelst, kann man sich gar nicht vorstellen. Jedenfalls hab ich das noch nie erlebt. Darum wärst du ja auch ein guter Bauer, benimmst dich immer, als würdest du eine junge Saat, ein empfindliches Obst oder ein neugeborenes Tierchen anfassen. Sowieso hast du seit der Tollwut-Geschichte von Nüssli nichts mehr zu befürchten. Jenen Anruf des Regierungsstatthalters nach deiner Suspendierung vergisst er nicht so schnell, das kann ich dir sagen.» Die Wülser faltete die Notiz energisch einmal zusammen und schob sie über den Schreibtisch wieder zu Bühler hin. «Ich glaub eher, dass das so eine Art Beförderung darstellt, und ich hoffe bloss, dass du nachher noch mit mir redest.» Bühler setzte zum Protest an, aber die Wülser schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. «Ich würd’s dir sagen, wenn ich mehr wüsste», sagte sie resolut. «Geh erst mal zuhören und erzähl mir nachher, was der hohe Herr wollte.» Bühler hob die Schultern: «Gefällt mir trotzdem nicht», brummte er. Die Wülser machte wieder die gleiche Handbewegung: «Es kann sowieso nichts schiefgehen, Bamert ist ja auch dabei. Los jetzt, ich muss hier noch bisschen ran, sonst werden am Ende noch mir die Nüsse geknackt.» Die Wortspielereien mit dem Namen des Amtsvorstehers waren unter den Leuten seines Amtes eine Art ständigen Wettbewerbs. Jetzt grinste auch der Polizist und entspannte sich. «Also dann», nickte er, «hoffentlich hast nicht zu viele taube Nüsse dabei.» Und natürlich hatte die Wülser recht. Dass sein

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Freund, Werkmeister Bamert, auch für das Gespräch aufgeboten wurde, war ein durchaus ermutigender Gedanke. Denn tatsächlich, dachte Bühler, als er am nächsten Vormittag aus der Hintertüre des Rathauses trat, eines mächtigen, aber auch ein wenig altersmuffigen Riegelhauses im Zentrum der Altstadt, tatsächlich konnte einem nicht viel geschehen, wenn Bamert dabei war. Die selbstsichere und bestimmte Art des Werkmeisters hatte ihm schon öfters in schwierigen Situationen geholfen. Immer noch trieb ein scharfer Wind feinen Staubschnee durch das Städtchen. Der Werkmeister lehnte an der Seite seines Bauamtswagens, des schweren Fords, auf dem hinteren Parkplatz, wo der Schnee bereits wieder eine durchgehende, unberührte Fläche bildete. Er rauchte gelassen einen seiner krummen Tabakstängel und grinste spitzbübisch: «Das ist ’ne Superidee von Munzi, den Termin heute festzulegen – da darf Keller jetzt alle Anrufe entgegennehmen. Und ich kann dir sagen, seit heute Nacht ist der Teufel los. Die Leute denken, wir könnten Wunder vollbringen.» Er schnippte mit der Hand durch den stiebend fallenden Schnee: «Schwuppdiwupp, Hokuspokus, und schon ist das Weiss verschwunden.» Er schüttelte den Kopf. «Sollen alle mal selbst an die Schaufel, dann würden sie’s vielleicht merken.» Er machte eine Geste, welche die ganze Umgebung erfasste: «Was sollen wir denn machen bei dieser Sandstrahlerei von Schnee? Kaum bist du am Ende eines Strässchens mit dem Räumer, ist der Anfang schon wieder zugeschneit. Keine Chance! Sieh dir doch nur das hier an», er deutete auf den Parkplatz, «ich bin noch keine drei Minuten hier – und siehst du noch irgendeine Spur von meinem Wagen?» Bühler blickte sich um, schüttelte den Kopf und klaubte dann ebenfalls sein Rauchzeug aus der Brusttasche des Uni-

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formkittels. Im Gegensatz zum Werkmeister rauchte er dicke, kurze Tabakrollen, Stumpen, wie man sie in der Gegend nannte. Sorgfältig führte er die Flamme des Feuerzeugs um das vordere Ende eines solchen Stumpens, während er versuchte, mit seinem Körper den scharfen Wind abzuhalten. Endlich zog das Rauchzeug zu seiner Zufriedenheit, er wandte sich wieder der weissen Welt zu und seufzte: «Bisschen früh dieses Jahr, nicht? Es würde auch besser zu Weihnachten so aussehen, anstatt dass es dann wieder frühlingshaft warm ist. Da hätten die Kinder Freude.» Der Werkmeister hob die Schultern: «Nun, vielleicht reicht’s ja noch? Die Weihnachtsferien sind nicht mehr so weit weg.» Bühler wiegte den Kopf: «Na ja, dauert immerhin noch gute drei Wochen. Obwohl, da sind wir dann oben im Dorf der Schwiegereltern, auf dem Tanneck, da hat’s wahrscheinlich auch an Weihnachten genug Schnee.» «Na also», sagte der Werkmeister, «es läuft halt nicht immer alles nach dem eigenen Grind, man muss auch lernen, sich nach den Gelegenheiten zu richten.» Der Polizist nickte: «Die Feste feiern, wie sie fallen, meinst.» Der Werkmeister grinste: «Dachte doch, hättest einen deiner Sprüche bereit.» Er zertrat den Stummel seines Tabakstängels im Schnee und warf die zerknautschten Überreste in den Kübel am Rande des Parkplatzes. Bühler dagegen drückte seinen Stumpen am Kübelrand aus und schnippte den Rest in die tiefverschneite Rabatte dahinter: «Bisschen Tabak …» «… fördert das Wachstum, weiss ich doch, sagst es ja immer», lachte der Werkmeister, «komm, hören wir mal, was der grosse Manitou sich ausgedacht hat.»

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Sie wandten sich vom Rathaus weg und überquerten die Hauptstrasse. Das Präsidialamt belegte vis-à-vis die ersten drei Geschosse in einem neu gebauten Geschäftshaus. «Standesgemäss», spöttelte Bamert, als sie unten durch die Glastüre in das riesige Foyer traten. Drüben, an der gegenüberliegenden Wand, sah man vom Eingang her die verglaste Empfangsloge. Der Raum war fast leer und spiegelblank. In einer Ecke neben der Glasschiebetüre des Einganges standen zwei schwarze Ledersessel einer bekannten Edelmarke, die offensichtlich nicht zum Sitzen gedacht waren, obwohl auf der Glasplatte des kleinen Beistelltisches, den sie einrahmten, zwei Zeitschriften lagen: das Magazin Gemeinde und eine Hochglanzbroschüre über die Stadt. Aber auch diese Hefte waren sorgfältig auf Wirkung hin drapiert und ebenso offensichtlich nicht zum Lesen gedacht. Ausserdem war da nur noch eine Grünpflanze neben der Glasloge, deren lackierte Blätter vermuten liessen, dass es eine künstliche Pflanze war. Hinter der Glasscheibe der Loge war eine Blondine damit beschäftigt, sich die Fingernägel zu lackieren. Ab und zu warf sie mit einer Kopfbewegung, die Bühler an irgendetwas erinnerte, die langen Haare über die linke Schulter zurück. Im Augenblick konnte sich Bühler nicht darauf besinnen, woher er die Bewegung kannte, aber der Werkmeister war sofort auf Draht: «Na so was – guten Tag, Frau Haldemann! Das ist ja eine Überraschung», trompetete er leutselig, liess aber offen, welcher Art die Überraschung sei. Schlagartig erkannte nun auch Bühler die Frau: Im Glaskasten des Empfangs im Präsidialamt, das war mit dezenten, weissen Klebebuchstaben am Glas zu lesen, sass also die ehemalige Sekretärin des Liegenschaftsverwalters Hugentobler, die damals im Tollwutfall die Freundin des Amtstierarztes Ludwig gewesen war und Bühler mit nächtlichen Anrufen

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terrorisiert hatte. Der Polizist hatte seither nichts mehr von ihr und dem damaligen Amtstierarzt gehört. Ihm wurde unbehaglich, und wieder einmal kam er sich grobschlächtig und unbeholfen vor, und er beneidete Bamert um seine Lockerheit. Freilich war der auch weniger direkt betroffen gewesen, aber Bühler empfand diese Befangenheit immer wieder in Anwesenheit von Frauen oder auch selbstsicheren Männern wie damals dem Amtstierarzt. Die Sekretärin hingegen liess sich nichts anmerken. Ohne jede Verlegenheit steckte sie das Pinselchen sorgfältig in das kleine Gläschen zurück. Genauso leer und aufgeräumt wie die Vorhalle war die Empfangsloge selbst, die nur mit einem Pult aus fast schwarzem Edelholz und, an der Rückwand, mit dem halboffenen Metall-Kunststoff-Gestell einer ebenfalls bekannten Designmarke möbliert war. In diesem halboffenen Gestell, über den Schubladen im unteren Teil, standen nur drei akkurat ausgerichtete graue Bundesordner. Die Schrift auf ihren Rücken liess sich vom Tresen her nicht entziffern, aber es sah aus, als wären es dreimal dieselben Worte. Bamert nickte: «Schön haben Sie es hier, aufgeräumt.» Die Sekretärin blickte die beiden Männer etwas spöttisch an: «Macht Eindruck, nicht?» Dann schlenkerte sie die Hand mit den frisch bemalten Nägeln auf Höhe ihrer Hüften. Bühler hatte sich nie überlegt, wie es wäre, wenn er dieser Frau wiederbegegnen würde. Wozu auch? Jetzt fuhren seine Gedanken Karussell, und unzusammenhängende Worte schwirrten durch seine Gedanken. Er war davon ausgegangen, dass sie nach den Vorfällen sowieso nicht in der Stadt geblieben sei, und schon gar nicht hatte er erwartet, dass er sie auf einem der städtischen Ämter antreffen würde.

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Das ganze Verfahren damals hatte fast ein Jahr gedauert, und wie immer in solchen Fällen war das eigentliche Geschehen am Ende in einem Wust von Plädoyers, Gutachten, Gegengutachten, Verhandlungsprotokollen, Anhörungen und Befragungen immer mehr in den Hintergrund gerückt, und am Ende hatte es ihn, Bühler, gar nicht mehr interessiert, was dabei herauskam und ob irgendwelche Strafen verhängt worden waren. Er hatte selbst noch einige Zeit lang mit dem Drama der Seuche zu kämpfen gehabt, und auch wenn ihm danach die Arbeit erleichtert worden war, so hatten ihn doch die unerfreulichen Ereignisse, das Leiden der Tiere und seine eigene Hilflosigkeit dabei, schwer genug belastet. Er wollte darum auch gar nicht mehr auf jene Geschehnisse zu sprechen kommen. Punkt. Er straffte sich und setzte zum Sprechen an. Aber wie es ihm immer geschah, kam der Entschluss zu spät. Die Haldemann entschied, dass die Nägel trocken genug seien, legte beide Hände flach vor sich auf das Pult und neigte leicht den Kopf: «Nun?», fragte sie etwas schnippisch, und man wusste nicht, war es Naivität oder Überheblichkeit, und sie schaute dabei ausschliesslich Bamert an. Bühler würgte noch immer an den Worten, aber der Werkmeister kannte da keine Schwierigkeiten: «Na, wie ist es? Melden Sie uns bei Herrn Munzinger oder dürfen wir einfach hinaufgehen?», fragte er sehr freundlich. «Je nachdem», tat die andere wichtig, holte ein flaches, schwarzes Buch hervor und begann darin zu blättern, hielt schliesslich inne und starrte auf die aufgeschlagene Seite. Bühler konnte nun sehen, dass es eine ganz normale Agenda war, wenn auch in einer protzigen Aufmachung. Die Sekretärin räusperte sich, ohne den Blick aus dem Buch zu heben, dann fingerte sie wieder einige Blätter um

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und sagte langsam und geziert zögerlich: «Ich weiss allerdings nicht, ob er Zeit hat für Sie.» «Hören Sie», unterbrach Bamert jetzt, betont geduldig, was ein Warnzeichen war, wie Bühler wusste, «hören Sie, Herr Bühler hier, der Gemeindepolizist, wie Sie ja wohl wissen, und ich, wir haben ein Aufgebot vom Herrn Gemeindepräsidenten erhalten, wenn Sie uns jetzt also bitte melden würden.» Die Sekretärin fingerte weiter in der Agenda herum und reagierte nicht. Bühler machte eine beruhigende Geste zum Werkmeister hin, denn er spürte, dass der Topf zu brodeln begann, und jetzt war er endlich wieder auf vertrautem Terrain: «Auf heute, zehn Uhr, sind wir bestellt, genau», sagte er und hob die Notiz der Wülser in die Höhe. «Heute», echote die Haldemann und starrte weiter in die Agenda. Jetzt nahm Bamert dem Polizisten den Zettel aus der Hand und schob ihn, immer noch mühsam beherrscht, über die Theke neben die Agenda. Die Blonde verzog das Gesicht zu einer mürrischen Grimasse und musterte das Blatt schliesslich lustlos. Dann stutzte sie, schaute wieder in die Agenda, dann erneut auf das Blatt: «Aber», begann sie, stockte dann erneut und hob leicht überheblich den Blick. «Mittwoch», schnappte sie, «soweit ich sehe, ist der Termin für Mittwoch, und heute ist …» «Mittwoch», fuhr Bamert auf, endgültig kurz davor, die Beherrschung zu verlieren, «heute ist Mittwoch!» Wieder stutzte die andere, blickte auf das Blatt und hob ungerührt die Schultern: «Ach so», machte sie und fingerte wieder einige Seiten der Agenda herum. «Also – Mittwoch – ach ja, richtig – da ist was eingetragen.» Sie griff nach dem Telefonhörer und musterte dabei weiter das Blatt mit einem

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verächtlichen Ausdruck: «Die Wülser – ha», machte sie halblaut, da klickte es im Hörer, und sofort änderte sich ihre Tonlage: «Herr Munzinger», flötete sie, «ich habe hier», sie wurde unterbrochen, ihr Gesicht verzog sich wieder zu einer Grimasse und sie hob das Kinn: «Ja, Herr Munzinger, sie sind – nein, Herr Munzinger, sie sind eben gerade eingetreten, ich …» Jetzt war es um Bamerts mühsam beherrschte Ruhe geschehen: «Hallo?», bellte er wütend und griff durch das Fensterchen nach dem Hörer. Er riss ihn der Sekretärin aus der Hand: «Hallo? Edi?», fragte er in kollegialem Ton. «Walti hier.» Er hörte einen Moment zu, dann schüttelte er den Kopf: «Nein, nein, wir sind schon einige Minuten hier, aber dein Empfang», er wurde wieder unterbrochen, dann grinste er: «Nein, nein, nicht schlimm, wir», er betonte das Wort, «wir sind doch nicht nachtragend, kennst uns ja.» Er hörte wieder einen Moment zu. «Genau», bestätigte er nickend, «und Bühler sowieso nicht, weisst du doch, die Korrektheit in Person.» Wieder sprach der andere, dann schüttelte Bamert den Kopf: «Nein, nein, lass nur, sie war bloss ein bisschen verwirrt, vielleicht wegen uns.» Er lachte wieder. «Wir kommen hinauf, bis gleich, ja?» Er hörte noch einen Augenblick zu: «Alles klar», fügte er hinzu und legte dann den Hörer zurück. «Na also», sagte er zu Bühler, «gehn wir.» Er hob die Hand zur Sekretärin hin: «Schönen Tag noch», und wieder brachte Bühler nur ein Krächzen zustande, das ihm sicher als Überheblichkeit ausgelegt würde. Die Männer gingen auf die Treppe zu und stiegen hinauf, während die Haldemann den beiden Männern bewegungslos hinterherstarrte, und es war nicht zu erkennen, ob sie vor Verblüffung oder vor unterdrücktem Ärger kein Wort mehr hervorbrachte. Dann nahm sie wieder den Hörer von der Ga-

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bel, aber weder der Polizist noch der Werkmeister achteten darauf. Bühler schüttelte den Kopf: «Das versteh ich einfach nicht. Nach allem, was sie sich erlaubt hat! Und nun sitzt sie hier, als wäre nichts geschehen. Das ist doch unglaublich, ich bin dann immer wie gelähmt und nicht so schlagfertig wie du.» Aber Bamert grinste nur und begann die Treppe hinaufzusteigen: «Darum passen wir ja auch so gut zusammen, nicht wahr? Du fürs Schwarz-Weiss und ich für die Zwischentöne.»

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3 Munzinger war trotz seiner Stellung und der Krawatte Bauer geblieben. Man hätte nicht sagen können, woran es genau lag, denn äusserlich wirkte der Gemeindepräsident durchaus weltmännisch, und er brauchte den Vergleich mit Kollegen aus den grossen Städten oder mit den Managern von Firmen und Konzernen, die seit eh und je die kleine Stadt wegen der guten Verkehrslage für ihren Hauptsitz ausgewählt hatten, nicht zu scheuen. Vielleicht hatte es eher mit seinen Vorstellungen und der etwas einfachen Auffassung von Lebensinhalten und Perspektiven zu tun, was ihn aber umgekehrt bei den normalen Leuten beliebt machte, weil er ihre Sprache redete, ihre Wünsche und Träume teilte und leicht verständliche Dinge erzählte. Allerdings stimmte der Büroraum, den Bühler und Bamert nun etwas zögerlich betraten, nicht mit dem Bild überein, das die beiden von Munzinger hatten. Das Zimmer war in einem kalten, modernen Stil möbliert. Schwarze Designsessel hatte man auch hier zu einer Sitzgruppe arrangiert, ein Schreibtisch, auf dessen spiegelnder Platte nur zwei, drei Papierstapelchen lagen, stand am Fenster, das sich kaum vom Weiss der Wände abhob. Fast hätten Bühler und Bamert den Schneesturm draussen vergessen, der Raum schien irgendwo zwischen den Jahreszeiten und überhaupt weitab vom Alltag zu schweben. Es standen weiter nur noch zwei Aktenschränke im selben Design wie unten in der Loge gegenüber dem Schreibtisch. Das Ganze schien mehr fürs Auge als für den Zweck entworfen, und der Präsident musste darin ziemlich deplatziert wirken. Der Raum war aber leer, und die beiden Beamten schauten sich ratlos um. Dann bemerkten sie eine

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offene Türe im Hintergrund, und Bamert ging darauf zu. Bühler folgte zögernd. «Hallo, Walti», hörte man plötzlich die Stimme von Munzinger, und als sie an der Türe waren, sprang ein braungebrannter Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt behände von dem zerknautschten braunen Ledersessel auf, der in dem Nebenraum stand, und kam mit ausgestreckter Hand auf die beiden Männer zu. «Und schön, Sie auch mal wieder zu sehen, Bühler. Was macht das Heimet? Reicht das Heu für Ihr Grossvieh? Sonst sagen Sie’s einfach, nicht? Ich hab dieses Jahr mehr als genug. Hereinspaziert, nur herein. Das ist mein Arbeitsreich hier, der da draussen ist nur fürs Auge.» Er lachte laut und offen. «Man muss ja ab und an auch was für den guten Eindruck tun, nicht wahr?» Er war fraglos der Überzeugung, dass die beiden seine Vorstellungen ohne Vorbehalte teilen würden, weil sie einen ähnlichen Hintergrund und Werdegang hatten wie er, und deshalb empfing er sie entsprechend wohlgelaunt als Leute von seinem Schlag. In dem Arbeitsraum, in den sie nun traten, sah es freilich ganz anders aus als im Vorraum: Aktenbündel waren überall aufgestapelt, Ordner standen wirr durcheinander in provisorisch aussehenden Gestellen aus rohem Holz oder auch einfach am Boden. An der Wand hing einer der freizügigen Bauernkalender, und Bamert grinste: «Die Frau Nikolaus auf dem Bauernhof – ganz schön heiss. Kann unsere Werkstatt nicht mithalten.» Der Präsident winkte ab und lachte wieder: «Man braucht auch ab und zu was fürs Gemüt in all diesem trockenen Papierkram.» Damit konnte nun freilich Bühler nicht viel anfangen. Er bedauerte eher die Leute, die sich mit solchen Fotos unterhalten mussten, obwohl er für Schönheit und Weiblichkeit durchaus empfänglich war. Aber damit hatten diese Fotos für

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ihn wenig zu tun. Und zu oft hatte er in seiner Tätigkeit erfahren, dass der schöne Schein eine hässliche Wahrheit übertünchte. Munzinger räumte mit ein paar Handgriffen den Tisch am Fenster frei und wies dann auf die abgebrauchten Stühle, die am Tisch standen. «Setz dich doch ans Fenster, Walti», grinste er, «da kannst für einmal gelassen ins Schneewetter hinausschauen.» Bamert lächelte schwach. «Na ja, ausbaden müssen’s meine Leute», sagte er, «Keller wird wohl pausenlos am Telefon hängen.» Der Präsident öffnete einen alten Bauernschrank, der im Hintergrund im Halbdunkel des Winterlichtes dämmerte, und nahm eine langstielige Flasche und drei dickwandige Gläser heraus. «Na, bei uns auf dem Hof sagt man dem Remisewetter», lachte er wieder, «und da gehört ein kleiner Klarer dazu.» Er entkorkte die Flasche, aber Bühler schob sein Glas weg: «Entschuldigung», sagte er, «während den Dienstzeiten trink ich nie.» Auch Bamert wehrte ab: «Wo denkst du hin, Edi. Ich fahr nachher noch mit dem Pflug, das gäbe eine schöne Bescherung, wenn ich da vorher ein paar Gläschen kippen würde.» «Seh ich, seh ich», nickte der Gemeindepräsident, «ich wusste ja, dass ihr vorbildlich seid. Dann muss es eben Kaffee sein.» Er drückte einen Knopf auf dem Pult: «Dreimal Kaffee bitte, Frau Haldemann», sagte er zu dem kleinen Gerät, das unter den Papieren fast verschwand. Vor der durchgehenden Fensterfront sah man nur weiss. Ein paar schwache Schatten darin mussten die Gebäude auf der andern Strassenseite sein. Der feine Schneestaub webte ein filigranes Spitzenmuster in die Ecken der modernen Fens-

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ter, so dass sie schliesslich aussahen wie Spitzendeckchen, die an die Wände gehängt waren, wie sie Bühler vom Tanneck kannte. Er dachte, dass das eigentlich die schönsten Momente im Jahr waren, auch wenn viele Leute über den Schnee und die Kälte jammern mochten. Doch Bühler fand, dass dann alles wie neu und von Menschen unberührt aussah. Selbst die Geräusche verschwanden in dem Flockenstrudel, und man hörte die Stille förmlich, man roch sie, alles wurde in einen Kokon eingesponnen, aus dem sich eigentlich eine neue Welt hätte entpuppen müssen. Jungfräulich, dachte Bühler, und dass dieses Wort damit für einmal, für ein einziges Mal wirklich zutraf. Aber er wusste auch, dass leider die Entpuppung nicht klappte, es entstand in dem Kokon keine andere Welt, im Gegenteil, bald würde Grau einsickern, die Spitzendeckchen würden verschwinden, und stattdessen würde eine hässliche Nässe alles klamm machen. Wenn nur einmal diese Stimmung hinübergerettet werden könnte, dann müsste das Leben ein Fest sein. «Ein Fest also», sagte Bamert in diesem Moment, und Bühler sah gerade noch durch die Türe des Arbeitszimmers die blonden Haare der Haldemann verschwinden. Was hatte er nicht mitbekommen? Der Kaffee war schrecklich, und Munzinger goss tüchtig aus der langstieligen Flasche in seine Tasse. «Gib mir lieber doch auch einen Schluck», sagte der Werkmeister, «das Gesöff ist ja sonst nicht trinkbar.» Bühler dachte fieberhaft nach. Offenbar hatte er die Einleitung von Munzinger verpasst. Dieser fuchtelte nun mit einem Papier herum: «Richtig, ein Fest. Sowieso höchste Zeit, dass mal wieder ein wenig Unbeschwertheit und Fröhlichkeit herrscht. Nicht immer nur Probleme, Vorschriften, Einschränkungen. Was meinen Sie, Bühler?»

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Der Polizist schluckte. Um was ging es nur? «Interessant», murmelte er und versuchte, aus der Wunderwelt zurückzufinden. Hatte es etwas damit zu tun, dass Bamert nun doch von dem Schnaps in den Kaffee gluckern liess? Er schielte hilfesuchend zu ihm hinüber, aber diesmal schien ihn der Freund nicht zu verstehen, er verzog nur das Gesicht, als er einen Schluck aus der Tasse trank. «Das ist nichts», murmelte er und schüttelte sich. Bühler überlegte fieberhaft, aber Munzinger schien nicht wirklich eine Antwort zu erwarten und rettete den Polizisten aus der Verlegenheit, ohne es zu ahnen. «Was nichts», der Präsident verstand Bamerts Äusserung falsch, «da, sieh nur. Ist das etwa nichts?» Er schmiss das Papierblatt auf den Tisch. Bühler zog es näher und starrte einen Augenblick verständnislos darauf. «Was ist denn das?», fragte er und hätte sich damit erneut verraten, wenn nicht der Präsident so in Schwung gewesen wäre. «Na, die Kopie von dem Dokument doch. Die hat mir Pfarrer Schäuble gegeben. Davon hat er am Sonntag dauernd geredet.» Er schüttelte den Kopf: «Und dann, plötzlich, wenn man sich schon drauf eingestellt hat, dies und jenes in die Wege geleitet hat, will er einen Rückzieher machen.» Bühler versuchte, aus der Ansammlung unleserlicher Zeichen, die den ungeschickten Holzschnitt eines alten Stadtbildes umrahmten, etwas herauszulesen. «Ich sehe nichts», brummte er. Munzinger nickte bestätigend: «Ging mir auch so. Aber der Pfarrer hat es ja selbst gesagt. Er hat die Jahreszahl in die Welt gesetzt und Moser – ihr kennt ihn doch, den alten Moser, Cederic Moser? Weiss alles zur Gegend und noch etwas mehr.»

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Bühler nickte: «Kenn ich. Er wohnt ja auch gleich neben Ihnen.» Munzinger nickte: «Im alten Knechtehaus. Hab ich ihm verkauft, vor Jahren. Also, der alte Moser hat’s bestätigt, wenn auch zögerlich zuerst. Da», sein Zeigfinger stach auf das Dokument ein, «da ist es. Diese Zeichen, das ist die Jahreszahl. Na, klickt’s? Und was haben wir nächstes Jahr, na? Bisschen Kopfrechnen, los, los, nicht mehr geläufig, was? Wir Bauern beherrschen das noch. Los, Bühler, Sie sind auch Bauer. Also, was ist jetzt? Nächstes Jahr macht das doch neunhundert Jahre Differenz. Vor neunhundert Jahren wird unsere Stadt erstmals erwähnt. Hier», er schlug mit dem Rücken der einen Hand auf das Papier, «hier ist der Beweis. Neunhundert Jahre! Das ist doch was, das muss man doch feiern, gebührend feiern muss man das.» Er liess sich begeistert in seinen Sessel fallen und schaute erwartungsvoll auf seine beiden Beamten. Bamert und Bühler schauten sich etwas irritiert an. «Und du bist dir sicher, dass das hier», Bamert deutete auf den ungeschickten Holzschnitt, «wirklich sicher, dass es ein Bild unserer Stadt ist?» Munzinger hob die Schultern: «Na ja, Moser hat’s auch bestätigt, hat zwar etwas gebrummt von wegen überprüfen und so, aber Sie kennen ihn ja», er wandte sich an Bühler, «immer vorsichtig, der Alte.» «Und der Pfarrer?», fragte jetzt Bamert ein wenig ungeduldig und blickte durch das Fenster in das wirbelnde Weiss, «was hat der Pfarrer dazu gesagt?» Aber da geriet Munzinger sofort wieder in Rage. Erst habe Schäuble lang und breit von der Verantwortung gegenüber der Geschichte lamentiert und dass man sich an der Stärke der frühen Gläubigen, die ihre Gotteshäuser mit eigener Hände Arbeit und so weiter und so fort und bla, bla, bla, um

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dann nachher, als er ihn auf dem Dokument habe behaften wollen, rumzudrucksen und schon fast erpresserisch zu werden. Er habe damit nur darauf hinweisen wollen, dass auch die politische Gemeinde ihre Verantwortung gegenüber der Geschichte wahrnehmen sollte und zum Erhalt der Kirche ihren Beitrag beisteuern müsse und so weiter und so fort. «Und plötzlich», eiferte Munzinger und stand auf, «plötzlich will er nicht mehr sicher sein, dass das Dokument echt ist!» Sein Bruder habe es dem Pfarrer gegeben, und der habe auch, so denke er, das Gutachten dazu. Aber man könne doch nicht so was in die Welt setzen, ja sogar überall davon herumerzählen – denn das habe der Bruder vom Pfarrer gemacht, der Hotelier vom Roten Elefanten, den würden sie ja kennen, der habe das Dokument gefunden, bei der Renovation, hinter dem Täfer – also, man könne doch jetzt nicht, Wochen hinterher, noch mit Zweifeln kommen. Er, Munzinger, habe sogleich die Bedeutung erkannt und gehandelt, habe die wichtigen Leute schon ins Boot geholt und so weiter. Für solche, schon fast erpresserischen Spielchen sei er nicht zu haben und er sei ja auch gar nie gegen den Beitrag an die Kirche gewesen! Der Präsident hatte sich erneut in Rage geredet. Für ihn stehe fest, dass man also nächstes Jahr neunhundertjährig werde, er liess sich wieder auf seinen Sessel fallen und blickte die beiden Männer herausfordernd an, damit seien die Herren doch wohl einverstanden, dass also das entsprechend gefeiert werden müsse. Und darum, fügte er bei, darum habe er sie nun auch gerufen. Er musterte sie erwartungsvoll. Bamert blickte wieder unruhig aus dem Fenster, zog die Tasse heran und leerte sie in einem Zug, dann lehnte er sich im Stuhl zurück, so dass dieser gefährlich knackte, und grinste versöhnlich. «Nun, wenn du meinst. Du bist ja hier der Chef.» Aber, schob er dann hinterher, ihn würde trotzdem

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interessieren, was das alles mit ihnen beiden, mit Bühler und ihm, zu tun habe. Jetzt liess Munzinger endlich die Katze aus dem Sack, wie Bühler es hinterher ausdrückte: «Ihr», sagte er beinahe feierlich, «ihr seid sozusagen die Schlüsselfiguren, wenn es um ein grosses Stadtfest geht. Sie, Herr Bühler, sorgen für die Sicherheit, die ganze verkehrliche Organisation, Parkierung, Besucherführung und all so was. Und du, Walti, du machst die ganzen baulichen Dinge, Festzelte, Strom, Wasser, Tribünen, Festspielbühne und so weiter.» Für den ganzen Rest, ein Organisationskomitee, Aktivitäten, Festspiel, Sponsoren und eine entsprechende Persönlichkeit, die dem Ganzen den nötigen Schwung und Glanz verleihe, werde er, Munzinger, schon sorgen.

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4 «Das denkt er sich aber sehr einfach», sagte Bamert düster, als sie vor die Glastüre traten und im kleinen Windfang dort ihr Rauchzeug hervorkramten. Die Luft war eisig, aber nach dem ziemlich aufdringlichen Parfüm-Nagellack-Geruch im Foyer drinnen angenehm rein. Bühler paffte bedächtig. So wäre es, wenn man oben im Dorf der Schwiegereltern an der Ecke des Stalles stehen und die klare Luft der Voralpen atmen würde. Für einmal war es hier unten in der Stadt genauso frisch und sauber, und der Schneestaub machte aus der Stadt dasselbe weisse Wunderland wie droben aus den Weiden und den Waldinseln darin. In dieser reinen Luft müsste doch eigentlich auch das Leben klar und einfach verlaufen, ohne Ränkespiele und verborgene Absichten – oder jedenfalls nur mit so harmlosen, schnell durchschaubaren Einfällen wie Pfarrer Schäubles altem Dokument, von dem am Stammtisch im Salmen lachend als amüsanter Episode erzählt wurde. Hingegen waren die Absichten von Schäubles Bruder nicht ganz so rein, dünkte es Bühler. Der Polizist sog gierig die kalte Winterluft ein, und sein Stumpen erlosch ungenutzt zwischen den Fingern. Er nickte langsam: «Na ja, das ist eben in seiner Welt so, alles einfach und klar, auf säen folgt ernten und auf den Sommer das Remisewetter.» Aber die Geschichte mit dem Jubiläum passte irgendwie nicht so recht in dieses saubere, brave Bild, das der Präsident sich bewahrt hatte, dünkte es den Polizisten, und auch der Pfarrer schien nicht recht glücklich zu sein mit den Geistern, die er offenbar geweckt hatte. Es war so wie mit der weissen Wunderwelt, in die schon bald der Alltagsdreck einsickern und alles in schmuddeliges Grau verwandeln und zum Ver-

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schwimmen bringen würde. Und in der ganzen Jubiläumsgeschichte passierte das, kaum dass der Name des Hoteliers Schäuble auftauchte. Aber wie passte der alte Moser da hinein? Den hatte der Polizist als zwar schrulligen, aber stets geradlinigen und ehrlichen Sonderling erlebt. Bamert schnippte Asche von dem krummen Stängel und nickte: «Meinst, wir sollten mal mit Pfarrer Schäuble reden?» Bühler blieb einen Augenblick stumm. Der Gedanke an Moser kreiste hartnäckig in seinem Kopf: «Ich weiss nicht – vielleicht doch eher zuerst mit Cederic Moser. Dem Pfarrer, scheint mir, ist das Ganze zwar unangenehm, aber ich glaube nicht, dass er dabei eine andere Absicht als den Beitrag der Gemeinde im Kopf hatte. Mich würde viel mehr interessieren, was der alte Moser zu dem Dokument gesagt hat.» Bamert stippte Asche von seinem Krummen: «Dann gehen wir doch am Besten gleich jetzt zu ihm.» Bühler drückte seinen erloschenen Stumpen in das chromglänzende Kistchen neben der Glastüre. Die wundervolle Klarheit des Wintertages an der Stallecke des Tanneck war plötzlich verschwunden. Er nickte: «Je früher, desto besser. Aber musst du nicht mit dem Pflug fahren?» Die Unruhe des Werkmeisters wegen des anhaltenden Schneefalls war ihm nicht entgangen. Bamert hob die Achseln: «Nun, bei dem Schneefall spielt’s auch keine Rolle, ob nun einer mehr oder weniger fährt, wirst der Massen sowieso nicht Herr – ich mach dann die Ablösung für die Nacht.» Sie zogen ihre Mäntel enger und verschwanden in den weissen Schleiern des dichten Schneetreibens. Zwar wohnte Cederic Moser in dem alten Knechtehaus des Gehöftes von Gemeindepräsident Munzinger, sonst aber hat-

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ten die beiden nicht viel gemeinsam. Moser trug im Sommer und im Winter dieselben offenen Sandalen ohne Socken, er war Rohkostanhänger, Pazifist und hatte auch sonst in allem ziemlich andere Ansichten als Munzinger. Aber trotzdem war der Präsident recht oft in Mosers kleinem, mit allen möglichen Gerätschaften, Gegenständen, Möbeln und anderen Dingen vollgestellten Werkstattraum anzutreffen. Denn neben seinen Macken war der Alte eine Art wandelndes Lexikon, er wusste insbesondere die lokalen Geschichten, Sagen und historischen Ereignisse packend zu erzählen und kannte viele überraschende Einzelheiten und Episoden. Darum verstanden sich die beiden im Allgemeinen gut – und wenn es wieder einmal zu einem weltanschaulichen Disput kam, dann schwiegen sie sich ein paar Tage lang an und gingen sich möglichst aus dem Weg. Die Strasse zum Weiler hinauf war gut geräumt, denn hier draussen besorgten die Bauern das bisher noch immer selbst, das gab einen kleinen Zusatzverdienst und auch eine zusätzliche Arbeit in den sonst eher stillen Wintermonaten. Allerdings waren es immer weniger Bauern, die das noch übernehmen wollten. Bamert hob die Schultern: «Man kann’s ja verstehen. Die Plackerei auf den Feldern bringt immer weniger ein, man muss nebenher noch auswärts arbeiten gehen, und dann fehlt halt die Zeit für den Winterdienst und auch das Geld für die Ausrüstung der Traktoren, selbst wenn die Gemeinde da etwas beisteuert. Wirst sehen», fuhr er fort und zwang den Bauamtswagen, den schweren Ford, achtsam die schmale Strasse hinauf, «wirst sehen, in ein paar Jahren fällt auch die Arbeit hier draussen uns zu.» Sie durchquerten fast den ganzen Weiler, bevor sie vor dem Hüttchen von Moser anhielten, direkt hinter Munzingers Anwesen, einem mächtigen Bauernhaus.

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Daniel Grob

Ausgerechnet Bühler soll für die ganze betriebliche Organisation sorgen. Je näher das Fest rückt, desto misstrauischer wird der Polizist. Seltsam erscheint ihm nicht nur das Gehabe des neureichen Immobilienmoguls Hofer als OK-Präsident, sondern auch die Aktivitäten im Roten Elefanten, wo das Dokument bei der Renovation des Gasthauses aufgetaucht ist. Als schliesslich der Sohn des Gemeindepräsidenten verschwindet, werden die Karten neu gemischt. Wer spielt den letzten Trumpf aus?

Ein Polizist im falschen Spiel

Daniel Grob

Als dem Gemeindepräsidenten Munzinger ein historisches Dokument zugespielt wird, das die Stadt erstmals vor 900 Jahren erwähnt, ist dieser nicht mehr zu bremsen: Das muss gross gefeiert werden!

Ein Polizist im falschen Spiel

Koni Bühler ist der einzige Polizist in einer Kleinstadt im Schweizer Mittelland. Im Herzen ist er zwar Bauer geblieben, aber auch seiner neuen Aufgabe widmet er sich mit ganzem Engagement.

Roman


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