Bernhard Chiquet: Mann, Härri!

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Mann,Härri!

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Lektorat :Thomas Gierl

Korrektorat :Ute Wendt

Umschlagbild: Bernhard Chiquet

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Druck: CPI books GmbH, Leck

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ISBN: 978-3-7296-5191-3

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Bernhard Chiquet

Mann, Härri !

JedesDinghatzweiGriffe. Andemeinenkannman estragen, an demandernnicht.

Epiktet, «Handbüchlein der Moral», 1. /2.Jh. DerGrosseHeiligesperrte seinegoldenflammendenAugenauf, nickteenergischundrief: «UndobichEucherkenne.Ihrseid dieGöttinvon derInselPotalakaimSüdmeer, dieinallumfassendemErbarmen alleWesenvom Leiderlöst, oBodhisattvaGuanyin!» «Die Reise in den Westen», klassischer chinesischer Roman, 16. Jh. Wirkämpfenjetztgegen eineRichtung. AberdieseRichtungwirdsterben, durchandereRichtungenverdrängt, dannwirdman unsereArgumentationgegen sie nichtmehrverstehen;nichtbegreifen, warum man alldashatsagen müssen.

Ludwig Wittgenstein, «Vermischte Bemerkungen», 1942

Anfänge

Man konnte es sich zur Methode machen, sofort mit dem Arbeiten zu beginnen, ohne die richtigen Hilfsmittel bereitzulegen und für eine geordnete Umgebung zu sorgen. Dies würde vor der Beschämung bewahren, wenn man scheiterte, obwohl alles sorgfältig vorbereitet war. Die Arbeitskleidung übergezogen, die Tischfläche abgedeckt, genügend Material griffbereit, verschiedene Werkzeuge in Wartestellung, gewisse Vorentscheidungen bezüglich der Mittel, Formate und Vorgehensweisen getroffen, den Kopf geleert, die Schultern entspannt und im Künstlerhabitus eingerichtet. Eine Niederlage nach solcher Vorbereitung wäre doppelt demütigend, da zur Bitternis des Misslingens noch die Lächerlichkeit hinzukäme. Das sorgfältig inszenierte Ritual würde durch die klägliche Qualität oder das völlige Ausbleiben von Ergebnissen als Anmaßung entlarvt.

Und wenn auch die Umgebung kopfschüttelnd fragte, «Wie kannst du bloß in einer solchen Unordnung … ?» –oder etwa anriete, «Ich würde zuerst einmal dies und jenes … » –,soerschien es dennoch verlockend, jede Vorbereitung zu überspringen und direkt mit der Arbeit zu beginnen. Nein, ein Anfang sollte gar nicht zu erkennen sein, dann ließe sich im Falle einer Stockung, eines Scheiterns oder gar Abbruchs leichter so tun, als hätte man gar nichts getan, nein, nicht einmal etwas gewollt. Und man könnte einen Teil des Misserfolgs den Umständen zuschreiben, die einen Erfolg nicht zugelassen hätten. Noch nicht.

Vielleicht war es aber nur der fehlenden Kraft zuzuschreiben, dass man vor, während und nach der Arbeit nicht in der Lage war, Ordnung zu schaffen.

Das so unvermittelte Beginnen mitten in großer Unordnung, unter unmöglich erscheinenden Bedingungen würde also Schutz bieten vor dem Druck – von wem, von welcher Seite? –,etwas Bedeutsames erreichen zu müssen, ja schon nur ins Auge zu fassen. Dabei galt dies nicht nur für ein Schaffen, aus dem materialisierte Werke hervorgingen. Vergleichbares ließ sich beobachten bei geistiger Tätigkeit, die der sichtbar produzierenden voraus- oder neben ihr herging. Die sich mit der Planung oder Verbesserung von Werken beschäftigte, noch während deren Entwicklung. Und erst recht, wenn der Künstler sich gedanklich ins gänzlich Offene bewegte. Wenn er Assoziationen und intuitiven Ahnungen nachging und dabei auf Erfindung und Eingebung hoffte. Es könnte sein, dass er paradoxerweise dann in einen von ihm als fließend empfundenen, zuversichtlichen Zustand geriete, wenn es gleichzeitig ausgeschlossen war, eine produktive Umsetzung der entstehenden Ideen zu beginnen. Also zum Beispiel, wenn der Tag seinem Ende entgegenging. Oder zwar erst begonnen hatte, aber verstellt war mit vielerlei Verpflichtungen, die mit der Kunst nichts zu tun hatten, ihr vielleicht sogar entgegenstanden. Oder wenn er draußen unterwegs war, in Bewegung. Sich vielleicht in einer milden Form sportlich betätigte. Alles war dann denkbar, alles erschien möglich, weil im Hier und Jetzt nichts unternommen werden konnte und darum auch nichts begonnen werden musste.

Oder lieber gar nichts machen?Sich dabei einreden, man halte alle Möglichkeiten offen. Kraft und Schwäche des Vermögens zeigten sich ja erst bei seiner Verwirklichung. Bis dahin konnte ihm jede Größe und Macht unterstellt werden. Es kam jedoch darauf an, wie lange dieser Dornröschenschlaf der Schaffenskraft dauerte. Das Vertrauen des Künstlers in sich selbst musste noch vorhanden sein, genährt von einem früheren Ruf, vom Glauben einer Gefolgschaft, von der Erinne-

rung an das Gelingen. Fehlte dem Potenzial solche Nahrung, so wurde aus der kreativen Pause eine Schaffenskrise. Und wenn diese sich zu lange hinzog, versiegten Kraft und Wille, etwas zu verwirklichen. Vonaußen erwartete es dann niemand mehr. Manche mochten es bedauern, dass ein Künstler am Ende war mit seiner Kunst, andere hatten ihn bald vergessen. Wieder andere waren vielleicht froh, einen Konkurrenten losgeworden zu sein, auf den sie einst neidisch sein mussten.

Der Eisvogel war wieder da. Ein winzig kleiner, aber sofort ins Auge stechender, weil einziger Farbtupfer an diesem grauen Morgen. Er saß, türkis und orange, auf dem Pfosten des Stegs, aber als sein Beobachter den Feldstecher vom Bücherschaft holen ging und zurück ans Fenster trat, war er dort schon nicht mehr. Der Mann suchte den Uferstreifen ab, von links nach rechts, dann wieder zurück, erkannte aber nur das Muster aus Kringeln und Zipfelchen, das die Regentropfen in die Haut des Flusses schlugen. Und den Wechsel von hellen und dunklen Wasserflächen, die aufkommenden Wind ankündigten. Als er das Fernglas absetzte, sah er den kleinen Vogel wieder, eine bunt blinkende Zwergdrohne, blitzschnell und dicht über der Wasseroberfläche dahinsausend, in rasanter Kurve hinein in eine Lücke der Büsche, deren unterste Äste in der Strömung hin und her strichen. Der Mann wusste nicht, dass auch er beobachtet wurde.

Härri Lukas Härri, sechsundfünfzig Jahre alt, übte fast täglich die traditionelle Taiji-Technik Chen. Dadurch blieb er kräftig und beweglich, trotz eines leichten Bauchansatzes. Seine Haare, einst braun, aber früh ergraut und inzwischen fast weiß, hatte er bis zu seinem vierzigsten Geburtstag halblang getragen. Seither ließ er sie so schneiden, dass sie nach dem Duschen schnell trockneten. Nur auf dem Scheitel trug er sie länger und bürstete sie zu einem Kamm. Bart und Schnurrbart rasierte er mit einem Apparat, den er auf drei Millimeter einstellte. Seine grauen Augen waren weitsichtig. Wenn er die Linsen nicht vertrug, setzte er eine Brille mit dunklem Rand auf.

Härri. Er hatte seinen Familiennamen gehasst als Kind. Wenn er sich bei den Eltern beklagte, in Laichingen, er sei in der Schule wieder einmal gehänselt worden deswegen, pflegte sein aus dem Aargauischen eingewanderter Vater zu sagen: «Auch deine Kameraden haben doch Namen, mit denen man sie aufziehen könnte:Pfleiderer, Goller, Schneck und Pflumm!Kehr den Spieß doch einfach um!» Damit war aber die Mutter, eine geborene Vöhringer, gar nicht einverstanden.

«Stift ihn ned an zu solcha Bosheida!Man kann nix dafür für sai Nama!»

Irritierend war, dass alle den Namen anders aussprachen als sein Vater, bei dem sich das Äbehäbig offen anhörte und das Rfast gerollt, mit einfachem Zungenschlag: Härri. Die Schwaben sagten eher Herri,mit gutturalem R. Gegen Ende der Primarschule nannte ihn ein Anführer unter den Buben dann auf einmal Harry.Zwar war er der Einzige, der das Rso aussprechen konnte, dass es amerikanisch klang. Aber auch

wenn die anderen den Namen gleich aussprachen wie zuvor, schien er jetzt auf einmal cool zu klingen. Lukas war es recht.

Erst als er in die Schweiz kam, stellte er fest, dass der Name hier so tönte wie aus dem Mund seines Vaters und ihn niemand für ungewöhnlich oder komisch hielt. Als er einmal Birrwil am Hallwilersee besucht hatte, wo der Name und auch sein Vater herkamen, gefiel ihm die Gegend so gut, dass er immer wieder dorthin zurückkehrte. Seit ein paar Jahren sah er in regelmäßigen Besuchen am See auch eine Pflicht, weil sein Vater in einem Pflegeheim in Beinwil untergebracht worden war. Erst kürzlich, als er mit ihm über den Familiennamen gesprochen hatte und der alte Mann sich vergeblich abmühte, Bedeutung und Herkunft zu rekonstruieren, war er auf die Idee gekommen, selbst nachzuschauen. Es war ihm früher einmal erklärt worden, er hatte es aber wieder vergessen.

Als Härri wurde ein verborgenes, nicht zu bestimmendes Wesen bezeichnet, dessen Ruf den Frühling oder Frühsommer ankündigte. Härridiente auch als Kosename für verspielt umherspringende Jungtiere. Schließlich konnte sHärri ha oder sHärri übercho – das Härri haben oder bekommen –bedeuten, dass man von einer unerklärlichen Laune oder Sehnsucht ergriffen wurde, von etwas wie tanhā,was die Buddhisten als «Durst»bezeichnen und was man auch «Begehren»nennen könnte. Ihm gefielen alle Erklärungen, aber er wusste, dass seine beiden Kinder froh waren, den Familiennamen der Mutter zu tragen und nicht seinen.

Härri gehörte zu den ältesten Dozenten seiner Institution. Er war Vorstandsmitglied des Instituts Kunst an der renommierten Kunsthochschule von Augst, die einst Akademie geheißen hatte und sowohl von den Ortsansässigen als auch von ihm noch immer so genannt wurde. Härri hatte sich vielen Verän-

derungen in der Kunstwelt angepasst, manchmal aus Überzeugung, manchmal widerwillig. Vordrei Jahren wurde der frühere Direktor des Instituts Kunst pensioniert. Darauf folgte ein Interregnum mit einer dreiköpfigen Leitung, zu der auch Härri gehörte. Eine seiner damaligen Kolleginnen, Aurelia, war noch immer am Institut, die andere war weitergezogen. Vorknapp einem Jahr wurde die koreanische Künstlerin und Kuratorin Da-ra Baek zur Direktorin des Instituts berufen. Sie machte von Anfang an klar, dass sie die Institution als altbacken und erneuerungsbedürftig ansah und zu neuen Ufern führen wollte. Auf ihn übte sie sofort eine ambivalente Faszination aus. Er schwankte zwischen Anziehung und Widerwillen, Anpassung und Rebellion. Er versuchte, nüchtern zu bleiben und ihre neuen Ideen zu verstehen.

Im Kontakt mit «seinen»Studentinnen und Studenten war er empathisch, fürsorglich. Manchmal auch unvermittelt konfrontativ, was schon zu Konflikten geführt hatte. Härri sah sich noch immer als Maler, obwohl er seit längerer Zeit auch mit anderen Medien experimentierte. Aber er hatte seine Ausbildung bei einem «Malerfürsten»gemacht. Nach dem Gymnasium in Ulm hatte er an der Hochschule der bildenden Künste in Hamburg studiert, bei Werner Fässler, einem der damals berühmten «Wilden». Das prägte ihn bis heute. In seiner Kunst war er in jungen Jahren erfolgreich gewesen, hatte Preise erhalten und konnte größere Einzelausstellungen machen, ein paar internationale. Er hatte in Öl und Acryl gemalt, wilde, comicartige «Landschaften»und «Städte», die von vielerlei Figuren und Getier bevölkert waren. Aber damit war er vor einiger Zeit in eine Krise geraten. Er fühlte sich angesteckt vom Zeitgeist, dem – wieder einmal, zum wievielten Mal? – die Malerei zu wenig war. Er war an seinem Institut umgeben von jüngeren Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit dem Körper und seiner «Performati-

vität»beschäftigten, die von dessen «Aggregatszuständen in quecksilbrigen Genderformen»sprachen. Und im Zusammenhang mit Bildern postulierten, dass diese «fluide zwischen analog-präsenten und digital-virtuellen Sphären oszillieren»sollten. Härri experimentierte also mit VirtualReality und künstlicher Intelligenz, kam aber nicht vom Fleck. Er redete sich ein, das werde wieder.

Er konnte selbst fast nicht mehr glauben, dass er einst Frontmann und Sänger einer Undergroundband gewesen war, für die er absurde, poetische Gedichte geschrieben hatte, von ihm vorgetragen in einem Sprech- und Schreigesang. Die Augen hatte er auf der Bühne hinter einer hölzernen InuitSonnenbrille verborgen, das war sein Markenzeichen gewesen. Das fremdartige Ding lag noch immer auf dem Fenstersims des ehemaligen Fischerhauses am Fluss, in dem er zurzeit wohnte und arbeitete und von dessen Fenster aus er auf den Rhein sah.

Härri wollte nach der Beobachtung des kleinen Vogels zu seinem Tisch zurückkehren, um die Zeichnungen und Notizen vom Vortag zu ordnen, als er Noahs Schnauben und Bellen hörte, zweimal. «Hnf – hau!», zuerst leise vom Uferweg her. Dann ein lautes «Hhnff – haa-huu!» vor der Tür.

Noahs Auftauchen passte nie. Jetzt gerade gar nicht, weil Härri sich schwertat, Brauchbares vom Müll abzusondern, der zu verbrennen war. Es dauerte darum einen Moment, bis er sich von seinem Tisch lösen und zur Tür gehen konnte, vor der sich, schemenhaft zu sehen durch das geriffelte Glas, sein junger Freund bog und wand, als ob er sich von Fesseln befreien müsste.

Härri wollte die Tür öffnen, aber Noah stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen.

«Nicht drücken, Turetti!», rief er.

Noah gab nach, die Tür öffnete sich, und der Besucher trat ein.

«Maler!Arschloch!», rief Noah mit knarrender Stimme über Härris Schulter hinweg ins Haus. Dann lächelte er ihn freundlich an.

Er hatte einen Pickel auf der Stirn, und die schwarz gefärbten Haare zeigten büschelweise in verschiedene Richtungen –wie bei SonGokuim Comic Dragonball.Aber es schien ihm gut zu gehen. Die Augen blitzten aus Vorfreude darauf, was er alles erzählen wollte, und als sie beide eine Umarmung andeuteten, roch Härri, dass der Junge frisch geduscht hatte.

«Alles gut bei dir?», fragte er Härri, und bevor dieser antworten und sich seinerseits nach dem Befinden erkundigen konnte, stellte er seine Überlegungen an zur Konjunktion, die nicht mehr geknüpft werden durfte.

«Weißt du, was man jetzt nicht mehr sagen darf, ist: ABER. Dieser Guterres, was der UNO-Chef ist, heißt zwar Sekretär, ist aber der Chef, wenn du mich fragst, der hat ABER gesagt. Und sofort von allen Seiten Motzen und Augenverdrehen, schlimmer, als wenn ich durch den ALDI ‹ Kassen-Fotze › rufe. Darfst du eben nicht sagen, was der … Zuerst schon laut und deutlich von ihm:dass die HamasBrüder Mörder seien und Schlächter, die nichts kennen würden. Kindermörder wie damals die vom Herodes. Hat er nicht gesagt, habe ich aber dran denken müssen. Und dass so etwas Terrorismus sei und in jeder Hinsicht Scheiße. ABER. Dann kam eben dieses ABER.Viel zu früh!Dass die Barbarei nicht von ungefähr komme, nicht aus dem Nichts. Nicht aus dem Vakuum, hat er gesagt. Dass die anderen auch eine Verantwortung für das Böse hätten, das da über sie hereingebrochen sei. Und dass sie es nicht mit Gleichem vergelten dürften. Der deutsche Nebenkanzler, von dem alle denken: Schade, dass er nicht der Hauptkanzler ist, der hat’ sgeschafft. Der hat es hingekriegt, ABER zu sagen. Das kam aber viel später und tönte eher wie UND. Finden alle gut jetzt. Also: natürlich alle außer den Palästinensern. Und den Arabern.»

Härri, der weniger Nachrichten schaute und las denn je, fragte:«Und wen meinte Guterres mit ‹ den anderen ›? Die Israeli, die Regierung?Die Orthodoxen oder die bewaffneten Siedler?»

Noah war schon weiter.

«Der Außenminister der Israelis hat sofort losgedonnert: Unglaublich!Ermeint uns alle, die JUDEN! Er dreht alles um, Gut und Böse, Täter und Opfer!»

Härri legte Noah eine Hand auf die Schulter und schob ihn in Richtung des Tisches. «Setz dich erst mal, ich mach uns einen Kaffee.»

Er beschloss, sich am Abend die Tagesschau anzusehen, denn von Noah waren keine weiteren Einzelheiten zu erfahren. Auch nicht, wie er es bewertete, dass man nicht mehr ABER sagen durfte. Noahs Gedanken sprangen zu schnell, und er würde ohnehin bald zum nächsten Thema wechseln. Sobald Härri ihm den Rücken zudrehte, um in der Kochnische die Kaffeemaschine vorzubereiten, war es so weit.

«Aff!Gorilla Blauarsch!», knarrend – dann, mit normaler Stimme:«Was ist denn das?»

Er hatte einen der kleinen Papierstapel vom Tisch aufgenommen und sah ihn blitzschnell durch, indem er das oberste Blatt abhob, es umdrehte und prüfte, ob es auch auf der Rückseite etwas zu sehen gab, und es dann unter den Stapel schob.

Härri ärgerte sich. «Leg das wieder hin!Das wird verbrannt.»

Noah war begeistert. «Echt?Dahat’ saber gutes Zeug drunter, die Affen da zum Beispiel … »

Härri hatte ihn am Arm gepackt und wollte ihm den Stapel aus der Hand drehen, aber Noah entwand sich, machte einen Schritt zurück und blätterte. Fand das Blatt, das er gesucht hatte, und warf den Rest auf den Tisch zurück, wo ein weiterer, höherer Stapel sich durch den Luftzug neigte und umfiel. Härri sprang hinzu und versuchte, die Papiere wieder zu richten, ohne dass seine prekäre Ordnung noch mehr gestört wurde. Er war jetzt richtig wütend.

«Mensch, Noah, ich war an der Arbeit gerade. Wenn du wüsstest, was mich das Aufräumen kostet, ich … »

Noah schien seinen Ärger nicht zu bemerken, tat jedenfalls so, denn er plapperte munter weiter:«Der Affe!Ich bin jetzt endlich fertig geworden mit dem blöden Blitzdämon, du weißt schon. Der muss dich mit seinen Flashs gar nicht direkt treffen, haut sie so in den Boden, dann gibt’ sdiese weiß glü-

henden Kreise, die sich – wash! – ausbreiten. Und wenn dich so einer trifft, weil du zu langsam gejumpt bist, dann ist bye-bye, Affe. Dann kannst du beim letzten Altar wieder neu anfangen. Also, ich habe jetzt herausgefunden … das heißt, ich wusste, dass der Rhythmus der Kreise mit der chinesischen Musik synchronisiert ist, das hört ja jeder. Aber es gibt dann so einen Stolperer, ein öhm … eine Synkope!Und das kommt jedes Mal, bei jedem Angriff ein bisschen später. Und als ich das raushatte, war ’ sauf einmal ganz entspannt. Weißtduwieichmeine?Ich habe ihn echt relaxt umgehauen mit meiner Stange. Und dann … »

Härri unterbrach ihn:«Nun setz dich doch!»

Er hatte inzwischen, um sich zu beruhigen, zwei kurze Kaffees gemacht und kam zurück zum Tisch. Er blieb stehen und suchte nach einem Ort, wo er die Tässchen hinstellen konnte. Noah schoss von seinem Stuhl wieder hoch und räumte zwei Papierstapel zur Seite, sehr sorgsam und konzentriert diesmal. Setzte sich dann wieder. Bevor er Luft holen konnte, sagte Härri in sehr bestimmtem Ton:«Jetzt hör mir mal zu, Noah!Duerscheinst hier zu jeder Tages- und Nachtzeit, gehst immer davon aus, dass ich auch Zeit habe für einen Schwatz mit dir. Du denkst, dass das ‹ Maler-Arschloch › sowieso nie richtig arbeitet. Und wenn, dann macht er ‹ Kunst ›,was keine wirkliche Arbeit ist. Was du eher als Spiel ansiehst … »

Noah war auf dem Stuhl zusammengesunken, knetete seine Fingerknöchel und sah ihn mit aufgerissenen Augen an, worauf Härri verstummte und es bereute, so streng mit ihm geredet zu haben.

«Ich hab’ sdir doch erklärt», stotterte Noah mit dünner Stimme. «Ich meine mit diesen … diesen Wörtern nie die Leute. Das hat mit denen nichts zu tun, die gerade vor mir stehen. Mit dir sowieso nicht!Nicht einmal mit mir wirklich. Das kribbelt im Hals und auf der Zunge, dann muss es …

Darf ich echt nicht mehr zu dir kommen?» Sein Tonfall war jetzt weinerlich.

Härri wollte wiedergutmachen, was er angerichtet hatte. Er zog seinen Stuhl neben den von Noah, legte ihm einen Arm um die Schulter und rüttelte ihn ein wenig. Entschuldigte sich.

«Natürlich darfst du kommen!Oft bin ich ja froh um eine Unterbrechung, weil ich zu wenig Pausen mache. Und ich freue mich auch jedes Mal, dich zu sehen und zu hören. Deinen Sprüngen zu folgen, deinen Kommentaren zur Lage der Welt.»

Noah schnaubte zweimal:«Hnf – hhnff!», und warf den Kopf zur Seite. Härri nahm es als Ermunterung, weiterzureden.

«Ich bin neben den Schienen zurzeit. Keine Ideen – oder die falschen!Und im Institut läuft es in die verkehrte Richtung, finde ich. Aber da scheine ich der Einzige zu sein. Umtaufen wollen sie es, natürlich auf Englisch.» Er merkte, dass er auf Abwege geriet und nur drauflosredete, um seine Grobheit zu überspielen. Wie Noah!, dachte er und fuhr trotzdem fort:«Und damit ist nicht nur ein neuer Titel gemeint, sondern ein Programm. ‹ Kunst › wird drinbleiben, immerhin.

Als ‹ Art ›.Dann aber soll es Zusätze geben, natürlich zwei, was dann so eine Dreifaltigkeit gibt: ‹ Art – Gender – Planet › oder ‹ Art – Nature – Diversity ›.»

Noah hatte sich etwas erholt und schien fasziniert. Murmelte vor sich hin.

«Geil! ‹ Art – Sex and Rock ’ n ’ Roll ›– Öhm? –‹ Art –Space – Universe ›… ?»

Er würde blitzschnell ein Dutzend weitere Kombinationen erfinden, befürchtete Härri, also unterbrach er ihn und kam auf die Krise in seiner Kunst zurück, mit der er die harsche Reaktion von vorhin erklären wollte. Obwohl er sah, dass

Noah längst wieder an etwas Neuem war, sprach er weiter.

«Zum Glück bleibt mir im Moment das Zeichnen, aber ich muss da streng sein. Ich habe mir angewöhnt, Arbeiten nie am selben Tag zu vernichten, an dem sie entstanden sind.

Aber dann, nach einer Woche oder so, weiß ich es. Dann sehe ich, was etwas taugt. Und das andere muss mir aus den Augen!Ich kann nichts anfangen mit dieser romantischen

Sicht auf das Scheitern. Scheitern heißt krachend versagen. Ich hasse es, weil da nichts heil bleibt, nichts zu retten ist.»

Noah saß da und blickte ihn ruhig an. Er hatte den Modus gewechselt, das sah man ihm immer an. Er hörte zu. Er verstand, wovon Härri sprach.

NOAH

«Härri ist cool, bei ihm bin ich ziemlich entspannt. Es gibt immer viel zu besprechen. Oder eher so:Meistens schwätze ich ihm den Kopf voll. Aber er zeigt mir auch seine Sachen; er kann toll zeichnen. Schade, dass er keine Comics macht. Oder Games!Die hätten krasses Equipment dafür in seinem Institut, er hat mich mal mitgenommen.

Wie ich ihn aufgegabelt habe?Ich war unterwegs in unsere Bude am frühen Morgen, das war vor etwa drei Monaten.

Fräse also dahin auf meinem E-Scooter, auf dem Weg den Rhein entlang. Ich weiß, sollte man eigentlich nicht … Auf jeden Fall sehe ich da einen seine Übungen machen, den habe ich noch nie gesehen. Er macht so ein chinesisches SeniorenDing. In Slow Motion. Dachte ich!Als ich nämlich einen krassen Tick hatte beim Anhalten direkt hinter ihm – ich weiß nicht mehr, was ich gerufen habe, wahrscheinlich den Hitleroder so –,jedenfalls dreht sich der Kerl so schnell um und schmeißt sich in Pose, dass ich mit Gucken gar nicht nachkomme. Und ich bin schnell im Gucken!Einen Moment habe ich Angst, dass er mir jetzt eins in die Fresse kickt,

aber es sieht dann nicht danach aus, er wartet einfach, so mit Blinzelaugen. Und sieht aus wie ein Charakter aus dem Wukong-Game, wie der Affenkönig selbst, eigentlich. Ich so:total aufgeregt. Es war ein shift,wie wenn etwas verschoben wäre. Aber es ging dann ganz normal weiter. Wir haben uns gesagt, wie wir heißen, und haben uns unsere ganzen Leben erzählt. Ich natürlich, dass ich Tourette hätte, seit ich acht war, und zu den wenigen mit vokalen Ticks gehöre. Dass ich Informatiker werde und die Ticks irgendwann aufhören würden, hoffentlich. Er hat ein supertolles Haus am Fluss, klein, aber gemütlich und genau am richtigen Ort. Er hat dort seine Ruhe und viel Platz. Und trotzdem eigentlich noch in der Stadt, am Herten-Ufer, etwas oberhalb der Oberen Brücke. Dort besuche ich ihn ab und zu. Öhm … ziemlich häufig, um ehrlich zu sein. Manchmal störe ich ihn wahrscheinlich, aber er hat mich noch nie fortgeschickt. Es gibt immer einen Kaffee. Oder ein Bier. Dafür zeige ich ihm, wie das Spiel geht, und lasse ihn zwischendurch auch mal ran. Er ist noch nicht gut, aber er würde schnell Fortschritte machen, wenn er wollte. Will er aber nicht, glaube ich. Er ist einer, der noch liest. Richtig in Büchern und so. Lässt sich auch seine Zeitung gedruckt bringen, obwohl er mal ein Online-Abo hatte. So crazy, ein Haufen Papier, jeden Tag!Aber er lässt sich nicht abschrecken, der nicht. Er hat sich das dickste Buch gekauft, das es gibt: ‹ Die Reise in den Westen ›,auf Deutsch. Mit weit über tausend Seiten in kleiner Schrift, auf ganz dünnes Papier gedruckt. Trotzdem ist der Wälzer so dick und schwer, dass du jemanden totschlagen könntest damit. Die Zeichnungen drin gefallen ihm. Es sind Holzschnitte, er hat’ smir erklärt. Ich finde sie nicht so gut. Hölzern eben, hehe!Und die Figuren so klein, so mickerig, sogar die Monster und Drachen. Vorsolchen Losern hat niemand Schiss. Da sind die in meinem Spiel was anderes. Du kriegst Schweißausbrüche, wenn

wieder ein neuer Boss auftaucht!Aber der Professor Härri erzählt mir manchmal, wie die Geschichten mit dem Affenkönig richtig gehen. Ganz anders als in meinem Spiel, klar. Aber ich muss sagen, die aus dem Buch sind auch okay. Oft sehr lustig, das ist das Spiel weniger.

Lukas hat mir von seinen Kindern erzählt, von seinem Sohn Bruno und der Tochter Sofia. Ich glaube, er hat nicht viel Kontakt zu ihnen, ich weiß nicht, was da passiert ist. Geschieden, getrennt, keine Ahnung. Die Frau ist die meiste Zeit in Italien. Ist Italienerin, und die Kids haben sogar ihren italienischen Namen. Martini,wie der Aperitivo. Mindestens mit dem Sohn müsste er es ja nicht so schwierig haben, der studiert das Gleiche wie er früher. Kunst. Er hat mir viel darüber erzählt, was sie da machen, aber ich habe noch immer nicht verstanden, wie das gehen soll:lernen, ein Künstler zu sein. Die Sofia sieht bombe aus, er hat mir ein Foto gezeigt. Aber ich hätte Stress mit der. Eine Bankerin an der Börse in New York City, stellt euch vor!Mit dieser Welt will der Lukas nichts zu tun haben, das habe ich verstanden. Ist natürlich schwer für eine Tochter, wenn die Alten etwas anderes erwartet haben von einem. Ich kenne das!Also, als Sohn.

Härri steckt in Schwierigkeiten, schon länger. Das spüre ich. Ich weiß nicht, was es ist, außer dem mit den Kindern. Er sagt, seine Kunst stecke fest und das Institut habe sich komisch verändert. Er hat eine neue Chefin, die ist ihm unheimlich. Aber vielleicht möchte er sie auch vögeln. Er kann sich nicht entscheiden, glaube ich. Früher war er ja ein wilder Kerl. Hatte mit zwei Kollegen eine Band, die machten Auftritte, wo die Polizei kam. Nicht nur wegen dem Lärm, auch wegen den Songs, den Texten, die wirklich wild waren. Kaum jemand wollte das hören, aber sie fanden es gut. Und als es fast vorbei war damit, wurden sie richtig Kult. Auch gemalt und gezeichnet hat er sehr freches Zeug. Aber gut, finde ich.

So Comic-Style. Ich habe ihm gesagt, er solle doch einfach dort weitermachen, wo er aufgehört hat. Aber das gehe nicht, meint er. Er sei zu alt dafür, er müsse ein neues Level erreichen. Kann ich verstehen, auf eine Art.

Ich habe Härri erzählt, dass viele Tourettler ihrer TickMaschine einen Namen geben. Härri nennt mich manchmal ‹ Turetti ›.Ist okay für mich, wenn er es so in einem Ton sagt … mit Respekt, meine ich. Ich nenne ihn ja auch ‹ Professor Härri ›,wenn er mir die Welt erklärt. Wir mögen uns, denke ich.»

Frühling

Das Wetter hatte seit Anfang des Jahres verrücktgespielt. Viel zu warm waren die ersten zwei Monate gewesen – und vor allem zu trocken. Im März dann schwankten die Temperaturen in so wilder Folge, dass man beim Verlassen des Hauses nie wissen konnte, ob man richtig angezogen war. Am dreizehnten saßen die Augster im T-Shirt am Rhein und tranken Bier oder Spritz. Darauf, im April, wurde es dauerhaft kalt. An den wenigen Tagen mit guter Fernsicht zeigten die Jurahöhen sogar weiße Kappen. Man war also gespannt auf den Mai. Doch so anhaltenden Regen hatte niemand erwartet. Die Höhenwinde schleppten Girlanden von Atlantiktiefs nach Europa, die sich grau und schwer auf das Land setzten und nun die Wassermassen fahren ließen, die sie über dem Ozean aufgesaugt hatten. Der Rheinpegel stieg und blieb auf Rekordhöhe. Man musste froh sein um jede Pause im Dauerregen.

Härri hatte sich im Januar dazu entschlossen, sein altes Fahrrad durch eines mit Elektromotor zu ersetzen. Nun hatte er endlich vom Händler die Mitteilung erhalten, sein neues Fahrzeug sei abholbereit. Schon nach der kurzen Fahrt vom Industriegebiet im Quartier Herten, wo der Fahrradladen stand, bis zu seinem kleinen Haus war er aber völlig durchnässt worden. Deshalb beschloss er, sich zuerst geeignete Regensachen zu kaufen und die geplanten Erkundungsfahrten auf später zu verschieben. Bis zum alten Akademiegebäude auf der Rheininsel war es nicht weit, da konnte er zu Fuß gehen.

Er hatte zwar daran gedacht, einen Schirm mitzunehmen, musste aber den Kampf mit dem Wind aufgeben, als er aus

dem schmalen Tunnel unter dem Kopf der Oberen Rheinbrücke kam, durch den der Uferweg führte. Er trat nochmals zurück ins Halbdunkel der Betonröhre, um den Schirm zusammenzuklappen. Die Böen hatten schon die Bespannung eingerissen. Leise fluchend machte er sich wieder auf den Weg ins Freie. Der Wind donnerte in seinen Ohren.

Er war auf dem Weg, sich mit Lena Richards zu treffen, einer jungen Wiener Slam-Poetin. Aurelia, seine Kollegin im Institutsvorstand und Verantwortliche für den Bereich Performance, hatte ihn auf sie aufmerksam gemacht, als er ihr von seinen Plänen zur Frühlings-Projektwoche erzählte. Er wollte schon lange etwas machen zu Werktiteln in der bildenden Kunst. Das Thema musste einen interessieren, wenn man Schüler von Werner Fässler gewesen war, der noch jetzt, wo er sich als Professor in Hamburg hatte emeritieren lassen, mit unversiegbarer anarchistischer Fantasie Bildtitel erfand, die sich in Härris Gedächtnis einbrannten und ihn mit Neid erfüllten. Weil er erlebt hatte, wie Fässler seine Werkbezeichnungen sowohl hinterher setzte als sie auch im Voraus wie ein Motto für eine noch im Unbestimmten schwebende Bildidee festlegte, hatte er den Plan gefasst, einen Workshop zum Wechselspiel zwischen Wort und Bild anzubieten. Er hatte zuerst gezögert, die Projektwoche zu zweit zu planen und durchzuführen, weil er den damit verbundenen Mehraufwand scheute. Als sich aber herausstellte, dass Lena seit einem Jahr in Zürich wohnte und für die Zeit der Vorbereitung nach Augst kommen wollte – Aurelia bot ihr ein Zimmer in ihrer Wohnung an –,und zudem am Telefon sehr wach und sympathisch geklungen hatte, willigte er ein. Da-ra Baek gratulierte ihm zum Konzept seines Workshops und zu seiner Bereitschaft, mit der jungen Frau zusammenzuarbeiten.

Er hielt den Kopf unter der Kapuze gesenkt, als er die Treppe erreichte, die von der Brücke zur Insel hinunterführ-

te. Der Regen fiel so dicht, dass die Granitstufen wie lebendig aussahen. Nur kurz hob er den Blick zur Akademie, deren Dach silbern glitzerte. Das Gebäude war gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den solideren westlichen Teil der Rheininsel Gwerd gebaut worden, mit einer repräsentativen viergeschossigen Fassade nach Süden, zur Altstadt. Die unteren zwei Stockwerke wirkten wuchtig, ein Bossenmauerwerk aus ockerfarbenem Kalkstein, das an norditalienische Paläste erinnerte. Darüber lagen zwei klassizistische Etagen mit hohen Bogenfenstern zwischen Halbsäulen und -pfeilern, unterbrochen durch halbrunde Nischen mit steinernen Musen. Hier war die Mauern glatt behauen und bei schönem Wetter gelblich hell. Heute wirkten sie gräulich und schmutzig. Beide oberen Stockwerke schlossen mit einem breiten Sims ab. Das Zinkdach deutete links und rechts einen Turm an, dazwischen lagen die Fenster der Ateliers und des Aktsaals.

Als Härri beim Hauptportal ankam, drückte er die Klinke der schweren Eichentür hinunter. Sie öffnete sich wie von Geisterhand nach außen, und er trat einen halben Schritt zurück.

Lena stand vor der gläsernen Loge und unterhielt sich mit Mariette Hayoz, der Sekretärin, Pförtnerin und guten Seele des Instituts. Er trat ein und zog im Halbdunkel des Eingangs seine Schuhe über den Putzteppich. Zuerst hielt er Lena für Aurelia. Sie hatte die gleiche rundliche Statur und lange, glatte Haare, die aber grüne Strähnen hatten, nicht pinkfarbene. Als sie sich ihm zuwandte und ihn auf Wienerisch begrüßte, erkannte er ihr jugendliches Alter. Er schätzte sie auf höchstens fünfundzwanzig.

Sie wollte zunächst die Ateliers der Studentinnen sehen, das gefiel ihm. Er führte sie in einen der großen Räume. Sie trafen darin nur zwei Studenten an, die anderen schienen das verlängerte Wochenende mit dem ersten Mai am Montag

noch weiter auszudehnen. Zwischen den einzelnen Arbeitszonen standen weiß gestrichene Stellwände, für die je zwei große Spanplatten zu einem schmalen Kasten zusammengefügt waren. Im Zwischenraum wurden Leinwände und andere Bildträger gelagert. Neben den vom Institut zur Verfügung gestellten einfachen Möbeln aus Vierkant-Stahlrohren standen allerlei Tische, Kommoden, Kästen und Sitzmöbel herum, eine Flohmarktmischung, welche offensichtlich von den Studierenden organisiert und mitgebracht worden war.

«Die Einzigartigkeit von de Leut, die da oabeitn, sieht ma guat. Supa!», fand Lena. «Wie vü Oardnung oder Unoardnung wer braucht. Die Materialien … »

Sie deutete auf zwei aneinanderstoßende Ateliers. Das eine sah aus wie ein Bilderlager. Es war verstellt mit vollgemalten Leinwänden, alle beschichtet mit einem dichten Gewebe aus weißen und roten Krakeleien. Der Boden war übersät mit Farbspritzern und zeigte eine ähnliche Struktur wie die Bilder. Tadellos aufgeräumt war der Tisch, auf dem eine schwarze Schneidunterlage aus Kunststoff, ein Stapel Skizzenhefte und ein Laptop, ebenfalls schwarz, sorgsam rechtwinklig ausgerichtet waren. In der anderen Koje verschwand die Tischplatte unter einem Durcheinander aus Computerausdrucken, Kabeln, Leim- und Farbtuben, Filzstiften, zerknüllten Taschentüchern und gebrauchtem Geschirr. In der Mitte lag ein dickes Buch mit dem Titel «FEMINISM and Pornografy». Um dieses Thema schien sich auch die Auswahl von Bildern zu drehen, die an die weiße Wand gepinnt waren:diverse Vulven und erigierte Penisse, Sexspielzeuge. Dazu kleine Plastikbeutel, in denen Haare, Knochenfragmente, Stofffetzen und getrocknete Früchte und Blüten zu erkennen waren.

Härri musste lachen. «Ja, da hast du eine unserer Konfliktlinien erkannt!Schau … !»

Er zeigte auf ein Brett über dem Durchgang zwischen den beiden Arbeitsplätzen, auf dem ein paar Töpfe mit hängenden Zimmerpflanzen standen. Die Kante des Bretts trug eine Inschrift, geschrieben mit breitem Filzstift: Welcometo male territory – Testosteronia!

Lena klopfte mit den Fingerknöcheln an eine Stellwand. «Ich liab des!Und mia san scho mittn im Thema, oder?

Woat und Büld … »

«Ja!», bestätigte Härri. «Und:Kunst und Aktivismus.»

Er hatte sich im Internet umgesehen nach Videos von Lenas Auftritten und war überrascht gewesen von ihrer Präsenz und ihrem Wortwitz. Irritiert hatte ihn ein Kippmoment in einem ihrer Stücke, das sie flapsig einleitete und in dem sie sich über die Tausende von Gelegenheiten lustig machte, bei denen man sich für etwas schämen konnte. Sie plauderte über ihre vielfältigen Versuche der Selbstoptimierung, als sie plötzlich, gegen Ende ihrer Nummer, den Tonfall wechselte, von Ironie zu Ernst. Sie wolle sich nicht mehr schämen für ein Erlebnis in einem Wellness-Hotel, wo sie – oder die Ich-Figur der Slam-Poetin, das war nicht klar – während einer Massage einen sexualisierten Übergriff erlebte. Auch das Publikum schien schockiert, und das Klatschen war, nach sehr lebhaftem Zwischenapplaus und Lachern, zum Schluss auffallend verhalten. Härri hatte sich vorgenommen, sie während der Projektwoche darauf anzusprechen. Die Frage, wie viel Distanz zur eigenen Geschichte nötig sei in der künstlerischen Arbeit, beschäftigte ihn bei der Begleitung seiner Studentinnen zunehmend. Damit hing für ihn auch die andere Frage zusammen, über die sie sich im Kollegium nicht einig waren:wie direkt und in welcher Form sich die Kunst zu gesellschaftspolitischen Fragen äußern solle. Er war gespannt auf die Zusammenarbeit mit Lena.

Er hätte nicht gedacht, dass es so lustig werden könnte in ihrer Projektwoche. Lena sprudelte vor Ideen und hielt die neun Studentinnen und zwei Studenten unermüdlich auf Trab. Es wurde oft gelacht. Sie hatte viel weniger Hemmungen als er, den jungen Leuten dreinzureden, die gleich alt oder gar älter waren als sie. Auch konkrete Vorschläge und Ideen hielt sie nicht zurück, und Härri beobachtete erstaunt, wie dankbar diese aufgenommen wurden. Vorallem aber fand er Lenas Humor und ihren Sinn fürs Absurde erfrischend. Die Studentinnen reagierten darauf manchmal irritiert und ignorierten die krudesten Ideen der Slam-Künstlerin.

In der Mitte derWoche gesellte sich derIT-Spezialist Miles Kellner für einen Tag zu ihnen. Er hatte sich als Springer für verschiedene Workshops angeboten, um bei Bedarf den Einsatz von künstlicher Intelligenz in Form von Sprach- und Bildgeneratoren anzuleiten. Härri musste überredet werden, diese Form des Zusammenspiels von Text und Bild in sein Programm aufzunehmen, aber Lena war sofort Feuer und Flamme gewesen, als sie davon erfahren hatte. Wenn Fässler Bildtitel voraussetze, mache er ja nichts anderes, als seine Fantasie mit Prompts zu füttern, fand sie. Das leuchtete ihm ein.

Nun saßen sie alle vor der Leinwand und ließen sich von Miles zeigen, was das Sprachmodell hergab. Härri hatte drei Bilder von Fässler ausgesucht, die witzige und für den Meister typische Titel trugen. Miles forderte den Chatbot auf, die Art und Weise oder den Stil der Titelgebung zu analysieren und anschließend einen Titel für ein viertes Bild Fässlers vorzuschlagen, von dem er den Originaltitel für sich behielt. Das hochformatige Bild zeigte ein Sammelsurium von Gegenständen auf einer Tischplatte, die schwindlig schräg die Fläche beherrschte:ein roter Damenschuh, ein altmodischer Telefonhörer mit abgerissenem Spiralkabel, eine groteske Maske. Ein phallisches braunes Objekt, eventuell ein Vibrator, der untere

Teil einer bemalten Leinwand, schief angelehnt an etwas außerhalb des Bildes. Dazu viele kleine Kleckse und Zeichen, Buchstaben vielleicht. In Sekundenschnelle erschien auf dem Bildschirm der Vorschlag des Bots: Ein möglicher Titel im Sinne von Fässlers Ansatz könnte sein: ‹Menükarte für das letzteAbendmahl›.

Einen kurzen Moment lang herrschte verblüffte Ruhe, dann brach Gelächter aus und ein Durcheinander von Fragen, Ausrufen der Verwunderung, Vorschlägen für weitere Eingaben in das System. Man einigte sich darauf, den Chatbot Titel generieren zu lassen, die wie bei Fässler als Ausgangspunkt für bildnerische Umsetzungen dienen sollten, und zwar weiterhin in dessen Stil:«witzig-ernst»und «absurd-tiefgründig». Was der Computer ausspuckte, sorgte wieder für Heiterkeit und Erstaunen. Die MelancholiedesDauerläufers – Marathon auf dem Möbiusband war ein Vorschlag, Das Flüstern der Bücher – eine Bibliothek kurz vor Schließzeitein anderer.

Miles fand, die Studentinnen könnten gleich mit bildnerischen Umsetzungen der vom Sprachmodell gelieferten Titel beginnen. Aber weder Härri noch Lena war entgangen, dass es nicht allen wohl war bei dem Gedanken. Man wollte wenigstens im Ansatz verstehen, was man eben erlebt hatte, und den Chatbot nicht gleich als «Tool»behandeln, ohne es weiter zu hinterfragen. Man bat Miles um eine Erklärung, wozu er sichtlich gerne bereit war.

«Ihr habt sicher erfahren, dass die Sprachmodelle vom einzelnen Wort ausgehen. Sätze und dann längere inhaltliche Aussagen werden Wort für Wort zusammengesetzt. Dafür muss man wissen, wie die Wörter von den Modellen dargestellt und codiert werden. Es werden Zahlenreihen gebildet, Hunderte, wenn nicht Tausende von Zahlen für nur ein einziges Wort. Man nennt solche Reihen Vektoren. Sie stellen

«Als ich von Härri erzählt habe und dass ich den seit einer Weile kenne, wurden sie komisch. Habe ich gedacht: Scheiße, Mann! Ist der vielleicht gar nicht so der beliebte Lehrer, wie ich gemeint habe. War aber nicht so. Zwei oder drei von denen hatten bei ihm ihr Diplom gemacht und die fanden ihn alle super. Aber es gehe so ein Gossip um, Härri habe Stress mit der Leitung. Dass sie ihn kicken wollten. Ja, Alter! Warum sagt er mir nichts davon, ey? Von mir weiß er alles! Aber alles! Ich werde ihn hart anmotzen deswegen. Geht gar nicht, find ich.»

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