Alexandra von Arx: Das mit uns

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ROMAN
ALEXANDRA VON ARX

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DasimBuchverwendeteZitatvonMaxFri scherfolgtmitfreundlicherGenehmigungaus:MaxFrisch,MeinNameseiGantenbein. © SuhrkampVerlagFrankfurt amMain1975.AlleRechtebeiundvorbehaltendurchSuhrkampVerlagBerlin.

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© 2025ZytgloggeVerlag,SchwabeVerlagsgruppeAG,Basel AlleRechtevorbehalten

Lektorat:AlisaCharté

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ISBN:978-3-7296-5181-4

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Dasmituns

JederMenscherfindetsichfrüheroderspäter eineGeschichte,dieerfürseinLebenhält.

MaxFrisch

Wersicherinnert,verwandeltWirklichkeitinFiktion. Werliterarischerzählt,verwandeltFiktioninWirklichkeit.

KarlRühmann

Montag

IndenerstenMonatennachmeinerPensionierungbogich beimStadtturmlinksab,wennichzumMarktging.Eswar einUmweg,deranmeinemletztenArbeitsplatzvorbeiführte. EinkleinerUmwegnur:eineGassehinunter,querübereinen Platz,eineandereGassewiederhinauf.

MeisthieltichaufdemPlatzkurzinne,umdenBrunnen zubetrachten,denichjahrzehntelangvonmeinemPultaus gesehenhatte.OderichschauteindieandereRichtung,zum prunkvollenGebäude,hinterdessenmitFahnenundGeraniendekorierterFassadeichdengrößtenTeilmeinesBerufslebensverbrachthatte.ManchmalgingichsonaheamEingang diesesGebäudesvorbei,dasssichdiegroßeTürausdunklem Holzknarrendöffnete.

UndwährendichanderoffenenTürvorbeiging,huschte ichinGedankenhinein,anderLogevorbeiindenersten Stock,wogewissBernhardamKopiererstandundmitThomasredete,derineinemGesetzbuchblätterte.IchflitzteunbemerktandenbeidenvorbeiinsSekretariatundsah,wie ThivyademAmtsvorsteherdiePostübergab.WieKevindem AmtsvorsteherdiePostübergab.WieSarahdemAmtsvorsteherdiePostübergab.WieErika.WieFrauKunz.WieFrau Luginbühl.WieFräuleinBurkhard.

WieeinemRückwärtsfilmschauteichderVergangenheit zuundstelltemirvor,dassichderweilimSekretariateinpaar welkeBlättervondenPflanzenzupfte,umdiesichwohlniemandmehrkümmerte,seitichimRuhestandwar.DabeihörteichdasleiseGeräuschdesZupfens,dasmichberuhigte, michschonimmerberuhigthatte,auchinmeinenturbulentenJahren,alsichmichvonderLiebeinungeahnteHöhen hattewirbelnlassen,bisichdenBodenunterdenFüßenund

meineZieleausdenAugenverlorenhatte,Jahre,indenen michFrauKunzzunächstbelustigt,dannstirnrunzelndund schließlichbesorgtbeobachtethatte.

InmeinemKopfkinowarfichdiegezupftenBlätterinden AbfallkorbnebendemAktenschrank,klopftedieHändeab undöffnetedieTürinsschmuckeNebenzimmer,dasBüro mitBlickaufdenBrunnen,womeineNachfolgerinamPult saß.AuchdortzappteichmichdurchdieJahreundsah,wie derComputereinerSchreibmaschinewich.Wieplötzlichein TelefonbuchaufdemRegallag,danebeneinKarteikasten. WiedasFaxgerätkamundging,auchderSitzballkamund ging.DochlangeverweiltenmeineGedankennichtindiesem Raum,zulangehatteichdortausgeharrt.

Stattdessengeisterteichweiter,insBüroderStagiaires,wo HerrDr.RufergeradeeinenMonologhielt,dort,woHerr Dr.RuferimmerMonologehielt,gehaltenhatte,haltenwürde.NurdiegelangweiltenGesichterderStagiaireswechselten allepaarMonate.

Nebenan,beiCéline,öffneteichlautlosdieTür,schaute ihrbeimÜbersetzenüberdieSchulter,schnipptemitden FingernundschauteLucüberdieSchulter,schnipptenoch einmalundschauteFrançoisüberdieSchulter,Catherine, Yves,dannMademoiselleDumont,diewirFräuleinvom Berggenannthatten.AndenNamendeskauzigenMonsieurs ausmeinerAnfangszeitkannichmichnichtmehrerinnern. AberauchihmschauteichüberdieSchulter,aufderimmer einpaarSchuppengelegenhatten.

WieeinkleinesGespenstflogichimAmtdurchRaum undZeit,tummeltemichinErinnerungenundlächeltenicht seltendabei.IchdüstedurchdasdüstereTreppenhausinden zweitenStock,indendritten,schließlichinsDachgeschoss, dengrößtenRaum,woSitzungenundFeierngehaltenwur-

den,einmal,alsDanielVatergewordenwar,sogareineBabyvorführung.

AuchmeineAbschiedsfeierfandimDachgeschossstatt. Dort,woebennocheinBabyherumgereichtundalsniedlich bezeichnetwordenwar,bisesgeschrienhatte,standnuneine alteSchreibmaschine,exaktdasModell,aufdemichinden spätenAchtzigerjahrenimAmtdieKorrespondenzerledigt hatte.HierfürhabesietiefinsArchivsteigenmüssen,erzählte ThivyadenAnwesenden,währendichaufderSchreibmaschinetippteundmitdemGlockenklangamZeilenende dieStagiaireszumLachenbrachte.DerAmtsvorsteherhob dasGlasundholtezueinerRedeaus,anderenEndeerbetonte,dassermehralseinmalversuchthabe,michzumBleibenzuveranlassen.Dochirgendwannhabeersichdamitabgefunden,sichvielmehrdamitabfindenmüssen,dassich bereitsmitsechzigindenRuhestandtretenwollte.«Mit sechzig»,sagtederAmtsvorsteher,«fängtdasLebenerst richtigan!»Daraufwurdeangestoßen.

BisichinGedankendasKlirrenderGläserhörte,warich wiederbeimStadtturmundgingweiterzumMarkt.

Ichgenosses,denArbeitswegzugehen,ohnezurArbeitzu gehen.Immerwieder:eineGassehinunter,querüberden Platz,dortsotun,alsob,dannaberdochnicht,stattdessen eineandereGassewiederhinauf,dabeidieFreiheitspüren unddieZeit,dieichplötzlichzurVerfügunghatte,Zeit,die ichbewusstnichtverplanthatte.

GanzandersBarbaraundWalter,dieeinenTagnachseinemLetztenmitdemWohnmobillosfuhrenundsichdabei fühltenwiedamals,alssieeinenTagnachderHochzeitin dieFlitterwochenaufgebrochenwaren.Sieerlebtenihren zweitenFrühling,nanntendieReiseeinen«Roadtrip»,Erlebnisseentweder«Abenteuer»oder«Challenges»,je

nachdem,obsieschönwarenoderunangenehm,undhielten alleDetailsaufihremBlogfest,auchdieBenzinpreise.

«Wennnichtjetzt,wanndann?»,fragtemichBea,bevor siewenigeWochennachderPensionierungzuihrerFreundin nachFrankreichauswanderte.ClaudiazoginsTessin,umin derNäheihrerEnkelkinderzusein,PhilippindieBerge,wo erHüttenwartwurde.EinRuckgingdurchmeinUmfeld,gestaffelt,dawirnichtallegleichzeitigindenRuhestandtraten, dochkontinuierlich,bis«keinSteinmehraufdemanderen war»,wieDianaeinmalnachdenklichbemerkte.Fastalle stürztensichinProjekteundBeschäftigungen,umsichvor derLeerezuschützen,dienachdemErwerbslebendrohte.

Dochnichtallengelanges,vonderfernenZukunftindie GegenwartzuwechselnunddieSätzeentsprechendumzuformulieren.Siesagtenweiterhin«irgendwann»anstatt «jetzt»undglaubtenvielleichtselbstnichtmehrdaran.Erst rechtEdithnicht,diemitteninderScheidungwar.UndDiananicht,dieinderNäheihresdementgewordenenVaters bleibenwollte.

DiehierGebliebenenlebteneinenAlltag,derihnenvertrautwar,auchwennsiejetztmehrFreiheitenhatten.Der Weckerklingeltenichtmehrumsechs,sondernumsieben, dieEinkäufeerledigtensienichtmehrnachFeierabend,sonderntagsüber,unddieWäscheebenso.AndenWochenendentrafensiesichmitdenen,dienocharbeitetenunddie TagebiszurPensionierungzählten.DerfrüheTodeinesBekanntenhättesieandieSanduhrerinnernkönnen,dieim Hintergrundleiserieselte,dochsiehörtendasRieselnnicht. Odersietatenzumindestso.

IchmeinerseitshattemeinegroßenProjektelängstaufgegebenundwollteeinfachdenMomentleben,offenseinfür Veränderungen,abernichtenttäuscht,wennsichkeineerge-

benwürden.IchhatteZeitundzelebriertesie.Jedenfallsin denerstenMonatennachmeinerPensionierung.

IndenerstenMonatennachmeinerPensionierungbogich manchmalauchdannbeimStadtturmlinksab,wennich nichtzumMarktging.IchschlendertedieGassehinunterzur BäckereiundvondortmiteinervollenTütequerüberden PlatzzumprunkvollenGebäude,dessenschwereHolztürsich knarrendöffnete.Ichhuschtehinein,anderLogevorbeiin denzweitenStock,woichmeinehemaligesTeamimPausenraummitfrischemGebäcküberraschte.

Hinundwiederwolltejemandvonmirwissen,woeinDokumentabgelegtistoderwieichineinembestimmtenProjektvorgehenwürdeundobichnachderPauseraschZeit hätte,umeszubesprechen.Nichtseltenbliebichlängerals eineStunde,gingvonBürozuBüroundkümmertemich auchumdiePflanzenimSekretariat.Einmalnahmichsogar aneinerSitzungteil,beideresumdieamtsinterneBibliothek ging,fürdieichindenletztenJahrenunteranderemzuständiggewesenwar.Kurz:MeinWissenundmeineErfahrung warengefragt,meineAnwesenheitwurdegeschätzt.

DochmitderZeitbrauchteesmeineRatschlägeimmer seltener.EskamenneueGesichterinsAmtundmitihnen neueLösungen.Ichkonntenichtmehrmitreden,weilich nichtwusste,welcheBereiche,ZuständigkeitenundAbläufe sichveränderthatten.AuchmitdenTückenderneuenSoftwarewarichnichtvertraut.PrivateGesprächehatteichfrüheramPausentischgemieden,weshalbichauchjetztnicht aufsolcheThemenumschwenkenkonnte.Immeröfter schwiegich,meineBesuchewurdenrarerundkürzer,die PflanzenimSekretariatverkümmerten.

DannkamdiePandemie.DerZutrittinsGebäudewarzuerstnichtmehrerwünscht,späternichtmehrerlaubt.Ein

ZettelanderEingangstürwiesdaraufhin.Fastdasganze AmtwarimHomeoffice.

AuchichbliebzuHauseundlasmichdurchdieKlassiker derdeutschsprachigenLiteratur.DabeifolgteicheinerListe, dieichindenNeunzigerjahrenzusammengestellthatte.Werk fürWerkarbeiteteichmichdurchdieListe,hakteTitelum TitelabundnähertemichallmählichdemLeseziel,dasich mirMittedreißiggesetzthatte.

WährenddessenverschlechtertesichmeineSehschärfe,als würdesiesichdemneuenBewegungsradiusanpassen.Meine Wohnungverließichnurnochselten.Tatiches,soerkannte ichdieLeutenichtmehraufderStraße.DenTerminbeim OptikerschobichbisnachderPandemieaufundbliebbis dahinwiedurcheineMilchscheibevomRestderWeltgetrennt.

IrgendwannwardieSehschärfekorrigiert,dermilchige SchleierhobsichundichbogeinesTagesbeimStadtturm wiederlinksab,gingeineGassehinunter,querüberdenPlatz zumprunkvollenGebäude,dessengroßeTürausdunklem Holzsichknarrendöffnete. Ichtratein.

InderLogestandeinjungerMann,denichnichtkannte. Alsichihmerklärte,werichbin,sagteer,dassunangemeldete Besuchenichtmöglichseien.Ichbehauptete,dassmichder AmtsvorstehererwarteundnanntedessenNamen.Erkannte denNamennichtundfandihnauchnichtimVerzeichnis. ObichmichnichtimGebäudegeirrthabe,fragteer.Dashier seidasAmtSoundso.IchnuschelteeineEntschuldigungund machtemichdavon.

SeitherbiegeichbeimStadtturmnichtmehrlinksab,wenn ichzumMarktgehe,sondernsetzemeinenWeggeradeaus fort.Soauchheute,andiesemkühlenundbewölktenFrüh-

lingstag.NurnochwenigeMetervomerstenMarktstandentferntbinich,alsichhintermireineStimmehöre,diemeinen Namenruft:«Iris!»Undnocheinmal:«Iiiiris!»

Ichbleibestehen,drehemichumundseheLiselotte,die auseinigerDistanzwinktundlacht,alswärenwirbeste Freundinnen.DabeikenneichsienurflüchtigvomLesezirkel,dersicheinmalmonatlichumdenDiwanunserergemeinsamenFreundinDianaschartunddeshalbDiDian heißt.

Ichkannmichnichterinnern,mitLiselottejeeinlängeres Gesprächgeführtzuhaben.Natürlichhätteichsieaufder Straßegegrüßtundwärevermutlichkurzstehengeblieben, ummitihreinpaarWortezuwechseln.AbervonWeitem ihrenNamengerufenhätteichnicht.Dasssieestut,überraschtmich.

Dasssieestut,überraschtmichnicht.Dennichweiß,dass DiDianverbindet.EinmalsetzteichmichnachdemLesezirkelimBusnebenEdith,dieichdamalsebenfallsnurflüchtig kannte.WirredetenüberdasBuch,daswiranjenemAbend besprochenhatten,auchüberdasGesprächüberdasBuchredetenwirundüberdieVerfilmung,diewirbeidenochnicht gesehenhatten.ZweiTagespätergingenwirzusammenins Kino,sahenvordemFilmdieVorschaueinesanderenFilms, fürdenwirzweiWochenspäterwiederinsKinogingen,wo wirdieVorschaueinesanderenFilmssahen,fürdenwirzwei Wochenspäterwiederundwiederundwieder.Heuteist EditheinemeinerbestenFreundinnen.

«ZumGlückseheichdich!»,keuchtLiselotte,alssievor mirstehtundmireinleichterKnoblauchgeruchindieNase steigt.«IchmussmitdirüberdenLesezirkelreden.Diana hatmichgesterndaranerinnert,dassichfürdennächsten BüchervorschlagzuständigbinunddasGesprächmoderieren

soll.LeiderfehltmirdieZeit,michdarumzukümmern.

Kannstduübernehmen?»

«Natürlich,keinProblem.Geht’ sdirgut?»

DieFragehabeicheherausHöflichkeitdennausInteresse gestellt,dochLiselottenimmtsieernst,stößteinenSeufzer aus,hauchtmirdadurchnochmehrKnoblauchgeruchins Gesichtundverspricht,mireinandermalzuerzählen,was passiertist.Siemüssejetztlos,ihrZugfahreinzehnMinuten.

IchbleibenocheineWeilestehenundschaueLiselotte hinterher,dieinRichtungBahnhofdavoneilt.

EinBuchsollichalsovorschlagen.

Ichbeschließe,nichtsofortzumMarkt,sondernzuerstin dieBuchhandlungzugehen,dienureinpaarGehminuten entferntinderFußgängerzoneliegt.InGedankenversunken macheichmichaufdenWeg.

KulturbautBrücken!

SohießdiemehrtägigeVeranstaltung,beiderichDiana kennengelernthabe.Jahrzehnteliegtdasschonzurück.Ich wolltedamalsGermanistikstudierenundhieltmichbeiallerleikulturellenAnlässenauf,vorallemimTheaterundbeiLesungen.DiDianisteinÜberbleibselausjenerZeitunddie BegegnungmitLiselotteeineErinnerungdaran,dassKultur verbindet.Ichsollteöfterdarandenken,dennVerbindungen fehlenmir.

KontakteergebensichseitderPensionierungnichtmehr spontan.

Alsichnochberufstätigwar,mussteichmichniedarum bemühen.ImBürowaricheingebettetineinTeam,dassich regelmäßigaustauschte.HinzukamendieKolleginnenaus derämterübergreifendenArbeitsgruppe.Michmitihnenzu treffenwarunkompliziert.EsgenügteeininternerAnrufzwi-

schenelfundzwölf – «Thai?»,«Pizza?»oder«Sushi?» –undschonwarichverabredet.

Seitichnichtmehrarbeite,habeichmichnurnocheinmal mitihnenverabredet,nichtmehrspontan,sondernTageim Voraus.DadurcherhieltdasTreffeneineWichtigkeit,derunsereoftbelanglosenGesprächenichtgerechtwurden.Für michwardasMittagessendereinzigeTerminaneinemsonst leerenTag.Michbrüskiertedeshalb,dasssicheinederKolleginnenschonkurzvoreinsverabschiedete,umihreSollarbeitszeitzuerreichen.SieseiimMinus,entschuldigtesiesich, alssieeineZwanzigernoteundetwasKleingeldaufdenTisch legteundaufstand.DieanderenwarenzehnMinutenspäter ebenfallsweg.

Ichwar,wiemansoschönsagt,ineinemanderenFilm. NachundnachpassteichmeineGewohnheitendiesemneuenFilman.IchverzichteteaufdieMittagessenmitdenehemaligenKolleginnenundmeldetemichstattdessenöfterbei Leuten,dieebenfallsimRuhestandwaren.

EinmalverabredeteichmichmitEdithzumMittagessen inmeinemLieblingsrestaurant.AufdemWegdorthinfiel mirauf,dassichmichnichtmehrwieeinstgeschmeidig durchdieMenschenmassebewegte,diemittagsinderInnenstadtunterwegsist.MehrmalsmussteichjemandemimletztenMomentausweichenoderabruptanhalten,umeinenZusammenstoßzuvermeiden.

MeinFahrlehrerhattemirstetsgesagt,dassmanentgegenkommendeFahrzeugenichtfixieren,sondernanihnenvorbeischauensollte,damansonstaufsiezusteuere.Jetzttatich genaudas:dieEntgegenkommendenanschauen,inderHoffnung,jemandenzukennen,einLächelnzuerheischen,gegrüßtzuwerden.Dadurchsteuerteich,ohneeszuwollen,auf siezu.

NachzahlreichenAusweichmanövernkamicherschöpft imRestaurantanundbeschloss,wochentagsnurnochdann indieInnenstadtzugehen,wenndiemeistenLeutebeider Arbeitsind:morgenszwischenneunundhalbzwölf,nachmittagszwischenzweiundhalbfünf.

DassichaufderStraßeangesprochenwerde,istdeshalb seltengeworden.Beinahehätteichvergessen,wieschönesist.

VonCatherine,diemirvorvielenJahrenbeiderVorbereitungaufeinFranzösischdiplomhalf,weißich,dass reconnaître nichtnur wiedererkennen bedeutet,sondernauch anerkennen. DasseikeinZufall,erklärtesiemir,dennwer wiedererkanntwerde,erfahreeinegewisseAnerkennung.TatsächlichfühleichmichnachdieserkurzenBegegnungmitLiselotte reconnue imdoppeltenSinne.

Beschwingtgeheichweiter.Wäreichjünger,würdeich hüpfen.Vielleichtdazupfeifen.Immerhinpfeifendarfichin meinemAlternoch.Undsopfeifeich,vermutlichetwaszu forte,zuforschoderzufalsch,dennzweiSchülerdrehensich nachmirumundtuscheln.Ichwürdesieamliebstenanlächeln,abergleichzeitiglächelnundpfeifengehtnicht.Stattdessengeheundpfeifeichweiter,währendichüberlege,welchesBuchichfürdennächstenLesezirkelvorschlagen könnte.

MirfällteinejungeSchweizerAutorinein,überderen neuesBuchichvorKurzemeinenansprechendenArtikelgelesenhabe.SieistReiseleiterinundhatihreberuflicheErfahrunginKurzgeschichtenverwoben,dieallesamtinArmenien spielen.IhrNameistmirentfallen,dochmitetwasGlück werdeichdasBuchtrotzdemfinden.Undvielleichtwäredie Autorinsogarbereit,beiDiDianeinigePassagenvorzulesen undFragenzubeantworten.DarauskönntesicheineDiskussionergeben,dievielinteressanterwärealsdieneulicheBesprechungeinesBestsellers.

AusgerechnetDianahatteeinenRomanvorgeschlagen,der imSchaufensterjederBuchhandlungauflagundeinestarke Medienpräsenzhatte.Alles,wasmanüberdenRomandenkenkonnte,warschonzigfachgesagtundgeschriebenworden.DasGrüppchenrundumDianasDiwanwiederholte dennauchnur,wasandereschonformulierthatten.DieRundewirktegelangweiltunduninspiriert.DernächsteLesezirkel sollanderswerden.Dasjedenfallsnehmeichmirvor,alsich dieBuchhandlungbetrete.

IchgehezumRegalmitderÜberschrift SchweizerAutoren. EtwasplanloszieheichdaserstbesteBuchherausund betrachtedasTitelbild.EinJungeimVorschulalter,dermich angrinst,alswürdenwirunskennen.

DerTitellautet: AufUmwegenzumErfolg.

WohleinRatgeberbuch,nehmeichan.Jedenfallsnicht das,wonachichsuche.IchschiebedasBuchzurückinsRegal, neigedenKopfleichtnachlinksundlesedieTitelanderer Bücher,währendmeinZeigefingernochimmerüberdenRückendesBuchesmitdemTitel AufUmwegenzumErfolg fährt,umesmiteinemsanftenDruckzwischenzweiBücher zustoßen.DabeispüreichunterderFingerkuppedasfeine ReliefeingestanzterBuchstaben,wasichalsunangenehm empfinde.RaschzieheichdenZeigefingerzurückundschaue irritiertaufdenBuchrücken.ErstjetztseheichdenNamen desAutors.IngoldenenLetternstehteraufdunkelgrauem Hintergrundgeschrieben: SilvanJ.Mueller. Ichzuckezusammen.Dannfahreichnocheinmalmit demZeigefingerdarüber,alsmüssteichmichvergewissern, dassdortwirklichdieserNamesteht.Tatsächlich: Silvan J.Mueller , AufUmwegenzumErfolg. IchziehedasBuch wiederherausunddreheesum.AufderRückseiteisteinalter Mannabgebildet.Darunterleseich: Mitüber85Jahren schautderAutoraufseinLebenzurückund …

DannverschwimmendieBuchstabenvormeinenAugen. Erstjetztbemerkeich,dassmeineHändezitternundmein Herzpocht.MeinHerzpocht.Pocht.

WenigspätersitzeichaufeinerBankvorderBuchhandlung undatmetiefdurch.MitmeinenFüßenwippeich,umBlut inmeinenKreislaufzupumpen.

Ichseibleich,hatmirderBuchhändleranderKassegesagt, alsichwieinTrancedasBuchbezahlthabe.MeineOhren rauschten,ichnahmkaumetwaswahr.Oballesgutsei,meine ichdurchdasOhrenrauschengehörtzuhaben,aberichwar unfähig,daraufzureagieren.

Oballesgutist,werdeichohnehinerstsagenkönnen, wennichdasBuchgelesenhabe,wennichweiß,obicheiner derUmwegeinSilvansLebenwar.EinUmwegaufseinem WegzumErfolg.EinAbweg,einIrrwegvielleicht.Odereine Sackgasse,ausdersichSilvanabruptbefreite,indemerplötzlichzurückkrebste,alshabeersichverirrt.

ÄhnlichwieichalsKindimIrrgartennebendemSchloss, woichinPanikgeratenwar,weilichdenSpielplatzinder Mitte,dieeigentlicheAttraktiondesIrrgartens,nichtgefundenhatte.«Wennesnichtmehrweitergeht,musstdueinfachzurückzurletztenAbzweigungundeinenanderenWeg ausprobieren»,erklärtemirmeineTanteundbestanddarauf, dassichesnocheinmalversuche.Undnocheinmal.Bisich denSpielplatzinderMittegefundenhatte.Danachwarich soglücklich,dassichnichtmehrnachHausewollte.

Silvanhattesichebenfallsverirrt.IneineaußerehelicheBeziehunghatteersichverirrt,ineinenemotionalenIrrgarten, woerzunächstnacheinemWegnochtieferhineinsuchte,in dieMitte,woerdasLiebesglückzufindenglaubte.Docher verlorsich,undniemandstanddanebenundermunterteihn, weiterzumachen,einenanderenWegauszuprobieren.Nie-

mandwillzuverbotenemGlückanimierthaben.Undsoging SilvanirgendwannnichtnurzurletztenAbzweigungzurück, sonderndenganzenWegbiszumEingang,derihmnunals Ausgangdiente.AufZehenspitzengingerzurück,ganzleise machteerseineSchritteungeschehen,verließmichundführteseinbisherigesEhelebenweiter.

SeinRückzugwarsounvermitteltundunerwartetwiesein ersterAuftrittinmeinemLebengewesenwar.Undjetzt, Jahrzehntespäter,tauchterebensounvermitteltundunerwartetinBuchformwiederauf.

Ichseufze,sotief,dassichspüre,wiesichmeinBrustkorb hebtundwiedersenkt.EinePassantinmustertmich,und plötzlichbinichnichtsicher,obichnurgeseufztoderdavor auchSelbstgesprächegeführthabe,obichnichtnuranSilvan gedacht,sondernauchmitihmgeredethabe.Ichräuspere mich.DiePassantinschautnocheinmalzumir,scheintzu zögern,gehtdannaberwortlosweiter.

JetztistdasOhrenrauschenwiederda.

IchnehmedasBuchausderTasche,dienebenmiraufder Bankliegt,betrachtedasGesichtdesJungenaufdemTitelbildundversuche,darinSilvansGesichtszügezuerkennen. DochdasGrinsenkommtmirfremdvor.

SilvanhabeichalsernstenManninErinnerung.Erlächeltenurseltenundlachtefastnie.AneinGrinsenkannich michnichterinnern.SpitzbübischwieaufdemTitelbildkenneichihnnicht.ManchmalwarSilvanausgelassen,überschwänglichgar,abervonSchalkhaftigkeitkeineSpur.

ImabgebildetenLausbubengesichtistnebendemMund einLachgrübchenzusehen,daszwarauchimErwachsenengesichthinundwiederaufblitzte,abernichtoft.VielzuseltensahichdasGrübchen.WieausdiesemKindeinsoernster Manngewordenseinmag?

AmliebstenwürdeichdasBuchsofortaufschlagenund mitdemLesenbeginnen,dochetwashältmichzurück.Das Ohrenrauschenvielleicht.OdermeinhoherPuls.UntermeinemrechtenZeigefinger,deraufdemlinkenHandgelenk ruht,pochtessorasch,dassichMühehabe,dieSchlägezu zählen.EssindmindestenshundertproMinute.

IngefühltderselbenFrequenzblitzenErinnerungsfetzen auf:SzeneninHotelzimmern.Genf,Hannover,Frankfurt, Dortmund.SpaziergängeinLondon.Abendessenbeimir,immerwieder,auchFrühstückebeimir.ObimBuchdavondie Redeist?Undwas,wenn?

IchlegedasBuchzurückindieTascheunderhebemich vorsichtig.ZumeinerÜberraschungknickeichnichtein.Ich bleibeeinenMomentstehen,bevorichbehutsameinenFuß vordenanderensetze.Danndenanderenvordeneinen.Den einenvordenanderen.Vordeneinen.Denanderen.AneinanderreiheichdieSchritteundgehelangsamvorwärts.

Dabeistelleichfest,dassmirdasGehenguttut,dassder hohePulsbesserzumGehenalszumSitzenpasst,dasssich durchdieBewegungauchmeineAtmungberuhigt.DassmeineGedankenklarerwerdenunddieBilderimKopfdeutlicher.

AnderBushaltestellefälltmirSilvansAbschiedsnachricht ein,dieharmlosmit LiebeIris begannundneutralauf Mach’sgut! endete.DazwischenstandenfünfZeilen,anderengenaueFormulierungichmichnichterinnere,wohlaber aneinzelneFragmente: langeüberlegt , keineZukunft , seit dreiJahrzehntenverheiratet , unfair , zweiteChance , ohne dich.

EswarenWorte,diesichwieNadelsticheanfühlten.Stiche,dietiefunterdieHautgingenundmirSchmerzzufügten.BesondersschmerzhaftwardieDemütigung,verlassen

wordenzusein,ohnedasRechtzuhaben,michalsVerlassene zufühlen.

HättesichSilvanandersentschieden,sowäreseineEhefraudieVerlassenegewesenundhätteweinen,michverfluchenoderaufSilvanwütendseindürfen.IchaberhattekeinenAnspruchaufsolcheGefühle.IchwarderSeitensprung, verkörpertedasUnsittliche,dasUnerhörte,dasUnrechtmäßige.Ichwarschuld.Ichwarselbstschuld.

SogarKira,damalsmeinebesteFreundin,wussteaufdie TrennungkeineandereReaktionalsdieAugenbrauenanzuheben.KeineWorte.NurdasSpielmitdenAugenbrauen. «Sagwas!»,flehteichsiean,weilichihrSchweigennicht aushielt.Kiraseufzte,bevorsiesagte:«Daswarjazuerwartengewesen.»

BeimGedankendaranspüreicheinKneifeninderMagengegend.EsistderKnoten,dersichdamalsbildete.Ein Knoten,denichlängstverschwundenglaubte,dersichaber jetzt,fastdreißigJahrespäter,aneinemunscheinbarenMontagmorgenimBuswiederbemerkbarmacht.«LiebeIris», dröhntesinmeinenOhren.«Ohnedich.Mach’ sgut!»

Gewisshundertmal,wennnichttausendmalhabeichdie Abschiedsnachrichtdamalsgelesen.Richtiggehendgequält habeichmichdamit.Sooft,dassichsiejetzt,aufderBusfahrtnachHause,rekonstruierenkann.Sooderähnlichmuss siegelautethaben:

LiebeIris, überdieFesttagehabeichmir«dasmituns»langeüberlegt.IchbinzumSchlussgekommen,dassunsereBeziehung keineZukunfthat.IchbinseitdreiJahrzehntenverheiratet. VerenaistdieMuttermeinesSohnes.BaldwerdenwirGroßeltern.Eswäreunfair,meineFamiliezuverlassen.Ichwill

meinerEheeinezweiteChancegeben.Dasgehtnurohne dich.

Mach’ sgut!

Silvan

DieNachrichttrafAnfang1997ein.SilvanhattedieFesttage mitseinerFamilieverbracht,warvermutlichkaumjeallein gewesen.

EinJahrvorherhatteersichüberdieFesttagemehrmals untereinemVorwandausdemHausineineTelefonkabine geschlichen,ummichanzurufen,weileresohnemichnicht mehrausgehaltenhabe,wieermirsagte.Ervermissemichso sehr,dasseramliebsteneinfachausbrechenwürde.«Ausbrechen»hatteergesagt,daranerinnereichmichgenau.«Ausbrechen»,alslebeerineinemGefängnis.

AnWeihnachten1996lebteerimmernochdort.DiegroßeLiebe,dieangeblichBergeversetzenkann,hattenichtsbewegt.DafürgabesvieleGründe,würdeesimmervieleGründegeben.DarandachteichanSilvester,alsersichnicht meldete.IchwaralleinzuHause.Eigentlichhattenwirfür einpaarTageverreisenwollen,docheinenTagvordergeplantenAbreise,amStephanstag,sagtemirSilvanamTelefon,seinerMuttergeheesschlecht.

Ichwusste,dassseineMutterimSpitalwar.DiekurzfristigeAbsageklangdeshalbplausibel.Silvanversprach,michan Silvesterwenigstensanzurufen.Dochertatesnicht.WarseineMuttergestorben?Warsonstetwasvorgefallen?Hatteer sichvonmirabgewandt?OdereinfachkeinenVorwandgefunden,umzurTelefonkabinezugehen?

DieUngewissheitsetztemirzu,obwohlichsiekannte. EswardieselbeUngewissheit,diemichmanchmalanden Wochenendenüberkommenhatte.VonMontagbisFreitag warenSilvanundichinständigemAustauschgewesen,hatten

mehrmalsproTagmiteinandertelefoniert,unsmanchmalgeschrieben,mindestenseineNachtzusammenverbrachtund dann,amFreitaggegenAbend,warderKontaktjeweilsabruptabgebrochen.SilvanhatteandenWochenendenganz seinerFamiliegehört.SeinerFamilie,dienichtsvonmir wusste,nichtsvonmirwissendurfte.

Undich?Ichwarmirselbstüberlassen.Mirundmeiner Gedankenwelt,diesich,jelängerdieFunkstilledauerte,desto stärkerverdüsterte.BesondersdüsterwurdesieanjenemSilvester1996,alsSilvanmichnichteinmalanrief.

WirhattenbeideeineMailadresse.SeinelauteteaufRomeo,meineaufJulia,dahinterdieselbeZahlenkombination, diedasDatumunserererstenBegegnungenthielt.EswarSilvansIdeegewesen,weilernichtgewollthatte,dasswirunsan unsereberuflichenMailadressenschrieben.Ichselbsthatte damalsnochkeineprivateMailadresse,erteilteseinemitseinerFrau.DieRomeo-undJulia-Adressenwarennurfüruns.

AnSilvester1996riefichimStundentaktmeineInboxab, inderAnnahme,dassmirSilvanwenigstenseinpaarZeilen schreibenwürde.UndimStundentaktwurdeichenttäuscht. AuchnachMitternachtriefichmeineInboxab,nichtmehr nurstündlich,sondernhalbstündlich,dannviertelstündlich, schließlichallepaarMinuten.Wennichdarandenke,höre ichnochheutedasPiepsen,Pfeifen,RatternundRauschen, mitdemsichmeinModeminsInterneteinwählte.EinGeräusch,daszumSoundtrackmeinerSilvesternachtwurde, zumLärmdernagendenUngewissheit.

AlsSilvansichauchindererstenJanuarwochenichtmeldeteundaufmeineNachrichtennichtreagierte,spielteich mitdemGedanken,ihmentgegenunsererAbmachunganseineberuflicheMailadressezuschreiben,wagteesletztendlich aberdochnicht.DamalskursiertenGerüchteüberUnternehmen,diedenMailverkehrihrerAngestelltenüberwachten.

Anrufenkamnichtinfrage,weilseineSekretärindieTelefonateentgegennahm.SilvanhattezwarbereitseinMobiltelefon,dasallerdingsvomGeschäftfinanziertwurde,weshalbdieRechnungenmitsamtAuflistungallerNummernan diePersonalabteilunggingen.Mirbliebnichtsanderesübrig alszuwarten,bisersichmeldenwürde.Genauso,wieiches nachdenWochenendenjeweilsgetanhatte.

DasWartenwaranstrengend,auchnachdenWochenendenwardasWartenanstrengendgewesen.MeineGedanken gingenmalindieeine,malindieandereRichtung.Malwar ichglücklich,malwarichunglücklich.Malverliebt,malverlassen.Liiert,solo.Wederliiertnochsolo.DieZukunftgehörteuns,gehörtevielleichtdochnichtuns.Niewussteich, wasmicherwartete,wennSilvananrufenwürde.Immerbefürchteteich,dassersichübersWochenendeoderüberdie Feiertagevonmirabgewandthabenkönnte.

Ichbemühtemich,dassmeinerStimmedieWartereiund diedamitverbundeneUngewissheitnichtanzuhörenwar. Nichtimmergelangesmir.ObesmirAnfang1997gelungen wäre,weißichnicht.DennSilvanriefmichnichtan.

Silvanriefmichniewiederan.

ZuHauseangekommen,packeichdasBuchnichtsofortaus. StattdessenschreibeichDianaeineNachricht,umihrvon derBegegnungmitLiselottezuerzählen.Ichteileihrmit, dassichdieVerantwortungfürdennächstenLesezirkelübernehme.AnschließendsucheichindenaltenZeitungennach demArtikelüberdieSchweizerAutorin.

Nashanenntsiesich,wieichinderfünftenZeitunglese, dieichaufschlage.IchlegedenArtikelzurSeite,bündledas AltpapierundstellewenigspäterdreiBündelindenKeller.

ZurückinderWohnung,nehmeichSilvansBiografieaus derTascheundbetrachtesielange,bevorichsieaufdieKom-

modelegeundindieKüchegehe.Dortbeginneich,dasMittagessenzuzubereiten,obwohlichkeinenHungerhabe.Der KnotenschnürtmeinenMagenzu.Ähnlichwie1997,alsSilvanplötzlichausmeinemLebenverschwundenwar.VierKilosnahmichdamalsab.

BeimGedankendaranverschiebeichdasKochenaufspäterundräumedieWohnungauf.SilvansBuchschiebeichim RegalzwischenzweischwarzeKunstbände,damitmirder dunkelgraueBuchrückennichtauffällt,wennichdaranvorbeigehe.Ichprobiereesaus,indemichdurchdasZimmerflaniereundmeinenBlickwiebeiläufigüberdasBüchergestell schweifenlasse.DabeistechenmirdiegoldenenBuchstaben sofortinsAuge.

SilvanJ.Mueller.

IchplatzieredasBuchzwischenzweiandereBücher,etwas weiteruntenimRegal,warteeinpaarMinuten,bevoriches nocheinmalversuche.Dannnocheinmal.Undnocheinmal.

SilvanJ.Mueller, immerwieder.

EgalaufwelcherHöheundzwischenwelcheBücherich dasBuchschiebe,esfälltmirbeimVorbeigehenimmersofort auf.Ichkannesnichtverstecken.Vielleichtistesumgekehrt: Ichkann mich nichtverstecken.NichtvordemBuch,nicht vorSilvan,nichtvorunsererGeschichte.

IchnehmedasBuchwiederausdemRegal,steuereaufdas Sofazu,kehreaufhalbemWegumundlegeeszurückaufdie Kommode.Zuerststaubsaugen.NachwenigenSekundenräumeichdenStaubsaugerwiederweg,weilmireinfällt,dassich vorgesternschongestaubsaugthabe.

UnschlüssiggeheichdurchdieWohnung,zupfevonden PflanzeneinpaarwelkeBlätter,solange,bismeineunruhigen FingerauchangrünenBlätternzuziehenbeginnen.

Ichbeschließe,mireinenTeezuzubereiten.AusdenverschiedenenSortenwähleichBaldriantee,dessenentspannendeWirkungaufderVerpackungangepriesenwird.

BeimNippenanderdampfendenTasseüberlegeich,was ichtunkönnte.DieWäsche?DerKorbimBadistpraktisch leer.Rechnungen?Sindallebezahlt.Steuererklärung?Habe ichletzteWocheerledigt.MichbeiEdithmelden?Sieistin Spanien.MirfälltkeineandereBeschäftigungein.

IchdenkeandasBuch.IchdenkeschondieganzeZeitan dasBuch.

Ach,Silvan.Musstedassein? Mussdassein?

EndlichsetzeichmichmitdemBuchaufsSofa,schlagees aufundlesealsErstes: FürVerena,ohnedieichnichtwäre, werichbin. Raschblättereichweiter.AufdersiebtenSeite folgtdasInhaltsverzeichnis:

DieerstenfünfKapitelklingennachArbeitstitelneines WorkshopsüberbiografischesSchreiben.Arbeitstitel,Silvan, dochnichtKapitelineinemBuch,dasveröffentlichtwird! IchschüttledenKopf.

JUGEND beispielsweiseisteinPlatzhalter,biseinbesserer Titelgefundenist,derzumInhaltdesKapitelspasst.Ich schnalzemitderZunge.Dannmussichlachen.TypischSilvan!ErhattenieeinFlairfürLiteratur.Ausgerechneter schreibteinBuch.

DiezweiteHälftederKapitelweistaufetwasmehrIndividualitäthin.Nichtalleerlebennachdem BERUFSAUFSTIEG einen STILLSTAND, richtensichneuausundstartendurch.DasistwohlderErfolg,vondemdasBuchhandelt undaufdenSilvanstolzzuseinscheint.

Dannaber – undichmusswiederdenKopfschütteln –LORBEEREN, alswollteersichselbstloben.Und VERDIENTERUHE, alskönnteerselbstbeurteilen,obseinRuhestandverdientistodernicht.

ImmerhinheißtkeinesderKapitel SEITENSPRUNG, AFFÄRE odergar IRIS. AnhandderTitellässtsichmeine vorübergehendePräsenzinseinemLebenjedenfallsnichterahnen.ObermichimTexterwähnthat?

Ichversuchezuerraten,inwelchenKapitelnichvorkommenwürde.Vermutlichirgendwozwischen BERUFSAUFSTIEG und DURCHGESTARTET.

Ichatmetiefein,bevorichzumerstenKapitelblättere undzulesenbeginne:

MeineKindheitwarunbeschwert.Geborenbinich1938im ZürcherOberland.DasHaus,inwelchemmeineWiege stand,hattenmeineGroßeltern …

EsfolgenAusführungenzusozialerHerkunftundLebensumständenindenKriegsjahren,kurzeAnekdotenausderKindheitundlangePassagenüberdieSchulzeit.EinpaarLausbubenstreichelockerndenErzählflussauf.

ImKapitel JUGEND istzunehmendderDruckaufdie schulischenLeistungenthematisiert.Besondersofterwähnt wirdderstrengeVater,derdaraufbestand,dassSilvan,obwohleindurchschnittlicherSchülerohneAmbitionen,ans Gymnasiumwechselteundspäterstudierte.DieMutter,eine Freiburgerinbeziehungsweise uneFribourgeoise, wieSilvan imBuchbetontundauchfrüherinGesprächenzubetonen pflegte,wirdimVergleichdazualssanftundliebenswürdig beschrieben.

DieArtundWeise,wieSilvanüberseineElternschreibt, unterscheidetsichnichtgrundlegendvondem,wasermirvor dreißigJahrenerzählthat.AuchderkritischeBlickaufseinen Vateristunverändert,wenngleichetwasversöhnlicher.Als streng,abergerecht bezeichneterihninderBiografie.Früher hätteerihnals strengundkalt beschrieben,denneigentlich hatteerunterderforderndenundlieblosenArtseinesVaters gelitten.

AuchdieerstenPassagenüberdieStudienjahrekommen mirbekanntvor.SilvanwareinunmotivierterStudent,der nurseinemVaterzuliebeWirtschaftstudierte.SoleidenschaftsloserebennochLateinvokabelnbüffelte,soleidenschaftsloswälzteernunTheorienderBetriebswirtschaftslehre.IhmwarkeinanderesFacheingefallen,weshalberdem RatseinesVatersgefolgtwar.«MangelsbessererIdeezum Betriebswirtschaftergeworden»,hatmirSilvaneinmalgesagt.

SopointiertformulierteresinderBiografienicht,räumt aberimmerhinein,dasserohnedieHartnäckigkeitseinesVaterswohlehernichtundschongarnichtzuEndestudiert

hätte.ImBuchdankterseinemVaterdafür,dassdieseran ihnundseineFähigkeitenglaubte,währenderselbstansich zweifelte.WeshalbSilvanansichzweifelte,erwähnternicht, obwohlgenaudas,findeich,interessantgewesenwäre,weiles, someineVermutung,ebenfallsmitseinemVaterzutunhatte, mitseinemVaterunddessenhohenErwartungenanihn.

ImKapitel STUDIUM fälltmirnochetwasauf:Silvan bezeichnetseinStudentenlebenals wild. Ergibtsicheinen verwegenenAnstrich,denichanihmniewahrgenommen habe.IchkannmichauchnichtanentsprechendeErzählungenerinnern. JedesWochenendeParty!, schreibteraneiner StelleundvergisstvorlauterAufregungdasVerb.

DieungewollteSchwangerschaftseinerdamaligenFreundin,Verena,stellteeinenradikalenUmbruchinseinerStudienzeitdar.DochdieserUmbruchistinderBiografieganzandersdargestellt,alserihnmirgegenübergeschilderthat.Von seinenBedenkenunddergroßenAuseinandersetzungmit denElternistkeineRede.VielmehrbeschreibterdieUmständealsromantisch.

EswarLiebeaufdenerstenBlick …

SobeginntderAbschnitt,indemVerenaerstmalsErwähnungfindet.BeieinemStadtfesthabensichdiebeidenkennengelernt,erfahreichbeimLesen.Und: Seithersindwirunzertrennlich.Dasistbisheuteso.

WiederdiesesschmerzhafteKneifen.Ichmassieremeinen Bauch,währendichweiterlese.EtwasvageerwähntSilvan Entscheidungen,diezujenerZeitanfielen, undmeintdamit wohldieHeiratunddasZusammenziehen – indieserReihenfolge,verstehtsich.

Ichweiß,dassVerenadamalsineinemReisebüroarbeitete. ErhingegenließsichdasStudiumvonseinenElternfinanzieren.WeshalbVerenaihreStelleaufgegebenhatte,wollteich

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