Los Angeles Modernism Revisited. Häuser von Neutra, Schindler, Ain und Zeitgenossen

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Der Silver Lake ist kein idyllischer See, sondern ein von Betonwänden eingefasstes und von einem hohen Zaun umgebenes Wasserreservoir, das 1907/ 1908 inmitten einer Hügellandschaft nördlich von Downtown Los Angeles angelegt wurde. Seinen Namen hat das Reservoir auch nicht e ­ twa von seiner silbern glänzenden Oberfläche, ­sondern von Stadtrat Herman Silver, dem Präsidenten der City Water Commission. Eine tadellos funktio­nier­ende Wasserversorgung war die Basis für die weitere Entwicklung der Stadt, deren ­Bevölkerung sich zwischen 1900 und 1910 auf 300.000 Einwohner verdreifachte. Als Richard Neutra 1959 das Ohara House plante, hatte Los Angeles bereits 2,4  Mil­ lionen Ein­wohner und das Viertel rund um das ­Reservoir, ebenfalls Silver ­Lake genannt, war zu einer bevorzugten Wohn­gegend für Künstler und Intellektuelle geworden. In unmittelbarer Nähe zu seinem eigenen Wohnhaus am Ostufer des Reservoirs (vgl. S. 186) entstand auf Grundstücken, die Neutra an seine Bauherren verkaufte, zwischen 1948 und 1961 ­eine Kolonie von nicht weniger als neun Häusern des Architekten, die sowohl die äs­thetische Konsistenz und Konsequenz als auch die formale Bandbreite seiner reifen Schaffensphase dokumentieren (vgl. S. 176). Hitoshi und June Ohara waren Nachkommen japanischer Einwanderer, und Neutra, dessen Verständnis von Architektur und Wohnen durch einen frühen Aufenthalt in Japan entscheidend ­beeinflusst wurde, schätzte die Zusammenarbeit mit diesen Auftraggebern offenbar ganz besonders. Das Haus in Hanglage wird von zwei weiteren ­Neutra-Bauten, dem Flavin House und dem Akai House, flankiert und hat zwei Zugänge: von der „Schauseite“ vom Silver Lake und über e ­ ine private Zufahrtsstraße, die auch andere Häuser der Kolonie erschließt. Von der Garage am höchsten Punkt des Grundstücks über den ­Innenhof und den eigentlichen Wohntrakt entwickelt sich eine abgestufte architektonische Landschaft, die ursprünglich durch einen felsigen japanischen Garten vor dem Haus ergänzt wurde. In der Ansicht vom S ­ ilver Lake erzeugt die strenge Geo­metrie hölzerner Balken und gläserner Flächen ein intensives Spiel der räumlichen Ebenen, kon­trastiert die verschattete Loggia mit dem weit a ­ uskragenden Dach über dem Schlafzimmer der ­Eltern. Zentrum des Hauses ist der an drei Seiten durch G ­ laswände maximal nach außen geöffnete und erweiterte Wohnbereich. Schiebefenster stellen eine Verbindung zur Loggia her, die durch die Sonnensegel eine tex-

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tile Wandschicht erhält und damit zu einem zur Straße hin visuell abgrenzbaren Teil des Wohnbereiches wird. Auf der anderen Seite des Raumes öffnet sich ein kleiner Innenhof, der mit der Küche und dem vorgelagerten Essbereich in Verbindung steht. Das Haus wird heute von dem Designer David Netto und seiner Familie bewohnt. Für ihn ist es ein Kunstwerk, ein Generator von Atmosphäre, her­vorgebracht durch den spezifischen Umgang mit Licht. Die geringe Wohnfläche des Hauses ­lehre zwar den Verzicht und die Beschränkung auf das Wesentliche, zwinge aber selbst Liebhaber dieser Architektur irgendwann, wenn die Kinder größer werden, sich ein Domizil mit mehr Pri­ vatsphäre zu suchen. Von großer Bedeutung für ­Netto ist die Art, wie das Haus an den Ort gebunden ist, wie sein Bau aus dem Terrain entwickelt wurde und Blickbeziehungen organisiert sind. David Netto schätzt die Zurückhaltung und ­Bescheidenheit, die Neutras Bauten von denen an­ ­ derer Vertreter der Moderne unterscheiden. ­Anders als die wiederkehrenden Konstruktionen und gestalterischen Motive suggerieren, sind Neu­ tras Häuser keineswegs reproduzierbar, sondern in Nettos Augen vielmehr maßgeschnei­derte Ob­ jekte, die zugleich untrennbar mit ihrem Gestalter, einem Genie des Raumes und der Raumwahr­ ­ nehmung, verbunden sind.


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