Programmheft »Simon Boccanegra«

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SIMON BOCCANEGRA → Melodramma in einem Prolog & drei Akten Musik Giuseppe Verdi Text Francesco Maria Piave, Giuseppe Montanelli & Arrigo Boito

Vorlage Simón Boccanegra, Drama von Antonio García Gutiérrez Orchesterbesetzung Piccoloflöte, Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 1 Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, große Trommel, kleine Trommel, Tamtam, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik hinter der Szene Harfe Bühnenmusik auf der Szene 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 Tamburine, Glocken Spieldauer ca. 2 ½ Stunden Autograph Verlagsarchiv Ricordi Uraufführung 12. März 1857, Teatro La Fenice, Venedig (1. Fassung) 24. März 1881, Mailänder Scala (2. Fassung) Erstaufführung an der Wiener Hofoper 18. November 1882


DIE HANDLUNG Der Korsar Simon Boccanegra lässt sich mit Hilfe Paolos zum Dogen von Genua wählen. Er glaubt, dass ihm in dieser Position der Patrizier Jacopo Fiesco nicht länger die Hand seiner Tochter Maria – Boccanegras Geliebte und Mutter seiner Tochter – verweigern könne. Doch Maria stirbt und Fiesco schwört Boccanegra Rache, es sei denn, dieser händigt ihm seine Enkelin aus. Das Mädchen aber, das der Obhut einer Pflegerin übergeben wurde, ist verschwunden. Das Schicksal von Boccanegras Tochter klärt sich 25 Jahre später. Sie fand als Findelkind Amelia im Hause Grimaldi Aufnahme und liebt den Patrizier Gabriele Adorno. Boccanegra hält bei ihr um die Hand für Paolo, der mittlerweile sein Kanzler wurde, an. Als Vater und Tochter einander erkennen, gibt er dieses Vorhaben allerdings auf. Paolo ist empört und lässt Amelia entführen, was jedoch von Adorno vereitelt wird. Während der Senat tagt, dringt er in den Sitzungssaal ein und will sich auf Boccanegra als vermeintlichem Anstifter dieser Entführung stürzen. Amelia jedoch wirft sich dazwischen. Boccanegra, der in Paolo den für die Entführung Verantwortlichen erkennt, fordert diesen auf, den Fluch über den Verbrecher auszusprechen. Paolo rächt sich, indem er Boccanegras Schlaftrunk vergiftet. Auch Adorno trachtet dem Dogen nach dem Leben, da Paolo behauptet, dieser sei Amelia Geliebter. Doch wieder tritt Amelia dazwischen und gibt sich Adorno nun als Boccanegras Tochter zu erkennen. Als die Patrizier zum Sturz des Dogen heranziehen, ergreift Adorno Boccanegras Partei. Die Rebellion wird niedergeschlagen, Paolo zum Tode verurteilt, dessen Gift zeigt aber bereits Wirkung. Sterbend versöhnt sich Boccanegra mit Fiesco, der erfährt, dass Amelia seine Enkelin ist.

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SYNOPSIS The corsair Simon Boccanegra is elected Doge of Genoa with the help of Paolo. He believes that, thanks to this position, the patrician Jacopo Fiesco would no longer be able to refuse him the hand of his daughter Maria – Boccanegra’s lover and mother of his daughter. However, Maria passes away and Fiesco swears revenge on Boccanegra, unless he hands over his granddaughter. Yet the girl, who was entrusted to the care of a caretaker, has disappeared. The fate of Boccanegra’s daughter is finally resolved 25 years later. She was accepted into the Grimaldi family as foundling Amelia and fell in love with the patrician Gabriele Adorno. Boccanegra asks her to marry Paolo, who has since become his chancellor. When father and daughter recognise each other, he gives up this plan, however. Paolo is furious and has Amelia kidnapped, but Adorno thwarts this. While the Senate is in session, he bursts into the assembly hall and wants to pounce on Boccanegra as the alleged instigator of this abduction. But Amelia throws herself in between them. Boccanegra, recognizing in Paolo the person responsible for the abduction, asks him to cast the curse on the criminal. Paolo takes revenge by poisoning Boccanegra’s nightcap. Adorno, too, seeks to kill the doge as Paolo claims that the doge is Amelia’s lover. Yet again, Amelia throws herself in between and reveals herself to Adorno as Boccanegra’s daughter. When the patricians approach to overthrow the doge, Gabriele sides with Simon. The rebellion is crushed, Paolo is sentenced to death, but his poison is already taking effect. Dying, Boccanegra reconciliates with Fiesco, who learns that Amelia is his granddaughter.

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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH Populismus, Ämterschacher, das Voranstellen des Parteiwohls vor das Gemeinwohl, aus privatem Machtkalkül eingegangene politische Bündnisse, die Beeinflussbarkeit einer wankelmütigen Menge – die in Simon ­Boccanegra durchdeklinierten Themen könnten aktueller nicht sein. Musikalisch zählt Giuseppe Verdis rund 25 Jahre nach der Uraufführung gemeinsam mit dem kongenialen Librettisten Arrigo Boito radikal umgearbeitete und 1881 neu vorgestellte Oper zu seinen großen, reifen Spätwerken, die schon auf Otello und Falstaff vorausweisen. Basierend auf dem historischen Genueser Dogen Simon Boccanegra im ausgehenden Mittelalter, zeigt Verdi eine Herrscherfigur, die verzweifelt versucht, gut zu regieren, verfeindete Gruppierungen in Schach zu halten und schließlich, gewissermaßen als Sündenbock, selbst zum Opfer wird. Zugleich durchdringen sich Privates und Politisches in einer typisch opernhaften, aber doch auch sehr humanen Weise, wie Regisseur Peter Stein in einem Gespräch mit Peter Blaha über das Werk ausführt (→ S. 84). Horst Wegscheider beschreibt den historischen Hintergrund der Handlung (→ S. 10), Coffin-Amblard die im Stück verhandelte Konzeption der Macht (→ S. 16). Von der überaus komplexen Entstehungs- sowie Rezeptionsgeschichte erzählen Teresa Hrdlicka (→ S. 36), Christoph Wagner-Trenkwitz (→ S. 52) und Christian Springer (→ S. 62). Das besondere Spannungsverhältnis, in dem sich die weibliche Hauptfigur Amelia befindet – über ihre Person verknüpfen sich Liebesintrige und politische Handlung – thematisiert Judith Frömmer (→ S. 25). Und Uwe Scheikert liefert einen musikdramaturgischen Kommentar, in dem er auch Simon Boccanegras Stellung innerhalb von Verdis Gesamtwerk näher beleuchtet (S. 73).

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Arrigo Boito

KEINER HAT DEN SINN DES LEBENS BESSER VERSTANDEN, BESSER AUSGESPROCHEN ALS VERDI. ER WAR MENSCH UNTER DEN MENSCHEN, UND ER WAGTE ES ZU SEIN. HÄTTE MAN IHM ANGEBOTEN, EIN GOTT ZU SEIN, WÜRDE ER ES ABGELEHNT HABEN, DENN ER WOLLTE SICH ALS MENSCH UND SIEGER IM FEURIGEN KREISE DER IRDISCHEN PRÜFUNG FÜHLEN. ← Bernhard Wübbel, Junge Frau am Meer.


Horst Wegscheider

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Zum historischen Hintergrund von Verdis Oper 8


Genua, Ansicht der Stadt und des Hafens, 1673 →

Die genuesische Geschichte des 14. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine nichtendenwollende Kette von Kriegshandlungen und Gewalttaten zwischen den verschiedenen Parteiungen, in die die Gesellschaft des Stadtstaates zerfiel. Wie überall im Italien dieser Zeit gab es die Fraktionen der Guelfen und Ghibellinen, daneben, aber keineswegs damit zusammenfallend, die Gruppierungen der großen Adelsfamilien, der Doria, Fieschi, Grimaldi, Spinola, und die Volkspartei der Popolari, welche die Bürger, Handwerker und Seeleute umfasste. Das Küstenland in der Umgebung Genuas, von Ventimiglia im Westen bis zur Mündung der Magra im Südosten, diente jeweils jener Partei, die in der Stadt selbst unterlegen war, als Basis und Ausgangspunkt bei ihren Anstrengungen, die Macht wiederzuerlangen. Nachdem zu Anfang des Jahrhunderts die ghibellinischen Adelsfamilien der Doria und Spinola aus Genua vertrieben worden waren, waren die Jahre von 1320 bis 1330 durch deren Versuche geprägt, Genua zurückzuerobern. Jahrelange Belagerung und eine Reihe von Gefechten zur See fanden erst ein Ende, als der Angriff des Königs Alonso von Aragonien die Guelfen und Ghibellinen zum Friedensschluss und zur gemeinsamen Abwehr des äußeren Feindes bewog. Mit dem Ende des Krieges 1336 brach allerdings der innere Zwist aufs Neue aus, wobei die Rollen sich nunmehr verkehrten. Während in Genua der ghibellinische Adel herrschte, wurden die Guelfen, insbesondere die Adelsfamilien der Fieschi, aus der Stadt vertrieben. 1339 vermieteten beide Parteien große Teile ihrer Galeerenflotten an den französischen König Philipp VI. Eine Meuterei der schlechtbehandelten Matrosen gegen die adeligen Kapitäne und Offiziere der Flotten weitete sich 9

GEN UAS ERST ER DOGE


zum Aufstand des Volkes gegen die Herr­schaft der Adelsfamilien aus und gipfelte schließlich in der Wahl Si­mon Boccanegras zum Dogen auf Lebenszeit. Der guelfische Adel sowie die Doria und Spinola wurden aus der Stadt verbannt, das Volk wurde durch fünfzehn Ratsherren an der Regierung des Dogen beteiligt, das genuesische Umland wurde von Boccanegra für die Stadt zurückerobert. Die vertriebenen Adelsfamilien setzten sich in Ventimiglia, Oneglia und Monaco (wo die Grimaldis bis heute regieren) fest und unternahmen 1344 einen Feldzug, um die Rückkehr nach Genua zu erzwingen. Zur Abwehr dieses Angriffs war Boccanegra genötigt, dem verbliebenen städtischen Adel Zugeständnisse zu machen, erkannte aber schließlich am 23. Dezember 1344 seine Lage als unhaltbar, legte sein Amt zurück und ging nach Pisa ins Exil. Das Volk wählte an seiner Stelle Giovanni di Murta als neuen Dogen, unter dessen Leitung der Angriff der äußeren Feinde abgeschlagen und der Einfluss der städtischen Adelsfamilien gewaltsam gebrochen wurde. Im nächsten Jahr wurde zwischen der Stadt und den vertriebenen Adeligen Frieden geschlossen, und diese kehrten, mit Ausnahme der Grimaldi und der Fieschi, nach Genua zurück. Es kamen einige ruhige Jahre, 1350 folgte auf Giovanni di Murca Giovanni da Valente als Doge, die Ämter der Stadt wurden von Volk und Adel geteilt besetzt. 1351 begann ein lange dauernder, kostspieliger Krieg gegen Venedig, der einen für Genua ungünstigen Verlauf nahm. Im September 1353 begab sich Genua, nach Teuerung, Hungersnot und davon ausgelösten Unruhen, unter die Oberhoheit des Erzbischofs von Mailand, Giovanni di Visconti, der den Markgrafen Guglielmo Palavicini als Captain der Stadt einsetzte. Durch Vermittlung der Visconti wurde 1355 mit Venedig Frieden geschlossen, worauf unmittelbar wieder innere Unruhen ausbrachen. 1356 empörte sich ein Teil des Adels gegen die Oberhoheit der Visconti und es kam zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen gegen die Visconti-Anhänger innerhalb der Stadt. Der zurückgekehrte Simon Boccanegra nützte die verworrene Lage, vertrieb den Captain der Visconti und wurde am 15. November 1356 vom Volk zum zweiten Mal zum Dogen gewählt. Während der Adel durch die Umwälzungen und Wirren verarmt war, wurde Boccanegra zunächst von den reichen Kaufleuten unterstützt, und bis zum Jahre 1362 blieb nun die Stadt unter seiner Gewaltherrschaft ruhig. Gegen Ende 1362 wurden mehrere Verschwörungen gegen den Dogen aufgedeckt und zum Teil blutig unterdrückt, dieser aber wurde von seinen Gegnern anlässlich eines Festmahls vergiftet und siechte dahin. Am 14. März 1363 schließlich stürmten die Gegner Boccanegras den Palast des Dogen, nahmen seine Brüder gefangen und riefen den reichen Popolaren Gabriele Adorno zum Dogen aus. Simon Boccanegra erlag bald darauf seiner Krankheit. Da auch der neue Doge an der Entmachtung des Adels festhielt, dauerte der Kleinkrieg der Fieschi und Spinola gegen die Stadt Genua fort. GEN UAS ERST ER DOGE

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Niccolò Machiavelli

WER NUR DURCH GLÜCK VOM PRIVATMANN ZUM LEITER EINES STAATES AUFSTEIGT, HAT WENIG MÜHEN, ABER DEREN VIELE, UM SICH ZU BEHAUPTEN. DER WEG BEREITET IHM KEINE SCHWIERIGKEITEN, WEIL ER DIE MACHT IM FLUG ERWIRBT; ABER ALLE SCHWIERIGKEITEN BEGINNEN, WENN ER EMPORGESTIEGEN IST. DAS IST DER FALL, WENN EINEM DIE MACHT DURCH GELD ODER DURCH DIE GUNST EINES ANDEREN ZUFÄLLT.



Coffin-Amblard

NETZE VER­SCHLEIER­TER MACHT


Zwischen dem Raub von heiratsfähigen Nubierinnen und Duellen mit bärtigen Turkmenen spürt der Korsar Leere – er verführt und erobert das junge Mädchen. Ein Otello – das wäre schon genug: Der Vater weist ihn zurück. Ja! Wenn er Doge wäre, dann … Er wird es. Zu spät. Maria stirbt. Die Ursache der Macht ist verschwunden. Damit stirbt auch der Effekt. Die Versuchung ist groß, in Boccanegra nichts weiter zu sehen als einen politischen Führer aus Zufall, großmütig, missbraucht durch die Macht. Und das heißt so viel wie: politisch unschuldig. Aber man kann auch über das nachdenken, was die Binsenwahrheiten des Boccanegra über die Vereinigung der Klassen, die italienische Einheit, den Kolonialexpanisonismus verbergen: man kann die Mittel des Handelns und das Netz der Macht analysieren, die Verdi hier in Szene gesetzt hat. Denn es sind einigermaßen anachronistische Schatten, die den Dogen heimsuchen. In Wirklichkeit erzählt Verdi – von der Wahl des unbekannten Simon Boccanegra bis hin zur falschen Apotheose eines verherrlichten Todes – eine weder neutrale noch zweideutige, doch apologetische Geschichte: die doppelte Geschichte von einem Tyrannen und von einem Klassenverrat.

Ein Blick hinter die historische Maske: Genua im 14. Jahrhundert

← Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der guten Regierung, 1338/39

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Das stolze Genua. Seine Geschichte ist untrennbar von der des Okzidents. Überall mischt Genua sich ein, seine Fäden spinnen sich aus Komptoirs und Häfen, von Militärstützpunkten im ganzen Mittelmeerbereich, im Schwarzen und im Kaspischen Meer, an der Atlantikküste und von Marokko aus bis Flandern. Genua, Fühler ausstreckend, verschlingt Entfernungen, verschlingt Privilegien und Gold; so wird Genua, Kommerz verpflichtet, einer der letzten Staaten sein, der freundschaftliche Beziehungen zu Granada unterhält, bevor es durch die kastilische Kavallerie fällt. Welt von sich kreuzenden Einflüssen, wo die Sklaven zu Tausenden importiert werden, bald bekehrt, bald freigelassen, manchmal geadelt; wo der Reichtum wie ein Orkan zu wehen scheint, anarchischer Regen von Dividenden aus dem Unternehmungsgeist des Individuums. Hier konnten die Kräfte des Feudalismus sich nicht gegen vielfache andere Strömungen durchsetzen. Hier konnte sich nicht, wie in Venedig, eine Kaste von Patriziern etablieren, gierig nach erblicher Macht. COFFIN-A MBLA R D




Hier konnte das Volk niemals für längere Zeit die Herrschaft seiner Repräsentanten durchsetzen – wie in Mailand, in Verona. Genua, Rebell gegen sich selbst, unbewusst wissend, dass seine politische Unsicherheit sein Reichtum ist, wird niemals auf Dauer ein Bedürfnis nach konstitutioneller Sicherheit haben. In dieser Zivilisation aus Kontobuch und Notarsakten: keine Verfassung. Paradoxon des genuesischen Imperialismus. Er pflanzt seine Banner an den Grenzen der bekannten Welt auf, wird bei zahlreichen Gelegenheiten Venedig erniedrigen, Herrin eines beträchtlichen Teils der Romagna, und doch unfähig, sich selbst zu beherrschen. 1339: Genua befindet sich an einem entscheidenden Punkt in der allgemeinen Entwicklung der italienischen Stadtstaaten: Demokratie der Podesterìa gegen Signoria. Die Kämpfe unter den großen Familien, geführt mit Schwert, Intrige, Gift, die Gegensätze zwischen Volk und Aristokratie sind der effektvollste Anlass für eine Strafpredigt über die Versöhnung der Klassen. Zudem ist das Dreigestirn Pisa – Genua – Venedig zu diesem Zeitpunkt unter der Vorherrschaft Genuas, das gerade Pisa bei Malorìa, Venedig bei Curzola besiegt hat. Venedig ist noch nicht, Genua immer noch ein wenig auf dem Höhepunkt der Macht. Der alte Traum von der italienischen Vor­ herrschaft in Mittelmeerraum und Orient hätte sich aufs Neue verwirklichen lassen, wäre die Union vollzogen worden. In all das mischt sich Simon Boccanegra, der niemals Korsar war und der am 23. September 1339 die Wahl zum Volksabt ablehnt, weil er diese Würde für seiner unwürdig hält, und weil er so seine Wahl zum ersten genuesischen Dogen auf Lebenszeit herausfordert. Ein wirklicher Tyrann, von Verdi aus der Mittelmäßigkeit akademischer Archive hervorgezogen. Man möge das beurteilen: Volksdiktatur, Ausschluss der Adligen aus allen öffentlichen Ämtern, Liquidation der Aristokratie, Exil der Guelfen. Im ganzen ersten Teil der Oper lotet Verdi sein Modell aus, übertreibt die diktatorialen Züge: Gier nach Macht, Intrige, Grausamkeit, Gewalt, Unbeugsamkeit. Besonders – erstes Stadium einer manipulierenden Verkleidung der historischen Realität – macht er aus ihm ein seltsames Symbol für Genua: als Korsar ist er Kraft und Traum, in seinem Vertrauen auf das Volk steht er für Glück und Zähigkeit. Im 14. Jahrhundert verbietet dieser Hintergrund von Schreien, Tränen und Schmerzen einen gewissen Pragmatismus nicht, den Verdi bewahrt hat. Boccanegra weigert sich angesichts der zahlreichen Komplotte der Patrizier, die Macht abzugeben, doch er wird es akzeptieren, sich mit den Adligen zu arrangieren, als er sie dem Rat wieder eingliedert. Das alles geschieht offensichtlich in einem Milieu von politischem Cäsarismus, der mehr und mehr betont wird, ein in der Oper durchgehender Zug. Erster Flecken auf dem Lorbeer. COFFIN-A MBLA R D

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Unzweifelhaft konsolidiert sich Genua unter Boccanegra. Es öffnet sich aufs Neue dem Orient, stellt seine durch die Aktivitäten Venedigs bedrohte Macht wieder her. Nebenbei: unter Boccanegra formierte sich 1343 jene seltsam anekdotische venezianisch-genuesische Flotte, die sich, auf Anstiftung Clemens VI., tapfer schlug, um Symrna den Türken zu entreißen. 1344 gibt Boccanegra, nolens volens, die Macht ab. 1353 liefert ein unheilvoller Giovanni di Murta es den Visconti aus. Unser Mann, hartnäckig, gibt nicht auf. Er lässt sich von den mailändischen Tyrannen als Freund ansehen, täuscht sie, profitiert von einer momentanen Schwäche, betrügt sie und nimmt Genua wieder ein. Neue Tyrannei, neue Exile. Simon Boccanegra wird 1363 bei einem Bankett vergiftet, zu dem der Prinz von Zypern geladen hatte.

Die Masken der politischen Überzeugungen Schließlich: Warum nicht? Es gibt schlimmere Opernhelden. Darüber hinaus gibt es kaum etwas in der Geschichte, das sich in solchem Überfluss als Stoff für das Theater anbietet. In diesem Taumel von Leidenschaften sind Verdis Personen bis zum Extrem durchgeführte Typen. Paolo zuerst, dreifaches Symbol: für Genua und seinen industriellen und kaufmännischen Reichtum; für das Volk, dessen Archetyp von Arrivismus, von Grausamkeit, Intrige und Schwäche er verkörpert; schließlich Symbol der Kontrolle des Dogen, den er berät und vergiftet, durch das Volk. Logi­scherweise ist er denn auch der einzige, außer Simone, der eine politische Überzeugung hat und diese schon in seinem ersten Rezitativ artikuliert: Aborriti, patrizi, Alle cime ove alberga il vostro orgoglio, Disprezzato plebeo, salire io voglio. Dann Fiesco, von befehlshaberischem Zuschnitt, Inkarnation von noblen Gefühlen, die nur aus Verachtung und Ehrbarkeit leben. Gabriele Adorno, idealer Prototyp des jungen, schönen und verliebten Patriziers; zu keiner der großen Familien gehörend, ist er das Symbol für die Möglichkeiten, die die genuesischen alberghi einem anständigen jungen Menschen bieten. Simone, schließlich und vor allem, ist eine seltsame Mischung: zunächst Autorität ohne Konzessionen, dann Suche nach Versöhnung um jeden Preis. Verteidiger des Volkes und Gegner der Patrizier, wird er zum Theoretiker der Einheit von Städten und Ständen. Tatsächlich schlägt er sich nicht nur für Ideen, sondern auch und besonders mit Ideen, psychologischen Täuschungen im Dienst der Manipulation des Volkes. Was würde die herzergreifende Ba 19

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nalität seines Vorschlages für Italien und die soziale Vereinigung bedeuten, wenn durch ihn nicht mit einem Schlag das historische Substrat eliminiert würde, das der Schöpfung einer Demokratie aus dem Volk heraus günstig wäre! Dieses Volk ist, so wie Verdi es uns präsentiert, verächtlich. Es träumt von nichts als dem materiellen Wohlstand, akzeptiert die Verzweiflung, ist niedrig genug, sich rächen zu wollen. Und außerdem ist es, ein wenig abseitsstehend, stets anwesend, wenn es einen Regierungswechsel zu ratifizieren oder Boccanegra in schwierigen Momenten zu unterstützen gilt, dem einfachen Aufruf: »Ecco le plebi!« gehorchend. Diese Konzeption von Macht findet sich in der Partitur wieder. Die ungewohnte Wichtigkeit des Rezitativs zeigt es deutlich. Hier ist Sprache Macht. Das Fehlen einer großen Arie für die Titelrolle stellt Boccanegra abseits, außerhalb der gewohnten Konflikte, als Verteidiger einer anderen Wahrheit. Genau so sind die Interventionen des Chors, der meist in den Kulissen bleibt, bei jedem Ausbruch auf der Szene Gelegenheit entweder zu einer Beschleunigung des Rhythmus oder zu einem brutalen Bruch mit den melodischen Linien des Simone. Aber im Vordergrund stehen die Kämpfe unter den Familien. Die Familienbande, die Liebesbeziehungen und die Familientraditionen zeigen in Wahrheit politische Gegnerschaften auf. Alle Macht kommt von ihnen. Das Schicksal der Macht wird zu einer nur kommerziellen Angelegenheit einzig durch ihre Weigerung, sich zu vertragen. In diesem grausamen Spiel von persönlichen Gegnerschaften spielen die Frauen (Amelia – Maria) eine wichtige Rolle. Kinder gebärend, Patrimonien vererbend, damit Trägerinnen des wichtigsten Trachtens einer Stadt, die eingezwängt ist zwischen Meer und Gebirge, bedeuten sie wirkliche Macht. In der gesamten Oper dreht sich die Handlung allein um Amelia und Maria. Übrigens macht die Maskierung in ihrem Namen, die Unmöglichkeit, sie definitiv auf eine Seite festzulegen, aus der Heldin ein Ideal falscher Neutralität. Objekt liebenden Begehrens, ist sie wichtiges Subjekt des politischen Konfliktes.

Die Masken herunter: die Realität der Macht Die ganze Oper schlägt in dem Moment um, als Boccanegra in Maria seine Tochter erkennt. Der lange Schrei, der die 7. Szene des 1. Aktes abschließt, dieses »Figlia«, geboren aus Erwartung und Hoffnung, die endlich entschädigt werden, markiert eine Umwandlung seiner Persönlichkeit. Boccanegra, der bis jetzt nichts weiter gewesen ist als ein gewöhnlicher Tyrann, wird ganz schnell etwas völlig anderes: der Verteidiger des Klassenverrats. Die Möglichkeit, in die COFFIN-A MBLA R D

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großen Familien einzudringen, die sich ihm durch Maria bietet, eröffnet Simone eine neue Handlungsebene. Von jetzt an besorgt ihn nichts anderes mehr als Vergeben und Verbindungen. Das Volk ist verhöhnt, Paolo ist verraten. Die nacheinander erfolgenden Versöhnungen mit Gabriele Adorno und mit Fiesco markieren die Steigerungen des Klassenverrats. Verdis oligarchische Vision erschließt sich am natürlichsten in der Art der Übertragung von Macht. Gabriele Adorno wird von Simone gewählt, evidentes Zeichen der Zustimmung des letzteren zur elitären Konzeption einer Klasse und Ergebnis seines Klassenverrats. Das vergewaltigte Volk kann nicht tun als im Nachhinein zustimmen. Alles ist in die alte Ordnung zurückgekehrt. In der ganz klaren Schwarz-Weiß-Malerei dieses Schemas wird die Einigung der italienischen Völker zu einem Instrument der Stärkung des Mächtigen. Die zutiefst religiöse Passion der Mazzinisten für Italien ist hier von 21

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ihrer ursprünglichen Rechtfertigung abgekehrt. Es handelt sich nicht mehr um die verdiente Apotheose eines volkstümlichen Regimes, sondern im Gegenteil um eine neoguelfische Abänderung von großen Themen, die sich dem Profit einer Aristokratie beim kleinsten Hauch beugen. Adorno, Fiesco werden gefeiert, Paolo wird verunglimpft. Dieser Glaube an die Unabwendbarkeit des Unglücks, dieser Zyklus von Fehler (Sünde) und Rache (Sühne) geben ein seltsames Bild von menschlichem Weitblick. Beispiel eines romantischen Archetyps, vereinigt Boccanegra alle Schablonen eines solchen in sich: Großmut, Qualen, Sehnsucht nach dem Glück und nach dem Opfer, gewaltsamer und ungerechter Tod. Die Zweideutigkeit regiert bis zum Schluss, bis hin zur Hoffnung auf Vergessen im Nichts des Meeres. Il mare! … il mare! … quale in rimiarlo Di glorie e di sublimi rapimenti Mi s'affaccian ricordi! Il mar! … Il mar! … Perchè in suo grembo non trovai la tomba? … In diesem letzten Geständnis steckt der ganze Simone. Der Verrat ist vollzogen. Schließlich das öffentliche Einverständnis des Fiesco, die letzten Klagen über das Glück der Menschlichkeit: sie sind die letzte Etappe der Verkleidung. Dieser falsche religiöse Skeptizismus, dieses verstellte Erbarmen über das unvermeidliche Unglück der Mächtigen sind zu keinem anderen Zweck da als Boccanegra zu idealisieren. Der Mensch wünscht nichts weiter mehr als das Vergessen seines Fehlers im nassen Grab. Diese Sehnsucht drückt sich aus in der einzigen Arie des Simone, konstruiert aus einer Melodie, die derjenigen verwandt ist, die die Szene des Wiedererkennens mit Amelia sekundiert. Der Mensch kann sich aufgeben – und kann jetzt das Wort aufgeben. Fiesco weint, Simone stirbt.

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Ryszard Kapuściński

Es ist so ungeheuer schwierig, festzustellen, wo die Grenze verläuft zwischen der wirklichen Herrschaft, einer Herrschaft, der sich alles unterwirft, die eine Welt erschafft oder vernichtet; wo also die Grenze verläuft zwischen der lebendigen, großen, vielleicht sogar schrecklichen Herrschaft und der scheinbaren, der leeren Pantomime des Herrschers, die eine Marionette ihrer selbst ist, nur eine Rolle spielt, die Welt nicht sieht und nicht hört, nur in sich selbst schaut. 23


Judith Frömmer

ABSCHIED VON MAMMA ROMA Die Tragik Simon Boccanegras wurzelt, wie das bei Tragödien häufig der Fall ist, in einer Vorgeschichte. Anders als in der griechischen Tragödie, deren Katastrophe sich in der Regel aus einer unerbittlichen Logik der Verkettung ergibt, belässt die Vorgeschichte des italienischen Melodramma jedoch mindestens ebensoviel im Unklaren wie sie zu erklären vorgibt: Der Prolog, den Verdi 25 Jahre und damit etwa eine Generation vor dem Einsatz der Haupthandlung ansiedelt, erzählt zwar, wie der Doge Simon Boccanegra in Amt und Würden gekommen ist. Mit dem ominösen Tod seiner Geliebten Maria wird indes der Ursprung seines politischen Ehrgeizes ebenso wie der Grund für den unerbittlichen Hass seines politischen und privaten Gegners, Jacopo Fiesco alias Andrea, einer weiteren Vorgeschichte überantwortet – einer Vorgeschichte, die Verdis Oper offensichtlich nicht oder zumindest nur in Bruchstücken – erzählen will: Weder weiß der Zuschauer etwas Genaueres über die Liebesbeziehung zwischen Boccanegra und Fiescos Tochter Maria, die bereits vor Einsatz der Opernhandlung zur Geburt einer unehelichen Tochter geführt hat; noch erfährt er etwas darüber, wie Maria unmit24


telbar vor Einsatz des Prologs zu Tode gekommen ist. Über die Gestalt Maria Fiescos lässt sich ebenso wie über die Ursache ihres Todes nur spekulieren: Ist sie, wie so manche Heldin des bürgerlichen Trauerspiels, zum Opfer ihres Vaters oder eines ständischen Ehrbegriffs geworden? Ist sie den »natürlichen« romantischen Tod eines gebrochenen Herzens gestorben oder hat sie ihrem Leben gar selbst ein Ende gesetzt? Anders als in einigen Inszenierungen des Simon Boccanegra bekommt der Leser des Librettos nicht einmal eine Leiche zu Gesicht. Das einzige Zeichen, das im Prolog auf Maria verweist, ist die »sinistra vampa«, die »unheimliche Flamme«, die des Nachts wie eine verdammte Seele durch den »empio ostello« der Fieschi irrt. In der Vorstellungskraft des italienischen Publikums verwandelt sich der Wohnsitz der Genueser Guelfen-Familie damit in Dantes Inferno, wo die Sünder ebenfalls in der Gestalt von überaus eloquenten Flammen auftreten, ohne durch ihre Beredsamkeit irgendetwas am Schicksal ihrer Verdammnis ändern zu können. Fiktion und Realität sind in diesem Palast der Verdammten also ununterscheidbar geworden. Auch in den Augen des Volkes stellt die Festung der Patrizier einen »antro dei fantasmi« dar, eine Gespensterhöhle, in der die Vergangenheit mysteriöse Schatten wirft. In diesem Schattenreich hat der Patrizier Jacopo Fiesco seine Tochter, wie der Chor der Genueser in der vierten Szene des Prologs bedauert, bei lebendigem Leibe begraben: »Seht ihr den düsteren Palast? … Das ist die gottlose Wohnstätte der Fieschi, eine unglückliche Schöne schmachtet dort wie eine lebendig Begrabene. Ihre Klagen sind die einzigen menschlichen Laute, die man in der weiten, geheimnisvollen Gruft widerhallen hört.« Nur die Klagen Marias, die ihr Herz an den Korsaren Simon Boccanegra verloren hat, hauchten dem Palazzo der Fieschi, Emblem einer zu Stein erstarrten Adelskultur, einst ein wenig Menschlichkeit ein. Diese Klagerufe der gefallenen Tochter, die vor allem in der bürgerlichen Dramatik des 18. Jahrhunderts laut wurden, sind indes zu Beginn von Verdis Oper schon seit einiger Zeit verstummt. Angesichts der Tatsache, dass Boccanegra den Leichnam seiner Geliebten ausgerechnet in jenem Moment im Palazzo der Fieschi entdeckt, als das Volk ihn auf der Bühne zum Dogen von Genua ausruft, drängt sich die Frage auf, ob und wie die hinter den Palastmauern verborgene private Tragödie dieser Mesalliance mit den politischen Verwicklungen rund um den ersten Dogen von Genua in Verbindung steht. Die Leiche Marias ist dabei vielleicht auch eine Leiche im Keller der Oper Verdis, der in seinen Melodramae Luisa Miller oder La traviata immer wieder Variationen solcher Mesalliancen auf die Bühne einer verbürgerlichten Oper gebracht hatte. Im Simon Boccanegra will er aber offensichtlich eine andere Form des sozialen Konfliktes inszenieren, der über einen binären Klassenantagonismus hinausweist oder diesen womöglich sogar überwindet. Diese Geschichte kann indes nur in Gestalt einer Tragödie auf die Bühne gebracht werden, die Verdi selbst als eine seiner dunkelsten bezeichnet hat – und das obwohl sie mit der angedeuteten 25

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Hochzeit zwischen Maria Boccanegra und Gabriele Adorno, der gleichzeitig das Amt des Dogen übernimmt, mit einer vorläufigen Versöhnung zwischen Volk und Adel endet. Bezeichnenderweise kommt Simon Boccanegra, der das plebejische Amt des Abate del popolo ausschlägt, um sich als erster Doge der Stadtrepublik Genua für den Ausgleich zwischen Volk und Adel einzusetzen, nicht durch das Schwert seines adeligen Gegenspielers Jacopo Fiesco zu Tode. Vielmehr wird ihm dieses Schicksal von diesem ebenso wie von seinem guelfischen Parteigänger Gabriele Adorno mehrfach verweigert. Bei Verdi wird der Doge Simon Boccanegra gerade nicht auf dem Altar des Klassenkampfes zwischen Volk und Adel geopfert, sondern geht am Gift seines einstigen Weggefährten Paolo Albiani zugrunde, der ihm noch im Prolog zu seinem Amt verholfen hatte. Zwar ist auch dieser Mord Paolos, dem Simon Boccanegra die Hand Amelia Grimaldis alias Maria verweigert, durch die Liebesgeschichte der privaten Handlung motiviert. Diese wird jedoch gerade nicht über das klassische Motiv der Standesschranken mit dem politischen Konflikt zwischen Adel und Volk verknüpft. Das bürgerliche Melodramma rund um die Mesalliance wird lediglich in den Bruchstücken einer Vorgeschichte anzitiert, die in der Haupthandlung buchstäblich nur in effigie, sprich in Gestalt eines Bildnisses der Maria Fiesco präsent ist, das es Simon Boccanegra ermöglicht, in Amelia Grimaldi seine Tochter Maria wiederzuerkennen. Dieser bildhaften Verweisstruktur zum Trotz entzieht sich Verdis Simon Boccanegra einer eindeutigen allegorischen Verbindung von Eros und Polis, von privater und politischer Tragödie: Das Familiendrama, das sich 25 Jahre nach dem Tod Maria Fiescos um die Figur ihrer gleichnamigen Tochter herum entzündet, lässt sich nicht so ohne weiteres, wie es moderne Interpreten nur allzu gern getan hätten als Allegorie einer politischen Geschichte lesen: seien es die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Adel, wie sie die Geschichte Italiens durchziehen und zu deren Sinnbild der historische Simon Boccanegra als erster Doge von Genua geworden war; seien es die Wirren des italienischen Risorgimento und die Entstehung des frisch geeinten italienischen Nationalstaates, der sich just zwischen den beiden Opernfassungen herausgebildet hatte. Vielmehr scheint sich Verdi, wie sich im Briefwechsel mit Francesco Maria Piave, dem offiziellen Verfasser des ersten Librettos zu Simon Boccanegra, andeutet, zu dessen Leidwesen gegen solche Allegorisierungen verwahrt zu haben: »Es tut mir leid, dass Sie gegen die Allegorien sind; aber da Sie es sind, spreche ich mich auch dagegen aus, und wir brauchen darüber nicht mehr zu sprechen«, schreibt Piave in einem Brief vom 27. Februar 1857, in dem Verdi einige Vorschläge zur Gestaltung des ersten Aktes unterbreitet. Offensichtlich haben Verdi, der seinen Librettisten wenig später von allen weiteren Arbeiten am Simon Boccanegra entbunden hat, Piaves Alternativen nicht überzeugt. Allerdings konnte auch J U DIT H FRÖM MER

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Leonardo da Vinci, Politische Allegorie, 1516

er selbst mit der ersten Version des Librettos, das er mithilfe Giuseppe Montanellis fertig gestellt hatte, das Publikum nicht für die Sache Simon Boccanegras einnehmen. Bekanntlich war die Uraufführung der ersten Fassung wenig erfolgreich – in Verdis Augen ein Fiasko. Trotz der ablehnenden Haltung Verdis gegenüber gängigen Verfahren der Allegorie, die über den Frauenkörper häufig den Staatskörper evozieren, kommt den Frauenfiguren – seien sie tot oder lebendig – auch innerhalb der politischen Handlung von Simon Boccanegra eine Schlüsselfunktion zu. Mit der signifikanten Aussparung der Mutterposition im Familiendrama zwischen den Fieschi und Boccanegra greift Verdi dabei nicht nur ein Strukturmerkmal der bürgerlichen Dramatik, sondern auch ein Motiv auf, das sich bis zu den Gründungsakten der italienischen Geschichte im antiken Rom zurückverfolgen lässt. Die Geschichte des römischen Weltreiches gründet sich auf einen Ursprungsmythos, in dem die Mutterposition ebenfalls eine überaus ambivalente Rolle einnimmt: Schon die Geburt des Romulus und des Remus durch die Vestalin Rea Silvia ist von einem Rätsel umgeben. Denn als Priesterin ist diese eigentlich einem Keuschheitsgebot unterworfen und gibt daher, wie der römische Historiker Livius in seiner Geschichte des römischen Reiches Ab urbe condita süffisant anmerkt, »Mars als den Vater ihrer zweifelhaften Nachkommenschaft an, sei es, dass sie wirklich daran glaubte, sei es, weil es ehrenvoller war, einem Gott die Schuld zu geben«. Und auch die Wölfin, von der Romulus und Remus der Legende nach gesäugt, nachdem sie von ihrer biologischen Mutter ausgesetzt worden waren, ist eine überaus zwielichtige mythische Gestalt, weil der lateinische Begriff 27

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»lupa« neben Wölfin auch Hure bedeuten und damit auf den zweifelhaften Lebensstil der Frau des Hirten verweisen könnte, der die Zwillinge aufgezogen hat. Solche Mythen, die sich um den dubiosen mütterlichen Ursprung des römischen Reiches ranken, lassen sich bis in das Italien der Nachkriegszeit verfolgen, wo sie beispielsweise in Pier Paolo Pasolinis Mamma Roma eine besonders tragische Gestalt annehmen. Diese mythischen Mutterfiguren verweisen mit dem biologischen Ursprung politischer Gemeinschaften, der metaphorisch nur allzu oft mit dem sexuellen Makel der gefallenen oder gar vergewaltigten Frau belegt ist, auf die Problematik einer Naturalisierung des Sozialen. Die Versuche, den politischen Körper durch Ursprungsmythen als natürlichen zu legitimieren, artikulieren sich häufig in Fiktionen von Mütterlichkeit, die den unzugänglichen natürlichen Ursprung substituieren und diese im Grunde unmögliche Substitution als solche durch eine ambivalente Besetzung der Mutterposition ausstellen. Interessanterweise ist es eine Spielart solcher politischen Allegorien der Mütterlichkeit, die über 20 Jahre nach der Uraufführung den Ausgangspunkt von Verdis Überlegungen zu einer Überarbeitung des Simon Boccanegra bildet. Im Rahmen seiner Erwägungen, wer für diese Überarbeitung in Frage kommen könnte und wie dabei vorzugehen sei, schreibt Verdi am 20. November 1880 in einem Brief an seinen Verleger Giulio Ricordi: »In diesem Zusammenhang sind mir zwei wunderbare Briefe Petrarcas eingefallen, von denen einer an den Dogen Boccanegra und der andere an den Dogen von Venedig gerichtet ist. Er wirft ihnen darin vor, in dem bevorstehenden Krieg Brudermord zu begehen, da sie beide Söhne derselben Mutter Italien seien. Wie erhaben ist doch dieses Gefühl einer italienischen Heimat zu dieser Zeit! All dies ist politisch, aber nicht dramatisch. Aber vielleicht könnte ein Mann von entsprechender Begabung das Ganze dramatisieren«. Die zweite Version des Simon Boccanegra versteht sich also wesentlich als Dramatisierung einer politischen Allegorie aus Petrarcas Familiares, die den Krieg zwischen den Stadtstaaten Venedig und Genua im Bild einer »Entzweiung der Glieder ihrer gemeinsamen Mutter Italien« und sinnloses Brudermorden darstellt. Das Zitat aus dem achten Brief des elften Buches der Familiares wird in der Ratsszene des ersten Aktes nicht vollständig wiedergegeben, sondern durch den Aufstand unterbrochen, der durch die Entführung Amelias hervorgerufen wird. Interessanterweise verzichtet Arrigo Boito in seiner zweiten Version des Librettos just auf jenes allegorische Bild von der Mutter Italien, das Verdi so begeistert hatte. Vielmehr bleibt dieses Bild in der Latenz der Mutterimago Marias verborgen, die jedoch gerade nicht als allegorisches Bild, sondern als verborgenes Movens der dramatischen Handlung fungiert. Die Frage nach dem (mütterlichen) Ursprung Italiens und der Legitimität seiner politischen (Stände-)Ordnung ist damit ins Dunkel einer Vorgeschichte verbannt, welche die Akteure der Opernhandlung nicht völlig durchschauen, der sie aber gleichwohl nicht entkommen können. 29

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Im Grunde kann sich sowohl die private als auch die politische Intrige nur aus dem mysteriösen Tod Marias heraus entwickeln. Gleichsam über die Leiche der Mutter wird mit der ungeklärten Herkunft ihrer gleichnamigen Tochter, die als Waise in einem Kloster aufwachsen muss, ein Rätsel motiviert, das den Ausgangspunkt der Haupthandlung bildet. Anders als der Tod der Mutter wird dieses Geheimnis für den Zuschauer relativ schnell gelüftet. Bereits im ersten Akt erfährt er, dass die verloren geglaubte Tochter Boccanegras die Identität der Amelia Grimaldi angenommen hat. Dies ermöglicht es den adeligen Grimaldi, deren Söhne von Simon Boccanegra verbannt wurden, ihr Familienerbe vor dem Zugriff des Dogen zu schützen. Bereits hier beginnt sich die politische Dimension abzuzeichnen, die der ominösen Herkunft Amelias alias Marias innerhalb der Opernhandlung zukommt. Als Maria Boccanegra verliert Amelia Grimaldi zumindest vorläufig ihre Identität als Tochter einer alteingesessenen Adelsfamilie. Wenn der Doge als Vertreter einer neuen Gesellschaftsordnung indes seine Zustimmung zur Liebeswahl seiner Tochter gewährt, ohne den Auserwählten und prospektiven Ehemann zu kennen, stellt er jedoch solche ständischen Zuordnungen grundsätzlich in Frage. Die Ständeordnung des Ancien Régime hat in Verdis Oper offensichtlich ihren absoluten Gültigkeitsanspruch verloren. Die Tatsache, dass Gabriele Adorno Amelia alias Maria unabhängig von ihrer tatsächlichen Abstammung heiraten will, bezeugt, dass die aristokratischen Heiratsregeln und das rigorose Standesethos des Adels, 25 Jahre nach dem Tod Maria Fiescos ihre Verbindlichkeit weitgehend eingebüßt haben. Tragischer Weise führt eben dieser Bruch mit den Konventionen des Ancien Régime zum Tod des Titelhelden: Ohne es zu wissen, unterschreibt Simon Boccanegra mit seiner Einwilligung in eine Liebesheirat seiner Tochter sein eigenes Todesurteil. Eben dadurch, dass Maria Boccanegra, anders als ihre Mutter Maria Fiesco, die Standesgrenzen ihrer Herkunft durch die Heirat mit Gabriele Adorno überwinden kann, zieht sich ihr Vater indirekt den Hass seines politischen Weggefährten Paolo zu, der ihn schließlich das Leben kosten wird. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese – auf den ersten Blick kontingente – Verknüpfung von Liebesintrige und politischer Handlung über die einzige (lebende) Frauengestalt dieser Oper hergestellt wird. Nicht zuletzt weil sie aufgrund ihrer ungeklärten Herkunft zwischen Adel und Volk angesiedelt ist und ihre ständische Identität auch nach der Zusammenführung von Vater und Tochter aufgrund der adeligen Abstammung ihrer verstorbenen Mutter und ihrem plebejischen Vater ambivalent bleibt, scheint sich die Figur der Amelia alias Maria in besonderer Weise zum Sinnbild eines Italiens der Klassenkämpfe zu eignen. Von den römischen Anfängen der italienischen Geschichte an über die Amtszeit des historischen Dogen Simon Boccanegra bis in Verdis Gegenwart hinein streiten sich dort Volk und Adel um die Vorherrschaft. Im Jahr 1857, als die erste Fassung des Simon Boccanegra auf die J U DIT H FRÖM MER

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Bühne gebracht wird, ist dieser Kampf noch keineswegs entschieden. Erst ein paar Jahre später wird das Risorgimento im Jahr 1861 zur Entstehung eines italienischen Nationalstaates führen, in dem die italienischen Adelsfamilien ihre politische Vormachtstellung weitgehend eingebüßt haben. Paradoxerweise scheint nun aber die Handlung des Simon Boccanegra auch in der zweiten Fassung eher für den Adel Partei zu ergreifen, dessen Vertreter, Gabriele Adorno, der Titelheld am Ende nicht nur die eigene Tochter, sondern auch die Nachfolge im Amt des Dogen überantwortet. Mit diesem Ende setzt sich Verdis Oper großzügig über die historische Faktenlage hinweg: Denn der historische Gabriele Adorno, der Simon Boccanegra im Amt des Dogen von Genua nachfolgte, war keineswegs adeliger Herkunft, sondern entstammte einer wohlhabenden Genueser Kaufmannsfamilie – einmal davon abgesehen, dass der Adel in Genua traditionellerweise keinen Zugang zum Amt des Dogen hatte. Die Rolle des Schurken bleibt indes mit Paolo Albiani einem Vertreter des Volkes überlassen. Verdis Plan zur Überarbeitung des Simon Boccanegra scheint also, ebenso wie der Erfolg der Wiederaufführung, kein bloßer Reflex veränderter sozialer und politischer Rahmenbedingungen zu sein. Vielmehr sind es, wie es sich schon in seinen Überlegungen zu den Petrarca­ Briefen angedeutet hat, vor allem dramaturgische und damit im weitesten Sinne ästhetische Kriterien, die im Zentrum von Verdis Plänen zu einer Neufassung der Oper stehen. Dem dramatischen Einsatz der beiden Briefe aus Petrarcas Familiares kommt dabei eine nicht zu unterschätzende kulturpolitische Bedeutung zu. Diese deutet sich unter anderem auch in den Worten an, mit denen sein plebejischer Widersacher das Plädoyer des Dogen für einen Frieden mit Venedig kommentiert. Simon Boccanegra beruft sich hier auf die »donnernde Stimme« Petrarcas, über die er gleichzeitig das Rom Cola di Rienzos evoziert. Paolo Albiani quittiert diesen Appell mit den Worten: »Attenda alle sue rime / Il cantor della bionda Avignonese« »Er soll bei seinen Reimen bleiben, der Sänger der Blonden aus Avignon.« Mit dem eher abfälligen Verweis auf die Liebesdichtung Petrarcas, sprich: auf den im Vergleich mit Petrarcas lateinischen Briefen ungleich populäreren, weil in der Volkssprache verfassten Canzoniere, wird indirekt die Debatte um die Questione della lingua aufgerufen. Als Autor, der sowohl auf lateinisch als auch in der Volkssprache schrieb, bildet Petrarca eine Schwellenfigur zwischen Renaissance-Humanismus, der über das Lateinische eine Kontinuität zwischen dem nachantiken Italien und dem römischen Weltreich stiftete, auf der einen und einer aufkeimenden italienischen Nationalliteratur in der Volkssprache auf der anderen Seite, aus der sich das Selbstverständnis Risorgimento und der Kulturpolitik des italienischen Nationalstaates speiste. Denn auch wenn ein Großteil von Petrarcas Werk und vor allem die politischen Schriften in lateinischer Sprache verfasst waren, war dieser Petrarca latinus bestenfalls gebildeten Schichten zugänglich und keineswegs fester 31

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Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Verdi selbst las die zitierten Briefe aus den Familiares in der italienischen Übersetzung Giuseppe Frascassettis, der nur wenige Jahre vorher die erste vollständige kritische Edition der Briefe veröffentlicht hatte. Indem Verdi die politischen Allegorien des lateinischen Petrarca in die dramatische Handlung einer italienischen Oper übersetzt, klinkt er sich implizit in die kulturpolitischen Debatten des Risorgimento und des frisch geeinten Italien ein. Seine Oper scheint dabei um einen Ausgleich zwischen elitärem Humanismus und Populärkultur bemüht, in der sich Boccanegras Vision eines politischen Ausgleichs zwischen Adel und Volk spiegelt: Das römische Erbe der italienischen Kultur wird in eine Opernhandlung übersetzt, deren dramatische Handlung es aber im selben Atemzug kritisch hinterfragt. Denn ähnlich wie Paolo Albiani, der als Mann des Volkes vor allem die volkssprachliche Liebesdichtung Petrarcas kennt, sind auch die Vertreter des Adels taub für die Botschaft des humanistischen Petrarca. Sie fühlen sich nach wie vor nicht der gemeinsamen Mutter Italien, sondern ihrer Heimat Genua verpflichtet und hetzten zum Krieg gegen das feindliche Venedig. Die politische Tragödie Simon Boccanegras, der nicht an den Widerständen, sondern an der Überwindung der alten Ständeordnung zugrunde geht, findet in der Figur Petrarcas einen literarischen Reflex, dessen politische Appelle weder von der breiten Masse des Volkes noch von den elitären Kreisen des Adels gehört werden. Inwiefern sich Verdi selbst in dieser Figur des unverstandenen Petrarca wiederfinden konnte, darüber kann man freilich nur spekulieren, zumal Verdi sich im Gegensatz zu Petrarca und den Renaissance-Humanisten von der Idee einer Renovatio Romae sicherlich verabschiedet hatte. Vielmehr ersetzt Verdi den römischen Ursprung Italiens durch Opern, die zum Inbegriff der Stimmenvielfalt einer italienischen Kultur werden. Diese Kultur des frisch geeinten Italien speist sich aus den Meisterwerken eines Dante oder eines Petrarca ebenso wie aus denen der anderen europäischen Literaturen; sie bedient sich der Literatur des humanistischen Höhenkamms ebenso wie der Populärkultur. Sie weiß sich daher nicht dem einen Ursprung verpflichtet, sondern lässt die unlösbare Frage nach dem Ursprung nur noch in effigie wie im Bild der toten Mutter Marias aufscheinen.

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Friedrich Nietzsche

MAN KANN NICHT GLÜCKLICH SEIN, SOLANGE UM UNS HERUM ALLES LEIDET UND SICH LEIDEN SCHAFFT; 35


TERESA HRDLICKA

VERDI, VENEDIG UND LA FENICE

Zur Genesis des Ur-Simone


Léon Spilliaert, Meer mit Kielwasser, 1902

Das Gran Teatro La Fenice in Venedig war das zweite große italienische Opernhaus, für das Verdi Aufträge annahm: bis zum Jahr 1842 hatte sich der noch jugendliche Meister an der Mailänder Scala einen Namen gemacht – zuletzt mit Nabucco, der von dort seinen Siegeszug durch viele italienische Städte begann. Nabucco wurde auch vom venezianischen Publikum 1842 mit Enthusiasmus aufgenommen und Verdi entschied sich nach Verhandlungen mit mehreren italienischen Opernbühnen für sein nächstes Auftragswerk für das renommierte Teatro La Fenice. So begann 1843 eine intensive Zusammenarbeit, die sich über fünfzehn Jahre erstrecken und allein fünf venezianische Uraufführungen umfassen sollte, nämlich Ernani, Attila, Rigoletto, La traviata und Simon Boccanegra in der 1. Fassung. Andere Auftraggeber Verdis in der angesprochenen Periode 1843 bis 1857 waren die großen Theater von Rom, Mailand, Neapel, Florenz, Triest sowie London und Paris. Was aber hat Verdi dazu bewogen, gerade Venedig über eine relativ lange Zeitspanne treu zu bleiben? Das Gran Teatro La Fenice hatte in der kurzen Zeit seines Bestehens (1797 gegründet, war es das jüngste von ungefähr 37

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sechs venezianischen Theatern) bereits eine ruhmvolle Geschichte hinter sich: Rossini, Bellini und Donizetti hatten manches Meisterwerk im Auftrag von Venedig geschrieben, die größten Sänger und Tänzer der damaligen Zeit waren regelmäßig auf den Spielplänen zu finden. Das Theater selbst war dem österreichischen Gouvernement Lombardo-Venetiens unterstellt und erhielt zur Existenzsicherung bedeutende finanzielle Zuschüsse durch die venezianische Stadtverwaltung. Dank einem kaiserlichen Privileg durfte das Teatro La Fenice als einziges Theater Venedigs im Karneval große Opern und Ballette aufführen. Das Publikum war speziell im Karneval ein äußerst illustres, denn zum aufwendigen Lebensstil der Adeligen gehörte auch der abendliche Besuch eines der Opernhäuser oder Theater, die den Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Stadt bildeten. In Graf Alvise Mocenigo, dem Direktor des Theaters von 1840 bis 1850, fand Verdi einen in Fragen des Musiktheaters höchst versierten Kenner und Mitstreiter seiner Ideen und in dem aus Murano stammenden Theaterdichter Francesco Maria Piave (1810-1876) schließlich den idealen Librettisten von immerhin neun Opern von Ernani bis La forza del destino – eine bedeutende Figur in Verdis Leben. Nicht zu vergessen den Bürgermeister von Venedig, Graf Giovanni Correr, der im Direktorium des Theaters seine gewichtige Stimme oft zu Verdis Gunsten vernehmen ließ. Die Lagunenstadt selbst hat um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Tiefpunkt in ihrer jahrhundertealten glanzvollen Geschichte erlebt. Der wirtschaftliche Niedergang Venedigs und die politische Unzufriedenheit seiner Einwohner hinderten jedoch den europäischen Großadel nicht, sich nach wie vor zur Karnevalszeit in Venedig einzufinden: Fürsten, Herzöge, Mitglieder der regierenden Dynastien von Frankreich, Russland und Österreich kamen mit ihrem ganzen Tross und verbrachten den Winter in Venedig. Ihre Häuser und Palazzi waren während des Karnevals Schauplatz festlicher Bälle und musikalischer Akademien. Die Karnevals-Opernsaison wurde traditionell am 26. Dezember eröffnet, als Höhepunkt wurde jedoch immer die zweite (oder dritte) Premiere im März erwartet, zu der das Publikum sogar aus weiten Teilen Oberitaliens angereist kam. Verdi wusste die Uraufführungen seiner Opern immer zeitlich prominent zu platzieren, wenn er selbst auch jeden Rummel um seine Person hasste. Dank der Ordnungsliebe des Theaterpräsidenten Giambattista Tornielli haben sich im historischen Archiv des Teatro La Fenice fast lückenlos Briefe, Protokolle und Memoranden zur Entstehungsgeschichte des Simon Boccanegra erhalten. Einige Auszüge daraus sollen Einblick gewähren in das vielfältig verflochtene Gebilde einer italienischen Opernstagione im 19. Jahrhundert, an deren zunehmender Kommerzialisierung Theatereigentümer, Pächter, Gemeinde, Behörde, Künstler, Komponist, Textdichter, Verleger usw. Anteil hatten. T ER E SA HR DLICK A

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Das Teatro La Fenice war für die Karnevalsstagione 1856/57 wie die vorangegangenen Jahre auch an das Brüderpaar Marzi verpachtet. Doch der Theatervorstand beauftragte in Eigenregie Francesco Maria Piave, direttore di scena des Teatro La Fenice, Giuseppe Verdi für die Komposition der neuen Karnevalsoper zu gewinnen. Als Piave sich im März 1856 nach Busseto begibt, haben die Brüder Marzi im Einverständnis mit dem Vorstand der Fenice bereits vier Sänger für Venedig unter Vertrag: Sopran, Bariton, Tenor und Bass – das sind die zukünftigen Darsteller der Rollen: Maria, Simon, Gabriele, Fiesco –, zu einem Zeitpunkt, als das Sujet der Oper noch lange nicht feststeht! Fünf Tage vor seiner Abreise nach Busseto erhält Piave schriftliche Weisung des Präsidenten des Fenice, Tornielli: »Wenn Sie sich nach Busseto begeben, beabsichtigt das Präsidium Sie zu bitten, Ihre Bindung an dieses Theater ins Treffen zuführen. Es gab bereits einen Briefwechsel mit dem berühmten Meister Verdi mit dem Ziel, die Uraufführung der Oper, die er im laufenden Jahr schreibt, dem Theater La Fenice zu sichern, jedoch ohne Erfolg. In Anbetracht der Freundschaft, die Sie mit dem verehrten Meister verbindet, sehen Sie zu, dass er diesem Theater den Vorzug gibt. – Führen Sie ihm die Freude vor Augen, die er dem Publikum und der Pachtgesellschaft und den Gefallen, den er dem Präsidium damit machen würde.« (Venedig, 23. März 1856) Verdi, der nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre, den so­genannten »Galeerenjahren«, ungern feste Bindungen mit Theatern eingeht, scheint nicht abgeneigt, verlangt jedoch Änderungen betreffend die SängerKompanie und dass seine Oper als letzte (»come ultima«) der Stagione in Szene geht. Es folgen zwei Monate intensiver Verhandlungen zwischen Piave, der die Interessen Verdis vertritt, den Brüdern Marzi und als Vermittler Tornielli, ehe der Vertrag abgeschlossen werden kann. Hauptstreitpunkt sind außerdem Verdis äußerst hohe Honorarforderungen, nämlich 4.000 Lire mehr als bei der letzten Vertragsoper La traviata. Zwei Briefzitate sollen die Stimmung und die Hoffnungen der Beteiligten veranschaulichen: » … das Präsidium hoffe, dass die Pachtgesellschaft den Vorteil erwäge, den ihr ein erster Name, wie es jener des Meisters Verdi ist, brächte, und ihr Bestes gebe, um dieses Ziel zu erreichen.« (Tornielli an Piave, Venedig, 31. März 1856) »Ich werde übrigens nicht aufhören, an den Erfolg dieser Angelegenheit zu glauben, und der Gedanke, dieser berühmten Bühne zu neuem Ruhm verholfen zu haben, macht mich glücklich.« (Piave an Tornielli, Busseto, 9. April 1857 [sic]) Zu jenem Zeitpunkt verhandelt Verdi noch mit zwei weiteren Theatern für den bevorstehenden Winter: Teatro La Pergola, Florenz, und San Carlo in Neapel, welchem er sogar bis Mitte Mai 1856 im Wort bleiben muss. Auch ist das Re Lear-Projekt in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Antonio Somma noch in Schwebe. Aber auch die Pächter stehen bereits bezüglich 39

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einer Karnevalsoper mit einem Komponisten in Verhandlung: mit dem aus Sizilien stammenden Errico Petrella. Tornielli gibt eindeutig Verdi den Vorzug, immer wieder versucht er die Pächter von den Vorteilen einer scrittura Verdis zu überzeugen (»… das Fenice-Theater könnte zum besten Italiens werden«, Brief vom 29. April 1856). Anfang Mai – obwohl die Verhandlungen bis dahin streng geheim hätten verlaufen sollen – kursieren in Venedig bereits Gerüchte über eine mögliche bevorstehende Verdi-Premiere, was wiederum den Verhandelnden Druck macht. Tornielli droht den Pächtern, den Vertragsabschluss direkt mit Verdi auszuhandeln unter Ausschaltung der Pächter, wozu er rechtlich befugt wäre. Sobald Verdi schlussendlich frei von anderweitigen Bindungen ist, schreibt er direkt an Tornielli: »Herr Präsident Ich bitte um Verzeihung, Herr Präsident, wenn ich – dem Wunsch gemäß, Ihnen auf Ihre ehrenwerte Anfrage eine definitive Zusage zu geben – so lange zugewartet habe, Ihnen zu schreiben. Das Geschäft, das Sie mir vorschlagen, ist machbar. Die Bedingungen könnten größtenteils die gleichen wie bei der Traviata sein: es wäre jedoch angemessen, im Falle, dass der von mir gewählte Stoff zusätzliche gute Gesangskräfte verlangt, die Pachtgesellschaft sich verpflichtet, diese zu engagieren. Weiters müsste das Honorar auf österr. Lire 12.000 geändert werden, zahlbar in drei Raten: 1. am Tag der ersten Cembaloprobe: 2. am Tag der ersten Orchesterprobe: 3. am Tag der Generalprobe. Schließlich möchte ich ebenso wie die vergangenen vier Male, die ich die Ehre hatte für das Fenice-Theater zu schreiben, auch diesmal wieder vom Theatervorstand engagiert werden. Es bleibt mir nichts mehr übrig als Sie zu bitten, Herr Präsident, sich mit den Betroffenen ins Einvernehmen zu setzen, um mir eine wie auch immer geartete Antwort in kürzest möglicher Zeit zu geben. Ich danke Ihnen für die schmeichelhaften Worte, die Sie beliebt haben an mich zu richten, und habe die Ehre, mich in tiefster Hochachtung nennen zu dürfen Ihr sehr ergebener Diener« G. Verdi (Busseto, 12. Mai 1856) Ein mit drei Rufzeichen versehenes »Alleluja« schickt Piave seinem Bericht über den erfolgreichen Ausgang seiner Vermittlung einer scrittura Verdis an den Vorstand des Theaters voraus. Aus dem schriftliche Kontrakt vom 15. Mai 1856 zwischen Verdi und dem Teatro La Fenice mit dem Auftrag über eine neu zu komponierende Opera seria in Musica ist ersichtlich, dass auf alle Forderungen des Meisters eingegangen wurde. Verdi verpflichtet sich, das Libretto zu beschaffen und bis August der Theaterleitung vorzulegen, die es an die behördliche Zensur weiterleitet. T ER E SA HR DLICK A

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Zur Erholung plant Verdi einen Kuraufenthalt in der Lagunenstadt, in deren bekannten Bädern er seine chronischen Magen­und Halsleiden kurieren möchte. In einem Brief an Piave gibt der jeder Publizität abgeneigte ­Maestro der Sorge um die Geheimhaltung seines Venedig-Aufenthaltes Ausdruck: »Wenn Du die Wohnung gefunden hast, umso besser; wenn nicht, streng Dich an und finde sie. Wie Du schon weißt, komme ich mit der Peppina. Ich wünsche mir eine kleine, ruhige, luftige Wohnung am Meer. Entweder in einem eigenen Haus oder im Hotel. Im Hotel habe ich Dir schon gesagt, möchte ich nicht zur table d‘hôte gehen. Ob es das Hotel Europa, Afrika oder Amerika etc. ist, hat wenig zu bedeuten. Vielmehr würde ich im Europa Störungen befürchten. Es wäre dort unmöglich, mir die Franzosen, und vielleicht auch die Mailänder Herren, vom Leibe zu halten. Hast Du verstanden? Wenn es ein Hotel sein muss, dann ein ganz ganz sauberes, aber auch ganz ganz ruhiges. Egal ob es weit vom Zentrum ist. Ich werde weder Theater besuchen noch auf die Piazza S. Marco gehen: das ist sicher. Also sauber, kühl und ruhig. Amen« (Sant’ Agata, 23. Juni 1856) Verdis Venedig-Urlaub dauerte vier Wochen. Aus dieser Zeit stammt eines der sehr raren Briefzitate Verdis über die Stadt Venedig: »Non c‘è nulla di piu bello, di piu artistico, di piu poetico di Venezia sopprattutto in questa stagione!« (Venedig, 14. Juli 1856, an L. Escudier), und, zurückgekehrt in sein geliebtes Busseto, schreibt er an einen venezianischen Freund, er sei so bezaubert von Venedig, dass ihm sein eigenes »Mekka« weniger paradiesisch vorkomme als zuvor. Die erste schriftliche Erwähnung des Simone-Stoffes »E Simon Boccanegra come va?« stammt aus einem Brief Verdis an Piave vom 23. August 1856 aus Paris, wo sich der Maestro zwecks Einstudierung des Troubadour an der Opera aufhält. Es ist nicht bekannt, wie es zur Wahl des Stoffes, der auf dem Genueser Dogendrama des spanischen Dichters Antonio García Gutiérrez (1813-1884) und Autors von El Trobador basiert, kam. Piave reicht Ende August 1856 eine Rohfassung der neuen Oper beim Theatervorstand der Fenice ein. Es handelt sich dabei um einen handschriftlichen Prosa-Entwurf des späteren Simon Boccanegra-Librettos von Piave. In einem Begleitschreiben fordert Piave im Auftrag Verdis das Engagement eines zusätzlichen Baritons mit schauspielerischen Qualitäten (»un grande comprimario Baritono ehe sia buon Attore«) – und bezieht sich damit auf die Besetzung des Bösewichts Paolo, die noch Schwierigkeiten bereiten würde. Die Theaterdirektion akzeptiert nicht die Prosafassung des Textbuches zur Vorlage bei der Zensur, was Anlass zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Verdi und der FeniceDirektion gibt. Dazu der Verdi-Brief vom 3. September 1856 aus Enghien-lesBains an Piave: »Was bringt es, noch diesen Monat den Simon Boccanegra in Verse zu bringen? Haben die Polizei und das Präsidium nicht ein hinreichend aus 41

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führliches Szenarium? Es ist sogar nicht einmal ein Szenarium, sondern das vollständige Drama. Im Libretto wird weder ein Gedanke, noch ein Wort verändert. Was macht es schon aus, ob es zur Zeit in Prosa oder in Versen ist? Und wie Du ganz richtig bemerkt hast, an diesem Simone ist etwas sehr Originelles. Darum muss der Zuschnitt des Librettos, der Stücke usw. usw. so originell wie möglich sein. Das lässt sich nicht machen, wenn wir nicht zusammen sind; es wäre jetzt also verlorene Zeit. Sag Tornielli, dem Cavalier Tornielli, dem Freund Tornielli, er soll nur still sein und uns machen lassen, die wir unser Handwerk sehr gut verstehen, und wenn er sich betätigen möchte, so anderswo. Er soll an die Dekorationen und Kostüme denken. O, die Dekorationen könnten so schön sein in diesem Simone!« Es kann Verdi mit der Drohung eines in Prosa abgefassten Operntextes nicht ernst gewesen sein, war doch die gebundene Sprache unbedingte Voraussetzung für seine Opern wie für die italienische Oper im 19. Jahrhundert überhaupt, wenn Verdi auch ab Aida mit der metrischen Versstruktur gern experimentierte. Die Polizeidirektion retourniert am 27. September 1856 das Libretto in Prosa mit folgendem Begleitschreiben: »Zur Kenntnisnahme! Nach Prüfung des Inhalts und der Verteilung der Rollen, aus welchen sich das neue Operntextbuch des Dichters Francesco Ma Piave mit dem Titel Simon Boccanegra zusammensetzt, besteht kein Einwand gegen eine Aufführung desselbigen in der kommenden Karnevalsstagione auf der Bühne des großen Theaters La Fenice. Mit der Voraussetzung, dass es auf Vorschlag dieses löblichen Präsidiums in Verse gebracht und in Musik gesetzt wird, haben wir die Ehre, Ihnen das hier zusammen mit dem Schreiben vom 17. d. M eingetroffene Manuskript zu retournieren, nicht ohne den Vorbehalt des Zensors, den von Herrn Piave in Verse gesetzten Operntext nochmals zu begutachten, der sich bereit erklärt hat, einige Unmäßigkeiten in den Redensarten der Prosafassung zu mildern. Für den k. k. Rat, Regierungsdirektor Crespi«

Lyonel Feininger, Stiller Tag am Meer II, 1927 →

Während Piave an der Versform des Simon Boccanegra arbeitet, beginnt die fieberhafte Suche der Pächter Marzi nach einem Bariton für die Rolle des Paolo. Verdi an Piave, Paris, 7. Oktober 1856: »Lieber Piave, Einstweilen werde ich nicht nach Italien kommen, weil ich dem Trovatore beiwohnen werde, der an der Opéra in Französisch gegeben wird. Nutze also dieses Manna, das Dir vom Himmel fallt, und Gott halte Dich bei Gesundheit. Bemühe Dich sehr um das Verseschmieden beim Simone, und nun, da Du Zeit hast und in der Arbeit vorangeschritten bist, studiere und feile T ER E SA HR DLICK A

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den Prolog und schick ihn mir im Brief zu. Wenn dies getan, kannst Du das ganze Libretto zu Ende bringen und es dann, Akt für Akt, durchsehen und korrigieren und mir ganz nach Deinem Belieben zuschicken. Was den Zanghi betrifft, ich kenne ihn nicht, aber ich habe keine guten Informationen. Ich traue weder dem Marzi noch irgendjemand. Sie sollen einen Mann nehmen, der in erster Linie Schauspieler ist.« Erst der dritte Vorschlag der Brüder Marzi für die Besetzung der Baritonrolle, nämlich Alessandro Sabbatini, findet, wenn auch nur teilweise, Verdis Einverständnis. Entgegen seinen Plänen, möglichst im Herbst auf sein parmensisches Landgut zurückzukehren und gemeinsam mit Piave die Arbeit an der neuen Oper aufzunehmen, wird Verdi bis Mitte Jänner in Paris aufgehalten. Bis dahin fehlt jeder Hinweis auf den Simone-Stoff im Briefwechsel Verdi-Piave. Dafür ist eine sehr interessante briefliche Äußerung von Verdis Vertrautem Emanuele Muzio über dessen erste Eindrücke nach der Simon Boccanegra-Lektüre erhalten: 43

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»Ich habe das Libretto Simone Boccanera vollständig gelesen; ich versichere Dir, dass es schön ist und interessant vom Anfang bis zum Ende: die Charaktere sind stark und gut gemeißelt; und einige sind sogar durchdrungen von Kraft und Willensstärke. Es besteht aus einem Prolog und drei Akten; die wichtigsten Partien sind vier: ein Sopran, ein Tenor, Bariton und Bass; es gibt einen zweiten Bariton und eine einzige Nebenrolle: der 2. Bariton soll gut sein und Verdi nimmt keinen der vielen Vorschläge an, solange er nicht einen Versuch auf der Bühne gemacht hat. Ich teile Dir diese Einzelheiten mit, die für Dich von Interesse sind und unter uns bleiben sollen.« (Muzio an G. Cerri, Venedig, 27. Oktober 1856) Verdis verlängerter Aufenthalt in Paris lässt die Zeit für die Komposition der neuen Oper knapp werden: sobald er das fertige Libretto Piaves in Händen hält – zu einem Zeitpunkt also, da das gemeinsame »Feilen« an der Versfassung durch Dichter und Komponist beginnt –, greift Verdi auf die Hilfe eines vor Ort befindlichen Dichters zurück, nämlich Giuseppe Montanelli, eines in Paris im Exil befindlichen Toskaners. Die von ihm vorgenommenen Revisionen betreffen vor alle den 3. Akt und schlagen sich noch in einem Briefwechsel zwischen Verdi und Montanelli bis Anfang Februar 1857 nieder. Piave, der erst viel später von dieser Zusammenarbeit erfährt, ist verständlicherweise gekränkt – ein ähnlicher Vorfall wie schon bei der Entstehung des Macbeth-Librettos, das Verdi von Maffei fertigstellen ließ. Endlich trifft Verdi Mitte Jänner 1857 nach der Pariser Premiere von Le Trouvère in Sant‘Agata ein und beginnt vermutlich erst dort, in der Ruhe und Abgeschiedenheit seines parmensischen Landsitzes, mit der Komposition der neuen Oper. Zwischenzeitlich ist die Karnevalsstagione am Teatro La Fenice mit einem Fiasko angelaufen: Die erste Oper der Saison musste wegen schlechter Kritiken durch eine Wiederaufnahme von Verdis Il trovatore ersetzt werden und das erste Auftragswerk der Saison fiel wegen Erkrankung des Komponisten Petrella sogar zur Gänze aus. Mit umso höherer Spannung wurde daher Verdis neue Oper Simon Boccanegra erwartet: »Deiner neuen Arbeit, der alle Herzen, alle Wünsche, alle Hoffnungen zugewandt sind. Und das ist keine Übertreibung, denn ich versichere Dir, dass die Begeisterung hier ihren Höhepunkt erreicht hat und dass man hier vom kaiserlichen Besuch nicht so viel sprach wie vom Deinigen. Um Gottes willen sieh zu, dass Du gesund wirst.« (Piave an Verdi, Venedig, 27. Jänner 1885) Der letzte Satz bezieht sich auf eine Indisposition, die Verdi nach seiner Rückkehr aus Paris befiel und allen Fenice-Verantwortlichen große Sorgen bereitete. Man erwägt bereits eine Verschiebung der für 5. März 1857 geplanten Premiere. Laut Vertrag sollte Verdi spätestens am 15. Februar 1857 mit der Einstudierung seiner Oper beginnen und selbige nach knapp dreiwöchiger Probenzeit aufführungsreif sein.

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Anfang Februar vergibt Piave Aufträge an Kostümbildner und Bühnenbildner – letzterer ist der bewährte Giuseppe Bertoja –, um mit den Vorbereitungen für die Premiere zu beginnen. Zur selben Zeit langt die endgültige Version des Librettos bei Piave ein, mit einem ausführlichen Begleitschreiben Verdis, in welchem er seine Regiewünsche bekannt gibt. Spätestens seit Macbeth, den er 1847 für Florenz geschrieben hatte, nahm Verdi in zunehmendem Maße Einfluss auf die inszenatorische Deutung seiner Werke, auf die Festlegung des Bühnenbildes, der Kostüme und Requisiten, auf die Aktion der Sänger sowie des Chores, die Choreographie und den Einsatz der Technik – in seinen Briefen von ihm gerne unter dem französischen Begriff mise en scène subsumiert. In dem nicht datierten Brief an Piave gibt er spezielle Anweisungen bezüglich des Simon Boccanegra zu Prolog, erstem Akt und letzter Szene. »Arbeite sorgfältig an den Szenen. Die Angaben sind ziemlich genau, trotzdem erlaube ich mir einige Bemerkungen. In der ersten Szene muss der Fiesco-Palast, wenn er seitlich steht, gut vom ganzen Publikum zu sehen sein, weil alle den Simone sehen müssen, wenn er ins Haus eintritt, wenn er auf den Balkon kommt und die kleine Laterne wegnimmt; ich glaube eine musikalische Wirkung erzielt zu haben, die ich durch die Bühne nicht verlieren will. Außerdem möchte ich mir vor der Kirche von San Lorenzo eine kleine begehbare Treppe mit 3 oder 4 Stufen und ein paar Säulen wünschen, die dazu dienen würden, sich mal Paolo, mal Fiesco anlehnen und verstecken zu lassen usw. Diese Szene muss einen tiefen Hintergrund haben. Der Grimaldi-Palast im 1. Akt braucht nicht viel Tiefe zu haben. Statt eines Fensters würde ich mehrere bis zum Erdboden reichende machen, und eine Terrasse. Im Hintergrund würde ich einen zweiten Prospekt mit dem Mond hängen, dessen Strahlen auf das Meer fallen würden, das man vom Publikum aus sehen müsste; das Meer wäre ein funkelnder, schräger Prospekt. Wenn ich Maler wäre, würde ich bestimmt ein schönes, einfaches Bühnenbild von großer Wirkung machen. Großen Wert lege ich auf die letzte Szene, in welcher der Doge Pietro die Balkons zu öffnen befiehlt; da muss man eine reiche, große, festliche Beleuchtung sehen, die weiten Raum einnimmt, damit man die Lichter gut sehen kann, die allmählich eins nach dem anderen ausgehen, bis beim Tode des Dogen al­les in tiefem Dunkel ist. Das ist, glaube ich, ein sehr wirkungsvoller Moment, und es wäre ein Jammer, wenn das Bühnenbild nicht gutgemacht wäre. Der erste Prospekt baucht keine große Tiefe zu haben, aber der zweite, der mit der festlichen Beleuchtung, muss sehr weit hinten sein. Addio, addio« Das Bühnenbild des ersten Aktes war ursprünglich ein Salon im Palazzo Grimaldi, und für eine Neuinszenierung der Oper noch im selben Jahr in Reggio Emilia ließ Verdi zwecks Vermeidung von Eintönigkeit die ersten fünf Szenen des Aktes im Garten des Palazzo Grimaldi spielen. (Das Gartenszenarium blieb auch in der 2. Fassung der Oper von 1881 erhalten.) 45

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Unter widrigen Umständen – chronische Magenschmerzen halten ihn oft ganze Tage vom Komponieren ab – arbeitet Verdi an der Boccanegra-Partitur und schickt am 9. Februar 1857 Prolog, ersten und halben zweiten Akt zum Kopieren und Stimmen Herausschreiben nach Venedig. Giuseppina Strepponi spricht bereits in einem Brief vom 15. Februar von »ce malheureux Simon Boccanegra«. Erst am 19. Februar 1857 trifft Verdi in Venedig ein, einen Tag nachdem das endgültige Libretto bei der Zensur eingereicht wurde. Sofort beginnen die Cembaloproben mit dem Sängerensemble und die Arbeit an der Instrumentierung. Der Darsteller der Verdi besonders am Herzen liegenden Partie des Paolo muss auf Verdis Wunsch hin ausgewechselt werden. Für Alessandro Sabbatini springt Giacomo Vercellini ein. Und bei der Generalprobe am 10. März wird vom Theatervorstand die Unwürdigkeit der Ausstattung bemängelt und die sofortige Behebung dieser fast alle Kostüme betreffenden Mängel von den Brüdern Marzi verlangt. Mit sieben Tagen Verspätung gegenüber dem vertraglich festgesetzten Termin geht Simon Boccanegra am 12. März 1857 in Szene. Der Karneval ist vorbei und der langersehnte Höhepunkt der venezianischen Opernsaison fällt somit in die Fasten­ zeit, die sogenannte Quaresima. Die Darsteller in der Uraufführung waren: Simon Boccanegra: Leone Giraldoni ]acopo Fiesco: Giuseppe Echeverria Paolo Albiani: Giacomo Vercellini Maria: Luigia Bendazzi Gabriele Adorno: Carlo Negrini Trotz erstklassiger Besetzung brachte es die venezianische Uraufführung der 1. Fassung kaum zu einem Achtungserfolg und anstelle der zehn bis zwölf geplanten Aufführungen kam es nur zu sechs. Der Grund für den Misserfolg liegt wohl in der düsteren, pessimistischen Atmosphäre und der komplizierten Handlung. Arrigo Boito verglich das Drama viele Jahre später mit einem wackeligen Tisch. In den folgenden Jahren schrieb Verdi wenig, und dann meist für ausländische Bühnen gemäß seiner oft geäußerten Meinung, er gelte im eigenen Land nichts. Das letzte Originalwerk für eine italienische Bühne aus Verdis mittlerer Schaffensperiode war Un ballo in maschera (1859 Rom, Teatro Apollo). Nach der Enttäuschung des Simon Boccanegra nahm Verdi 30 Jahre lang keine Aufträge von italienischen Bühnen für neue Opern mehr an. 1858 lehnte er eine Aufforderung des Teatro La Fenice, eine neue Oper zu schreiben, mit der folgenden ihm eigenen Bescheidenheit ab: »Ich halte es für besser, wenn ich diese Ehre [noch eine Oper für Venedig zu schreiben] einem anderen überlasse, der mehr Glück hat und den Beifall des Fenice-Publikums mehr verdient als ich.« (Verdi an Tornielli, Busseto 16. Mai 1858) T ER E SA HR DLICK A

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Das Gran Teatro La Fenice blieb aus politischen Gründen von 1860 bis zur Vereinigung Veneziens mit dem restlichen Italien 1866 geschlossen. Wenn auch der Ur-Simone nie mehr in Venedig aufgeführt wurde, sondern erst die bearbeitete Fassung, so blieben Verdis Opern bis zum Theaterbrand von 1996 Hauptstütze des Fenice-Repertoires. Die Zusammenarbeit zwischen Verdi und Piave setzte sich auch noch nach den venezianischen Auftragsopern fort, in der 1861 für St. Petersburg konzipierten Oper La forza del destino, die ebenfalls erst nach einem Remake repertoiretauglich werden sollte. Piave erlitt 1862 einen Schlaganfall und musste seine dichterische Tätigkeit aufgeben, das freundschaftliche Verhältnis mit Verdi blieb jedoch bis zu Piaves Tod im Jahr 1876 bestehen. Natürlich gibt es Venedig-Bezüge in Piaves Operntexten, so im Dogendrama I due Foscari und in Attila (der übrigens eine Gemeinschaftsarbeit mit Solera war), wo Patriotismus und Risorgimento-Gedankengut ihren beredtesten Ausdruck fanden. Mit einem humorigen Augenzwinkern in Richtung des auftraggebenden Teatro La Fenice läßt Piave dort die Aquileianer »vom geliebten Vaterland, der Mutter großer Söhne, die aus den Trümmern und Sturzwellen wie Phönix wiedererstehen wird zum Staunen der Völker und Meere« sagen: Si, dall’alghe di questi marosi, Qual risorta fenice novella, Rivivrai, nostra patria, più bella, Della terra e dell’onde stupor! (Attila, Prolog, 7. Szene)

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»Hier eine Nachricht des Einsiedlers von Sorga. Er bittet um Frieden mit Venedig!«

Simon Boccanegra, 1. Akt, 2. Bild


Altichiero da Zevio, Portrait Francesco Petrarcas

Ausschnitt aus einem Brief Francesco Petrarcas an Andrea Dandolo, den Dogen von Venedig Was mich bewegt, Dir, ruhmreicher Doge, zu schreiben, sind mein Glaube, Deine Menschlichkeit, die gegenwärtige Lage der Dinge und der Zeitläufte. […] Schon greifen zu den Waffen die beiden mächtigsten Völker, Völker, die beiden blühendsten Städte und – um es kurz zu sagen – die zwei strahlendsten Sterne Italiens, die meines Erachtens Mutter Natur so trefflich hier, hier an die Schwelle Italiens – den eurigen nach dem Norden und Osten, den anderen nach dem Süden und Westen gerichtet – gesetzt hat: Ihr als Herren des oberen Meeres, die anderen als Herren des unteren Meeres habt den vier Teilen der Welt gezeigt, wie geschwächt, wankend und, fast hätte ich gesagt, zerstört wäre das ganze Römische Reich, wenn nicht Italien Herrin und Königin darin wäre. Wenn es aber so kommen sollte (und Gott möge nicht nur verhüten, dass ich das erlebe, sondern dass ich es mir nur vorstelle), dass Ihr die siegreichen Waffen einer gegen den anderen richtet, dann werden wir,

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FR A NCE SCO PET R A RCA


verwundet und getroffen durch Eure Hände, sterben und des glänzenden Namens der Frucht so vieler ruhmreicher Unternehmen, der Herrschaft über das Meer durch Euch für immer beraubt sein. […] Um wie viel besser wäre es doch, wenn der Keim dieser Zwistigkeiten gelöscht würde, damit man sich ihrer nicht mehr rühmen kann und aufrichtigste Freundschaft, Bruderliebe und unaussprechliche Liebe zwischen Eltern und Kindern herrschte und Venezianer und Genueser sich zu einem einzigen Ganzen zusammenschlössen, obwohl doch das Gerücht erzählt, dass die einen die Tyrannen des Westens und die anderen die Tyrannen des Ostens genannt wurden, weil sie in ihrer Raserei unbarmherzig die schönen Glieder ihrer gemeinsamen Mutter Italien in Stücke reißen wollen! […]

Winslow Homer, Cannon Rock, 1895 →

Ausschnitt aus einem Brief Francesco Petrarcas an den Dogen und den Rat von Genua Es möge Euch, erlauchter Doge, und Euch edelste Ratsherren, gefallen, mir zu erlauben, mich mit Euch vertraulich ein wenig zu unterhalten. Ihr werdet doch sicher nicht glauben, dass ich zu früh das tue, was ich aus guten Gründen bis jetzt nicht tun wollte. […] Ich wusste wohl, dass es zu spät ist, zu bereuen, den Kampfplatz betreten zu haben, wenn man das Visier heruntergelassen und den Schild ergriffen hat. Dazu kommt noch, dass ich bereits dachte, zum Großteil meiner Pflicht nachgekommen zu sein […] als ich den vortrefflichen Dogen von Venedig, den ich bereits gut kannte und jetzt noch besser kenne, mit heißen Bitten und fast mit Tränen in den Augen zu überzeugen versuchte, dass er sich bemühen möge, die Flammen dieses schrecklichen Brandes, der vor dem Ausbruch stand, zu löschen. Es hielt mich auch nicht die Furcht zurück, dass andere mich beschuldigen würden, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen, denn jeder Mann, der ein solcher ist, muss von dem Elend der Menschen und jeder Italiener vom Elend Italiens gerührt sein, und muss sehen, wie er dem Abhilfe schaffen kann, schon aus jenem Gefühl der Liebe heraus, von dem ich glaube, dass niemand mehr davon entflammt ist als ich. […] Aus der Tiefe des Herzens bemitleide und beweine ich […] unsere Brüder, die Italiener, welche, ach, meinen zuverlässigen Ratschlägen nicht rechtzeitig wohlwollend ihr Ohr leihen wollten. Aber wenn das je getan würde, was ich hoffe und kaum zu sagen wage, nämlich, dass Ihr Euch beide daran erinnert, Söhne Italiens zu sein und wieder in Freundschaft vereint wäre, würdet ihr untereinander nach nichts anderem streben als nach jenem Primat der Macht und des Ruhms, nach dem alle Starken und Tapferen streben […] Vielleicht würdet Ihr durch diese glückliche Umkehr der Gefühle voll Abscheu vor diesem Bürgerkrieg in Italien zurückschrecken. […]

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Christoph Wagner-Trenkwitz

VON DER POSTKUTSCHE ZUR DAMPFLOK

Die Umarbeitung des Simon Boccanegra


»lt was like turning a stage-coach into a steam train.« So schätzt der hervorragende Verdi-Forscher Julian Budden den Weg von der ersten Fassung (1857) zur Neufassung (1881) des Simon Boccanegra ein. Was bewog Giuseppe Verdi eigentlich zu dieser Kraftanstrengung? Seit rund einem Jahrzehnt, seit der dauerhaft erfolgreichen Aida (1871), hatte er an keine Oper Hand angelegt. Warum nun einen Misserfolg aus dem Jahre 1857 neu bearbeiten? Das Drängen seines ebenso ergebenen wie beharrlichen Verlegers Giulio Ricordi war wohl nur ein Motiv, und nicht das ausschlaggebende. Ricordi hatte schon 1868 eine Neufassung des Simon Boccanegra angeregt – erfolglos. Im Mai 1879 musste er den letzten Korb einstecken, nachdem er auf gut Glück die alte Partitur nach Sant‘Agata gesandt hatte. Verdi reagierte unwirsch: »Ich habe Euch in Genua gesagt, dass ich nutzlose Dinge verabscheue. […] … und außerdem ist es besser, mit Aida und der Messe [= dem Requiem] zu enden, als mit einem Arrangement.« Doch nun, zu Jahresende 1880, ließ sich Verdi vom Nutzen des »Arrangements« überzeugen. Denn er glaubte insgeheim an dieses Werk, das dunkelste und reifste aus seiner mittleren Periode. Und er glaubte – auch wenn 53

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er es zu diesem Zeitpunkt nimmer zugegeben hätte – an den Dichter, der ihm die textliche Basis für die Umarbeitung liefern sollte: Arrigo Boito. Noch ein anderer Grund mag mitgespielt haben. Politik hatte in seinem Leben stets einen wichtigen Raum eingenommen – wenn auch anders, als zeitgenössische und postume Propagandisten glauben machen wollten. So wie Verdi zur Hoch-Zeit des Risorgimento nicht dessen Bannerträger gewesen war, so sehr vertieften sich bei ihm in den 1870er-Jahren politisches Verständnis und Engagement. Sein Brief an den Freund Opprandino Arrivabene, geschrieben im Dezember 1881, kündete scheinbar von schwärzestem Pessimismus: »Alles ist fremd, und wir sind schon zu zwei Dritteln politisch selbst keine Italiener mehr. Ich empfinde wirklich Verzweiflung, wenn ich unsere Verhältnisse überdenke; und ein Symptom unserer Dekadenz ist die Gleichgültigkeit, mit der man die Beleidigungen aller Welt erträgt!« Doch er hatte keineswegs aufgegeben, für das Gute in der Welt zu kämpfen – mit seinen Mitteln, jenen des Musikdramas. Die Geschichte des Genueser Dogen war ein hochpolitischer Stoff, oder konnte durch die Neufassung dazu werden – eine Chance, die Verdi und Boito zu nützen verstanden. Und schließlich: Verdi kannte und liebte Genua. Zwischen 1867 und 1899/1900 verbrachten er und Giuseppina fast jeden Winter in der ligurischen Hafenstadt. Seit Mitte der 70er-Jahre logierte das Paar in einem herrschaftlichen Domizil, dem Palazzo Doria Pamphili. Von Andrea Doria erbaut, überblickte der ehemalige Fürstensitz das Meer und mochte den Komponisten erneut auf die Atmosphäre seines Simone eingestimmt haben.

»… viel Intrige und nicht viel Zusammenhang« Im Sommer 1880 war es Ricordi gelungen, die ehemaligen Widersacher Verdi und Boito zusammenzubringen. Der »Schokoladenplan«, Otello, wurde ventiliert, einige zaghafte Briefe ausgetauscht. Im November erhöhte Ricordi den Druck in Sachen Boccanegra, der Premierentermin an der Scala sei für Ende März des kommenden Jahres bereits fixiert! Verdi wehrte sich noch. Würde Boito das Rechte tun, um die Beine des »alten Hundes, der in Venedig arg geprügelt worden war« gerade zu richten? Würde ihm, Verdi, die Arbeit gelingen? Würden sich schließlich die geeigneten Sänger finden? »Ich füge auch hinzu, dass diese Oper in Sünde geboren wurde und wir schwerlich Wasser finden werden, sie zu taufen«, ließ der störrische Komponist seinen Verleger am 2. Dezember 1880 wissen. Eine Woche später schien die Neufassung des Simon Boccanegra ein festes Projekt, für das Arrigo Boito detaillierte Änderungsvorschläge übersandte. Dabei war der Schriftsteller-Komponist selbst keineswegs vorbehaltslos begeistert: »… der Prolog ist das gerade Bein des Tisches, das einzige, das ihn aufrecht hält; die anderen drei, Sie wissen das besser als ich, hinken alle. Es CHR ISTOPH WAGN ER-T R EN K W ITZ

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gibt da viel Intrige und nicht viel Zusammenhang. Alles ist oberflächlich in diesem Drama, alle diese Geschehnisse scheinen auf der Stelle, im Augenblick erfunden zu sein, um plump die Bühne zu füllen« (8. Dezember 1880). Viel zu streng scheint uns dieses Urteil; war dies ein taktisches Manöver, um Verdi aus der Reserve zu locken? Oder eher eine »Sicherheitsklausel«, sollte das Ergebnis der Mühen den Meister enttäuschen? Immerhin schwebte ja der Otello im Raum, mit dem Boito sein originales Talent beweisen wollte. Ein »Schuldiger« oder Sündenbock war jedenfalls gewiss: Dem armen Francesco Maria Piave wurde wieder einmal übel mitgespielt. Schon bei der Urfassung des Simone hatte Verdi den toskanischen Dichter Giuseppe Montanelli beigezogen. Und noch postum wurde Piave, der immerhin die Basis für Macbeth, Rigoletto und Traviata geliefert hatte, von Meister Verdi desavouiert. Der ihm ebenbürtige Boito maß nach eigener Aussage »dem Flickwerk, das ich an der Arbeit des armen Piave tat, keinerlei künstlerischen oder literarischen Wert« bei und bestand darauf, auf dem Premierenplakat nicht namentlich zu erscheinen. Wie verlockend wäre es, an dieser Stelle im Briefwechsel zwischen Komponisten und Librettisten zu schwelgen, ihn womöglich ganz abzudrucken – zu kostbar scheinen die Gedankengänge, um auch nur einen auszulassen … Und doch erhielte man auf diese Weise keinen klaren Blick für die Unterschiede zwischen der (weitgehend unbekannten) Fassung des Jahres 1857 und der endgültigen Version. Darum wollen wir die Umarbeitung nicht nach der Chronologie der Briefe, sondern an einigen charakteristischen Beispielen, nach dem definitiven Aufbau des Werkes darstellen.

Prolog: Von der Schablone weg zum Wesentlichen Das »einzige gerade Bein des Tisches« blieb nicht unbearbeitet, wenn Verdi am 8. Jänner 1881 auch schrieb: »Ich übergehe den Prolog, in dem ich vielleicht das erste Rezitativ ändern werde und hier und da ein paar Takte im Orchester.« Zunächst fiel das alte Preludio fort, das wichtige Themen exponierte (darunter jenes der Wiedererkennung zwischen Vater und Tochter im ersten und die Versöhnung Fiesco-Simone im dritten Akt). An seine Stelle setzte Verdi ein Vorspiel, das in sanften Wellenbewegungen die »tinta«, die ernste und dunkle Atmosphäre der Oper, ausbreitet. Mit einer für 1857 kühnen, trocken rezitativischen Struktur begann der Komponist sein Werk. 1881 unterlegte er dem (im Wort­laut identischen) Dialog Paolo-Pietro, der durchwegs mezza voce gehalten ist, einen leisen Orchesterteppich. Auch Paolos fäusteballender Aufschrei »Aborriti patrizi« ist im Tonumfang deutlich zurückgeschraubt.

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Beim Auftritt des Titelhelden meinen wir eine Verarmung in der Neufassung festzustellen: 1857 erschien Boccanegra begleitet von einem Leitmotiv, mit dem der ehemalige Korsar im letzten Akt sein Lebenselement (»il mare«) besingt. Doch ist das Opfer dieses Motivs (das drei Akte später doch nur Eingeweihte erkennen würden) ein geringes Opfer, gemessen an der konzentrierenden Vereinheitlichung, die Verdi dadurch im Prolog erreicht. Hätte er, wie man ihm bisweilen unterstellt, auf Wagners Vorbild so viel gegeben, wäre er mit einem potenziellen »Boccanegra-Motiv« wohl anders verfahren …

1. Akt, 1. Bild: Die aufgewertete prima donna Auch in der Neufassung beginnt der erste Akt mit dem Cantabile der Amelia; derselbe Text, dieselbe Melodie – doch welch ein Unterschied! Hier fügte der Komponist überraschenderweise Verzierungen hinzu. Doch dienen die Sextolen in den hohen Holzbläsern nicht einfach der »Behübschung«, sondern der Verklärung. Amelias Monolog im Morgengrauen wird so in eine geradezu unwirkliche Sphäre gerückt, erscheint nicht verniedlicht, sondern erhöht. Verdi wusste genau, dass diese Figur kein naives junges Ding sein konnte, sondern vielmehr eine erwachsene Frau. Der zeitliche Abstand von 25 Jahren zwischen Prolog und 1. Akt diktiert ihr Alter: siebenundzwanzig. So machte ihr musikalischer Vater eine kluge, selbstbewusste, phantasiebegabte und schwärmerische Frau aus ihr und strich auch die unnötige Eifersuchtsanwandlung, mit der 1857 noch die Arie endete. Auf den Klang von Gabrieles Stimme reagierte Amelia ursprünglich mit einer übertriebenen Cabaletta, die Verdi mitleidlos vernichtete. Als 1883 eine Sängerin im Theâtre-des-Italiens nach der alten Cabaletta verlangte, war Verdi perplex. Er habe bei der Umarbeitung die alten Seiten aus der Simone-Partitur herausgeschnitten und verbrannt, so auch diese »sinnlose Cabaletta«, schrieb er an Ricordi. Auch das aufgeputschte Racheduett, in das Fiesco (im Briefwechsel oft »Fieschi« genannt) und Gabriele Adorno einstimmen, erweckte Verdis Missfallen. Darum bestellte er bei Boito »acht schöne Verse für Fieschi und ebenso viele für Gabriele, liebevolle, rührende, einfache, um etwas Melodie damit zu machen oder irgend etwas, das wenigstens diesen Anschein hat.« Nachdem ihn der erste Vorschlag Boitos nicht zufriedengestellt hatte (»lang und zu stark«), präzisierte er nochmals: »… etwas Ruhiges, feierliches, Religiöses«. Ergebnis war das »Sostenuro religioso«, zu dem Boito meisterhaft schlichte Verse fand (»Vieni a me, ti benedico …«), die Verdi in ebensolche Musik kleidete. In der Urfassung erfolgte nun ein Szenenwechsel. Boito riet gut, die lichte Gartenatmosphäre in dem ansonsten von finsteren Innenräumen geprägten 57

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Stück beizubehalten und den Dogen ohne Pomp auftreten zu lassen. Die Wiedererkennung von Vater und Tochter krönt nun keine altmodische Cabaletta mehr, sondern ein schlichter Zwiegesang. Verdi wusste, was er wollte, und Boito konnte mithalten und die Erwartungen noch übertreffen, das war das Erfolgsgeheimnis des genialen Zwiegespanns. »Mehr Entwicklung für die sogenannte Cabaletta«, forderte der Maestro und mahnte, »das deutliche und bühnenwirksame Wort (la parola evidente e scenica)« sei »manchmal besser als der schöne Vers«. Verdis neue, durchaus französisch mitgeprägte Klangwelt in der Szene Boccanegra-Amelia charakterisiert Julian Budden so: »Die gezackten Konturen sind gemildert; Melodie und Harmonie nehmen eine neue Wärme an. Diese Musik ist mit dem sanften Gounod versöhnt, ohne ihre angeborene Kraft zu verlieren.«

1. Akt, 2. Bild Hier griff die Umarbeitung am tiefsten ein, ja schuf beinahe eine neue Oper inmitten der alten. Mit seinem umfänglichen Brief vom 8. Dezember 1880, der die Arbeit erst recht in Bewegung brachte, erbat Boito Verdis Entscheidung, »den Senat oder die Kirche von San Siro oder gar nichts zu machen«. Ratsszene oder eine wildbewegte Schlacht inmitten von Kirchenmauern? Verdi antwortete zögerlich: »Gar nichts machen wäre das beste; aber Gründe – nicht materielle, sondern sozusagen berufliche – lassen mich die Idee nicht aufgeben, diesen Boccanegra zu reparieren … « (11. Dezember 1880 aus Genua). Ende Dezember endlich fing er Feuer: »Wunderschön ist diese Senatsszene«, jubelte er dem Librettisten zu. In Piaves Original war die zweite Szene des zweiten Aktes auf einem Platz in Genua angesiedelt, wo Boccanegras Krönungsjubiläum mit der Hymne »Viva Simon!« gefeiert wird. In die Feierlichkeiten platzt die Nachricht von der Entführung Amelias, derer Gabriele den Dogen anklagt, samt einem traditionellen »Überraschungs-Concertato«. In einem Brief an Ricordi Ende November 1880 hatte Giuseppe Verdi die Basis für eine vollkommene Erneuerung dieses Bildes gelegt, wenn er schrieb, »dass in diesem Akt etwas gefunden werden muss, was in das zu viele Dunkel des Dramas Abwechslung und etwas Schwung bringt. [… ] In diesem Zusammenhang fallen mir zwei herrliche Briefe Petrarcas ein, einer an den Dogen Boccanegra, der andere an den Dogen von Venedig geschrieben, um ihnen, die im Begriff standen, einen Bruderkrieg zu unternehmen, zu sagen, dass sie beide Söhne derselben Mutter seien: Italiens usw. Erhabenes Gefühl eines italienischen Vaterlandes in jener Zeit! All das ist politisch, nicht dramatisch; aber ein Mann von Talent könnte dies Geschehnis gut dramatisieren.« CHR ISTOPH WAGN ER-T R EN K W ITZ

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Der Aufruf Petrarcas wird sich in der neuen Szene finden (»Adria e Liguria hanno patria comune«), und ein noch nachhaltigerer Aufruf aus dem Munde des Dogen selbst. Als sich Plebejer und Patrizier gegenseitig der Schuld an Amelias Entführung bezichtigen, übertönt Boccanegra den Tumult mit seinem großen Monolog. »Plebe! Patrizi! Popolo!« hat ohne Frage die shakespeare‘sche Größe von Mark Antons »Mitbürger! Freunde! Römer!«, ohne im mindesten als Nachahmung zu wirken, und übertrifft alles, was Verdi bislang an Großartigem für die Baritonstimme komponiert hat. Julian Budden zögert nicht, diese Szene, die »Boccanegras Charakter eine neue Dimension von Menschlichkeit verleiht«, Beethovens »Ode an die Freude« zur Seite zu stellen. Paolo Albiani wird vom kleinen Verschwörer zum echten Gegenspieler Boccanegras aufgewertet. Boccanegra weiß um Paolos Schuld an der Entführung und zwingt ihn, sich öffentlich selbst zu verfluchen – noch einmal triumphiert das Gute mit energischer Hand. Wie ernüchternd, aber auch vergnüglich, im Briefwechsel, der so erhabene Momente des künstlerischen Schaffensprozesses erhellt, plötzlich auf Sätze wie jenen von Boito zu stoßen. Vorübergehend ermüdet vom Feinabstimmen der Silben, poltert er: »Das Publikum ist außerdem ein Vieh, das alles säuft und sich um diese Skrupel nicht schert, womit es nicht unrecht hat.«

2. Akt: Der Fluch wird zum Gift Das neue Finale des ersten bedingte einen neuen – und dramaturgisch wesentlich zielführenderen – Beginn des zweiten Aktes. Paolo ist zu einem tragischen, Jago verwandten, Bösewicht emporgewachsen. »Mich selbst habe ich verflucht« – ruft der ehemalige Gefolgsmann Boccanegras schreckensgepeinigt aus. Musikalisch wird seine Rache virtuos illustriert: das Fluchmotiv des Dogen erfährt eine Umdeutung in das Giftmotiv. Paolo träufelt sichtbar das Gift in den Trinkbecher Simones – in der Erstfassung erfolgte die Untat später, und der Zuseher konnte sie nur erahnen. Der Doge nimmt das Gift, fällt nicht mehr, wie im zweiten Akt der Urfassung, in einen Schlaf der wohligen Erschöpfung, sondern beginnt seinen Todeskampf.

3. Akt: »Mein Gift arbeitet« Die bisherigen Änderungen zeitigten weitere. Verdi schrieb an Boito: »Und jetzt kommen wir zum letzten Akt. Der erste Chor dieses Aktes hat keinen Sinn mehr, und ich würde bei geschlossenem Vorhang im Orchester die Musik des Aufstandes wiederholen, mit der der vorhergehende Akt schließt,

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mit den Rufen hinter der Bühne: Vittoria, Vittoria! Nach dem Aufgehen des Vorhanges würde der Doge beginnen: Brando guerrier etc.« Auf Boitos Vorschlag wurde auf das Auftreten des siegreichen Dogen zu Aktbeginn verzichtet, zu kerngesund schien ihm der Triumphator über den Guelfenaufstand. Während Fiesco an diesem nun keinen aktiven Anteil mehr hat, wird Paolo als Aufrührer verhaftet. Der Bösewicht unterliegt, doch könnte er, wie es Jago später metaphorisch tut, sagen: »Il mio velen lavora.« Sein Gift arbeitet tatsächlich. Der Doge tritt erst jetzt, als vom Tode gezeichneter Mann auf: »M’ardon le cempie« (»Mir brennen die Schläfen«). Die Szene zwischen den alten Feinden Simone und Fiesco ist laut Boito bereits in der ersten Fassung »die schönste des Dramas«. Mit Verdi kommt er überein, den Fiesco rückwirkend in den Hintergrund zu drängen, um sein Wiederauftauchen »come un fantasma« (»wie ein Gespenst«) glaubhafter zu machen. 1881 erscheint die Szene durchsichtiger instrumentiert, eleganter, ohne leichtgewichtiger zu werden, »einfacher«, aber alles andere als simpler! Im finale ultimo fügte Verdi wie schon in den anderen Aktschlüssen Frauenstimmen ein – wofür nicht »emanzipatorische«, sondern Gründe der Klangbalance ausschlaggebend waren.

Fazit: Eine Vollendung als Versprechen In Simon Boccanegra verstreichen 25 Jahre zwischen Prolog und ersten Akt – eine theatralische Unmöglichkeit? Ebenso unmöglich schien es, die Arbeit am Simone ein knappes Vierteljahrhundert später wiederaufzunehmen (die »zweite« Uraufführung fand auf die Woche genau 24 Jahre nach der ersten statt) – und es gelang doch. »Dieses Sujet ist traurig, weil es traurig sein muss«, resümierte Verdi nach der »zweiten Uraufführung« 1881. Ein düsterer Stoff, eine Liebesgeschichte als Nebenhandlung, ein Zerrissener ohne echte Arie als Zentralgestalt – alle diese ungewöhnlichen Elemente hatten auch die gebildeten Hörer überfordert und dem Komponisten »einen Fiasco in Venedig, fast so groß wie jenen der Traviata« (Verdi an Clarina Maffei, 29. März 1857) beschert. Nun war nicht nur der Komponist, sondern auch das Publikum um zweieinhalb Jahrzehnte reifer geworden, und der Simone, 1857 seiner Zeit weit voraus, hatte nun die Fesseln der Arien-Cabaletten-Folge abgestreift und war von Verdi und Boito in eine zeitgemäße Form gegossen worden. Wäre Verdi Ende März 1881 verstorben, der Simon Boccanegra müsste uns als harmonischer Abschluss eines Lebenswerkes gelten. Doch lebte der Meister noch fast zwei Jahrzehnte länger und der Simon Boccanegra von 1881 war ein Versprechen, das mit Otello (1887) und Falstaff (1893) in strahlender Größe eingelöst wurde. CHR ISTOPH WAGN ER-T R EN K W ITZ

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Emil Cioran

Die Tonart des Meeres ist die des ewigen Sterbens, eines nie endenden Abschlusses, eines erblühten Todeskampfes. Du hast weder ein von Nuancen angekränkeltes Herz nötig noch ein von den Subtilitäten der ­Verzückung angenagtes Empfinden, um einen Todesschauer in den Meeresmelodien zu erhaschen, sondern nur einen Hang zu den Geheimnissen und Stimmen der Schwermut.


Christian Springer

ZUR AUF­FÜHRUNGSGESCHICHTE DES ­SIMON BOCCANEGRA


Die Erstfassung des Simon Boccanegra Am 12. März 1857 findet die Uraufführung des Simon Boccanegra am Teatro La Fenice statt. Das Publikum reagiert verstört. »Der Boccanegra ist in Venedig beinahe ebenso durchgefallen wie die Traviata«, schreibe der Komponist irritiert an seine Vertraute, die Gräfin Clarina Maffei. »Ich war der Meinung, etwas Brauchbares geschaffen zu haben, doch scheint es, als hätte ich mich geirrt.« Wenn man weiß, dass die von Verdi angesprochene Traviata bei ihrer Uraufführung (Venedig, 6. März 1853) keineswegs ein Misserfolg war, wie es der pessimistische Komponist ausdrückte und wie es in der Folge die Legende eifrig kolportierte, sondern allenfalls ein anfänglich lauer Erfolg, der sich aber bereits im Laufe der neun Vorstellungen umfassenden ersten Aufführungsserie steigerte (wirklich durchgefallene Opern wurden damals sofort vom Spielplan abgesetzt) und gute Kasseneinnahmen brachte, ist es interessant, die Rezeption der Erstfassung des Boccanegra zu betrachten.

Schneidet einem Menschen den Kopf ab und erkennt ihn dann, wenn ihr könnt! Am 15. März 1857 schreibt die »Gazzetta Musicale di Milano«: »Wenn man bedenkt, wie gespannt die neue Arbeit Verdis erwartet wurde, so erscheint es unmöglich, dass ein so ausgewähltes Publikum, das sich aus Menschen, die aus aller Herren Länder eigens dafür herbeigeströmt sind, zusammensetzte, im Theater in einen Zustand der Apathie, der Gleichgültigkeit und besonders der Unaufmerksamkeit verfiel, sodass man mit gutem Gewissen sagen darf, dass der Boccanegra vom Publikum gar nicht beurteilt wurde, weil es ihn nicht angehört hat.« Über das Werk selbst befindet der Kritiker: »Für jeden Geschmack gibt es in diesem Werk etwas. Die verschiedenen Farben sind – wie immer bei Verdi – der jeweiligen Atmosphäre und dem logischen Ganzen untergeordnet.« Die »Gazzetta Privilegiata di Venezia« hingegen meint am 15. März: »Der erste, unvorteilhafte Eindruck kann bis zu einem gewissen Grad mit dem Charakter der Musik erklärt werden, die vielleicht zu schwer und zu streng ist, und mit der düsteren Farbe, die die Partitur, speziell im Prolog, dominiert.« Dies ist ein erster Hinweis auf einen Ansatz der Kritik, die die dunklen, düsteren Farben bemäkelt, mit denen Verdi ein überdimensionales Volksfresko in Schwarz – man könnte es Goya-Schwarz nennen – malt, in welchem sich die Protagonisten mit der Masse vereinigen. Ein weiterer Kritikpunkt sind die als konventionell empfundenen Verse Piaves, die sich von der Vorlage Gutiérrez‘ nicht genügend absetzen. Solcherart kann das Werk 63

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mit der modernen, zerrissenen Figur des Dogen Boccanegra im Zentrum ein Publikum nicht begeistern, das nicht verstehen kann oder will, weshalb der Titelheld keine Arie, keine Romanze, keine Stretta oder Cabaletta (womöglich mit einem ausgehaltenen hohen Schlusston) bekommen hat, in der er seinen Gefühlen in herkömmlicher, altvertrauter und somit verständlicher Manier Ausdruck geben kann. Es kann außerdem nicht einsehen, weshalb die Vater-Tochter-Beziehung und die obligate Liebesgeschichte zugunsten der Austragung politischer und persönlicher Konflikte zurücktreten muss. Bemerkenswert ist, dass die »Gazzetta Privilegiata di Venezia« auch von offenbar konzertierten Aktionen gegen das Werk zu berichten weiß: »Wir können die Tatsache nicht verhehlen, dass Verdi, oder wenigstens seine Oper, einige Feinde hat; zur Ehrenrettung unseres Landes müssen wir aber sagen, dass gewisse Anzeichen von allzu deutlich ausgesprochener Missbilligung nicht von venezianischen Lippen kamen. Sie waren ein Import von außerhalb.« Auch Verdis Freund Cesare Vigna spricht von einer »gut organisierten feindlichen Clique«, Piave bestätigt dies in einem Brief vom 20. März 1857, in welchem er von der »üblichen systematischen Opposition« berichtet. Doch bereits nach der zweiten Vorstellung wächst die Zustimmung des Publikums. Es hat sich herumgesprochen, dass das Werk neuartige Qualitäten besitzt. Aus den fünf Hervorrufen des Komponisten am Premierenabend werden bei der dritten Vorstellung neunzehn. Die Kassenergebnisse – seit jeher Verdis Gradmesser für den Erfolgs eines neuen Werks – sind zwar zufriedenstellend, doch erreicht der Boccanegra am Fenice nur sechs Vorstellungen anstelle der zehn bis zwölf, auf die das Direktorium gehofft hatte. Nach Boccanegra-Aufführungen in Reggio Emilia, Florenz, Rom, Oporto, Neapel (alle 1857) und Catania Jänner 1859), die – sofern Verdi die Einstudierung und die Aufführung nicht wie in Reggio und Neapel selbst leitet – keinen ausgesprochen positiven Widerhall finden, kommt es am 24. Jänner 1859 am Teatro alla Scala in Mailand zu einem Debakel. »Das Fiasko des Boccanegra in Mailand musste kommen und es ist gekommen. Ein Boccanegra ohne Boccanegra!! Schneidet einem Menschen den Kopf ab und erkennt ihn dann, wenn ihr könnt!« schreibt Verdi am 4. Februar 1859 an seinen Verleger Tito Ricordi. Er bezieht sich dabei auf den Interpreten der Titelpartie, den Bariton Sebastiano Ronconi (dem Bruder des großen Giorgio Ronconi, der in Donizetti- und Verdi-Baritonpartien brillierte), der seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Er fährt fort: »Wir armen Zigeuner, Scharlatane und was immer ihr wollt, sind dazu gezwungen, unsere Anstrengungen, unsere Gedanken, unseren Wahn für Gold zu verkaufen – das Publikum kauft für drei Lire das Recht, uns auszupfeifen oder zu beklatschen. Unser Schicksal ist, sich zu fügen: das ist alles! Und trotz allem, was Freunde oder Feinde sagen mögen, ist der Boccanegra nicht schlechter als viele andere meiner glücklicheren Opern, denn für ihn ist vielleicht eine sorgfältigere Aufführung vonCHR IST I A N SPR INGER

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nöten, und ein Publikum, das zuhören will. Eine traurige Angelegenheit ist das Theater!« Wenn der erfahrene Theaterpraktiker Verdi nach einem Publikum verlange, das »zuhören will«, spricht er einen Wesenszug des Werks an, der es von seinen populären Opern unterscheidet: Der Zuhörer wird vom Boccanegra nicht überrumpelt, er kann ihn nicht einfach passiv genießen, sondern er muss aktiv zuhören und mitdenken, um die Schönheiten der Partitur wahrnehmen zu können. Zwölf Vorstellungen lang hält sich das Werk an der Scala, bevor es auch hier vom Spielplan verschwindet. Als Verdi von Filippo Filippi, dem Musikkritiker der »Perseveranza« einem europaweit geschätzten, hochkompetenten Experten, von Publikumsexzessen bei der zweiten und dritten Vorstellung in Kenntnis gesetzt wird, schreibt er an diesen am 9. Februar 1859: »Theaterskandale haben mich nie überrascht. Seit dieser Zeit [dem Misserfolg seiner zweiten Oper Un giorno di regno] sind mir Erfolge nie zu Kopf gestiegen, und Misserfolge haben mich nie entmutigt. Wenn sich das Publikum später beruhigen wird, so wird es vielleicht bemerken, dass im Boccanegra zumindest einige Intentionen vorhanden sind, die nicht zu verachten sind.« Die Oper wird zwischen 1859 und 1871 an den großen und mittleren italienischen Bühnen (von Genua bis Palermo, von Turin und Bologna bis Catania) sowie im Ausland (Madrid, Lissabon, Buenos Aires, Barcelona, Korfu) aufgeführt, ohne sich wirklich etablieren zu können. Dann verschwindet sie von den Spielplänen.

Der Boccanegra ein Wagner-Imitat? Hört man die Erstfassung des Boccanegra von 1857 und liest die zeitgenössischen Kritiken und Studien (insbesondere das berühmte Studio sulle apere di Giuseppe Verdi von Abramo Basevi von 1859), kann man nicht umhin, sich über die darin geäußerten Reaktionen auf das Werk zu wundern. So eröffnet Basevi das Kapitel über den Boccanegra mit der Behauptung, er habe das Libretto »nicht weniger als sechs Mal aufmerksam lesen« müssen, »um etwas zu verstehen, oder wenigstens zu glauben, etwas verstanden zu haben.« Das wäre noch nicht so schlimm, würde der Autor nicht behaupten: »Die Charaktere der Figuren sind nicht klar gezeichnet, kalt, oft falsch angelegt, von keinerlei dramatischer Wirkung«, um dann zu einem Rundumschlag anzusetzen: »Tatsache ist, dass Verdi sich ziemlich der deutschen Musik annähert. Ich würde sagen, dass er, wenigstens dem Prolog nach zu urteilen, auch wenn nur entfernt, aber doch, in die Fußstapfen des berühmten Wagner treten wollte, dem Umstürzler der Musik der Gegenwart.« Dieser frühe Vorwurf der Wagner-Imitation ist kaum bekannt und blieb weitgehend unbeachtet, wohl auch, weil Verdi Musik von Wagner zum ersten 65

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Mal nachweislich erst acht Jahre später hörte, in Paris zwischen November 1865 und Mitte März 1866. Er äußerte damals: »Ich habe auch die Ouverture des Tannhäuser von Wagner gehört. Er ist verrückt!!!« Die erste WagnerOper kam in Italien übrigens erst vierzehn Jahre nach der Boccanegra-Premiere zur Aufführung – Lohengrin in Bologna am 1. November 1871. Verdi ließ es sich nicht nehmen, der Aufführung mit einem Klavierauszug ausgerüstet beizuwohnen und in diesen kritische Anmerkungen einzutragen: »INSGESAMT: Mittelmäßiger Eindruck. Musik schön; wenn sie verständlich ist, hat sie Gedankentiefe. Die Handlung ist schleppend wie das Wort. Also langweilig. Schöne Wirkung der Instrumente. Missbrauch von langen Noten und schwer erträglich. Mittelmäßige Aufführung. Viel Verve, doch ohne Poesie und Feinheit. An den schwierigen Stellen immer schlecht.« Immer wieder zitiert wird hingegen der Vorwurf, den Georges Bizet im März 1867 anlässlich der Don Carlos-Premiere erhob: »Verdi ist kein Italiener mehr. Er macht Wagner. Er hat nicht mehr seine bekannten Fehler, aber auch nicht einmal mehr eine einzige seiner guten Eigenschaften. Die Schlacht ist für ihn verloren, und seine Oper liegt nunmehr im Todeskampf – in einer Agonie, die sie lediglich der Weltausstellung zu danken hat, die Länger als normal dauert.« Verdi reagierte darauf in einem Brief an seinen französischen Verleger Escudier (1. Apil 1867) verärgert: »Jetzt bin ich also ein fast perfekter Wagnerianer. Wenn die Kritiker nur ein bisschen besser aufgepasst hätten, hätten sie erkannt, dass dieselben Intentionen im Terzett des Ernani, in der Nachtwandelszene im Macbet[h] und in vielen anderen Stücke vorhanden sind etc. etc.« Auch nach der italienischen Aida-Premiere 1872 und einige Jahre danach wurde dieser Vorwurf wieder laut. In einem Brief an Giulio Ricordi (4. April 1875) kommentierte Verdi dazu erbost: »… und schließlich, ich sei ein WagnerImitator!!! Ein schöner Erfolg, nach 35jähriger Karriere als Imitator zu enden!!!« Der unreflektierte Vorwurf des Wagnerismus tauchte allenthalben, sogar beim Otello, auf. Er war so abstrus, dass selbst der konsequente Wiener Verdi-Hasser Hanslick sich veranlasst sah, dagegen aufzutreten. Festzuhalten ist, dass es in erster Linie weder die Düsterkeit des Boccanegra, der Mangel an Arien und Cabaletten, die angeblich verworrene Handlung noch das schlechte Libretto, kompositorische Mängel oder gar Verdis angeblicher Eklektizismus sind, die verhindern, dass sich das Werk im Opernbetrieb etabliert. Der wahre Grund für das allmähliche Verschwinden der Erstfassung des Boccanegra, der – wie von Verdi angekündigt – breit angelegt, mächtig, frei von jeglicher Konvention und abwechslungsreich ist, dürfte vielmehr die Konkurrenz der eigenen neuen Opern gewesen sein, denn als Verdi 1859 Un ballo in maschera, 1862/1869 La forza del destino und 1867 den Don Carlos/­ Don Carlo herausbringt, vergisst das Publikum, das im 19. Jahrhundert hauptsächlich an neuen Opern interessiert ist, den Boccanegra einfach. CHR IST I A N SPR INGER

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Die Revision des Boccanegra Ab 1868 beginnt Giulio, der Sohn des Verlegers Tito Ricordi, dem Komponisten eine Überarbeitung des Simon Boccanegra vorzuschlagen, doch vorerst vergeblich. Giulio Ricordi, selbst ausgebildeter und aktiver Komponist, hat neben seinem Verlegertalent eine gute Nase für Künstlerkonstellationen. So verfällt er 1879 auf die Idee, Verdi und Arrigo Boito für ein neues Projekt zusammenzuspannen. Verdis frühere Librettisten sind tot und Ricordi sieht in Boito mehr den Dichter als den Komponisten. Bald ist vom Otello die Rede, doch Verdi scheint sich vorerst nicht entscheiden zu wollen. Aber Ricordi hat seine Chance gewittert und lässt nicht locker: Wenn er schon keine neue Verdi-Oper bekommen kann, so will er doch wenigstens eine Revision einer solchen, vor allem, weil ihm noch eine neue Oper für die nächste Scala-Stagione fehlt. Ende 1880 schickt er Verdi ein dickes Paket nach Sant‘Agata. Es enthält die alte Simon Boccanegra-Partitur, mit der Bitte um Durchsicht. Verdi bestätigt den Erhalt des Pakets: »Wenn Ihr in ein oder zwei Jahren nach Sant‘Agata kommt, werdet Ihr es unversehrt so vorfinden, wie Ihr es geschickt habt. Ich verabscheue alle unnützen Dinge.« Doch das Paket lässt ihm keine Ruhe. Er sieht die Partitur durch und sieht sofort, wo Änderungen vorzunehmen sind. Er vergleicht Piaves Libretto mit einem wackeligen Tisch: »Wenn man ein Bein in Ordnung bringt, könnte er fest auf dem Boden stehen.« Aber wer könnte die notwendigen Änderungen durchführen? Ricordi hat darauf eine Antwort parat: »Boito steht zur Verfügung und schätzt sich glücklich, etwas von Verdi Vorgeschlagenes zu tun.« Am 15. August 1880 beginnt der 301 Schreiben umfassende Briefwechsel (der auch Otello und Falstaff zum Inhalt hat) zwischen Verdi und seinem neuen Librettisten mit einem Brief Verdis. Die Arbeit, die Boito ohne große Begeisterung anzugehen vorgibt, geht rasch und problemlos vonstatten, die Umarbeitungen sind, sofern Komponist und Textdichter nicht zu persönlichen Gesprächen zusammentreffen, hervorragend dokumentiert. Der letzte Brief, der den Boccanegra zum Inhalt hat, stammt von Boito und datiert vom 15. Februar 1881. Es ist darin von quälenden Zweifeln die Rede. Doch auch die letzten ausstehenden Korrekturen werden rasch vor­genommen und man verabredet ein Zusammentreffen in Mailand, wo Verdi die Proben beaufsichtigt. Obwohl Boito massiv in den Text eingegriffen hat und für wesentliche Änderungen verantwortlich zeichnet, will er im Libretto und im Klavierauszug nicht genannt werden.

Ruhe, gesetzte Haltung und szenische Autorität Jetzt beginnen die Probleme mit den Sängern. Schon im November 1880 hat Ricordi Verdi – im Glauben, dadurch dessen Arbeitslust oder -geschwindig 67

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keit erhöhen zu können – eine Liste mit Sängervorschlägen zugesandt. Am 20. November antwortete Verdi: »Entweder die Opern für die Sänger: oder die Sänger für die Opern: Ein altes Axiom, das kein Impresario je in die Praxis umzusetzen verstand, und ohne das es im Theater keinen Erfolg gibt. Ihr habt gewiss ein gutes Ensemble für die Scala zusammengestellt, aber es ist für den Boccanegra nicht geeignet. Euer Bariton [Federico Salvati, der dann letztendlich als Paolo Albiani besetzt wird] dürfte ein junger Mann sein. Er mag Stimme, Talent und Gefühl haben, soviel Ihr nur wollt, aber er wird niemals die Ruhe, die gesetzte Haltung und die gewisse szenische Autorität haben, die für die Rolle des Simone unerlässlich sind. Es ist eine anstrengende Partie, wie die des Rigoletto, aber tausendmal schwerer als diese. Im Rigoletto ist die Rolle fix und fertig, und mit ein wenig Stimme und Gefühl kommt man recht gut weg. Für den Boccanegra genügen Stimme und Gefühl aber nicht. Für den Fiesco würde man eine tiefe Stimme, in der tiefen Lage hörbar bis zum F brauchen, er muss etwas Unerbittliches, Prophetisches in der Stimme haben: alles Dinge, die die ein wenig leere und zu baritonale Stimme von [Edouard] De Reszke nicht hat. Auch die D‘Angeri wäre wegen der Kraft ihrer Stimme, ihrer Persönlichkeit für die Rolle eines bescheidenen, zurückgezogen [lebenden] Mädchens, einer Art jungen Nonne, nicht geeignet. Ich glaube, dass die D‘Angeri selbst mit dieser Rolle nicht glücklich wäre.« Verdi will die Wahl selbst treffen, alles selbst prüfen und entscheiden. Am 2. Dezember 1880 schreibt er an Ricordi:»O weh, o weh! Wenn wir anfangen, über die Vorzüge dieses oder jenes Sängers zu diskutieren, verlieren wir wertvolle Zeit und bringen nichts zustande. Dem Boccanegra fehlt es an Theatralik! In der Forza sind die Partien fertig gestaltet; im Boccanegra müssen sie alle erst gestaltet werden. Vor allem also große Darsteller. Eine Stimme aus Stahl für den Fiesco. Ein bescheidenes, ruhiges, schlankes und ätherisches Mädchen für die Amelia. Eine leidenschaftliche, feurige und stolze Seele, ruhig, würdevoll und feierlich in der äußeren Erscheinung (sehr schwer zu verwirklichen) für den Boccanegra. Wir werden sie nicht finden: ich weiß das wohl: aber wenigstens etwas, das dem nahekommt ...« Am 24. März 1881 findet die umjubelte Premiere an der Scala statt. Schon am nächsten Tag berichtet Verdi seinem Freund Arrivabene: »Wenn ich Zeit gehabt hätte, Dir zu schreiben, hätte ich Dir bereits vor der Aufführung von gestern Abend gesagt, dass ich meine, die kaputten Beine dieses alten Boccanegra gut repariert zu haben. Der Erfolg von gestern Abend bestärkt mich in dieser Meinung. Also, eine ausgezeichnete Aufführung auf allen Seiten: hervorragend besetzt die Rolle des Protagonisten; hervorragend der Erfolg.« Im Zentrum von Verdis Zufriedenheit steht der französische Bariton Victor Maurel (Marseille 1848 – New York 1923), ein überragender Singschauspieler, der trotz der persönlichen Abneigung, die der Komponist wegen CHR IST I A N SPR INGER

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des unerträglichen Charakters und der egomanischen Selbstgefälligkeit des Sängers gegen diesen hegt, die Baritonhauptrollen in Otello und Falstaff übertragen bekommen wird. Einstudiert und dirigiert wird die Oper von Franco Faccio (Verona 1849 – Monza 1891), dem bedeutendsten italienischen Dirigenten seiner Generation. Obwohl Simon Boccanegra an der Scala ein großer Publikumserfolg ist (die erste Aufführungsserie in dieser Spielzeit kommt auf zehn Vorstellungen) und sich auch die Kritik begeistert äußert, wird das Werk niemals zu einer populären Verdi-Oper, obwohl es weltweit regelmäßig gespielt wird. Doch den Status der Popularität, also der Beliebtheit bei einem breiten Publikum, wie ihn etwa Rigoletto, Il trovatore, La traviata oder Aida genießen, haben selbst seine absoluten Meisterwerke Otello und Falstaff nicht erreicht. Die Revision des Boccanegra mit ihren neu komponierten Teilen ist diesen beiden Opern insofern zur Seite zu stellen, als sie de facto den Beginn des dramatischen Spätwerks Verdis einläutet.

Die Aufführungsgeschichte der Revision des Boccanegra Die Erstfassung des Boccanegra hatte ihren Weg nicht nach Wien gefunden, das unter dem Eindruck von Eduard Hanslicks rabiater Verdi-Ablehnung stand. Hier wurde nur die Revision der Oper aufgeführt. Die Premiere fand am 18. November 1882 in der deutschen Übersetzung von Karl Friedrich Niese statt. Der Protagonist war der am Hof-Operntheater von 1853 bis 1885 engagierte Johann Nepomuk Beck (Budapest 1827 – Bratislava 1904), ein Bariton mit einer als »gewaltig«, jedoch auch »flexibel« beschriebenen Stimme, der ein großes Repertoire abdeckte. Amalie Materna, eine hochdramatische Wagner-Sängerin, war die Amelia, Hans Freiherr von Rokitansky der Fiesco, František Broulík der Gabriele. Am Pult stand der Operndirektor Wilhelm Jahn persönlich. Eine dieser ersten Wiener Aufführungen hörte Johannes Brahms, der 1874 über Verdis Messa da requiem gesagt hatte: »So etwas kann nur ein Genie schreiben.« Er kommentierte die für ihn völlig neue Musik mit den Worten: »Da ist doch überall etwas Talentiertes, Packendes drin!« Er beschäftigte sich aber nicht näher mit dem Werk, wie Hanslick berichtet, und gab es »nach einiger Zeit« auf, »zu erforschen, was das [Libretto] bedeuten soll«. Die Schuld dafür in der Handlung des Boccanegra zu suchen, wäre jedoch voreilig, denn, so Hanslick: »Am wenigsten liegt ihm [Brahms] Opernmusik am Herzen. ,Du weißt, ich verstehe nichts vom Theater‘, pflegt er zu sagen, wenn er schon nach dem ersten Akt einer neuen Oper, die ich mit Interesse anhöre, Reißaus nimmt.« Bis 15. November 2000 wurden am k.k. Hof-Operntheater, an der Wiener Staatsoper und dem kriegszerstörungsbedingten Ausweichquartier im Theater 69

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an der Wien (1945-55) in fünf lnszenierungen 85 Vorstellungen des Werks gegeben, davon 33 in deutscher Übersetzung und 52 in der italienischen Originalsprache. Das Musikzentrum Paris erlebte den Boccanegra 1883. In der von Franco Faccio geleiteten Produktion waren wie in Mailand Victor Maurel und Edouard de Reszke zu hören, die Amelia wurde von Fidès Devriès, der Gabriele von dem aus Turin stammenden Tenor Ottavio Nouvelli gesungen. 1887 war die Oper in Lissabon zu hören, 1889 folgten Buenos Aires und Montevideo, ein Jahr später Madrid, 1891 Triest. In Italien kamen Verdis frühe und mittleren Opern gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorübergehend völlig aus der Mode und wurden kaum mehr aufgeführt. Selbst die ungemein populären Rigoletto, Traviata und Trovatore waren nur mehr vereinzelt auf den Spielplänen anzutreffen. Sogar das Opernhaus in Parma, an dem Verdi sozusagen Heimatrecht genoss, vernachlässigte jahrelang den großen Komponisten. Zur Verdeutlichung des Gesagten die Aufführungsstatistiken einiger italienischer Häuser: Bologna wies zwischen 1895 und Oktober 1912 (abgesehen von Otello und Falstaff nur zwei Aufführungsserien von Traviata und Rigoletto auf, letzterer als Gedenkveranstaltung im Todesjahr Verdis (1901), und eine von Aida (1908). In der Verdi-Stadt Triest spielte man zwischen 1902 und Oktober 1911 überhaupt nur einmal den Trovatore (1906). In Parma wurde eine achtjährige Verdi-Absenz nur 1907 von einer Rigoletto- und AidaSerie unterbrochen. Und an der Mailänder Scala schließlich zählt man zwischen 1894 und 1901 (ohne Otello­ und Falstaff-Wiederaufnahmen) ganze drei Rigoletto- und eine Don Carlo-Vorstellung. Im deutschen Sprachraum wurde die Absenz Verdis auf den Spielplänen erst durch die sogenannte Verdi-Renaissance beendet, die durch die Libretto-Übersetzungen von Franz Werfel – sprachlich auf hohem Niveau stehende Nachdichtungen – und die Aufführungen damals völlig vergessener Verdi-Opern wie Die Macht des Schicksals, Simon Boccanegra oder Don Carlos durch Fritz Busch in den 1920er-Jahren in Dresden eingeleitet wurde. Werfels Textfassung des Boccanegra wurde 1930 in Wien unter Clemens Krauss aufgeführt, weiters in Berlin und Frankfurt/Main, 1931 in Prag und Basel, 1932 in Stuttgart und 1935 in Zürich. Es folgten zahlreiche weitere Aufführungen im deutschen Sprachraum. 1932 brachte die New Yorker Metropolitan Opera den Boccanegra unter Tullio Serafin in der italienischen Originalsprache heraus (mit Lawrence Tibbett, Maria Müller, Ezio Pinza und Giovanni Martinelli). Erst nach diesem Erfolg zogen die italienischen Opernhäuser nach: die Mailänder Scala 1933 unter Vittorio Gui (mit Carlo Galeffi, Maria Caniglia, Nazzareno de Angelis und Francesco Merli), Rom 1934, Parma nach einigem Zögern 1936, das Unbekanntem ansonsten aufgeschlossene Bologna erst 1938. Nach dem Krieg nahm sich die Sadler‘s Wells Opera in London 1948 des Simon Boccanegra an (in englischer Sprache), 1949 folgen Cagliari und Triest, CHR IST I A N SPR INGER

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1950 Mexico City, 1952 Rom, 1958 Neapel, 1960 Chicago, 1961 Salzburg, 1964 Buenos Aires, 1965 London (Covent Garden), 1969 Wien, Berlin und Cleveland, 1971 München, 1973 Verona, 1975 San Francisco, 1976 Brüssel, 1977 Parma, 1978 Paris, 1979 Bilbao, 1984 Berlin, 1988 Florenz, 1989 Amsterdam, 1990 Brüssel, 1991 London, 1994 Frankfurt/Main usw. Diese (keineswegs auf Vollständigkeit abzielende) Aufzählung zeigt, dass die Rezeptionsgeschichte des Boccanegra weltweit als kontinuierlich einzustufen ist. An der Mailänder Scala kam es innerhalb von sechzehn Jahren zu drei wichtigen Neuinszenierungen des Boccanegra: 1955 unter Francesco Molinari-Pradelli, 1965 unter Gianandrea Gavazzeni, 1971 unter Claudio Abbado. Letztere Produktion von Giorgio Strehler ging u.a. 1976 nach London und Washington, ab 1984 war sie in Wien zu sehen. Heute ist Simon Boccanegra so etwas wie der italienische Boris Godunow. Er ist nicht nur, wie Oskar Bie über den Falstaff sagt, »ein Entzücken für Kenner«, sondern ohne jeglichen Zweifel »eine der wichtigsten und größten Verdi-Opern« (Claudio Abbado) sowie ein »gewaltiges, absolutes Meistwerk, in welchem jeder Aspekt der einzelnen politischen und psychologischen Situationen mit großartiger totaler Intensität zum Ausdruck kommt.

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Uwe Schweikert

KOMMENTAR ZU SIMON BOCCANEGRA Mit Simon Boccanegra kehrte Verdi nach den für Paris komponierten Les vêpres siciliennes auf die italienische Opernbühne zurück. Das Werk gehört – wie Macbeth, La forza del destino und Don Carlos – zu den experimentellen Opern, die erst nach einer grundlegenden Überarbeitung ihre endgültige Gestalt gefunden haben. Da die Zeitspanne, die zwischen der Erst- und der Neufassung von Simon Boccangera liegt, mit 24 Jahren länger ist als bei allen anderen Bearbeitungen, sind die stilistischen Brüche – vor allem im 2. Akt – deutlich hörbar. Mit dem Stoff des spanischen Dramatikers García Gutiérrez knüpfte Verdi an die Erfolgsoper Il trovatore an: Wie dort dürfte ihn auch hier die Mischung aus grellen Effekten, geheimnisvollen Verwicklungen und leidenschaftlichen, neuartigen Charakteren angezogen haben. Seit Rigoletto erwartete er von einem vertonbaren Stoff »äußerst machtvolle Situationen, Mannigfaltigkeit, Feuer, Pathos« (Brief Verdis an Antonio Somma vom 22. April 1853). Anders als die konventionelle Geschichtsdramaturgie Eugene Scribes in Les vêpres siciliennes kam das romantische, in der Nachfolge Victor Hugos stehende spanische Drama Verdis Suche nach »neuen, grandiosen, abwechslungsreichen, kühnen Stoffen« (Brief Verdis an Cesare De Sanctis vom 1. Jänner 1853) entgegen. Hier wie dort ist der politische Aufruhr mit den subjektiven Leidenschaften, die geschichtliche mit der individuellen Tragödie verwoben – in einem Libretto, das von fast allen Verdimonographien seit Abramo Basevi als verworren, ja dumm gescholten wird, das aber die Musik klärt. Stoff ist in Verdis Theater stets nur der an der Oberfläche der Handlung ablaufende Vorgang, musikalisches Drama, was sich im Gewebe, im Austausch von Gesten und Emotionen abspielt, also auf das Innere der Figuren verweist. Anders als in der grand opéra bilden die bürgerkriegsar­tigen Auseinandersetzungen zwischen Guelfen und GhibelliCHR IST I A N SPR INGER

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nen, der Adels- und der Bürgerpartei im Stadtstaat Genua zur Mitte des 14. Jahrhunderts aber nur die Folie für ein Drama um Schuld und Sühne, in das fünf Menschen verwickelt sind. Arrigo Boito hat bei der Überarbeitung des alten Librettos »etwas historische und lokale Farbe« (Brief Boitos an Verdi vom 8. Dezember 1880) in die Handlung zu bringen versucht. Aber die neue Ratsszene als Finale des 1. Aktes ist trotz der in ihr eruptiv zum Ausbruch kommenden emotionalen Gegensätze keine wirklich konkrete gesellschaftliche und historische Fundierung der Handlung im Sinne der von Scribe und Meyerbeer in Les huguenots und Le prophète entfalteten Geschichtspanoramen. Meyerbeers Protagonisten sind Ohnmächtige angesichts einer sie überrollenden Geschichtsmaschinerie; Verdis Helden und Heroinen unterliegen dagegen einer individuellen Schuld, an deren Ende stets der Tod steht. Was Verdi am Sujet des spanischen Dramas fesselte, erzählt seine Musik: die Konfrontation von Simon Boccanegra und seinem Todfeind Jacopo Fiesco, der den niedriggeborenen Seeräuber, den Verführer seiner Tochter Maria, 73

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mit unauslöschlichem Hass verfolgt; die Liebe von Amelia und Gabriele Adorno, die schließlich die feindlichen Lager versöhnt; nicht zuletzt die Suche eines Vaters nach seiner Tochter und ihr von der Musik geradezu ekstatisch illuminiertes Wiederfinden – jenes emphatische Motiv also, das bis zur Aida zu den emotiven Grundpfeilern von Verdis theatraler Figurenkonstellation gehört. In Simon Boccanegra dominiert sogar die väterliche Liebe über die Geschlechtsliebe – ein Zug, der den vom Libretto ohnehin schon arg stiefmütterlich behandelten jugendlichen Heißsporn Gabriele in seiner Ausstrahlung noch mehr zurückdrängt. Amelia ist, wie die meisten Heroinen Verdis, der leidende, passive »Engel« (als »eine Art junge Nonne« charakterisiert er sie in einem Brief an Giulio Ricordi vom 20. November 1880) – ganz im Gegensatz übrigens zur Stoffvorlage, in der Susana (wie sie bei García Gutiérrez heißt) im Zentrum der von ihr aktiv vorangetriebenen Handlung steht. So beruht die dramatische Schlagkraft der Oper fast ganz auf dem Gegensatz von Simone und Fiesco. Fiesco ist – wie Azucena in Il trovatore – ein neuartiger Charakter im Werk Verdis und der Anti-Held Simone beileibe keine Wiederholung Rigolettos. »Ruhe [...], Gesetztheit und [...] szenische Autorität« verlangte Verdi vom Darsteller Simones, für Fiesco »eine Grabesstimme, in der etwas Unabwendbares, Prophetisches ist« (ebd.). Die granitartige Unerbittlichkeit Fiescos wird zum Vorbild für die Klangfarbe von Verdis späteren Basspartien: Padre Guardiano in La forza del destino, der Großinquisitor in Don Carlos und sein ägyptischer Kollege Ramfis in Aida. Von den zahlreichen Nebenfiguren im spanischen Drama – darunter dem in der Oper nur erwähnten, in der Vorlage aber wichtigen Lorenzino – übernahm Verdi Paolo, der vor allem in der Neubearbeitung von 1881 an Gewicht gewinnt. Daneben scheint Verdi von Anfang an von der düsteren Atmosphäre, epischen Schwere und quälenden Entwicklungslosigkeit des fatalistischen Stoffes angezogen gewesen zu sein. Schon in seinen Opern der 1840er-Jahre – man denke nur an I due Foscari, Macbeth und Stiffelio – hat er es verstanden, die Abgründe der menschlichen Seele musikalisch zu beleuchten. In Simon Boccanegra macht er einen vertieften Gebrauch von der Fähigkeit seiner psychologischen Orchestersprache, mit Klang auszudrücken, was die Menschen in der Tiefe ihres Seins bewegt. Von den ersten Takten des Vorspiels an ist das musikalische Kolorit, die tinta musicale, von einem Ton lastender Schwermut erfüllt, dem in der Meeresstimmung des 1. und 3. Aktes eine Prise salziger und zugleich visionärer Herbheit beigemischt erscheint – angefangen von der Einleitung zu Amelias cavatina (in der Fassung von 1881) bis zu Simones arioso im 3. Akt (»Oh! rifrigerio! … la marina brezza!. .. «), in dem die von Streichern und Holzblä­sern musikalisch eingefangene Meeresluft ihm Kühlung Zufächelt. Luigi Dallapiccola nannte die kurze Passage »eines der größten Beispiele von Landschaftsmalerei oder Naturlaut, die man in der Geschichte der italienischen Oper finden kann«. Umgekehrt zügelt Verdi in CHR IST I A N SPR INGER

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der Partitur des Simon Boccanegra die melodische Begeisterung, die etwa Il trovatore erfüllt und hält seine schlagende lyrische Erfindungskraft zurück – eine bewusste Konzentration auf den inneren Ausdruck einer musikalischen Psychoanalyse, die ihm zu Unrecht, aber – gemessen an den zeitgenössischen Erwartungen an ein melodramma – verständlicherweise schon 1859 Abramo Basevis heftige Kritik eintrug, »hässliche, schlecht entwickelte Melodien« erfunden zu haben. »Das Stück«, schrieb Verdi während der Arbeit an der Neufassung, »ist düster, weil es düster sein muss, aber es ist fesselnd« (Brief an Opprandino Arrivabene vom 2. Februar 1881). Verdi hatte extreme, fast schon rituelle, ritualhaft sich wiederholende Situationen zu suchen, emotionale Gesten wie rhetorische Signale zu setzen, die seiner musikalischen Dramaturgie die Möglichkeit schaffen, das innerste Wesen in eins mit dem äußersten Leiden der Menschen, das in ihren Handlungen sich aus­drückt, sinnlich erfahrbar, akustisch hörbar zu machen. Fast scheint es, als könnten Handlung und Musik in Simon Boccanegra nur noch die Bruchstücke sammeln, nachdem Simones Leben im Prolog durch den Tod Marias gleichsam »in Stücke geschlagen« wurde ( Julian Budden). Wie unter einem rituellen, traumatischen Zwang memorieren Handlung und Musik darum dieselben Gesten und Zeichen: Zweimal kehrt Simone aus Savona zurück, zweimal rettet Amelia ihn vor dem Schwert Gabrieles, dreimal entblößt Simone seine Brust, um den erwünschten Tod zu finden, dreimal erfahren wir, wie das uneheliche Kind Simones und Marias nach dem Tod der Amme spurlos verschwand, und dreimal wird Amelias wahre Identität enthüllt. Eine solche Häufung von Wiederholungen (meist in der musikalischen Form eines racconto) kann kein Zufall sein. Und noch weniger ist es jener die Handlung überhaupt erst motivierende Zug, dass zweimal eine Tochter zwischen Vater und Geliebtem steht. Der Eigenart der szenischen entspricht ein Wandel der musikalischen Dramaturgie. Schon mit Rigoletto, Il trovatore und La traviata hatte Verdi damit begonnen, sich endgültig von den überkommenen Konventionen des italienischen melodramma zu lösen. Der Ruf nach Neuartigkeit und Abwechslung sowohl der Stoffe wie der Formen durchzieht seine Briefe der 1850er-Jahre und gesellt sich von da an dem Ruf nach Kürze hinzu, den er Piave seit der Zusammenarbeit an Ernani als oberste Maxime für einen Librettisten geradezu eingehämmert hatte. In keiner seiner vorausgegangenen Opern hat Verdi einen so entschiedenen Schritt hin zur szenenübergreifenden, das ganze Bild oder gar den ganzen Akt in den Blick fassenden Gestaltung gemacht. Dies gilt nicht erst für die im Sog des geplanten Otello entstandene Neufassung, die am Beginn seines Spätstils steht, sondern schon für die 1857 in Venedig aufgeführte Erstfassung. Zwar folgt die Gliederung – dies bestätigt auch die Nummerneinteilung des Klavierauszugs – noch den traditionellen Formen der italienischen 75

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Oper. Außergewöhnlich an der szenisch-musikalischen Disposition ist aber bereits hier die starke Zurückdrängung der Arien. Nur drei der vier Protagonisten – Amelia, Gabriele und Fiesco – besitzen Soloszenen. Zwei davon sind Doppelarien. Fiescos einsätzige romanza (»A te l‘estremo addio«) im Prolog ist – als Totenklage und Trauerkondukt für die verstorbene Tochter, in die der Chor einstimmt – über die monologische Selbstaussprache hinaus zugleich szenische, die Handlung begleitende Musik. Sie wurde 1881 unverändert in die Neufassung übernommen. Die Auftrittsarie Amelias (»Come in quest‘ora«) wurde auf der Basis des alten melodischen Materials neu gefasst, die virtuose, aber »ziemlich hässliche« cabaletta (Brief Verdis an Arrigo Boito vom 8. Jänner 1881) durch ein kurzes allegro agitato ersetzt, ein Verfahren, das er auch im anschließenden Duett Amelia/Gabriele anwandte, wo er die cabaletta gegen eine knappe stretta austauschte. Die Neufassung der Musik ändert zugleich den dramatischen Stellenwert der Auftrittsarie und damit auch die Charakterzeichnung der Figur. Die neue Orchestereinleitung, deren wellenartige Bewegung Verdi auch den beiden Strophen des adagio unterlegt, setzt Amelia zum Meer und damit zu Simone in Beziehung – ein Zug, der zugleich ihre Empfindungstiefe bereichert und ihren Ernst jenseits aller flitterhaften Vokalgestik unterstreicht. Völlig unverändert schließlich blieb Gabrieles Eifersuchtsarie im 2. Akt (»Sento avvampar«) – ein erregtes Stück mit heftiger Begleitung in Verdis mittlerem Stil. Konventionell wird man das Stück mit seiner originellen Umkehrung der traditionellen Satzfunktionen einer zweiteiligen Arie, in der die schnelle cabaletta gleichsam vor das adagio platziert wird, nicht nennen können. Die Titelfigur selbst besitzt keine Arie, ja nicht einmal einen musikalisch durchgeformten Monolog, der Macbeths »Mi si affaccia un pugnal?« oder Rigolettos »Pari siamo! … Io la lingua, egli ha il pugnale« jeweils im 1. Akt vergleichbar wäre. Diese ungewöhnliche Behandlung ist einmalig in Verdis gesamtem Opernschaffen. Verdi hat an Simone vor allem die resignativen, die schmerzvollen, die tragischen Züge hervorgehoben, etwa in der kurzen Traum-Szene des 2. Aktes (»Doge! ancor proveran la tua clemenza«) sowie beim Auftritt des bereits tödlich Gezeichneten im 3. Akt (»M‘ardon le tempia ... un atra vampa sento«) – parlante-Passagen, die sich in der freizügigen Behandlung der Form am ehesten einem arioso nähern. Erst die nachkomponierte große Ratsszene gab Verdi die Gelegenheit, Simone mit seinem Eingreifen in die drohende Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Patriziern (»Plebe! Patrizi! – Popolo«) musikalisch aufzuwerten und ihn überdies als handelnden Staatsmann zu zeigen, des­sen einziges Streben es ist, die Streitenden zu versöhnen und den Frieden zu wahren. Aber auch dieses Solo mit seinem autoritativen Gestus hat keine selbständige formale Funktion; wie der Auftritt des besiegten Äthiopierkönigs Amonasro in der Triumphszene von Aida (»Quest‘assisa ch‘io vesto vi dica«) leitet es über zum machtvollen pezzo concertato. U W E SCH W EIK ERT

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Simon Boccanegra ist wie Rigoletto, Don Carlos und Aida eine Oper der Duette. Verdi hat die Gestalt des unglücklichen, von seiner Liebe zerrissenen Dogen in der Auseinandersetzung mit dessen Gegenspielern entwickelt. Die beiden Duette Simone/Fiesco – das erste im Prolog, das zweite im 3. Akt – bilden gewissermaßen die dramatische wie musikalische Klammer der Handlung. Von gleicher Bedeutung ist die große, dreiteilige, vor allem in der geringfügigen Überarbeitung der Neufassung formal noch freier behandelte Wiedererkennungsszene zwischen Simone und Amelia, Vater und Tochter also, im ersten Bild des 1. Aktes. Verdi gestaltet hier keine dramatische Konfrontation wie in den vergleichbaren Sopran/Bariton-Duetten in den 2. Akten von Rigoletto und La traviata, sondern chiffriert in der musikalischen eine seelische Öffnung, ja Übereinstimmung. Auch hier hat er bei der Überarbeitung die cabaletta (»Figlia! ... a tal nome palpito«) verkürzt und dem Schluss im orchestralen Nachspiel jenes von himmlischen Harfenarpeggien gestützte ekstatische Ausschwingen, jene geradezu visionäre, ja halluzinatorische Verzückung Simones hinzugefügt, die in dem einen Wort »Figlia« (»Tochter«) die Erschütterung des Vaters zusammenfasst, der seine längst tot geglaubte Tochter und damit die einzige Erinnerung an seine verstorbene Geliebte überraschend wiederfindet. Ähnliches musikalisches Gewicht wie diese drei Duette besitzen nur noch die großen Ensembleszenen am Ende des 1. und 3. Aktes, während die Duette Amelia/Gabriele im 1. und 2. Akt demgegenüber deutlich zurückgesetzt erscheinen. Das nachkomponierte duettino Gabriele/Fiesco im 1. Akt, das das reichlich platte Racheduett der Erstfassung ersetzt, mildert Fiescos Charakter und lässt durch seinen archaischen Tonfall aufhorchen: »Das Stück hat stillen, feierlichen, ein wenig religiösen, ein wenig altmodischen Charakter.« (Brief Verdis an Arrigo Boito vom 11. Jänner 1881) Eine musikalische Aufwertung erfährt in Simon Boccanegra – und dies schon in der Erstfassung – der dramatische Dialog. Der Beginn des Prologs versetzt den Zuschauer mitten in die Handlung: Er wird scheinbar wie zufällig zum Zeugen eines heimlichen Gesprächs, das bereits im Gange war, noch bevor sich der Vorhang hob (»Che dicesti?« – »Was sagtest du?«). Beim Vergleich der Neu- mit der Erstfassung lässt sich hier wie an ähnlichen Passagen die Tendenz beobachten, den deklamatorischen Tonfall im Sinne eines parlante musikalisch geschmeidiger zu gestalten. Wo Verdi die Dialoge neu gefasst hat – wie zu Beginn des Prologs oder zu Beginn des 3. Aktes –, da hat er nicht nur im psychologischen Orchester­kommentar den Rahmen konturiert, sondern auch die vokale Diktion im Sinne einer konziseren Wortmelodik geschärft. Ariosen Charakter besitzen auch die schon erwähnten beiden kurzen Monologe, in denen wir Simone alleine sehen – frei durchkomponierte Szenen, die sich keiner geschlossenen Form mehr fügen und doch zugleich jede Erinnerung an das konventionelle, »trockene« Rezitativ abgestreift haben. 77

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Die musikalisierte Rede ist aber vor allem die Domäne Paolos. Der abtrünnige Gefolgsmann Simones, den erst Boito vom gewöhnlichen Schurken zum machtgetriebenen Intriganten, zum Verräter aus verschmähter Liebe gemacht hat, wird überall dort, wo er nach dem Prolog szenisch im Mittelpunkt steht – am Ende der Ratsszene, bei der Vergiftung des Dogen und beim Gang zum Richtblock – durch jenes Erinnerungsmotiv fixiert, das seine Verfluchung durch Simone begleitet: eine in verminderten Sekundschritten chromatisch absteigende Achtelbewegung, die durch die Klangfarbe der Bassklarinette vollends ins Lauernd-Hinterhältige verzerrt erklingt. Wenn Paolo am Beginn des 2. Aktes das Gift heimlich in Simones Trinkgefäß träufelt – ein Vorgang, den erst die Neufassung zeigt–, erklingt der schleichende Gestus dieses Motivs nicht nur zeitlich verlangsamt, sondern synkopisch akzentuiert auf die unbetonten Taktteile gesetzt, während der gezupfte Kontrabass und die große Trommel dreimal auf die Betonung fallen, der vierte Schlag aber durch eine Pause markiert ist – als halte die Musik über dem Geschehen den Atem an. Das Motiv erklingt auch zum Auftritt des vergifteten Simone im 3. Akt, jetzt allerdings in Umkehrung. In seiner Grundgestalt, die die Bassklarinette zur Verfluchung intoniert, ist es unmittelbar aus jenem Melisma abgeleitet, mit dem Amelia ihre Bitte um »pace« (»Frieden«) im pezzo concertato der Ratsszene umspinnt. Auf diese Weise erklingen Liebe und Hass einander verschwistert – ein Beispiel dafür, bis in welche Schichten des Unterbewusstseins Verdi die Beziehungen der Figuren auf musikalische Weise zu knüpfen weiß. Amelias Melodik besitzt am meisten Weite, imaginiert den ausgedehntesten Raum, schwingt sich, im Vorspiel zum 1. Akt wie im orchestralen Gewand ihres Gesangs, über Himmel und Meer, während Paolos Musik der engste Kreis gezogen ist. Wie so oft bei Verdi trägt auch hier der stimmliche Ambitus entscheidend zur Figurenzeichnung bei. Als sich Boito auf Verdis Wunsch Piaves Libretto zum Simon Boccanegra vornahm, bemängelte er vor allem, dass es »kein einziges Geschehnis [gibt], das wirklich verhängnisvoll ist, das heißt unerlässlich und stark, vom unabwendbar tragischen Schicksal erzeugt. [...] Es gibt da viel Intrige und nicht viel Zusammenhang. Alles ist oberflächlich in diesem Drama, alle diese Geschehnisse scheinen auf der Stelle, im Augenblick erfunden zu sein, um plump die Bühne zu füllen; sie haben weder tiefe Wurzeln noch starke Bindungen, sie sind nicht das Resultat von Charakteren, sie sind äußerliche Erscheinungen der Geschehnisse. Um ein derartiges Drama zu korrigieren, muss man es ändern.« (Brief Boitos an Verdi vom 8. Dezember 1880) Piaves ursprüngliches Libretto hatte nach operntypischen Musizieranlässen gesucht, zu denen auch die große Finalnummer gehörte. Eine solch pragmatische Beschränkung konnte Boito und Verdi, die damals bereits damit beschäftigt waren, aus Shakespeares Othello ein musikalisches Drama zu komprimieren, nicht mehr genügen. So haben Boito dem Drama der Handlung und Verdi dem Drama der Musik durch die Erfindung und NeuU W E SCH W EIK ERT

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komposition der großartigen Ratsszene eine vollkommen neue Wendung gegeben. Sie ersetzt am Ende des 1. Aktes die ursprüng­lich vorgesehene Festszene. Dramaturgisch und musikalisch nicht ungeschickt hatten Piave und Verdi dabei Chöre und Tänze zu einem festlichen Bild gemischt, das durch die Entführung Amelias und dem damit verbundenen Aufruhr abrupt gestört wird. Indem Boito und Verdi stattdessen eine Szene erfanden, deren zur Entladung drängenden Antagonismen nicht mehr allein auf Intrigen, sondern auf ideellen und tragischen Gegensätzen beruhen, schufen sie eine kategorial andere Ausgangssituation für den weiteren Ablauf des musikalischen Dramas. Dabei hat ihnen offensichtlich das große Finale des 3. Aktes von Otello, das Boito im Sommer 1880 entworfen hatte, als Muster vorgeschwebt. Wie dort steht auch hier im Zentrum der Handlung ein wirklicher Konflikt – der Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen der Adels- und der Plebejerpartei, für den die missglückte Entführung Amelias nur der Anlass, nicht die Ursache ist. Die im Stil des Otello vollständig durchkomponierte Szene befreit sich von allen Fesseln der Konvention. Wie im Prolog sind die einzelnen Formteile – die eigentliche Ratsszene, der Aufstand, Amelias racconto, das arioso Simones und das mächtige pezzo concertato, das seine musikalische Klammer um Freund und Feind spannt – zwar in ihren Umrissen noch erkennbar, folgen aber mit innerer Logik und Konsequenz aufeinander. Und wie das Finale des 3. Aktes von Otello schließt auch dieses Finale nicht mit einer statischen stretta, sondern mit einem coup de théâtre: der Verfluchung des von Simone durchschauten Paolo, in die einzustimmen er diesen zwingt. Der in der Erstfassung noch blasse Handwerker gewinnt in der mit der Kraft des ganzen Orchesters tutta forza herausgehämmerten, unisono über zweieinhalb Oktaven in einen brodelnden, lang ausgehaltenen Triller abstürzenden Fluchformel fast schon dämonische Züge – eine Erfindung Boitos, für die zweifellos der Jago des Otello Pate gestanden hat. Der Fluch wird auf diese Weise zum Movens der Katastrophe, die er mit folgerichtiger Konsequenz auslöst. In seiner bildhaften Kontrastdramaturgie schließt das neue Finale des 1. Aktes unmittelbar an den Prolog an und schlägt den Bogen hinüber zum letzten Akt. Man versteht die Handlung und das mit ihr inszenierte musikalische Drama nicht, wenn nicht deutlich wird, dass der Schlussakt auf den »wirklich schönen und in seiner gänzlichen Finsternis starken, wie ein Stück Basalt harten und finstern« Prolog (Brief Arrigo Boitos an Verdi vom 8. Dezember 1880) zurückverweist. Simon Boccanegra endet nicht nur, sondern beginnt schon – wie in Verdis Œuvre nur noch La forza del destino – mit Tod, dem Tod einer Abwesenden, die die Szene des Prologs beherrscht und deren Schatten sich auf die gesamte Handlung legt: dem unsichtbaren Leichnam Marias, der Tochter des Patriziers Fiesco, Geliebten des plebejischen Emporkömmlings Simone und Mutter Amelias. Ihrem Tod, in den sich die 79

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Antagonismen einer von männlich­kriegerischen Vorstellungen beherrschten Weh buchstäblich eingeschrieben haben, gilt die vom »Miserere« des Chors begleitete romanza Fiescos: Rachearie und Grabgesang in einem. Als Simone nach der Auseinandersetzung mit Fiesco, einem Duett, in dem sich die Stimmen einander unversöhnlich gegenüberstehen, in den Palast der Fieschi eindringt, findet er dort nur den Katafalk der Toten. Das unerbittliche Fatum, das Größe wie Tragik des Anti-Helden Simone und damit den Gang der Oper bestimmt, äußert sich am Ende des Prologs in einem aus nur vier Wörtern bestehenden Dialog. Simone flieht voller Entsetzen aus dem leeren Palast der Fieschi, gleichzeitig stürmt Paolo mit der Volksmenge herbei, um Simone seine Wahl zum Dogen zu verkünden – »un trono« lautet der Ausruf des Handwerkers, »una tomba« die Entgegnung des Korsaren! Der »Thron« als »Grab« – in dieser (aus der Dramenvorlage übernommenen) verbalen Zuspitzung einer tragischen Konstellation haben wir ein instruktives Beispiel für die von Verdi immer wieder beschworene parola scenica, jenes treffende Bühnenwort, das eine Situation mit einem Schlag deutlich und sichtbar zu machen vermag. Der zerreißende Dualismus von Thron und Grab wird zum Motor der inneren Tragik, der innersten Wünsche Simones und wird seine grausame Wahrheit im Schlussakt entfalten. Wie der Prolog so steht auch der letzte Akt von Simon Boccanegra im Zeichen des Todes. Im Gegensatz zur explosiven Handlung in den vorangegangenen Bildern des 1. und 2. Aktes ist er fast handlungslos, ja statisch – eine lähmende Ruhe, die nach und nach die Musik zum Stocken bringt. Nach dem lärmenden presto des kurzen Orchestervorspiels verlangsamt sich das Tempo der Musik, bis sein Puls im andante sostenuto assai des letzten Finales zum Stillstand kommt. Andreas Sopart hat darauf hingewiesen, dass sich die letzten Szenen »entweder qualvoll in die Länge ziehen oder – in permanenter Wiederholung – zur Stagnation tendieren«. Verdi und Boito haben bei der Überarbeitung der Oper in diesem Akt mit wenigen, aber entscheidenden Korrekturen einerseits die Rückbezüge zur vorangegangenen Handlung, andererseits den fatalistischen Endspielcharakter verstärkt. Wenn sich der Vorhang hebt, hören wir in die wiederaufklingende Schlachtmusik hineintönend die Siegesrufe des Volkes. Paolo, der als Aufrührer zum Tode verurteilt wurde, betritt die Szene – die auftaktige Figur, mit der das Orchester ihn ankündigt, evoziert den Schlag des Fallbeils, das ihn erwartet. Meisterhaft die fahle Szene kontrastierend, hat Verdi als auflichtendes Dur-Trio den Hochzeitschor für Amelia und Gabriele Adorno in Paolos Gang zur Hinrichtung verwoben. Chromatisch auf- und absteigende Sexten der Streicher begleiten den Auftritt Simones: musikalische Konfiguration des schleichenden Todes, dem er, ohne es noch zu ahnen, bereits verfallen ist. Der Doge sehnt sich nach dem Meer, der Freiheit. Flirrende Zweiunddreißigstelfiguren in den Streichern sowie schier endlose Flötentriller evozieren einen geradezu vibrierenden Klangraum, über den der Gesang U W E SCH W EIK ERT

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Simones wie eine Brise dahinschwebt. Die Stimme fällt dabei vom f1, dem höchsten Ton, über anderthalb Oktaven ab bis zum c: Mit dem Wort »tomba« (»Grab«) wird auf diesem Ton gleichzeitig das Schlüsselwort des gesamten Aktes erreicht, jener Todeswunsch, der schon am Ende des Prologs Simones einziger Kommentar zu seiner Dogenwahl gewesen war. Es ist zugleich das Stichwort für den bisher im Hintergrund lauernden Fiesco, der nun zu einer letzten Auseinandersetzung hervortritt. Für Boito war diese Szene »die schönste des Dramas« (Brief Boitos an Verdi vom 7. Februar 1881), weil sich hier die zwei Widersacher erstmals seit den 25 Jahre zurückliegenden Geschehnissen des Prologs von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, »als Herren ihrer Handlungen und ihrer Worte, isoliert und frei von äußeren Einflüssen, äußeren Episoden« (Brief Boitos an Verdi vom 15. Februar 1881). In diesem dreiteiligen Duett – zwei gemessene largo-Sätze umschließen ein in hektischer Figuration dahin stürzendes allegro assai voll tragischer Ironie – erklingt zu Fiescos Worten »O Schmerz! Schon lauert der Tod ... ein Verräter/ Hat dir Gift gereicht« die bereits aus dem Finale von La traviata oder dem »Miserere« im 4. Teil von Il trovatore bekannte markante Todesfigur, die lastend ins Herz der Musik schneidet. Gleichzeitig beginnen – in einer von Verdi genau konzipierten Lichtdramaturgie – alle Lichter nach und nach zu verlöschen, bis beim Tode des Dogen die Szene in völliger Dunkelheit liegt. Blockhafte ostinato-Akkorde über dem Fundament der tiefen Streicher und dem erzenen Klang des Cimbasso, des Bläserfundaments, das an eine Totenglocke gemahnt, läuten das abschließende pezzo concertato ein. In dieser Abschiedsszene vereinen sich, über dem Gesang des Chors, ein letztes Mal die Stimmen des sterbenden Dogen und die der über sei­nem Dahinscheiden vereinten Liebenden Amelia und Gabriele – ein handlungsloses Bild, in dem die Zeit stillsteht und ganz in Emotion, in Musik aufgelöst ist. Simone stirbt mit dem Namen »Maria« auf den Lippen, womit sich der Todeszirkel der Handlung schließt. Wie Verdis 1874 entstandene Totenmesse endet auch diese Oper pianissimo und in kraftlosem Schweigen. Die Schläge der Totenglocke und schmerzvoll betonte Moll-Vorhalte auf den leichten Taktteilen trüben den Klang zudem fast bis zum Schlussakkord. Fahler, finsterer als dieses im offenen Ausgang mit leeren Quinten schließende Finale ist in der Operngeschichte zuvor noch kein Werk verklungen. Der kompromisslose Ernst von Verdis Theater des Todes hat eine Breitenwirkung von Simon Boccanegra wie zuvor schon von Macbeth verhindert. Bis heute ist es eine Oper für Kenner geblieben. In der Entwicklung des Komponisten stellt Simon Boccanegra einen entscheidenden Schritt von der überkommenen Nummernoper zu einem Musikdrama dar, das sich nicht mehr an vorgegebenen Formen orientiert, sondern seine ästhetischen Normen aus sich selbst setzt.

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Peter Stein im Gespräch mit Peter Blaha

DIE WAHRHEIT DER KONVENTION PB

Simon Boccanegra ist bei weitem nicht so populär wie Rigoletto, La traviata oder Aida, wird von manchen Kennern aber als Verdis schönste Oper bezeichnet. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese eigenartige Bewertung dieser Oper?

Dafür sind im Großen und Ganzen zwei Gründe ausschlaggebend. Der erste liegt darin, dass Simon Boccanegra nicht so stark auf Arien aufgebaut ist wie die anderen von Ihnen erwähnten Opern – weshalb ich diese drei Stücke wahrscheinlich auch nie inszenieren werde. Außerdem ist der Simon Boccanegra – und das ist der zweite Grund – ein nicht ganz einheitliches Werk. Es gibt eine frühe Fassung von 1857, von der noch eine ganze Menge in die zweite Fassung übernommen wurde, die sehr viel später, nämlich erst 1881, entstanden ist, also bereits während der Arbeit am Otello. Verdi bat seinen damaligen Mitarbeiter Arrigo Boito, der ihm bei seinen späten Shakespeare-Opern Otello und Falstaff als Librettist zur Seite stand, sich des Simon Boccanegra anzunehmen, weil die Scala das Werk zur Aufführung bringen wollte. Boito unterzog sich dieser Mühe, hat am Ende aber darum gebeten, nicht als Librettist genannt zu werden. Diese zweite Fassung ist der ersten im Ganzen gesehen natürlich überlegen, trotzdem erweckt sie einen unausgeglichenen, zwiespältigen Eindruck. Denn obwohl die ursprüngliche Version eine reine Liebesgeschichte im Renaissancegewand ist, wirkt sie in ihrer simplen Art einleuchtender. Durch Boito kam eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die politische, was den Simon Boccanegra für uns heute wesentlich interessanter macht. Das lag natürlich auch daran, dass es zwischen erster und zweiter Fassung zum Risorgimento gekommen war. Verdi und Boito nehmen in der zweiten Fassung auf gewisse Mangelerscheinungen des Risorgimento Bezug, nämlich auf die noch immer schwelenden inneritalienischen Rivalitäten und Kämpfe. HöhePS

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punkt der zweiten Fassung ist ein großer emotionaler Appell an die Einigkeit Italiens. Den hat Boito eingeführt, damit allerdings erkauft, dass man die Geschichte selber gar nicht mehr richtig erzählen kann. PB

Wo liegen denn die dramaturgischen Probleme?

PS Sie betreffen in erster Linie die Figur des Fiesco. Er verschwindet nach dem Prolog in der Versenkung und taucht später unter einem anderen Namen wieder auf. Das Problem dabei ist, dass einige ihn als Fiesco erkennen, andere aber nicht. Wie soll man das auf der Bühne darstellen? Diese Unklarheit ergibt sich daraus, dass einiges der alten Fassung in die neue eingegangen ist. In der zweiten Fassung tritt Fiesco etwas in den Hintergrund und taucht erst am Ende wieder auf, obwohl er natürlich längst weiß, dass Simone sterben muss. Sich mit dem sterbenden Dogen noch einmal anzulegen, ist an sich völlig überflüssig, Fiesco tut es aber trotzdem, damit es zu der großen Versöhnung kommen kann, bei der die beiden alten Männer sich weinend umarmen. Es wird überhaupt sehr viel geweint in dieser Oper. Nicht nur Gabriele, der zukünftige Herrscher von Genua, heult wie ein Schlosshund, auch der Doge weint über seine Unfähigkeit, nicht einmal sein eigenes Volk zur Einigkeit erziehen, geschweige denn, es mit anderen italienischen Völ-

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kern, zum Beispiel mit den Venezianern, versöhnen zu können. Trotzdem ist in dieser Oper ein Wissen enthalten, das in neuerer Zeit auch theoretisch vertieft wurde, nämlich dass jede staatliche Einheit, jedes Volk, jeder Stamm, einen Gründungsmythos hat, der auf irgendeiner Gewalttätigkeit beruht. Diese Gewalttätigkeit wiederholt sich jedes Mal, wenn es zu einer Krise kommt. Dann muss ein Sündenbock geopfert werden, und erst mit diesem Opfer ist ein Neuanfang möglich. Genauso ist es in Simon Boccanegra: Simone opfert sich beziehungsweise wird geopfert, damit Genua mit Gabriele einen Neuanfang wagen kann. Und alles, was vorher war, wird ausgelöscht, die Erinnerung an die Gegensätze, Fehler und Verbrechen der unterschiedlichen Parteien. Dieses Wissen ist in Simon Boccanegra vorhanden, deshalb ist dieses Werk auch strukturell so interessant, nämlich als ein Werk, in dem sich Politisches und Privates in einer typisch opernhaften, aber doch auch sehr humanen Weise durchdringen. Wir sind in Simon Boccanegra mit einem Herrscher konfrontiert, der verzweifelt versucht, gut zu regieren. Doch er scheitert daran. Er muss ununterbrochen seine Feinde in Schach halten, andererseits aber, da er ja ein guter Herrscher ist, Gnade walten lassen. Vor diesen Konflikt ist Simon Boccanegra gestellt. Dieser Konflikt findet sogar im innersten Herzenskreise statt, weil seine Tochter, die er nun endlich wiedergefunden hat, seinen Feind liebt. Es gelingt Simone schließlich, in der eigenen Familie einen Ausgleich zu finden, was aber nicht verhindert, dass er für das Staatsganze geopfert wird. PB

Seine Tochter findet Simon Boccanegra aber erst sehr spät. Was motiviert in den zwei Jahrzehnten zwischen Prolog und erstem Akt sein Handeln? Er stimmt der Wahl zum Dogen ja nur zu, weil er hofft, dadurch die Hand Marias zu erhalten. Aber er wird just in dem Moment zum Dogen ausgerufen, in dem er am Sarg Marias steht.

Aber das ist ja wunderbar, dass die Figuren in erster Linie ihren Emotionen folgen und damit auch Krisen heraufbeschwören, die wunderschöne Duette und Terzette ermöglichen. Simon Boccanegra akzeptiert Doge zu werden, weil er glaubt, dadurch seine Geliebte gewinnen zu können, was die konservativen Adelskräfte verhindern wollen. Aber seine Geliebte ist tot, und jetzt sitzt er auf dem Thron und versucht, ein guter Herrscher zu sein. Interessant ist, dass er in der Zeit, die zwischen Prolog und erstem Akt liegt, einige Feinde um einen Kopf kürzer gemacht hat, darunter auch den Vater von Gabriele. Leider wird das in der zweiten Fassung nur kurz erwähnt, solche Dinge werden in der ursprünglichen Fassung öfter erklärt. Das bedeutet aber, dass Simone sich selbstverständlich auch mit sehr grausamen Mitteln an der Macht gehalten hat. Ich habe dem Darsteller des Simone deutlich gemacht, dass er auf der einen Seite unglaublich jähPS

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zornig und spontan sein, sich aber dann auch sofort wieder zurücknehmen muss, ganz im Gegensatz zu Gabriele. Weil er jünger ist, macht Gabriele alles falsch. Er rennt spontan zunächst immer in die falsche Richtung und muss dann mühselig den Weg zurück finden. Das ist aber auch wieder sehr schön, weil er dadurch eine Art von Schule durchmacht und lernt, vielleicht einmal ein guter Herrscher zu sein. PB

Man spielt den Simone oft gegen den Gabriele aus. Simone sei eine modern konzipierte Figur, psychologisch durchdacht und frei von allen Konventionen, wobei man speziell darauf verweist, dass er nicht einmal eine Arie hat. In Gabriele vermutet man hingegen einen konventionellen Operntenor, was genau genommen aber nicht stimmt. Denn seine Arie steht völlig quer zur konventionellen Form langsame Cavatine/ schnelle Cabaletta. Sie beginnt rasch und beruhigt sich wieder.

Verdi hat die Konvention genial benutzt, um die Charaktere deutlich zu machen. Dabei ist wahrscheinlich aber gar nicht so sehr der Kopf des Zuschauers der Adressat, sondern dessen Herz. Der Impulsivität Gabrieles, diesem Abstrahlen, dem Glanz des Tenors, der oft Unheil schafft und eben zur Ordnung gerufen werden muss, wird die baritonale Kontinuität des Simone entgegengesetzt. Wo­bei ich doch sagen würde, dass der große Friedensappell zwar keine Arie im eigentlichen Sinn, aber doch ein hochinteressantes, kompliziertes Musikstück ist. Es fängt mit einer großen Aggressivität an, indem Simone die widerstrebenden Bevölkerungsteile zur Ordnung ruft. Danach folgt ein Appell an dieselben, dass sie es doch so phantastisch hätten und in einem wunderbaren Land leben und gar keinen Grund haben, gegeneinander zu stehen. Der dritte Teil schließlich ist ein großer emotionaler Zusammenbruch, der deutlich mache, dass das, was sich Simone gewünscht hat, niemals eintreten wird. PS

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Eine zum Teil recht problematische Figur ist Amelia. Warum verschweigt sie Gabriele so lange, dass sie Simones Tochter ist? Sie beschwört ja damit das Attentat des eifersüchtigen Gabriele auf Simone geradezu herauf.

Dafür gibt es selbstverständlich Motivationen, die wir alle durchgedacht haben. Zum Beispiel: Wenn Amelia Gabriele sagen würde, dass sie die Tochter von Simone ist, muss sie möglicherweise befürchten, dass er sie dann nicht mehr liebt. Amelia ist aber nicht das Problem. Die Tatsache, dass Simone die wiedergefundene Amelia öffentlich nicht als seine Tochter zu erkennen gibt, ist in Wahrheit das Problem. Dafür gibt es eigentlich keine Begründung. In der Ratssaalszene könnte er doch, wenn PS

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DIE WA HR HEIT DER KON V EN T ION


Amelia auf ihn zufliegt und ihn mit ihrem Körper vor dem Degen Gabrieles schützt, sagen: Hier seht, das ist meine Tochter, ich habe sie wiedergefunden. PB

Probleme dieser Art wirken sich letzten Endes aber nur minimal aus, weil in der Oper nicht die Logik des Geistes, sondern die Logik des Herzens die oberste dramaturgische Richtschnur ist. Wie verhält es sich sonst mit der Oper im Vergleich zum Schauspiel? Sie haben ja auf beiden Gebieten reiche Erfahrungen.

Theater und Oper sind eigentlich zwei einander gegenüberstehende Prinzipien. Das Theater hat eine freie räumliche Konzeption, also ein Koordinatensystem von Handlung, die sich in Zeit und Raum abspiele, während die räumliche Dimension in der Oper schwer »beschädigt« ist, einfach dadurch, dass die Sänger in eine ganz bestimmte Richtung singen müssen. Die Orientierung der Äußerung in Richtung Zuschauerraum über Dirigent und Orchestergraben hinweg ist einfach eine von der Musik vorgegebene Notwendigkeit. Und das irritiert selbstverständlich die Abfolge von Handlung im Raum. Ich verstehe meine Aufgabe als Regisseur auch darin, die Sänger darauf hinzuweisen, wo trotz allem genügend Platz ist, um in gewisser Weise die räumliche Dimension zurückzugewinnen. Ich gebe ihnen ein paar Tricks, wie man Dinge zum Ausdruck bringen kann, obwohl man gleichzeitig mit dem Singen beschäftigt ist. Ein Trick ist zum Beispiel der, dass die Bewegung immer eine Are von Fortsetzung des Singens mit anderen Mitteln ist. PS

PB

Bedeutet die Oper aber nicht auch eine Einschränkung der Zeit? Im Schauspiel ist es ja letztlich der Regisseur, der Tempo und Rhythmus bestimmen kann. In der Oper ist das Tempo durch die Musik vorgegeben.

Natürlich, die Zeitkoordinate ist in der Oper wesentlich stärker festgelegt. Aber das ist etwas, was mir sehr liegt und auch sehr gefällt. Es führt nämlich dazu, dass die Sänger extrem präzis sind, so präzis, wie eigentlich Schauspieler nie. Andererseits versuche ich für die Sänger Möglichkeiten zu finden, wo sie von Vorstellung zu Vorstellung bestimmte Freiräume haben, um sie auch zeitlich zu gestalten. Das sind natürlich nur minimale Sachen, zumeist handelt es sich nur um ein paar Sekunden, aber trotzdem: Der Sänger bekommt vom Dirigenten oder von mir gesagt, hier hast du Freiheit, hier kannst du das Tempo bestimmen, der Dirigent richtet sich nach dir, dort kannst du auch Pausen machen. Das ermutigt indirekt den Sänger, sich auch in der darstellerischen Aktivität freier und noch mehr herausgefordert zu fühlen. PS

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Und es wirkt der Gefahr entgegen, in Routine zu verfallen.

Ja, natürlich, obwohl ich gar nicht Routine sagen würde. Wenn man sich hundertprozentig konzentriert – und das muss der Sänger, um eine musikalische Ausführung mit seinem stimmlichen Organ in Topqualität zu leisten –, werden viele Kräfte der Konzentration für diesen Vorgang absorbiert. Und es ist ja nie so, dass das Ingangsetzen der Muskulatur, um bestimmte gesangliche Phänomene zu produzieren, zugleich auch jene Mimik ermöglicht, die vom Ausdruck her eigentlich an der bestimmten Stelle gefordert wäre. Im Theater ist das anders, im Theater kann die Sprache mit dem mimischen Ausdruck vollständig zusammengehen, während der Sänger gewissen Einschränkungen unterliegt, die ich verstehe und in meiner Arbeit auch berücksichtige. PS

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Sie sprachen von der beschränkten Mimik auf Grund der physischen Gegebenheiten des Singens. Es gibt bei manchen Sängern daneben aber auch noch stereotype Operngesten. Wie gehen Sie damit um?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Konventionen, ganz anders, als das immer wieder verteufelt wird, durchaus etwas transportieren. Dass heißt, in die Konventionen sind ganz bestimmte künstlerische Wahrheiten eingegangen, wenn auch in verfestigter, versteinerter oder verknöcherter Form. Nur weil sie aus anderen Zeiten stammen, sind sie aber deshalb noch lange nicht schwachsinnig. Ich analysiere die Konventionen und überprüfe, inwieweit sie benutzbar sind. Insofern bin ich ein konventioneller Regisseur. Wenn ich zum Beispiel eine große Geste brauche, dann nehme ich eine der großen Gesten, die auch früher in der Oper gültig waren. Wenn zum Beispiel Fiesco den Himmel anfleht, dass er sich herunterstürzen möge auf das Haupt des Tochterschänders Simone, dann möchte ich gerne eine Geste haben, die sich wirklich auf den Himmel bezieht. Es ist doch phantastisch, wenn der Sänger beim Singen die Arme gegen den Himmel hebt. Konventionen werden von mir befragt, auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft und dann entweder verworfen oder benutzt. Wenn eine konventionelle Geste lediglich die Macke eines Sängers ist oder von ihm völlig unbewusst benutzt wird, dann versuche ich, entweder Bewusstsein dahinter zu klemmen oder den Sänger zu etwas anderem zu ermutigen. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass die Gestik in der Oper alles andere als realistisch sein soll, und zwar aus einem einfachen Grund: Sie muss sich mit dem Gesang verbinden. Sie muss den Gesang vorbereiten oder, wenn der Sänger aufhört zu singen, den Gesang quasi weiterführen. Sehr oft ist es so, dass sich die Sänger, wenn sie gerade nicht singen, ausruhen, was für den theatralischen Aspekt der Veranstaltung tödlich ist. Speziell bei Verdi fangen Arien oft mit einem Orchestervorspiel an, in denen der Sänger wartet, bis er PS

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loslegen kann. Theater ist immer Aktion, ein Orchestervorspiel oder auch ein Nachspiel schneidet aber die Aktion völlig weg. In diesem Fall fordere ich den Sänger auf, sich etwas auszudenken, um diese Pausen zu überbrücken. Das kann er nur gestisch machen, weil er ja still sein muss. Die Bewegung ist das einzige, diesen Moment des Monologs aufzulösen und wieder in die Handlung einzubinden. Das sind so kleine Tricks, und die Sänger nehmen das ganz gerne an. Nur: Es bleibt schwierig. Vieles ist in der Oper gedehnter als im Schauspiel, dementsprechend müssen die Gesten völlig anders sein. Es können keine realistischen Gesten sein. Ich hasse das. Ich finde es auch entsetzlich, wenn bei Arien ein Aktivismus ausbricht. Man wird behindert, sich mit der Musik zu beschäftigen, weil der Blick dauernd abgelenkt wird durch irgendein kleinliches Zeug, das sich überhaupt nicht wiederfindet im sinnlichen Eindruck des Akustischen. Was ich für den Tod nicht ausstehen kann, ist, wenn sich das Optische und das Akustische gegenseitig beißen.

Alfred Thompson Bricher, Rocks and Sea 1837–1908 →

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GIORGIO STREHLER

POLITISCHES UND MENSCHLICHES DRAMA

Simon Boccanegra: ein Selbstportrait Verdis?


Simon Boccanegra ist wahrscheinlich eines der komplexesten Dramen Verdis: ein politisches und menschliches Drama und vor allem ein »dialektisches Melodrama«. Zweifellos wird dadurch diese Oper, die im Allgemeinen als »Übergangswerk« betrachtet wird, in Wahrheit aber in ihrer Art einzig ist, besonders interessant. Im Simone sind politische und private Aspekte eng verflochten und beeinflussen einander gegenseitig. Das verleiht der Oper auch moderne Aspekte. Nach den damaligen Konventionen wurden in die Handlung Entführungen, Verkleidungen, Missverständnisse, tragische, ergreifende, historische und persönliche Konflikte eingebracht, die uns ansprechen, weil wir darin den seltsamen Gang der Geschichte wiederfinden, der von Menschen, ihren Ideen, ihren Erfolgen und Misserfolgen geprägt wird. Auch menschliche Gegensätze finden wir in diesem Werk. Der historisch-politische Aspekt gewinnt dabei außergewöhnliche Bedeutung und Lebensnähe. Adelige und Volk, die um die Macht kämpfen, wechseln ständig ihre Positionen, und der Chor (das Volk) hat im dritten Bild – in der Ratsszene (Finale des ersten Aktes) – die Bedeutung eines Protagonisten. Das geht natürlich zum Teil auf die Überarbeitung durch Boito zurück, der ein echter Theaterpraktiker war. Wenn auch die psychologische Aufarbeitung der Figuren im Libretto nicht immer unserer Anschauung des 20. Jahrhunderts entspricht, so ist sie doch in der Musik Verdis vollständig gelungen, der mit dieser Oper ein Meisterwerk geschaffen hat, in welchem jede einzelne Facette der politischen und psychologischen Situationen mit absoluter Intensität und profunder Wahrheit ausgedrückt wird. Die Figur, die am besten den Dualismus zwischen Politik und persönlichem Gefühl verkörpert, ist selbstverständlich der Doge. Man könnte fast sagen, dass Simon Boccanegra ein Boris Godunow mit umgekehrten Vor­ zeichen ist. Beide Opern sind Gewissensdramen. Auf der einen Seite ein ­Tyrann (Boris), der durch Verbrechen an die Macht gelangt ist, und der mit seinen Gewissensbissen stirbt. Auf der anderen Seite ein Mann (Simone), der die ihm angebotene Macht nicht angestrebt hat, ein Mann, der nach Gerechtigkeit dürstet und der unverstanden stirbt, in der Hoffnung, dass sein Appell zur Versöhnung von der nächsten Generation befolgt werde. Simon Boccanegra ist das Drama eines Mannes, der außergewöhnlich gut, menschlich und zärtlich ist und ständig mit den Problemen der Gerechtigkeit ringt. Er ist im eisernen Griff der politischen Situation gefangen und versucht, eine Idee von grundlegender Bedeutung durchzusetzen: die politische Einheit Italiens. Hier zeichnet sich Verdi selbst: der Komponist hat viel von sich in den Boccanegra hineingelegt, seine Bestrebungen für die Einigung Italiens, aber auch seinen nie überwundenen Schmerz über den Verlust seiner Kinder. In eine schwierige Welt gestellt, in der sich die Menschen gegenseitig zerfleischen, ist Simone nicht »schlecht« genug, um dieser Welt Herr zu werden. 91

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Seine Suche nach Gerechtigkeit wirft für ihn immer neue Fragen auf. Seine Betrachtungen im zweiten Akt, bevor er einschläft, sind voll Bitterkeit. Das Blatt, das er in Händen hält, ist die Liste der Verurteilten. Wird er den verhängnisvollen Befehl unterzeichnen, oder wird er Milde walten lassen? Die gleiche tragische Unschlüssigkeit überkommt ihn, als es darum geht, Gabriele zu verurteilen oder ihm zu vergeben. Man muss sich der Tatsache bewusst werden, dass die Milde des Dogen, sein Streben nach Frieden in der Umgebung, in der er lebt, nichts »Normales« an sich haben. Im letzten Akt ist er der Macht überdrüssig. Wenn er das Meer besingt, fühlt man, wie er sich dieser Macht begibt, nicht weil er unfähig ist, sie auszuüben, sondern weil sein Streben nach Gerechtigkeit nicht erfüllt wurde. Der letzte Dialog zwischen Simone und Fiesco ist sehr ergreifend: zwei nunmehr altgewordene Männer, von denen der eine (Fiesco) seit zwanzig Jahren keine Träne mehr vergossen hat, weinen. GIORGIO ST R EHLER

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Alle psychologischen Feinheiten werden durch die Musik ausgedrückt. Man muss ihr nur mit der entsprechenden Demut folgen. Sie gibt uns genau die dramatischen Tempi, die Pausen, die Atmosphäre und die grundlegenden Bewegungen an; all das, was in der Handlung unglaubwürdig oder unverständlich erscheint, wird durch die Musik klar, menschlich und ergreifend. So wird zum Beispiel Fiesco, der uns unverständlich und beinahe langweilig erscheint, zu einer Figur, die zwar durch ihren Schmerz aller menschlichen Züge beraubt wird, im letzten Duett mit Simone dann aber doch wieder menschlich erscheint. Wie nie zuvor bei Verdi schaffen im Simon Boccanegra die Naturelemente – die Nacht, das Morgengrauen, die Sonne, die Luft und das Meer – eine bald tragische, bald zärtliche, bald symbolische Atmosphäre. Alle Figuren dieser Oper sind psychologisch gesehen nicht einfach: sogar Gabriele, der uns vielleicht als die konventionellste Figur erscheinen mag, trägt furchtbare Konflikte mit sich selbst aus. Er muss die entsetzliche Entscheidung treffen, den Dogen zu töten oder ihn zu schonen. Er wird dadurch in seinen politischen Überzeugungen und seinen persönlichen Gefühlen bis ins Innerste erschüttert. Schließlich schlägt sich dieser junge Adelige aus Liebe zur Tochter des Dogen auf die Seite des Volkes. Amelia hat in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten: in ihrer Arie im ersten Akt erzählt sie von ihrer Vergangenheit und lässt ihre Verzweiflung, ihre Ängste, ihre permanente Unsicherheit anklingen. Sie trägt in sich die Angst vor der Einsamkeit, die Sehnsucht nach Liebe und nach einem Vater oder einer Mutter. Ihre Worte sind stets stark poetisch gefärbt, sie ist von einem echten Gefühl für die Natur erfüllt, zu dem, wie bei Simone, eine ganz besondere Vorliebe für das Meer hinzukommt. Die Aussage des Simone ist nicht optimistisch – auch Verdi war kein Optimist. Aber er glaubte an einige menschliche Werte, an die natürliche Güte des Menschen, an die Macht der Toleranz und der Liebe. Deshalb glauben wir, dass Simon Boccanegra nicht nur ein schönes Werk ist, sondern ein Kunstwerk, das uns zu besserem Verständnis und damit auch zu einem besseren Leben verhilft.

Diese Betrachtungen wurden von Giorgio Strehler 1978 anlässlich der Produktion des Simon Boccanegra an der Pariser Oper niedergeschrieben und 1984 für die Produktion an der Wiener Staatsoper umgearbeitet und neu formuliert. Übersetzung aus dem Italienischen: Christian Springer.

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Impressum Giuseppe Verdi SIMON BOCCANEGRA Saison 2020/2021 (Premiere der Produktion: 14. Oktober 2002) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Peter Blaha, Andreas Láng, Oliver Láng Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Annette Sonnewend & Gabi Adébisi-Schuster (WerkstattWienBerlin) Hersteller: Druckerei Walla GmbH TEXTNACHWEISE – ORIGINALBEITRÄGE Die Handlung und Über dieses Programmbuch: Andreas Láng und Oliver Láng – Teresa Hrdlicka, Verdi, Venedig und La Fenice (Originalbeitrag für das Programmheft 2002) – Christoph Wagner-Trenkwitz, Von der Postkutsche zur Dampflok (Originalbeitrag für das Programmheft 2002) – Christian Springer, Zur Aufführungsgeschichte des Simon Boccanegra (Originalbeitrag für das Programmheft 2002) – Peter Stein im Gespräch mit Peter Blaha, Die Wahrheitder Konvention (Original­ beitrag für das Programmheft 2002) Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH/Dramaturgie ÜBERNAHMEN UND ÜBERSETZUNGEN Horst Wegscheider, Genuas erster Doge, aus: Almanach der Osterfestspiele Salzburg 2000 – Coffin-Amblard, Netze verschleierter Macht, aus: «Les réseaux du pouvoir travesti», in L’Avant-Scène Opéra Nr. 19 (Simon Boccanegra), 1979 (1. Auflage) – Judith Frömmer, Abschied von Mamma Roma, aus: Programmheft Simon Boccanegra der Bayerischen Staatsoper 2013, S. 55 – 67 – Francesco Petrarca, Ausschnitt aus einem Brief an den Dogen von Venedig, in der Übersetzung von Christine Springer, aus: Christian Springer, Giuseppe Verdi: Simon Boccanegra, Dokumente – Materialien – Texte – zur Entstehung und Rezeption der beiden Fassungen, Praesens Verlag, Wien, S. 533 – 545 – Francesco Petrarca, Ausschnitt aus einem Brief an den Dogen und den Rat von Genua, in der Übersetzung von Christine Springer, aus: Christian Springer, Giuseppe Verdi: Simon Boccanegra, Dokumente – Materialien – Texte – zur Entstehung und Rezeption der beiden Fassungen, Praesens Verlag, Wien, S. 547 – 559 – Uwe Schweikert, Kommentar zu Simon Boccanegra, aus: Das Wahre erfinden, Simon Boccanegra, Königshausen & Neumann, 2013, S. 205 – 214 – Kürzungen sind nicht gekennzeichnet.

BILDNACHWEISE Szenenfotos aus Vorstellungen dieser Produktion an der Wiener Staatsoper 2009 – 2019 Axel Zeininger und Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH S. 5: Dmitri Hvorostovsky S. 11: KS Ferruccio Furlanetto, Damen des Staatsopernchores S. 13: Željko Lučić S. 16/17: Dmitri Hvorostovsky, Chor der Wiener Staatsoper S. 28: Marina Rebeka, Francesco Meli S. 33: Andrzej Dobber S. 34: KS Ain Anger, KS Ramón Vargas s: 53: Marco Caria, Dan Paul Dumitrescu S. 56: KS Barbara Frittoli, Herren des Staatsopernchores S. 62: KS Plácido Domingo S. 73: KS Thomas Hampson S. 83: Peter Stein S. 92: KS Leo Nucci WEITERE ABBILDUNGEN Coverbild: Hamed Alaei Sonstige Bilder: Bernhard Wübbel, Junge Frau am Meer, AKG-Images – Genua, Ansicht der Stadt und des Hafens, 1673, AKG-Images – Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der guten Regierung, 1338/39, AKG-Images – Ambrogio Lorenzetti, Allegorie der schlechten Regierung, 1338/39, AKG-Images – Leonardo da Vinci, Politische Allegorie, 1516, AKG-Images – Léon Spilliaert, Meer mit Kielwasser, 1902, AKG-Images – Lyonel Feininger, Stiller Tag am Meer II, 1927, AKG-Images – Altichiero da Zevio, Portrait Francesco Petrarcas, AKG-Images – Winslow Homer, Cannon Rock, 1895, The Metropolitan, New York / Creative Commons – Alfred Thompson Briche, Rocks and Sea The Metropolitan, New York / Creative Commons Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


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