Opernring 2 | November 2025

Page 1


S. 2

DIE OPER ALS ZENTRALE METAPHER FÜR ÖSTERREICH

GESPRÄCH MIT DEM AUTOR, JOURNALISTEN & ZEITHISTORIKER GERALD HEIDEGGER

S. 8

LIEBE, WAHN & TOD

DONIZETTIS LUCIA DI LAMMERMOOR IST WIEDER ZU ERLEBEN

S. 14

MAXIMUM AN GEFÜHL

ADELA ZAHARIA SINGT

DIE TITELPARTIE IN LUCIA DI LAMMERMOOR

S. 20

FANTASTISCHES SEHNEN ANMERKUNGEN

ZUR WIEDERAUFNAHME VON JANÁČEKS VĚC MAKROPULOS

S. 24

DIE SCHWESTER DER MARSCHALLIN MARLIS PETERSEN KEHRT ALS EMILIA MARTY ZURÜCK

S. 30

DIE SACHE MIT DEM STERBEN WÜNSCHEN SIE SICH EIN ENDLOSES DIESSEITIGES LEBEN?

S. 34

ANGST IST DER SPIEGEL DESSEN, WAS UNS WERTVOLL IST GESPRÄCH MIT DER PHILOSOPHIN BÄRBEL FRISCHMANN

S. 39 JOHANN STRAUSS & BALLETT

S. 42

DER TEUFEL IN WIEN FRÉDÉRIC CHASLIN ÜBER GOUNODS FAUST

S. 46

MEIN CASTORF LIEBESERKLÄRUNG AN EINEN UNMÖGLICHEN

S. 51 WORLD BALLET DAY

S. 52

A DIVA IS BORN 2.0

ASMIK GRIGORIAN GIBT EINEN SEHR PERSÖNLICHEN ABEND

S. 62

DER PRÄGENDE MOMENT ILIA STAPLE

S. 64 DEBÜTS

S. 66 PINNWAND

DIE OPER ALS ZENTRALE METAPHER FÜR ÖSTERREICH

Am 5. November 1955, vor 70 Jahren, wurde die Wiener Staatsoper wiedereröffnet. Ein Markstein in der Geschichte des Hauses – und Österreichs. Diesem Jahrestag, auch eingedenk der davor stattgefundenen Geschichte, einschließlich der dunklen Jahre von 1938 bis 1945, widmet die Staatsoper heuer ihre besondere Aufmerksamkeit. Begonnen vom ersten Opern Air im Burggarten bis zum Fidelio im Dezember dieses Jahres, findet eine Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen statt. Unter anderem entstand eine ORF-Dokumentation, die am 5. November in ORF 2 (22.30 Uhr) zu sehen ist. Für diese war der Autor, Journalist und Zeithistoriker Gerald Heidegger gemeinsam mit der Regisseurin Alexandra Venier und einem Filmteam ausführlich in der Staatsoper unterwegs. Mit Gerald Heidegger sprachen Andreas Láng und Oliver Láng über Identität, Geschichte und den Mut zum ehrlichen Stolz.

ll Sie sind seit Langem ein guter Kenner der Wiener Staatsoper, haben das Haus und den Betrieb im Zuge einer von Ihnen mitverantworteten ORF-Filmdokumentation aber noch einmal ganz anders, nämlich aus nächster Nähe, kennengelernt. Was fällt Ihnen im Zuge dieser Innenschau zum Jahrestag der Wiedereröffnung, den 5. November, als Erstes ein?

gh Mich fasziniert der Blick auf ein Bauwerk, von dem die Allgemeinheit meint, dass es immer schon so ausgesehen hat wie im Moment der Wiedereröffnung 1955. Das ist fast wie in David Lynchs Lost Highway, wenn der Film auf sich selbst zurückgreift. Ebenso greift die Wiener Oper im Anspruch und im Vorwärtsgehen auf sich selbst zurück, im Hinblick auf ein Da-kommen-wirHer. Das hat viel mit einem österreichischen Identitätsstiftungsverfahren zu tun, das immer auf etwas rekurriert, was man nicht genau benennen kann. Etwas, das eigentlich nur eine imaginierte Gemeinschaft verstehen, weil spüren kann. Für mich ist die Oper

eine zentrale Metapher für vieles in Österreich, auch für das für die Zweite Republik so wichtig gewordene Unterscheidungskapitel von den Deutschen. Es hat damit zu tun, dass man sich von einer historischen Schuld distanzieren zu können meint, gleichzeitig aber doch etwas Neues finden und erfinden will. Das hat Vorläufer: Nach dem angeblichen St. Germain-Diktum »L’Autriche c’est ce qui reste« begannen die Mechanismen der Identitätsfindung, die aber zahlreiche Brüche aufwies und rasch unter Druck kam. Vielleicht war der November 1955 die Stunde Null 2.0. Man dachte: Und jetzt machen wir noch einmal ein neues Narrativ auf und blicken nach vorne.

ll Die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper war auch ein großes internationales Ereignis. Man stand im Rampenlicht.

gh Ich glaube, dass es für die österreichische Identitätsfindung wichtig war, dass die Welt hergeschaut hat. Das drückt schon der Innenraum der wiederaufgebauten Oper aus. Wir haben entgegen mancher Planung kein Rangtheater, sondern noch einmal das

historische Logentheater. Und in diesen Logen sitzen die verschiedenen Vertreter der Welt: Die reichen Amerikaner, die Sowjets, da sitzt Schostakowitsch, die Briten, die Franzosen, und alle schauen auf uns, und wir versuchen, sie mit unserem Stolz anzustecken. Damit dieser Stolz aber nach vorne schauen kann, muss er etwas mobilisieren. Und was er mobilisiert: das ist die Kultur.

ll Nur die Wiener Kultur?

gh Es gibt den Versuch, Wien ein bisschen als ein Geschenk an ganz Österreich zu zelebrieren. Im Sinne von: Seid’s nicht so gegen Wien und gegen diesen Wasserkopf, seid’s doch stolz auf das, worauf die Welt schaut. Aber das Einüben einer ÖsterreichIdentität zieht sich durchaus quer über das ganze Land. Also wir sind stolz auf die Staatsoper, wir sind aber auch stolz auf die Salzburger Festspiele. Das Goldene Dachl, die Bregenzer Festspiele und und und. Österreich entdeckt 1955, dass die Kultur einfach so ein wahnsinnig guter Motor ist, um aus der Vergangenheit herauszukommen. Mit den guten, und natürlich auch mit den verdrängenden Seiten.

ll Ist das etwas speziell Österreichisches oder läuft es im Grunde in jedem Land so? Die griechische Antike inklusive Akropolis wird auch in jedem Tourismuskatalog propagiert. Vielleicht ist die Identitätsschöpfung eine Grundfunktion der Kultur? Dass man aus dem Immateriellen, aus einer mehr oder weniger genau definierten Vergangenheit eine Identität ableitet.

gh Ich glaube, dass andere Länder sich natürlich ebenso verhalten. In meinem Buch Österreicher bist du erst in Jesolo. Eine Identitätssuche versuchte ich zu zeigen, dass die Italiener und die Österreicher im Versuch, über die Kunst Identität zu verhandeln, große Ähnlichkeiten aufweisen. Im Falle Italiens konnte man so manches an der Zensur, an einem Herrschaftssystem vorbeischummeln. Und bei uns war es einst genuin österreichisch, im Hinblick auf ein entstehendes, neues, großes deutsches Reich, seine Identität durch die Kunst zu unterstreichen. Und deshalb ist die Staatsoper, wie sie seit 1955 aussieht, so genial. In den Farbcodes des Innenraums wurde das Schwarz der Nazis eliminiert, dafür erfolgte ein Rückgriff auf die Monarchie – es kam Gold dazu und das Weiß wurde zu Elfenbein. Das wirkt erlesen und edel und man muss Erich Boltenstern, der diesen Identitäts-Auftrag lesen konnte, Bewunderung für seine Gestaltung zollen. Ich persönlich empfinde die 1955er-Oper schöner als den ursprünglichen, alles umfassen wollenden 1869er-Byzantinismus, den der Innenraum ausgestrahlt hat. Genau darauf bezog sich die nicht unberechtigte Kritik des 19. Jahrhunderts: dass man alles sein wollte und doch am Ende kein Statement setzte.

ll Sie waren für die Dokumentation auch ausführlich hinter den Kulissen unterwegs. Ist das eines der Ziele des Films, den Blick des Zuschauers zu erweitern und die Welt hinter der sichtbaren Bühnenwelt zu zeigen?

gh Die Staatsoper ist eine der großen letzten Maschinerien zwischen dem Analogen und dem Digitalen, und man kommt, wie ein Kind, aus dem Staunen nicht heraus. Sobald man einen Fuß über diese Schwelle gesetzt hat, spürt man nicht nur dieses Mythisch-Heilige, sondern sieht, dass das Ganze wie ein riesiger Zauberkasten ist, in den man hineintritt. Das verwandelt einen. Und plötzlich, bei aller kritischer Distanz, hat man das Gefühl: jetzt gehöre ich irgendwie auch dazu. Diese Dimensionen zu zeigen, aber ebenso diese unglaubliche Hingabe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das ist natürlich auch Teil der Dokumentation. Denn die Begeisterung, mit der alle quer durch das Haus beim Film mitgemacht haben und dass wir so willkommen geheißen wurden: das war beeindruckend.

ll Kann man auf alte Erzählformen zurückgreifen, um einer neuen Generation dieses Wunder Oper begreifbar zu machen? Oder braucht es doch ein neues Narrativ, um die Sache im Heute weiterzutragen?

gh Man muss sich schon bewusst sein, dass natürlich niemals alle in die Oper gegangen sind. Selbstverständlich nicht im 18., nicht im 19. und nicht im 20. Jahrhundert. Aber zumindest war die Oper nach 1955 eine Bastion, zu der fast jeder eine Meinung hatte. Peter Marboe hat das sehr pointiert über einen Polizisten erzählt, der einen bei Rot über die Kreuzung eilenden Passanten keinen Strafzettel verpasst hat, sondern ihn mit den Worten antrieb: »Na, wenn Sie den Rosenkavalier noch pünktlich erreichen wollen, dann müssen Sie sich jetzt aber wirklich beeilen.« In dieser Geschichte steckt atmosphärisch schon viel Wahres, und dieses Bewusstsein muss sich das Haus erhalten. Dieses Zugehörigkeitsgefühl bringt die Oper schon auf den Stellenwert eines Fußballländermatches. Mit dem Vorteil, dass die Oper viel öfter als Gewinnerin hervorgehen kann als die Nationalmannschaft. Die Kunst ist nun, diese Verankerung in eine neue Zeit zu tragen und Schwellenangst zu nehmen. Denn die Oper darf nicht in einem touristischen Pflichttermin erstarren.

ll In dem angesprochenen Gefühl, eine Meinung zur Oper zu haben, selbst wenn man vielleicht gar kein Stammbesucher ist –schwingt da auch ein Stolz mit? So ein: Damit sind wir der Welt wichtig?

gh Wenn wir in einer Gegenwart leben, in der über soziale Medien so stark mit Angst und Neid gearbeitet wird, darf als Gegengewicht auch ein Stolz mitspielen. Ich komme jetzt wieder auf das Fußballstadion zurück, in dem Besucherinnen und Besucher

DIE OPER ALS ZENTRALE

PLAKAT zum OPERNFEST 1955

Foto ÖSTERREICHISCHE NATIONALBIBLIOTHEK

ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten aufeinandertreffen. Das, was alle eint, ist der Stolz auf den Verein, die Mannschaft oder die Farben. Wenn dieser Stolz ehrlich auf sich schaut und etwas »Gesundes« hat, soll er ja sein dürfen. Mehr noch, er ist eigentlich der Motor, der das alles antreibt. Ich kann da aus meiner Familiengeschichte erzählen. Meine Oma bat einst Marcel Prawy, ihr zu einem Opernabo zu verhelfen – und er hat sich tatsächlich dafür eingesetzt. Da trafen also zwei Menschen, mit absolut unterschiedlichen Biografien aufeinander und hatten ein gemeinsames Interesse. Und als meine Oma schließlich auf der Galerie Platz genommen hatte, fühlte sie: Durch dieses Abo habe ich es, nach allen Entbehrungen, geschafft. Die Oper steht also auch für die Anstrengung einer stolzen, aus kei-

ner bildungsbürgerlichen Schicht kommenden Frau, zu etwas dazugehören zu wollen. Und so glaube ich, dass der Stolz, sofern es ein ehrlicher Stolz ist, das Movens sein kann, ein Gebäude wie dieses über sich hinaus strahlen zu lassen.

ll Aber ist dieser Stolz die andere Seite eines Minderwertigkeitskomplexes? Die Fokussierung auf ein Symbol wie die Staatsoper, gewissermaßen das Gegenstück?

gh Ich würde es so formulieren: Vielleicht hat die Staatsoper als Zentralgebäude in einem österreichischen Wirklichkeitssinn einen Platz. Und vielleicht ist Österreich genauso groß, wie es eben groß ist, und weiß um seine Bedeutung, seine Geschichte. Womöglich kann sich Österreich im 21. Jahrhundert ein Stück weit selbst akzeptieren. Ich glaube, dass unsere Kinder mit dem Wort Minderwertigkeitsgefühl nichts mehr anfangen können, weil sie einfach schon weiter von einzelnen geschichtlichen Momenten entfernt sind. Und weil sie vielleicht eher Städte miteinander vergleichen als Länder.

ll Immer, wenn Zeitzeuginnen des 5. November 1955 über die enorme emotionale Ergriffenheit dieses Abends sprechen, fragen wir uns, ob und womit dieses Ereignis heute vergleichbar sein könnte. Uns fiel bislang wenig ein. Dass man in einer Gemeinschaft vor einem Lautsprecher saß, dieses Hochgefühl, das gemeinsame Miterleben – das war erstaunlich exemplarisch.

gh Mir fällt die Geschichte ein, die der ehemalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher ihm vertrauten Personen erzählt hat. Als er 1945 auf dem Dach eines Kohlezugs vom Rheinland nach Salzburg gefahren ist und die zerstörte Landschaft sah, fragte er sich sehr skeptisch: Ob das jemals wieder etwas wird? Wenn man also das wüste Land 1945 erlebt hat und dann 1955 wieder ein Weg sichtbar wurde, war das zweifellos eine sehr große Befreiung. Vielleicht kann man das vergleichen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, den ich als sehr großes Ereignis in Erinnerung habe. Das Entscheidende wird für uns aber sein, diesen 1955er-Gedanken weiterzutragen und zu erklären, warum dieses Datum in der Geschichte unseres Landes so ein wichtiger Ort ist. Also, vielleicht müssen wir weniger nach vergleichbaren Festen als nach Vermittlungssprachen suchen. ll Im Idealfall ist die TV-Dokumentation ein infektiöser Stoff, der möglichst viele Menschen ansteckt.

gh Zumindest hoffen wir das. Ich komme noch einmal zum Stolz: Es ist die Geschichte eines ehrlich gemeinten Stolzes, den man nur zeigen kann, wenn man die ganze Geschichte kennt und erzählt. Zwei Dinge waren uns wichtig: Das Aussprechen der Wahrheit und gleichzeitig eine Bewunderung dessen, was mit diesem Haus gelungen ist. Allein, dass Verdi

und Wagner in den 1870er-Jahren hier dirigiert haben, ist doch ein fantastischer Gedanke. Fast wie die Reliquie in einer Kirche: Irgendwo, denkt man sich, ist ihr Geist noch da. Auf der anderen Seite gibt es immer das ganz Aktuelle: Die Zauberflöte für Kinder, das vermittelt eine ganz direkte Seite einer Begeisterung. An diesen Scharnieren springt das Gefühl auf. Und tut seine Wirkung.

ll Wie aber feiert man einen Mythos, dessen Geheimnis ja auch im Unerklärbaren und

gh Also, wenn man sich in Österreich in einer Sache eigentlich nichts fragen muss, dann, wie man feiert. Ich glaube, die Staatsoper macht es auf ihre Art richtig. Mit Rückgriffen auf das, was groß ist und mit dem Erzählen dessen, was wirklich passiert ist. Und je weiter sie ihre Arme ausbreitet – wie etwa beim Opern Air im Burggarten –, desto mehr Leute werden sich verbunden und eingeladen fühlen. DIE

Übergroßen liegt? Wie bekommt man ihn in eine handlich erzählbare Form?

AKTUELLE PROJEKTE ZUM JAHRESTAG

Im Palast der Selbsterfindung

Wiederaufbau und Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper 1945–1955

AUSSTELLUNG

Im Balkonumgang ist zum Thema 1945 bis 1955 eine Ausstellung zu sehen, die den Besucherinnen und Besuchern der Wiener Staatsoper die Möglichkeit gibt, Aspekte dieses Jahrzehnts in Fotos und ausgestellten Objekten zu erfahren. Auch hier spannt sich die Erzählung von der Zerstörung des Hauses bis zur Wiedereröffnung; kurze Texte kontextualisieren das Gezeigte. Die Ausstellung ist vor den Vorstellungen und in den Pausen frei zugänglich.

BUCH

Anlässlich des 70. Jahrestags der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper erscheint im MoldenVerlag das Buch Im Palast der Selbsterfindung, das den Bogen von der Zerstörung des Hauses bis zum Opernfest 1955 spannt. Essays zu diesem Stück Zeitgeschichte sowie eine Vielzahl bisher selten gezeigter Fotografien erzählen das Jahrzehnt des Wiederaufbaus neu.

Erhältlich um € 35,– im Fachhandel, online sowie bei HAMTIL & SÖHNE in der Wiener Staatsoper

5. NOVEMBER 2025 bis zum OPERNBALL 2026

unten: Szene aus der Dokumentation

WIENER STAATSOPER –WELTBÜHNE FÜR ÖSTERREICH

DOKU

Die Dokumentation Wiener Staatsoper – Weltbühne für Österreich« (45 Min., Regie: Alexandra Venier, Buch: Gerald Heidegger und Alexandra Venier) stellt sich der Frage, warum ausgerechnet die Staatsoper für die Bildung der österreichischen Identität – über verschiedene politische Systeme hinweg – so prägend werden konnte. Wer Österreich verstehen will, darf mit dieser Doku ins Getriebe dieser Institution schauen, in der sich internationale Stars die Klinke in die Hand geben – und selbst oft verwundert sind, dass sich ein ganzes Land mit dieser Institution identifiziert.

Ausstrahlung am 5. NOVEMBER 2025 um 22.30 in ORF 2

»Wenn man die Wiener Staatsoper heute betritt, erlebt man einen lebendigen, vielfältigen Mikrokosmos – ein Haus, in dem man die Liebe zur Oper als Handwerk und Kunstform in jeder Ecke spürt. Mir war wichtig, diese Hingabe sichtbar und spürbar zu machen und zugleich zu zeigen, wie fragil diese zivilisatorische Errungenschaft ist.

Die Geschichte der Staatsoper erzählt immer auch die Geschichte Österreichs – von den dunklen Jahren zwischen 1938 und 1945 bis zum Neubeginn 1955. Mich interessiert, wie dieses Haus seine Schuld, seine Wunden und seinen Stolz in Klang verwandelt hat.

Der Film ist eine Spurensuche nach dem, was bleibt, wenn ein Land sich neu erfindet. Die Staatsoper ist für mich ein Ort, an dem Geschichte atmet und Gegenwart erklingt. Hinter der großen Bühne steckt nicht nur Tradition, sondern auch unbändige Lebenskraft und Neugier auf die Zukunft.«

OLIVER LÁNG

LIEBE, WAHN & TOD

GAETANO DONIZETTIS EINZIGARTIGE

LUCIA DI LAMMERMOOR IST WIEDER ZU ERLEBEN

SZENENFOTO

LUCIA DI LAMMERMOOR

Foto MICHAEL PÖHN

Für seine erste Oper brauchte er, in jungen Jahren, nur zwei Wochen. Ein Tempo, das ihm, dem Vielschreiber, auch später eignete. Wir sprechen über Gaetano Donizetti, dem dritten des Belcanto-Dreigestirns Rossini-Donizetti-Bellini. Schöpfer großer musikalischer Dramen, unvergänglicher Komödien, auch in Wien bejubelt, geehrt und niemals vergessen. Ein Zentralwerk seines breiten Schaffens kehrt nun an die Wiener Staatsoper zurück: Lucia di Lammermoor. Wiederaufgenommen und in den Hauptpartien neu besetzt.

Bergamo. Eine schmale Gasse, ein heute noch erhaltenes, unscheinbares Haus, Treppen hinunter ins ärmliche Souterrain. Dort unten, im Schatten, wird Donizetti geboren. Später erinnert er sich beklommen an die Kellertreppen und den tiefliegenden Wohnort, den »kein Schimmer des Lichts jemals traf«. Es ist Fortune, dass der Begabte auf den bayerischen Komponisten und Lehrer Simon Mayr stößt, der ihn selbstlos lehrt, fördert, unterstützt. Und es ist ebensolches Glück, dass Bergamo theater- und opernnarrisch ist, gleich zwei Häuser parallel Musiktheater spielen, der Blick in die Praxis also einfach ist.

DER WEG ZUR MUSIK

An einer Musikschule seiner Heimatstadt lernt er, zieht nach Bologna, schreibt frühe Werke. 1816 entsteht die bereits genannte erste Oper (die allerdings jahrhundertelang in einer Schublade ruht), zwei Jahre darauf wird erstmals eine Donizetti-Oper uraufgeführt – und das in Venedig, einem der Zentren der Oper. Der Weg zum Erfolg öffnet sich: Mantua, Rom, Neapel, Mailand; Musikdirektionen in Palermo und Neapel. Dann, 1830, gelingt der Wurf: Donizetti schreibt Anna Bolena und schafft den Durchbruch als Komponist. 1834 schließt er einen Vertrag über drei Opern mit dem königlichen Teatro San Carlo in Neapel. Das erste dieser Werke ist Lucia di Lammermoor. Ehrungen und private Katastrophen folgen: Paris liegt ihm zu Füßen, der französische

König ernennt ihn zum Ritter der Ehrenlegion; seine Frau Virginia und seine Kinder sterben in rascher Folge.

DER LIEBLING WIENS

Donizetti wendet sich Wien zu – und Wien Donizetti. Seine Linda di Chamounix wird am Kärntnertortheater uraufgeführt, Kaiser Ferdinand I. ernennt ihm zum Hofkapellmeister, der Komponist wird zum um-

GAETANO DONIZETTI

Shaw: »Opera is when a tenor and soprano want to make love, but are prevented from doing so by a baritone«, zu deutsch: »Oper ist, wenn ein Tenor und ein Sopran einander lieben wollen, aber von einem Bariton daran gehindert werden.« Deklinieren wir es also durch: Der Sopran, das ist Lucia, der Tenor Edgardo, der Bariton ihr Bruder Enrico. Lucia und Edgardo entstammen einander verfeindeten Familien, sie soll nach dem Wil-

LUCIA DI LAMMERMOOR

16. 19. 22. 25. NOVEMBER 2025 WIEDERAUFNAHME

Musikalische Leitung ROBERTO ABBADO Regie LAURENT PELLY

Bühne CHANTAL THOMAS Licht DUANE SCHULER

Mit MATTIA OLIVIERI / ADELA ZAHARIA / BEKHZOD DAVRONOV / HIROSHI AMAKO

ADAM PALKA / ISABEL SIGNORET / CARLOS OSUNA

schwärmten Liebling des Publikums. Dass er als »Amtsperson« eine opulente Uniform erhält, darüber erfreut er sich mit geradezu kindlichem Glück. Doch er hat nicht mehr viele Jahre zu leben: Innerhalb kurzer Zeit verfällt Donizetti dem (durch Syphilis ausgelösten?) Wahnsinn, wird in eine Nervenheilanstalt eingeliefert und schließlich als hoffnungsloser Fall in seine Geburtsstadt gebracht, in der er 1848 stirbt.

DAS MEISTERSTÜCK:

LUCIA DI LAMMERMOOR

Lucia di Lammermoor, entstanden in etwa sechs Wochen, gilt als eines der Schlüsselwerke der italienischen Romantik. Der Stoff freilich konnte beim damaligen Publikum als bekannt vorausgesetzt werden. Basierend auf Sir Walter Scotts Roman The Bride of Lammermoor war Donizettis Werk bei Weitem nicht die erste Oper, die die tragische Geschichte der Lucia erzählte. Zwar sind heute kaum jemandem jenseits des musikwissenschaftlichen Hörsaals die Vorgängeropern noch bekannt, doch zeigen sie, wie sehr das Sujet den Geschmack des damaligen Publikums traf. Und nicht nur dieses Sujet: Unterschiedliche Stoffe des Schotten Scott fanden Eingang in den damaligen Opernkanon, Rossini vertonte seine Romane ebenso wie Boieldieu oder Aubert. Was nun den Inhalt der Oper angeht, so kann dieser rasch erzählt werden. Und zwar mithilfe der pointierten OpernKurzbeschreibung von George Bernhard

len ihres Bruders den einflussreichen Lord Arturo heiraten. Ihre – erwiderte – Liebe gehört, wie könnte es anders sein: Edgardo. Als dieser verreist, muss das geheime Verhältnis über Briefe weitergeführt werden, was besonders in Opern bekanntlich hoch intrigengefährdet ist. Genau so passiert es auch. Lucia wird letztendlich mit Arturo vermählt, Enrico glaubt sich betrogen, im Wahn tötet sie in der Hochzeitsnacht ihren Ehemann und stirbt. – Wie auch Edgardo, der auf ein Wiedersehen im Jenseits hofft.

DER WAHNSINN AUF DER BÜHNE

Schon die ersten, bedrohlich und dumpf gehaltenen Takte der Oper versprechen das Unheil der kommenden Handlung. Schnell ist man im Bilde, dass es diesmal kein lieto fine, also ein glückliches Ende, geben wird. Zentralpunkt – und weit über die Grenzen des Stammpublikums bekannt – ist freilich die Wahnsinnsszene der Lucia. Eingeleitet wird diese durch die Erzählung von Lucias Vertrautem Raimondo, der entsetzt aus Richtung des Brautgemachs kommt. Dort habe er den ermordeten Arturo gesehen – und Lucia: im Wahn, die blutige Waffe noch haltend. Fassungslosigkeit macht sich breit, bevor ein seltsamer, ätherischer Klang über den Raum schwebt. Es ist die Glasharmonika, die die nun auftretende Lucia begleitet und mit ihr in einen Dialog tritt. Das Irrationale bahnt sich seinen Weg, Koloraturgirlanden und hohl-silbriger Instrumentenklang weisen über die fassliche Welt hinaus: fast

LISETTE OROPESA als LUCIA & PATRICIA NOLZ als ALISA
Fotos MICHAEL PÖHN
BENJAMIN BERNHEIM als EDGARDO & LISETTE OROPESA als LUCIA
LISETTE OROPESA als LUCIA

braucht es keine Worte mehr, um die Entrücktheit zu zeigen. Fast eine Viertelstunde lang beherrscht Lucia nun die Bühne, meint, bei ihrem Geliebten Edgardo zu sein, und mit ihm in der Kirche zur Trauung. Den Anwesenden stockt der Atem: Weniger der Mord ist es, der entsetzt, als die Beklagenswerte selbst, der in ihrer Not, unterdrückt und gepeinigt, keine andere Freiheit mehr blieb als der rettungslose Weg in den Wahn. Was Donizetti hier in Musik gegossen hat, ist Psychogramm und Theatereffekt, Gesellschaftskritik und Rührstück in einem. Vor allem aber: ein sängerisches Bravourstück. Und gibt es Opern-Aficionados, die bei einem langgezogenen Wagner’schen Wälse-Ruf oder aber bei einer finalen Mimì-Verzweiflung Rodolfos Gänsehaut bekommen, so schwört eine große Gruppe Belcanto-Fans auf genau diese, unvergängliche Wahnsinnsszene. Kein Wunder also, dass immer wieder auch in Hollywood –wie etwa in Luc Bessons Das fünfte Element oder in Das Haus der Lady Alquist mit Ingrid Bergman – Lucia di Lammermoor zitiert wird.

NACHWELT

Es war das Schicksal der Belcanto-Meister, schnell in Vergessenheit zu geraten. Wenn auch nicht ganz. Rossinis Barbier von Sevilla hielt sich als Evergreen ebenso am Spielplan wie eben Donizettis Lucia di Lammermoor Besonders auch in Wien, in der Donizetti –wie erwähnt – einen besonderen Herzensplatz besaß, nicht umsonst ätzte Richard Wagner von Wien als »Donizetti-Stadt«. Nachdem hier die Oper nur zwei Jahre nach der Uraufführung in Neapel im Kärntnertortheater erschien (als erste außeritalienische Station), folgten bald andere Spielorte wie Theater an der Wien, Harmonietheater, Colosseumtheater, Carltheater, Strampfertheater und Ringtheater. Ja, auch die neue Hofoper – die heutige Staatsoper – fehlte nicht. Nicht einmal ein Jahr nach der Eröffnung 1869 spielte man das Werk bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts regelmäßig, dann fallweise und ab den späten 1970erJahren wieder äußerst regelmäßig.

STERNSTUNDEN MIT CALLAS … UND MIT GRUBEROVA Ja, Lucia di Lammermoor ist zuallererst auch eine Sänger(innen)-Oper. Das war schon bei der Uraufführung so, als Fanny Tacchinardi-Persiani (eine spätere Wiener Hofopern-Kammersängerin!) in der Titelpartie brillierte und so viel Einfluss besaß, dass

die erste Arie der Lucia (»Regnava nel silenzio«) auf ihren Wunsch hin gegen eine ältere (Donizetti-)Arie ersetzt wurde. Die LuciaPartie war ein Mythos, als Bianca Bianchi sie an der Wiener Oper 35-mal sang, als Selma Kurz, Adelina Patti, Anna Netrebko, Lisette Oropesa oder Diana Damrau sie hier sangen. Und besonders auch, als Edita Gruberova 89-mal in der Rolle auf der Bühne stand – die mit Abstand zahlenmäßig führende Wiener Lucia. In die Operngeschichte sind natürlich auch jene drei Lucia-Abende eingegangen, die Maria Callas’ einzige Staatsopern-Auftritte waren: ein Gastspiel der Mailänder Scala, 1956, mit Herbert von Karajan als Dirigenten.

DIE AKTUELLE PRODUKTION

2019 kam die aktuelle Produktion an der Wiener Staatsoper heraus, Laurent Pelly inszenierte. In klaren Farben gehalten, orientierte er sich in seiner Konzeption unter anderem an Jean Epsteins Stummfilm-Klassiker La Chute de la maison Usher (Der Untergang des Hauses Usher nach Edgar Allen Poe): Man erlebt ein Changieren zwischen einer realen und einer surrealen Welt, zwischen Alptraum und Tragödie. »Die Musik der Lucia di Lammermoor verbreitet immer wieder verhangene, zwischen Licht und Dunkel wechselnde Stimmungen – wie dieser Film. Es bleibt so vieles in Schwebe: Was passiert tatsächlich und was ist nur ein übersteuertes Fantasieprodukt der Figuren? Handelt es sich um einen Alptraum, und wenn ja, um einen Alptraum Lucias oder um einen Alptraum Enricos?«, so Pelly. Einen besonderen Schwerpunkt setzt Pelly auf die psychische Zerrüttetheit Lucias, die nicht nur durch das Hochzeitstrauma ausgelöst wird, sondern ein Familienzug zu sein scheint – auch Enrico leidet an einer seelischen Instabilität. Doch es geht auch um eine Instrumentalisierung der jungen Frau, die ihrer Familie »nützen« soll. Pelly: »Lucia ist für mich auf keinen Fall die hübsche Naive, sondern eine eigenartige, ungeliebte junge Frau, die von der Allgemeinheit weggesperrt, nur aus machtstrategischen und wirtschaftlichen Überlegungen heraus von ihrem Bruder hervorgeholt wird.« Gesungen wird die Unglückliche von Adela Zaharia (siehe Interview Seite 14), eine Sängerin, die Ende Oktober als Donna Anna in Don Giovanni ihr Staatsopern-Hausdebüt gab. Bekhzod Davronov (Edgardo) ist erstmals in dieser Rolle im Haus am Ring zu erleben, Mattia Olivieri singt den Enrico.

ADELA ZAHARIA als LUCIA in LUCIA DI LAMMERMOOR an der DEUTSCHEN OPER BERLIN
Foto BETTINA STÖSS

MAXIMUM AN GEFÜHL

Aufrichtigkeit über alles. Dieses Gefühl bekommt man, wenn die Sopranistin Adela Zaharia über Oper, Musik, Rollen und ihr Leben als Sängerin spricht. Mit Begeisterung und Verve, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit gibt sie Einblicke in eine Karriere, die sie nun auch an die Wiener Staatsoper gebracht hat. Und beschreibt im Gespräch mit Oliver Láng ebenso die Herausforderungen, die sich einer Sängerin heute stellen.

ol Sie stehen auf der Bühne, alle schauen Sie an. Die letzten Sekunden vor dem ersten Ton: Was schießt Ihnen durch den Kopf?

az Beruhige dich. Beruhige dich. Beruhige dich. Atme tief. Positioniere den Klang. Vergegenwärtige dir, wie der erste Ton klingen soll. Und jetzt los! ol Sie kamen aus keinem musikalischen Elternhaus, betraten als Sängerin also Neuland und mussten sich den Weg an die Spitze ohne Hilfe erkämpfen. In einem Interview sprachen Sie von einer gewissen Sturheit, die Ihnen half.

az Nennen wir es lieber Beständigkeit. Wissen Sie, ich war kein Naturtalent, nie. Ich musste mit

aller Kraft um jeden Schritt kämpfen, gerade auch als Sängerin. Anfangs war ich ganz verloren: Im damaligen Rumänien wusste ich kaum, was außerhalb meiner Heimat passiert, kannte niemanden aus dem Operngeschäft, hatte keine Verbindungen, keine Agentur, wurde unterschätzt. Übrigens: Auch von mir selbst. Und ich hatte extremes Lampenfieber, geradezu Auftrittspanik. Mit anderen Worten: Ich war definitiv nicht die Person, von der die anderen dachten, dass sie eine internationale Karriere machen wird. Also musste ich mir ein dickes Fell zulegen. Ich musste lernen, mit Ablehnung umzugehen. Damit umzugehen, dass mir Leute sagten, ich sei nicht die Richtige für dieses oder jenes. Daher versicherte ich

mir immer und immer wieder: Es wird besser werden! Es wird besser werden! Das meine ich mit Beständigkeit. Die Überwindung von Schwierigkeiten. Tagtäglich. Bis es tatsächlich besser wird. Aber dieser herausfordernde Prozess hat einen großen Vorteil: Ich nehme nie als selbstverständlich hin, was ich erreicht habe und wo ich jetzt stehe. Es fühlt sich alles etwas surreal an, und ich schätze alles Gute, das mir begegnet.

ol Würde die heutige Sängerin Zaharia die damalige Studentin Adela treffen und sie hätte einen Ratschlag gut, wie würde dieser lauten? az Ich würde sagen: Mach weiter, gib nicht auf, versuch es weiter. Es lohnt sich! Ach, vieles wäre viel einfacher gewesen, wenn mir das jemand gesagt hätte. Wenn ich gehört hätte: Du bist stark genug, du kannst das alles überwinden. Sei einfach du selbst, und alles wird sich zum Guten wenden. Wichtig wäre auch gewesen, hätte ich gewusst, wie lange dieser Prozess dauern kann.

ol Auf halbem Weg zur internationalen Karriere waren Sie im Opernstudio der Komischen Oper in Berlin. Dort sangen Sie in sehr jungen Jahren die Pamina in der Zauberflöte. War Ihnen bewusst, wie wichtig ein solches Debüt sein kann? Oder waren Sie einfach nur eine junge, zielstrebige Sängerin?

az Ich glaube, ein großer Teil meines Glücks bestand immer wieder darin, dass ich mir nicht bewusst war, wie entscheidend eine Gelegenheit gerade ist. (lacht) Hätte ich es verstanden, wäre ich noch viel gestresster gewesen. Vielleicht versuchte ich daher immer wieder, ein wenig ahnungslos zu bleiben, um mit dem Druck besser umgehen zu können. Als ich zum Beispiel mein Debüt in Paris hatte, fragte mich jemand: »Hast du keine Angst? Das ist das größte Haus, in dem du bisher gesungen hast!« Und bevor er weiterreden konnte und mir sagen konnte, wie viele Plätze das Opernhaus hat, stoppte ich ihn: »Ich will es gar nicht wissen! Ich will nur rausgehen und mein Bestes geben!« Und zur Komischen Oper: Ich denke, die Direktion hat erkannt, dass ich mit allem, das auf mich zukommt, gut umgehen kann. Sonst hätte ich die Pamina, mit der wir um die Welt getourt sind, ja niemals bekommen. ol 2017 gewannen Sie den Operalia-Wettbewerb, danach ging es mit Ihrer Karriere sehr schnell aufwärts. Mochten Sie diese Geschwindigkeit?

az Ich habe gar nicht so richtig realisiert, was passiert ist und wie schnell sich plötzlich die Dinge entwickeln. Mein Leben und meine Laufbahn beschleunigten auf ein Tempo, das ich bis dahin nicht gewohnt war. Damit verbunden war ein enormer Druck, ebenso enorme Anforderungen und Herausforderungen. Und ich mittendrin, das alles nur am Rande wahrnehmend. Ich muss sagen, dass ich irgendwann kurz vor einem Burnout stand und un-

ter dem Druck zusammenzubrechen drohte. Dann folgte die Pandemie und damit ein erzwungenes Abbremsen. Diese Zeit hat mir die Augen geöffnet und mich daran erinnert, dass ich ein Mensch und keine Maschine bin, meine Grenzen habe und mich nicht auf Dauer überfordern darf. Und diese Phase hat mich daran erinnert, was ich im Leben wirklich brauche und was wichtig ist. Als die Arbeit wieder losging, hatte ich eine gänzlich neue Einstellung –und diese hilft mir heute sehr.

ol Dann ganz konkret: Was ist wirklich wichtig im Leben?

az Ich kann das natürlich nur für mich beantworten, und es klingt jetzt banal, aber: das Glücklichsein. Und um das zu erreichen, braucht es das richtige Verhältnis zwischen Arbeit und Privatleben, zwischen den Zeiten, in denen ich beschäftigt bin und jenen, die ich frei habe. Ich muss unterscheiden können zwischen dem Druck, dem ich gut standhalten kann und jenem, der zu viel wird. Das sind Dinge, auf die ich zu achten gelernt habe – und ich lerne es immer noch. Letztlich geht es darum, wie ich mit meiner Stimme und meiner Gesundheit umgehe, auch, damit ich auf der Bühne mehr als hundert Prozent geben kann. Denn nur dann macht mir der Beruf als Sängerin Spaß. Es gibt das schöne englische Sprichwort »You can’t pour from an empty cup«. Ich muss also darauf achten, dass meine Tasse niemals leer wird.

ol Die Arbeit als Sängerin bringt es mit sich, dass es nicht nur Druck gibt, sondern auch strenge Spielregeln. Am Abend vor einem Auftritt nicht lang ausgehen, viel schlafen, gut essen, Vorsicht vor Klimaanlagen und vieles mehr. Das klingt vielleicht gar nicht so kompliziert, doch der Teufel lauert im Detail. Zum Beispiel: Manche geradezu unschuldig wirkende Speisen schaden der Stimme, dehydrieren, sind zu scharf oder verkleben. Nüsse zum Beispiel können Öle enthalten, die sich ungünstig auf die Stimmbänder auswirken. Gewöhnt man sich an all das?

az Ich könnte weder behaupten, mich daran gewöhnt zu haben, noch, dass es mir besonderen Spaß macht. Dieser disziplinierte Teil meines Lebens fällt mir schwer, weil es um ein ständiges Organisieren und Managen geht. Ich habe zwei Seelen in meiner Brust. Die eine ist perfektionistisch und auch ehrgeizig. Die andere träumt von einem sorgenfreien Leben am Meer. (lacht) Es ist tatsächlich so: Ich muss mich rund um eine Vorstellungsserie an einen strikten Schlaf- und Ernährungsplan halten. Ein romantisiertes Bohème-Leben ist oft nicht möglich. Wobei, es geht wieder um die richtige Balance! Ich habe mir immer vorgenommen, keine neurotische Sängerin zu werden. Also: Solange ich nicht unmittelbar vor einer Vorstellung stehe, kümmere ich mich nicht um

»Ich glaube sehr stark an einen Austausch von Energien, und tatsächlich spüre ich das immer wieder. Ich gebe – und erhalte.«

ADELA ZAHARIA Foto OANA VEDINAȘ

Zu seinem 71. Geburtstag erhielt Johann Strauss seinen persönlichen Bösendorfer – ein Instrument von zeitlosem Schwung und unvergleichlicher Eleganz. Zum 200. Geburtstag des Walzerkönigs erstrahlt dieses ikonische Strauss-Design in vollendeter Modernität –handgefertigt für Generationen, die nur das Außergewöhnliche suchen.

Vereinbaren Sie jetzt Ihr persönliches Probespiel im Bösendorfer Salon Wien: salon@boesendorfer.com

Klimaanlagen und freue mich, wenn in einem Cocktail Eiswürfel schwimmen, und esse, worauf ich Lust habe. Ich will nämlich in keiner Blase leben. ol Das waren einige der herausfordernden Seiten des Sängerinnenlebens. Nun aber zu den glücklichen: Warum machen Sie das alles? Weil der Schlussapplaus Sie berauscht? Weil keine, die es nicht probiert hat, sich vorstellen kann, wie erfüllt man auf einer Bühne sein kann? az Nein, nein! Für mich ist das Publikum der wichtigste Teil. Dieser kleine Masochismus, den ich eben beschrieben habe, der kommt für mich nur infrage, weil an guten Abenden etwas zwischen uns Sängerinnen und den Zuschauern entsteht. Ich glaube sehr stark an einen Austausch von Energien, und tatsächlich spüre ich das immer wieder. Ich gebe – und erhalte. Wäre ich in Bestform und vom Publikum käme aber nichts – was hätte das für einen Sinn? Zu wissen, dass auf der anderen Seite Leute sitzen, die eine Aufführung erleben und sich mitreißen lassen, ist sehr, sehr bereichernd. Und ein Zweites: Die Erfahrungen, die ich mit Kolleginnen und Kollegen auf der Bühne machen darf, sind immer wieder einzigartig. Wir erleben Augenblicke der Verbundenheit und emotionaler Höhenflüge, die manche Menschen vielleicht nie genießen dürfen. Diese tiefste Trauer, dieses höchste Glück, die komprimierten Gefühle, die auf der Bühne ausgelebt werden, sind einzigartig. Und wir bekommen das nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder.

ol Reift man dadurch als Mensch schneller?

az Sagen wir es so: Ich bin heute nicht mehr der Mensch, der ich war, bevor ich die Bühne betrat. Denn die Zeit, die ich mit und in den von mir verkörperten Figuren verbringe, verändert mich radikal. Ich bin gezwungen, über sie nachzudenken. Über ihre Psyche, über ihre Beweggründe, ihr Handeln. Ich durchlebe ihr Dasein und mache daher Erfahrungen, die ich mir nie hätte vorstellen können. Ja, man lernt viel.

ol Was uns zum Thema Lucia di Lammermoor führt: Was haben Sie von Lucia gelernt?

az Für mich ist Lucia eine unglaublich wichtige Partie, weil sie mir viel über die Wahrheit auf der Bühne beigebracht hat. Lucia kämpft im Laufe der Oper mit enormem Druck, seitens ihres Bruders, seitens der Gesellschaft. Mehr noch, sie glaubt, dass ihr Geliebter, Edgardo, sie verlassen hat. All diese Gedanken bombardieren sie. Die ganze Zeit. Man sieht förmlich, wie sie immer kleiner wird, zusammenbricht – und dem Wahnsinn verfällt. Das ist furchtbar! Aber sie verlässt durch den Wahn die Realität und entzieht sich den

»Für mich ist Lucia eine unglaublich wichtige Partie, weil sie mir viel über die Wahrheit auf der Bühne beigebracht hat.«

Normen. Fast ist es so etwas wie ein Moment der Befreiung. Wohlgemerkt: Eine schreckliche, blutige Befreiung, die ihr aber einen inneren Frieden bringt. Das ist natürlich absurd! Denn sie ist ja im Wahn, tötet und stirbt… Durch das Singen und Spielen dieses Parts, vor allem des Wahnsinns, habe ich aber gelernt, mich auf der Bühne ganz verletzlich geben zu können, »nackt« und schutzlos zu sein und alle Oberflächlichkeiten abzustreifen. Ich versuche, nicht etwas darzustellen, sondern nur zu sein, ohne Zwänge. Es ist schwer zu erklären und wenn man darüber spricht, klingt es so paradox. ol Wie aber geht es Ihnen nach einer Lucia oder nach jeder anderen Vorstellung? Pures Glück? Erschöpfung?

az Ich fühle mich mehr leer als glücklich. Natürlich, die Menschen um mich herum, die sind nach einer gelungenen Vorstellung glücklich. Und ich bin auch froh über die gesamte Situation. Das ist schon klar. Aber wenn ich tief in eine Rolle eintauche, dann bleibt nach dem Auftritt ein Gefühl der… ich kann es nicht anders sagen, als: der Leere. Und ich brauche doch ein bisschen Zeit, bis ich wieder in unserer Welt bin.

ol Sie singen immer wieder Rollen sterbender Frauen. Wie geht es Ihnen am Tag nach einem Bühnentod? Fühlen Sie sich als Re -

aktion besonders lebendig? Oder nimmt einen dieses Bühnensterben mit?

az Mich nimmt es mit. Gerade bei einer Rolle wie Lucia oder Violetta in La traviata, wenn der Tod von Anfang an mitschwingt. Das hat eine große emotionale Wirkung auf mich, und am Tag danach muss ich erst wieder Kraft tanken. Ich bin dann eher daheim, lese, regeneriere. Ich kann nicht einfach umschalten zwischen einer Verzweifelten, einer Sterbenden und einem fröhlichen Privatleben mit Freunden, Feiern und geselligen Abenden.

ol Weil Sie das Lesen angesprochen haben. Ihre aktuellen Bücher?

az Zwei Autobiografien. Jene von der großen Sopranistin Virginia Zeani und zuletzt jene von Matthew Perry. Ich bin ein großer Friends -Fan und mochte seine Serienfigur immer sehr. Und ich finde es auch ungemein bewegend, seine echte Lebenswelt kennenlernen zu können. Wie ich an sich an allem, was das Leben und die Kunst bieten, interessiert bin. Denn alles, jeder Museumsbesuch, jedes Buch, jeder Mensch, den wir treffen, hinterlässt Spuren. Und all das formt mich. Und auch meine Kunst.

ol Letzte Frage: Warum Friends? Weil es dort eine geradezu wohlige Art Großfamilie gibt, die Geborgenheit vermittelt?

az Als Studentin war die Serie für mich eine gute Möglichkeit, mein Englisch zu perfektionieren. Und das Leben dieser Freunde spiegelte auch mein Leben als Studentin wider. Und später, heute… Oft, wenn ich allein bin, die Koffer packe, eine Wohnung aufräume und Wäsche wasche, laufen Serien wie Friends oder Big Bang Theory im Hintergrund. Es ist genau, wie Sie sagen: Der Lebensstil als Sängerin ist ein einsamer. Reisen, Hotelzimmer, viel unterwegs. Da braucht man ein Gefühl der Vertrautheit, und genau das stellen solche Serien her. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen machen dasselbe. Man fühlt sich dann ein bisschen geborgener, ein bisschen mehr zu Hause.

FANTASTISCHES SEHNEN

MAN MÜSSTE MEINEN, DASS 337 JAHRE LEBEN GENÜGEN SOLLTEN.

337 Jahre – das ist ausreichend Zeit, um alle

Länder der Welt zu bereisen, jedes Buch der Welt zu lesen oder jedes Musikstück zu hören. 337 Jahre – das bedeutet auch, alle Freunde, Partner, Liebhaber sterben zu sehen, alle Kinder und Enkelkinder zu überleben. 337 Jahre – das bedeutet im wahrsten

Sinne: einsam sein. Nichtsdestotrotz, der Emilia Marty genügt es nicht. Sie beginnt zu altern und will nun noch mehr: nochmal dreihundert Jahre und vielleicht darüber hinaus noch länger.

Dafür braucht sie allerdings diese Sache: die Sache Makropulos.

Leoš Janáčeks vorletzte Oper Věc Makropulos liest sich wie ein Kriminalfall: Die Familien Prus und Gregor stehen seit fast hundert Jahren im Erbschaftsstreit. Nach dem Tod des Joseph Ferdinand (Pepi) Prus (1827) ging dessen Besitz an seinen Cousin über und liegt bis heute bei der Familie Prus. Er soll allerdings einen unehelichen Sohn namens Ferdinand Gregor gehabt haben, der gleich nach Prus’ Tod Anspruch auf einen Teil des Erbes erhob. Da weder ein Testament noch sonst irgendein rechtlich gültiger Nachweis für den Erbanspruch vorgelegt werden konnte, blieben die Nachfahren Gregors bis heute erfolglos. So auch Albert Gregor, der zu Beginn der Oper im Begriff ist, den Prozess endgültig zu verlieren, bis unerwartet die Sängerin Emilia Marty im Anwaltsbüro erscheint. Diese spricht über den bereits verstorbenen Pepi in ungewöhnlich vertrauter Weise und scheint, zur Überraschung der Anwesenden, viele intime Details über ihn zu wissen: In

einem alten Eichenschrank im Hause der Prus’ befände sich das Testament Pepis, in dem ein Teil des Erbes Ferdinand Gregor schriftlich zugesichert ist, sowie intime Briefe von Pepis einstiger Geliebten Ellian MacGregor. Albert Gregor entbrennt sogleich in Liebe zu Marty, sie jedoch weist ihn schroff ab. An ihm und dem Prozess hat sie kein Interesse, sie will lediglich ein gewisses griechisches Dokument, das ebenfalls dem Testament beiliegt und welchem sie verbissen hinterher jagt. Das Testament wird tatsächlich samt Dokumenten in besagtem Schrank aufgefunden und befindet sich damit im Besitz des jetzigen Erben Jaroslav Prus. Dieser will es jedoch vorerst nicht hergeben. Emilia Marty nutzt daraufhin die Zuneigung von Prus’ Sohn Janek aus und bittet ihn, das Dokument zu stehlen. Er scheitert jedoch und bringt sich aus verzweifelter Liebe zu Marty daraufhin um. Letztendlich erlangt Emilia Marty das Dokument, indem sie mit Jaroslav Prus im Gegenzug dafür eine

Liebesnacht verbringt. Noch bevor sie »die Sache« nutzen kann, wird sie von Albert Gregor, dessen Anwalt Kolenáty und Anwaltsgehilfe Vítek, der jungen Sängerin Krista, die Marty groß verehrt, und Jaroslav Prus bedrängt, endlich die Wahrheit über ihre Beteiligung in der Erbsache preiszugeben. In ihrer Verzweiflung erzählt sie ihre Geschichte: Einst erschuf ihr Vater, Hieronymus Makropulos, für Kaiser Rudolf II. ein Mittel, welches das Leben um dreihundert Jahre verlängern sollte. Er wurde gezwungen, es an seiner 16-jährigen Tochter auszuprobieren, die seitdem am Leben ist. Emilia Martys ursprünglicher Name ist Elina Makropulos. Als Ellian MacGregor war sie die Geliebte des Pepi Prus, mit dem sie den Sohn Ferdinand zeugte und dem sie damals die Sache anvertraute. Nun beginne sie zu altern und benötige das Mittel deshalb erneut.

So lässt sich denn sehr knapp die durchaus etwas komplizierte und verwundene Handlung der Oper zusam-

Foto MICHAEL PÖHN

menfassen – ein Krimi im rechtlichen Dickicht eines Erbschaftsstreits. Aber Emilia Martys Geschichte muss man eigentlich ganz anders erzählen: Es war einmal ein junges, unschuldiges Mädchen, das von ihrem eigenen Vater als Testobjekt für ein unerprobtes und potenziell gefährliches Mittel missbraucht wurde. Sie überlebt nicht nur den Test, das Mittel wirkt: Ihr Leben verlängert sich um dreihundert Jahre. Sie wird eine erfolgreiche Sängerin; schön, von allen begehrt, mit einer Karriere, die niemals enden wird. Etliche Liebhaber, Kinder und Enkelkinder lässt sie im Laufe ihres Lebens hinter sich. Der Tod, wenngleich auch nie eine Gefahr für sie selbst, ist ihr ständiger Begleiter. So wird sie kaltherzig und hart, verliert jegliches Mitgefühl und jegliche Sehnsucht. Als sie dann doch zu altern beginnt, bekommt sie Angst. Angst vor dem Verlust ihrer Schönheit, Angst vor dem Verlust ihrer Stimme, Angst vor dem Tod. Also setzt sie alles daran, die Sache Makropulos zurück-

zubekommen.

»Ich bin bösartig, weil ich
unglücklich bin.«

Es war diese Figur, die Leoš Janáček faszinierte, als er das gleichnamige Schauspiel von Karel Čapek 1922 im renommierten Prager Theater in den Weinbergen sah. Sogleich berichtete er seiner Geliebten und Muse Kamila Stösslová von dem Gesehenen: »In Prag wurde jetzt Makropulos gegeben. 337 Jahre alt, aber dabei immer jung und schön. Möchten Sie das auch? Und wissen Sie, dass sie unglücklich war? Wir sind glücklich, weil wir wissen, dass unser Leben nicht lang ist. Deshalb

muss man jeden Augenblick nutzen, ihn richtig ausleben. Lauter Eile gibt es in unserem Leben – und Sehnsucht. Die letzte ist mein Schicksal. Die Frau – die 337-jährige hatte kein Herz mehr. Das ist schlimm.«

Mit der Erzählung um Marty knüpft Karel Čapeks Schauspiel an eine Tradition literarischer Genres an, deren Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und die bis heute so viel Faszination auslösen, dass in einer unendlichen Massenproduktion Bücher und Filme, Comics und Videospiele sich diesen aufs Neue annehmen: der englischen, romantischen Schauerliteratur sowie den Science-Fiction-Romanen des 19. Jahrhunderts. In den verschiedensten Gestalten begegnet uns Emilia Marty im Laufe der Jahrhunderte immer wieder. In Bram Stokers Dracula wird sie zum berühmtesten unsterblichen Wesen der Literaturgeschichte: dem Vampir – immerwährend schön und jung, mystisch und verführerisch, eiskalt und herzlos. Wir finden

CARLOS OSUNA als JANEK PRUS & MARGARITA GRITSKOVA als KRISTA in VĚC MAKROPULOS
KS WOLFGANG BANKL als DR. KOLENÁTY & LAURA AIKIN als EMILIA MARTY in VĚC MAKROPULOS Foto MICHAEL PÖHN

sie wieder in der Gräfin Elisabeth Báthory, die im frühen 17. Jahrhundert der Folter und des Mordes mehrerer junger Frauen beschuldigt wurde. In der darauffolgenden Legendenbildung wurde sie bezichtigt, zur Verjüngung in dem Blut ihrer Opfer gebadet zu haben – es scheint naheliegend, dass sie hierdurch ihren Beinamen »Blutgräfin« erlangte –und wurde dadurch zur Inspirations-

tor der tschechischen Literatur, ohne Zweifel so nachhaltig prägte wie auch Jules Verne, Aldous Huxley und George Orwell. Unser heutiger Begriff Roboter wurde erstmals in Čapeks Roman R.U.R. (Rossumovi Univerzálni Roboti; engl.: Rossum’s Universal Robots) verwendet, wobei die Urheberschaft auf Karels Bruder Josef Čapek zurückgeht. Das Wort Roboter entlehnte dieser

LEOŠ JANÁČEK

zur Figur der Emilia Marty dann doch nicht verkneifen: »Es ist fast zu viel für eine einzelne Rolle und einen einzelnen Menschen: Man denke sich etwa, dass eine prachtvolle Pantherkatze auf der Bühne herumspaziert, die außerdem noch phosphoresziert, Raketen niest und nach hunderttausend Tuberkulosen riecht…«

Letztendlich ist Marty nicht

VĚC MAKROPULOS

30. NOVEMBER 3. 6. DEZEMBER 2025

Musikalische Leitung TOMÁŠ HANUS Inszenierung PETER STEIN

Bühnenbild FERDINAND WÖGERBAUER Kostüme ANNAMARIA HEINREICH

Licht JOACHIM BARTH Maske CÉCILE KRETSCHMAR

Mit MARLIS PETERSEN / PAVEL ČERNOCH / LUKAS SCHMIDT / ALMA NEUHAUS

KS BO SKOVHUS / CARLOS OSUNA / KS WOLFGANG BANKL / MARCUS PELZ / TERESA SALES REBORDÃO

MATTHÄUS SCHMIDLECHNER / ANITA MONSERRAT

quelle für Horror- und Schauerfiguren (auch dem Vampir) bis in die heutige Populärkultur. Vielleicht noch viel deutlicher erkennen wir ihre Züge in dem legendären Monster von Dr. Frankenstein (Mary Shelley war 19 Jahre alt, als sie ihren weltberühmten Roman schrieb!). Gleichsam Opfer eines wissenschaftlichen Experiments, jedoch umhüllt in den mythologischen Wurzeln der Alchemie, durchstreift Frankensteins Monster einsam die Welt auf der Suche nach Liebe und Menschlichkeit. Des Monsters markanter Satz »Ich bin bösartig, weil ich unglücklich bin« ließe sich wohl ebenso gut auf Marty übertragen und wäre sicherlich auch im Sinne von Janáčeks Interpretation der Figur. Nur zu gern bezeichnete er sie als die »Eisige« und schrieb nichtsdestotrotz nach Abschluss der Komposition 1925 an Kamila: »Mit der Sache Makropulos bin ich fertig. Die arme dreihundertjährige Schönheit! Die Menschen hielten sie für eine Diebin, eine Lügnerin, für ein gefühlloses Tier. Sie schimpften sie eine Bestie, eine Canaille, sie wollten sie würgen – und ihre Schuld? Dass sie lange leben musste. Ich hatte Mitleid mit ihr.«

Ebenso deutlich sind die Wurzeln der Emilia Marty im Science-FictionGenre zu erkennen, dessen utopische und v.a. dystopische Landschaften Karel Čapek, bis heute ein zentraler Au-

vermutlich aus dem westslawischen »robota«, was so viel bedeutet wie (Fron-)Arbeit. Das »Rossumovi« im Stücktitel ist eine ironische Anspielung auf das tschechische Wort »rozum« (Vernunft oder Verstand) und wurde im Deutschen als »Werstand« übersetzt. Zwei Jahre vor Věc Makropulos entstand dieses Drama, in dem künstliche Menschen (heute würde man sagen: Androiden) als billige und rechtlose Arbeiter verwendet werden, die sich letztendlich gegen ihre Schöpfer wenden und die Menschheit vernichten. Die Beliebtheit der Werke Čapeks sowie die Parallelen zwischen den beiden Dramen hielt einst Egon Friedell in einem Kommentar zu Věc Makropulos fest: »So ist das schon einmal bei uns: Erst kümmert sich um einen Autor kein Mensch; und dann gibt es auf einmal gleich eine Čapek-Woche, einen ČapekRummel, alle Direktoren hamstern fieberhaft Čapeks. Was wenigstens diese beiden Stücke anlangt, so sind sie Doubletten, ganz ähnlich gebaut und geführt: beide Male eine umwälzende biologisch-chemische Erfindung, diesmal die Kunst, dreihundert Jahre alt zu werden. Beide Male wird die These aufgestellt, dass die Natur mit sich keine Schiebungen gestattet, dass sie sich für jede Vergewaltigung heimlich rächt.« Am Ende kann sich Friedell einen beißenden Kommentar

wirklich ein Vampir, auch kein Monster und keine Maschine, wie wir sie aus der fantastischen Literatur kennen. Aber gleichzeitig steht die Frage nach ihrer Menschlichkeit und der Sinnhaftigkeit eines menschlichen Lebens wie in blinkender Leuchtschrift über der Oper. Das Übernatürliche und das Menschliche – wie zwei opponierende Kräfte zerren sie in dem Werk aneinander. So erklärt sich denn auch Emilia Martys letztliche Kehrtwende, die Sache aufzugeben und den Tod freiwillig zu wählen: Am Ende der Oper kehrt sie zu ihrer Menschlichkeit zurück. Sie erkennt, dass ihr Leben, abgestumpft am unendlichen Fluss der Zeit, ohne Liebe und Sehnsucht keinen Sinn mehr hat, dass sie in der Unendlichkeit nur unglücklich sein kann. So liest sich Janáčeks Oper, wie so vieles der dystopischen Literatur, auch als eine Warnung vor einer gottgleichen Macht der Menschen. Der Prometheus’sche Funken, der Drang zu Erkenntnis, Macht und Wissen stürzt uns letztendlich ins Verderben. Nichtsdestotrotz wird sich die Welt weiterentwickeln und vielleicht spielt die Frage nach dem unendlichen Leben schon heute eine viel größere Rolle, als wir wahrhaben wollen. In meinen Gedanken hallt nun jedenfalls Jules Verne nach: »Alles, was ein Mensch sich vorstellen kann, werden andere Menschen verwirklichen.«

MARLIS PETERSEN Foto YIORGOS MAVROPOULOS

DIE SCHWESTER DER MARSCHALLIN?

Wenn Marlis Petersen die Bühne betritt, weiß man eines schon im Vorhinein: dass nun echtes Musik theater vom Feinsten folgen wird. Vokal und schauspielerisch gleichermaßen berückend, kreiert Petersen ungemein vielschichtige Rollenporträts, mit denen sie erstens Standards setzt und die zweitens Opernliebhaber ein Leben lang nicht mehr loslassen. Entsprechend groß ist auch die Vorfreude auf ihre Emilia Marty in Janáčeks Věc Makropulos. Denn wer, wenn nicht Petersen, ist die derzeit ideale Besetzung für diese überaus komplexe, rätselhafte, von allen umschwärmte Sängerin, die über eines der unfassbarsten Geheimnisse der Menschheit verfügt? Das folgende Gespräch mit der gefeierten Sopranistin führte Andreas Láng.

al Auf die Frage, ob ein unendliches diesseitiges Leben erstrebenswert wäre, werden die meisten Menschen mit »Nein« antworten. Aber wie sieht es diesbezüglich im Falle einer Künstlerin aus? Man könnte ins Treffen führen, dass es zumindest für die Allgemeinheit ein Segen wäre, wenn sie mit ihrem Wirken wenigstens ein paar Jahrhunderte lang andere beglückte. Würde Sie

dieser Gedanke dazu verlocken, das Rezept für die Unsterblichkeit wenigstens ein paar Generationen lang anzuwenden?

mp Eine große Frage, das stimmt, aber auch als Künstlerin antworte ich mit »Nein«. Natürlich hat die Vorstellung, unendlich zu leben, unendlich lange meinen Beruf als Sängerin auszuüben, auf den ersten Blick etwas Berauschendes. Aber bei näherem Hinsehen merkt man, dass sich au-

genblicklich Fragen auftun. Da sich jeder Mensch und auch jeder Künstler laufend weiterentwickelt –und zum Teil nur durch die Erfahrungen des Älterwerdens weiterentwickeln kann –, gibt es gleich zwei problematische Möglichkeiten: Ich verharre in einem bestimmten Alter, weil ich jung, gesund und attraktiv bleiben will – dann wird aber mein menschliches (und künstlerisches) Reifen irgendwann gegen null tendieren. Oder ich werde laufend älter und mutiere langsam zu einem echten Methusalem oder einer Methusalema, was zwangsläufig zu einem immer beschwerlicheren Leben führt, das sicher nicht erstrebenswert ist. Dazu kommt, dass man sich in beiden Fällen irgendwann einmal hohl dreht, wie eine Schraube, die nicht mehr greift, weil man alles schon kennt, alles nur mehr als Variation und Wiederholung erlebt, kein Fortschreiten wahrnimmt. Die Seele kann in nichts Neues mehr hineinwachsen. Man verwaist regelrecht zwischen all den sich ähnelnden Generationen, die unentwegt aufeinanderfolgen.

al Von Viktor Frankl gibt es den Ausspruch, dass es im Grunde nur einen technischen Fortschritt gäbe, die Menschheit sich aber, in großen Zeitabläufen besehen, nicht verändern würde.

mp Und wenn man das über Jahrhunderte beobachten kann oder muss, wird das langweilig. Auch Emilia Marty erkennt, dass sie immer dieselben Menschentypen trifft, die sich wiederum immer nur um sich selbst drehen. Nicht umsonst sagt sie am Ende zu den Umstehenden: »Ihr seid so glücklich, weil der dumme Zufall euch so früh sterben lässt!« Und das alles bedenkend, ist es eigentlich unwesentlich, ob ich Künstlerin bin oder nicht: Ein unendliches irdisches Leben ist auf Dauer unfruchtbar, langweilig und bringt nichts. al Ist das der Grund, warum Emilia Marty manchmal schlagartig so müde wirkt, obwohl sie äußerlich eigentlich jung ist? mp Ja…, denn das Leben ist nur dann eines, wenn es unentwegter Veränderung unterworfen ist. Eine unendliche Wiederholung beinhaltet irgendwann nur mehr Leere. An einer Stelle im zweiten Akt sagt sie fast tröstlich zu Krista und Janek, also dem jungen Liebespaar, über deren Sexualleben: »Was nicht war, kann noch kommen«, um aber schon im nächsten Satz abzuschwächen: »Schließlich ist es nicht der Rede wert.« Worauf der alte Prus sofort fragt, was denn »schließlich der Rede wert wäre«. Und ihre resignierende Antwort »Nichts! Gar nichts!« drückt genau dieses Gefühl der absoluten Sinnlosigkeit des unendlichen Lebens aus. Nicht von ungefähr finden wir in der Bibel den Ausspruch: »Er starb satt an Lebenstagen.« Dieses »satt« ist genau der springende Punkt, denn irgendwann ist es genug. Der in Emilia verliebte Albert Gregor sagt

einmal zu ihr: »Sie sind nichts als schön!« Das zeigt doch, wie klar sich ihre innere Leere den anderen unbewusst mitteilt.

al Verhalten sich die meisten ihrer über die Jahrhunderte verteilten Liebhaber deshalb so aggressiv gegen sie? Sie beklagt ja an einer Stelle, von Narben übersät zu sein.

mp Emilia reagiert einfach niemals so, wie eine normale Frau das in Beziehungen tun würde. Sie ist nie greifbar im Hier und Jetzt. Der eine will mit ihr wegfahren – sie lacht nur darüber. Der andre will ihre Liebe – auch den lacht sie aus, weil das bei ihr schon längst nicht mehr greift. Und dieses Abgehoben-Entfernte macht viele Männer offenbar wild. al Wenn Emilia im Laufe ihres sehr langen Lebens erkennt, dass Unendlichkeit nicht das Paradies ist, warum will sie dann doch noch fast bis zum Schluss das geheimnisvolle Rezept zurückerhalten? Sie geht sogar mit dem alten Prus ins Bett dafür.

mp Wie Sie eingangs schon gesagt haben, möchte niemand unendlich lange hier auf Erden leben. Aber konkret im Jetzt, im aktuellen Moment sterben, will auch kaum jemand. Ich glaube, dass bei Emilia trotz aller Erkenntnis eine Art Panik mitschwingt. Sie will reflexhaft weiterleben, einfach aus Angst vor dem Moment des Sterbens. Aber wenn sie dann das Rezept endlich in den Händen hält, begreift sie die Sinnlosigkeit einer möglichen Fortsetzung ihres irdischen Daseins. Das ist bei uns Menschen ja oft der Fall: Wir wissen schon im Vorhinein, unbewusst vielleicht, was gut oder falsch ist, aber es akzeptieren und danach handeln, können wir erst, wenn Einschneidendes passiert.

al Interessanterweise kommt die erwähnte junge Krista Jahrhunderte früher als Emilia Marty zur Erkenntnis, dass unendliches Leben nicht erstrebenswert ist und lehnt das ihr angebotene Lebensrezept nicht nur ab, sondern verbrennt es sogar.

mp Vielleicht wird sie durch Mitleid wissend, wie schon Parsifal vor ihr (lacht). Sie betont nämlich Emilia gegenüber, wie leid sie ihr tut. Das gibt es so unter Frauen, dass sie ohne viele Worte ein Verständnis entwickeln. Krista sieht an dieser alten Frau die Qual und das Nichthinauskönnen aus diesem Gefängnis der Unendlichkeit. Jedenfalls ist es eine tolle Tat von Krista, der Versuchung der Jahrhunderte zu widerstehen. Sie ist sehr erdverbunden!

al Ist die Emilia Marty letztendlich so etwas wie die Schwester der Marschallin im Rosenkavalier ? Beide sinnieren über die Vergänglichkeit der Zeit und begreifen, dass man versuchen sollte, nichts festhalten zu wollen.

mp Es kann durchaus sein, dass Emilia ebenfalls schon in den Mittdreißigern, wie die Marschallin,

»EIN UNENDLICHES IRDISCHES LEBEN IST AUF DAUER UNFRUCHTBAR, LANGWEILIG UND BRINGT NICHTS.«

DIE SCHWESTER

DER MARSCHALLIN?

»Wien

ist vielleicht die einzige Stadt der Welt, in der Oper und Musik einen derart zentralen Stellenwert besitzen. Da bedeutet es von Vornherein etwas, wenn man in bestimmten Partien vor das Publikum tritt, vor ein wissendes, erfahrenes Publikum nämlich«.

als MARSCHALLIN in DER ROSENKAVALIER
Foto MICHAEL PÖHN

diese Erkenntnis gewinnt. Nur muss sie dann noch drei Jahrhunderte über sich ergehen lassen – allein die Vorstellung ist schrecklich. (lacht)

al Soll die Oper so wie die Schauspielvorlage komisch sein?

Oder handelt es sich um eine Art Krimi? Um eine philosophische Abhandlung?

mp Janáček hat ein ganzes Panoptikum an Gestalten und Situationen gestaltet: Wir erleben das Hochromantische in Albert Gregors Liebe zu Emilia, das Kathartische am Ende der Oper und ganz eindeutig viel Humor und Komik. Denken wir nur an die skurrile Figur des alten Hauk-Šendorf –was dieser Sonderling wohl für eine lustige Beziehung mit Emilia gehabt haben mag? Da ist bewusst unsere Fantasie als Publikum gefragt. Witzig ist auch die Szene im dritten Akt, in der Emilia vollkommen betrunken ihre Lebensgeschichte outet.

al Sie braucht also den Alkohol, um zur Erkenntnis gelangen zu können?

mp Ich glaube, den Alkohol benötigt sie nur, damit ihre Zunge locker wird und sie das alles, was sie da gesteht, selbst nicht so ernst nimmt. In diesem betrunkenen Zustand wirkt sie erstmals menschlich, nahbar. Der Alkohol bringt also nicht die Erkenntnis, sondern die Entschärfung der Situation, die große Erleichterung für alle Beteiligten.

al In Gounods Faust muss der Sänger der Titelpartie zunächst wie ein alter Mann klingen und dann, nach der Verwandlung durch den Trank Mephistos, zu einem jungen Mann werden. Bei der Marty ist das umgekehrt: Aus der jungen Frau wird am Ende schlagartig eine Greisin. Soll diese Verwandlung auch stimmlich beglaubigt werden?

mp Tatsächlich schenkt uns Janáček in diesem Ende eine Art sphärische Anmutung. Das heißt, die musikalische Grundstimmung ist von Vornherein eine andere als während der gesamten Oper zuvor. Und natürlich möchte ich die physische Verwandlung und die finale Erkenntnis der

Emilia auch stimmlich zum Ausdruck bringen. Sie sollte an dieser Stelle zerbrechlicher, verhauchter klingen, wie in einem Nebel oder einer Wolke. Aber das ist etwas, was in den Proben mit dem Dirigenten entwickelt wird.

al Das tschechische Original dieser Oper teilt sich dem Publikum nur bedingt mit. Wäre es nicht sinnvoller, das Werk immer in der jeweiligen Landessprache zu geben?

mp Eine sehr gute Frage, denn Věc Makropulos ist die Gesprächsoper Janáčeks schlechthin und ohne Übersetzung superschwierig fürs Publikum. Erstens, weil die Musik nicht immer leicht zu hören ist und zweitens weil die zahllosen langen Diskussionen der Handelnden über lange Strecken das Geschehen dominieren. Andererseits ist das Tschechische auch eine ganz bestimmte Farbe, die wegfiele, wenn man das Stück in einer anderen Sprache sänge. Und diese Farbe ist nun einmal ein wesentlicher Bestandteil dieser Oper. Es kommt also sehr auf die Regie und vor allem auf eine sehr ausgefeilte Beleuchtung an, ob sich essenzielle Momente und Nuancen, unabhängig von der Sprache, also rein atmosphärisch und emotional, dem Publikum mitteilen oder nicht. Dass an der Wiener Staatsoper jeder Platz mit einer Untertitelungsmöglichkeit ausgestattet wurde, ist natürlich von großem Vorteil!

al Sie haben die Partie schon gesungen: Wie unterscheiden sich die drei Akte hinsichtlich der Herausforderungen?

mp Im ersten Akt richtet sich der Fokus vor allem auf das Sprachliche, da sehr viel an inhaltlichen Details verhandelt wird. Im zweiten Akt hingegen muss es gelingen, diesen SnobbyCharakter der Emilia zu treffen, mit dem sie alle rund um sich auflaufen lässt. Am spannendsten, aber auch am schwierigsten ist für die EmiliaInterpretin der dritte Akt, da von der Handlung her wie musikalisch Unterschiedliches aufeinandertrifft: Emilia hat gerade die Nacht mit dem alten Prus hinter sich gebracht, bekommt endlich das von ihr so begehrte Rezept wieder, erkennt, dass sie es gar

nicht will, legt vor allen ihr Geständnis ab und dann kommt noch dieses sphärisch-traurige Erlösungs-Ende: Das alles ist sehr herausfordernd –stimmlich, sprachlich und energetisch.

al Sie singen seit 2002 an der Wiener Staatsoper, zuletzt vor vier Jahren die Marschallin. Welche Erinnerungen, welche Gefühle verbinden Sie mit diesem Haus?

mp Ich bin sehr dankbar, dass ich mein Debüt auf dieser Bühne mit einer Rolle geben durfte, die mir auf den Leib geschneidert war: mit der Lulu. Das war, wie Sie sich vorstellen können, ein riesengroßer Moment für mich. Aber da die Lulu keinem bestimmten Fach angehört, war es nicht so ganz klar, wie es hier weitergehen sollte. Es gibt ja Lulus, die eher in Richtung Rosenkavalier -Sophie unterwegs sind, und Lulus, die auch eine Salome machen können. Ioan Holender, der damalige Direktor, hat länger überlegt und mir dann die Sophie angeboten. Deutlich später kam dann unter anderem die Marschallin –ein weiterer großer Moment – den spätestens mit dieser Rolle durfte ich in die große Traditionsgeschichte dieses Hauses eintreten. Wissen Sie, Wien ist vielleicht die einzige Stadt der Welt, in der Oper und Musik einen derart zentralen Stellenwert besitzen. Da bedeutet es von Vornherein etwas, wenn man in bestimmten Partien vor das Publikum tritt, vor ein wissendes, erfahrenes Publikum nämlich. Entsprechend wichtig war es für mich daher auch, bei der Uraufführung von Aribert Reimanns Medea die Titelpartie gestalten zu dürfen. Mit anderen Worten: Die Wiener Staatsoper bescherte mir immer Höhepunkte in meinem künstlerischen Leben. Und so bin ich sehr glücklich, nach einer gewissen Transformationszeit, einer Metamorphose als Sängerin, jetzt mit einer wirklich tollen Rolle zurückkehren zu dürfen.

DIE SACHE MIT DEM STERBEN

Der Komponist Leoš Janáček stand im Herbst seines Lebens, als er sich Věc Makropulos (Die Sache Makropulos) zuwandte. Eine Oper, die sich intensiv mit dem Tod, dem Sterben und der Frage nach der Sinnhaftigkeit eines endlosen, diesseitigen Lebens auseinandersetzt. Janáček, damals um die 70 Jahre alt und sehnsüchtig in seine deutlich jüngere Muse Kamila Stösslová verliebt, hinterfragte ein endloses Leben kritisch. Anlässlich der Wiederaufnahme der Oper (siehe Seite 20) haben wir Künstlerinnen, Wissenschaftler, Philosophen und andere mit der Frage konfrontiert:

»WÜNSCHEN SIE SICH EIN ENDLOSES DIESSEITIGES LEBEN?«

»Ich freue mich auf die Stunde, in der ich meinen Körper verlassen darf. Sterben heißt alles hinter sich lassen, das man zutiefst nicht ist. Ich bin nicht mein Körper, ich habe ihn nur. Ich bin auch nicht meine Gedanken, ich habe sie nur, sowie ich nicht meine Hose oder meine Schuhe bin, sondern sie nur habe. Mich plagt inniges Heimweh nach der Dimension, aus der ich auf die Erde gekommen bin und in die ich nach dem Tod mit Sicherheit zurückkehren werde. In ein Revier des Lichts, der bedingungslosen Liebe, der Güte und der vollkommenen Weisheit.«

SIMONE YOUNG

Dirigentin

»Der Gedanke, irgendwann von all dem, das mir so viel bedeutet, Abschied nehmen zu müssen, macht mir schon Angst. Aber das Leben, wie die Musik, existiert in dem ›Jetzt‹ und man kann es nicht festhalten. Und das ist gut so. Und wie sagt die Marschallin im ersten Akt des Rosenkavalier so schön: ›Und in dem Wie? - da liegt der ganze Unterschied.‹«

Journalist

»Unbeantwortbar. Einerseits reife ich unangenehm flink vom Zeitgenossen zum Zeitzeugen (und Böhm, Windgassen, Waechter, della Casa schlagen Rudolf II. in meiner Unsterblichenliga locker um drei Jahrhunderte). Die würde ich schon gern wiedersehen. Andererseits ist der Gedanke, meine Töchter in diesen Zeiten alleinzulassen, nur mit Verdrängen erträglich. Und ein paar Ringe mit Thielemann würde ich auch noch gern hören. Sagen wir also: Gezeugt hab ich schon, gepflanzt ohne Ende und nicht nur Mist gebaut. Schaun wir also, dass es ohne Makropulos noch eine Zeitlang geht.«

RUTH BRAUER-KVAM

Schauspielerin & Regisseurin

»Ich halte es mit Woody Allen: ›Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende‹! Ich fände es viel schöner, in einem Kreislauf der Wiedergeburt immer wieder in neuen Gestalten und mit neuen Erfahrungen ›Leben‹ zu erfahren. Jeder Augenblick enthält sowieso die Ewigkeit, wir müssen uns einfach immer wieder auf diesen ›Augenblick‹ besinnen!«

KS

SIR SIMON KEENLYSIDE

Sänger

»Mit dem Fandango meines kleinen, in der Musik beheimateten Lebens habe ich bereits die Unsterblichkeit berührt. Und das jeden Tag, Wange an Wange. Dem täglichen Brot gleich habe ich die unsterblichen Werke von Mozart, Verdi, Berg, Debussy und Schubert, von Wolf, Beethoven und vielen anderen zu mir genommen. Und so genügt es mir, eines Tages in diesem Äther zu verschwinden. In diesem unendlichen und unsterblichen Universum einer Energie ... einer Energie aus von Lachen und Liebe.«

Regisseur

»Es ist die Herausforderung meines Berufs als Regisseur, immer wieder mit dem Tod konfrontiert zu werden. Kaum eine Oper kommt ohne ihn aus. Das Künstlerische vom Persönlichen zu trennen, funktioniert nicht – meine Sterblichkeit ist mir da voll bewusst. An meiner Sterblichkeit ist nichts zu ändern, es ist unser Schicksal, zu sterben. Aber dieses Wissen um den sicheren Tod gibt unserem Leben Wert, es ist einmalig und besonders. Ohne Tod wäre es beliebig und irgendwann unerträglich. Laut Kirpal Singh ist der Tod die Lösung eines großen Rätsels. Ich möchte dies mit dem Zusatz »oder auch nicht« ergänzen. (Kirpal Singh: spiritueller Meister des Sant Mat, Präsident der Weltgemeinschaft der Religionen (1894-1974))«

EVA KATHARINA MASEL

Leiterin der Klinischen Abteilung für Palliativmedizin im AKH »Als Palliativmedizinerin ist mir die Vergänglichkeit vertraut. Be careful what you wish for. Bedeutet ein endloses Leben ein endloses Altern oder ein ewiges Leben als Vampir ab dem Zeitpunkt des Bisses? Welcher Zeitpunkt des Lebens wäre der richtige, um sich für ein endloses Leben zu entscheiden? Ewig Kind bleiben, ewig jugendlich, ewig erwachsen oder ewig ›genau richtig‹ alt? Wäre das nicht Stillstand? Ein Leben ohne Anfang und Ende ist ein Leben ohne Spannung, ohne Melodie, ohne Crescendo und Decrescendo. Eine Gesellschaft der Unsterblichen scheint mir zum Scheitern verurteilt. Dann doch lieber Leben bis zum Tod hin.«

FLORIAN BOESCH

Sänger

»Der Tod ist die Mutter aller Sehnsüchte. Was triebe uns an? Bram Stokers Dracula beschreibt das Thema präzise und poetisch, am schönsten gesagt vielleicht von Erich Kästner im Schlusssatz des Filmdrehbuches zum Münchhausen (der wie Dracula nicht altert und nicht stirbt): ›Ein Halbgott war ich, aber nur ein halber Mensch, nun will ich alles und fordere den Rest.‹«

PHILIPP BLOM

Schriftsteller & Historiker

»Würde ich gerne ein endloses diesseitiges Leben leben, also endlos leben, ohne Tod? Nein. Weil in zehn Generationen niemand mehr meine Witze verstehen würde (manchmal ist das heute schon schwer genug), weil der Tod uns einen Horizont gibt und damit die Kostbarkeit des Lebens, weil Leben ein Zyklus ist, nicht nur ein endloser Zustand. Aber das mit dem Diesseits? Für mich ist das ja die einzige Bühne, diese Welt, jetzt, ohne Bühnentechnik, ohne Beleuchtung und leider auch ohne Souffleur. Trotzdem ist ein kurzer Moment auf dieser Bühne alles was wir haben »all the world’s a stage«, das wusste schon der alte Shakespeare.«

SARAH

»Natürlich hat es Vorteile, unsterblich zu sein, denn man kann all seinen Träumen nachgehen und muss sich keine gesundheitlichen Sorgen machen. Doch ich persönlich fände es schrecklich, endlos zu leben. Denn selbst, wenn man ständig neue Freunde findet, muss man immer auch miterleben, wie sie alle sterben. Abgesehen davon lernt man zwar laufend Menschen kennen, doch wurden diese in komplett anderen Generationen geboren. Ob man sich da nicht irgendwann fremd fühlt?

Womöglich würde eines Tages sogar die eigene Familie aussterben und das würde mich trauriger machen, als selbst zu gehen.«

BERNHARD WEINGARTNER

Physiker

»Bevor man sich für ein endloses Leben entscheidet, ist ein Blick in die Zukunft ratsam. Bereits in wenigen Jahrzehnten könnte es auf diesem Planeten durch die Klimakrise und deren Folgen schon recht ungemütlich werden. Unabhängig davon wird die Sonne in etwa 2,5 Milliarden Jahren zunächst so stark, dass alle Ozeane verdampfen. Wartet man noch einmal so lange, beginnt sie zu erlöschen. Aber schon viel früher wäre dieses Leben unendlich langweilig, weil alles im Überfluss Verfügbare verliert seinen Reiz.«

BERNHARD MESSER

Pfarrer v. Lichtental/Schubertkirche

»Ich lebe gerne, ich mag die Menschen, meistens jedenfalls. Ich habe einen Beruf mit Sinn und so viel Schönheit und Liebe ist um mich herum. Das sind für mich die Spuren Gottes in der Welt. In diesen Spuren versuche ich zu gehen. Aber irgendwann ist Schluss mit Spurensuche, dann will meine Neugier mehr wissen. »Hey lieber Gott, wie schaut das bei dir so aus, im Himmel? Ich hätte bitte gern eine Antwort auf alle Fragen!« Also kein endloses Diesseits, da fühlte ich mich neugieriger Mensch nicht ernstgenommen.«

»Ich glaube an einen natürlichen Ablauf des Lebens und, dass wir die Zeit, die wir hier haben, möglichst intensiv nützen sollen, können und dürfen. Der große Traum von der Unsterblichkeit ist schon darum eine Utopie, weil ein Leben nur durch einen konkreten Sinn lebenswert wird, aber kein Sinn für sich gesehen Unendlichkeit besitzt. Anders gesagt: Wird ein Sinn erfüllt oder zum Höhepunkt geführt, folgt darauf unvermeidlich dessen Aushöhlung und Verblassen, da niemand eine ideale Situation für immer festhalten kann. Ein unendliches Leben führte also zwangsläufig bestenfalls zu einer Stagnation. Und deshalb interessiert es mich nicht. Nur Menschen mit einem übermäßigen Ego glauben, dass sie die Gesellschaft auf ewig mit ihrem Dasein bereichern müssten – doch zu diesem Schlag gehöre ich nicht.«

ANGST IST DER SPIEGEL DESSEN, WAS UNS WERTVOLL IST

JANINE ORTIZ & BÄRBEL FRISCHMANN IM GESPRÄCH ÜBER ANGST, GLAUBEN UND DIE KRAFT DES GEISTES

Francis Poulencs Dialogues des Carmélites erzählt von sechzehn Karmelitinnen, die während der Französischen Revolution den Märtyrertod erleiden. Im Zentrum steht Blanche de la Force – eine junge Frau, die in einer Welt der Angst lebt und versucht, in der Religion Halt zu finden. Mit der Philosophin Bärbel Frischmann sprach Janine Ortiz über die anthropologischen, politischen und spirituellen Dimensionen der Angst.

Szenenbild

DIALOGUES DES CARMÉLITES

Fotos MICHAEL PÖHN

jo Frau Frischmann, Sie haben sich intensiv mit der Philosophie und Kulturgeschichte der Angst beschäftigt. Warum ist Angst ein so universelles Menschheitsthema, das in allen Epochen wiederkehrt?

bf Angst gehört zu den Grundbefindlichkeiten des Menschen. Sie beruht darauf, dass wir uns mögliche Gefahren vorstellen und deshalb in der Lage sind, uns frühzeitig gegen mögliche Bedrohungen zu wappnen. Angst ist also nicht Schwäche, sondern Bedingung dafür, dass wir überleben. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass Angst diese warnende Funktion dadurch ausübt, dass sie als unangenehm und belastend empfunden wird. Denn gerade deshalb versuchen wir das zu meiden, was die Ängste auslöst, also die potenzielle Gefahr.

jo In den Dialogues des Carmélites spielt Angst eine große Rolle. Welche Arten von Angst sehen Sie dort? bf Ängste können wir zu allen Arten von Bedrohungen entwickeln, die wir uns überhaupt jeweils vorstellen können. In den Dialogues lassen sich drei wichtige Ebenen von Angst identifizieren, die sich jeweils wechselseitig verstärken: Zum einen herrscht aufgrund der politischen Ereignisse der Revolution eine gesellschaftliche Atmosphäre der Unruhe und Unsicherheit, die sich bis zu Massenpaniken steigern kann. Zum zweiten spielt die Religion eine wichtige Rolle, die einerseits in der Gottesfurcht und auch in der Angst vor der Hölle eigene Formen der Angst entwickelt hat, die aber im Glauben auch die Möglichkeit bereithält, die eigenen Ängste zu beherrschen und auf Gottes Gnade zu vertrauen. Und schließlich gibt es die individuelle psychische Disposition jedes Menschen mit einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Ängstlichkeit.

jo Schauen wir auf die Biografie der Hauptfigur Blanche. Ihre Mutter war hochschwanger in eine Massenpanik geraten, brachte dann ihre Tochter unmittelbar nach diesem Schockerlebnis zur Welt und starb nach der Geburt. Der Vater und der Bruder tragen dieses Trauma weiter. Sind solche »Urszenen« prägend für ein Leben mit Angst?

bf Heute wissen wir aus der Epigenetik, dass traumatische Erfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft biologische Spuren beim Fötus hinterlassen können, was sich im späteren Leben oft als eine größere Ängstlichkeit zeigt. Hinzu kommen soziale Stimmungen: Wenn eine Familie

ANGST IST DER SPIEGEL DESSEN, WAS UNS WERTVOLL IST

oder eine Gesellschaft vom Gefühl großen Unheils geprägt ist, können sich bei den einzelnen Personen auch eher Ängste ausbilden. In der Persönlichkeit Blanches überlagern sich die psychische Grundverfassung, das Familiäre und das Politische. Die Angst ist von Beginn an Teil ihrer Identität – etwas, das sie erst zu verstehen und dann für ihr Leben anzunehmen versucht.

FRANCIS POULENC

gestalten will. Doch wir kennen die Zukunft nicht und können nicht wissen, ob unsere Lebensentwürfe gelingen. Dies ist eine große Herausforderung, die ängstigt. Kierkegaard hat das wunderbar formuliert: Angst ist das Schwindelgefühl angesichts der Freiheit, sie ist wie ein Blick in den Abgrund der Möglichkeiten. Zudem haben wir für jede Wahl, die wir treffen, auch die Verantwortung zu tragen, die

DIALOGUES DES CARMÉLITES

6. 9. 12. 15. NOVEMBER 2025

Musikalische Leitung ROBIN TICCIATI Inszenierung MAGDALENA FUCHSBERGER

Bühne MONIKA BIEGLER Kostüme VALENTIN KÖHLER Video ARON KITZIG Licht RUDOLF FISCHER

Mit OLGA KULCHYNSKA / BOGDAN VOLKOV / SYLVIE BRUNET-GRUPPOSO / MARIA MOTOLYGINA / JULIE BOULIANNE

MICHAEL KRAUS / MARIA NAZAROVA / STEPHANIE MAITLAND / TERESA SALES REBORDÃO / JÖRG SCHNEIDER

ANDREA GIOVANNINI / SIMONAS STRAZDAS / ALEX ILVAKHIN / CLEMENS UNTERREINER

jo Nach ihrem Eintritt ins Kloster nennt sich

Blanche »Schwester Blanche von der Todesangst Christi«. Wie verändert sich Angst, wenn sie religiös gedeutet wird?

bf In dieser Namenswahl steckt eine doppelte Dimension, die etwas mit der Figur Jesu zu tun hat. Jesus ist einerseits Mensch und als solcher hat auch er vor der Kreuzigung Todesangst. Andererseits ist er Gottes Sohn und vertraut darauf, dass er errettet wird. Blanche nimmt diese Spannung in sich auf. Religion bietet die Hoffnung auf ein Heil jenseits der irdischen Bedrohungen, vor allem angesichts der Auswüchse der Revolution. Der Glaube hilft, die Angst anzunehmen und zu verwandeln; nicht, sie zu vernichten, sondern durch Hoffnung auf ein jenseitiges Heil hin anzunehmen. In diesem Sinne ist für Blanche der Glaube eine Form der Angstbewältigung, die das Leben nicht verdrängt, sondern ihm Tiefe verleiht. Man sieht das besonders deutlich in der Schlussszene, wenn die Nonnen singend zur Guillotine schreiten: Ihr Gesang verwandelt Todesangst in Vertrauen. Das ist keine Verdrängung, sondern eine bewusste Transformation der Angst – sie erheben sich spirituell über das Hier und Jetzt und werden nicht mehr von der Angst beherrscht, sondern beherrschen die Angst. jo Sie haben einmal gesagt, Angst sei der Preis der Freiheit. bf Ja, Angst entsteht dort, wo Freiheit beginnt. Freiheit bedeutet vor allem, aus einem Feld von Möglichkeiten wählen zu können, aber auch wählen zu müssen. Angst begleitet dieses Bewusstsein der Freiheit wie ein Schatten, denn Wählen heißt entscheiden, wer man sein will, wie man das eigene Leben

zu einer schweren Last werden kann – und gerade diese Verantwortung wiederum ist Teil der Angst. Blanche trifft die Entscheidung, ins Kloster zu gehen. Sie verspricht sich Schutz, Geborgenheit, Regeln und Ordnung, die ihr wiederum die weltlichen Entscheidungen abnehmen. Doch sie muss erfahren, dass Angst sich nicht durch Rückzug besiegen lässt, sondern nur durch Selbstverantwortung. Ihr Weg führt vom Fliehen zum Handeln.

jo Die Oper spielt zur Zeit der Französischen Revolution, im Klima von Gewalt und Grande Terreur. Sie sprechen in Ihrem Buch von politischen Formen der Angst. Wie sehen Sie diesen Zusammenhang?

bf Politische Ängste entstehen, weil Menschen über andere Menschen politische Macht ausüben und dabei auch Gewalt einsetzen. Die Ängste der Menschen um ihr Wohlergehen, um ihre Familien und Freunde, um ihre wirtschaftliche Existenz oder gar um ihr nacktes Überleben, diese Ängste erfahren dann in Zeiten großer Umbrüche und Krisen eine große Steigerung. In Dialogues des Carmélites ist das sehr eindrücklich: Die Angst der Einzelnen spiegelt die Angst der Masse und umgekehrt. Die Revolution steht einerseits für den Freiheitswillen des Volkes, zugleich ängstigt sie zutiefst mit ihrem Terror und richtet sich schließlich sogar gegen die Nonnen in ihrem Kloster.

In Poulencs Oper hat das sogar eine Klanggestalt: Die kollektiven Erschütterungen der Revolution kontrastieren mit der Innerlichkeit des Klosters. Angst hat hier Rhythmus, Lautstärke, Körper – sie wird zu einer gesellschaftlichen Schwingung, die alle Figuren erfasst.

oben: NICOLE CAR ALS BLANCHE
unten: MICHAELA SCHUSTER als MADAME DE CROISSY & NICOLE CAR als BLANCHE

jo Gleichzeitig erleben wir in der Oper, dass Angst auch Gemeinschaft stiften kann: Die Nonnen schließen ein Märtyrergelübde. Blanche hingegen flieht zunächst. Wie erklären Sie diese Gegensätze?

bf Angst kann verbinden oder trennen, je nachdem, wie sie erlebt und gedeutet wird. Wir sind soziale Wesen, teilen Stimmungen, lassen uns anstecken – daher die Rede von der »Epidemie der Angst« in der Oper. Aber jeder Mensch hat auch seine eigene psychische Konstitution. Für die einen wird Angst zu einem Motor von Solidarität, für die anderen zur lähmenden Überforderung. Blanche bewegt sich genau zwischen diesen Polen. Sie schwankt, sie verlässt ihr Elternhaus und geht ins Kloster als »Zufluchtsort«. Doch mit dem Terror wird die dortige Sicherheit zerstört, sie flieht aus Angst vor den Wirren der Revolution, und sie kehrt schließlich zurück zu ihrer religiösen Gemeinschaft – und sie findet am Ende doch zu einer Form von innerer Souveränität, die sie über die Todesangst angesichts des Schafotts erhebt.

jo Eine der erschütterndsten Szenen ist der Tod der alten Priorin Madame de Croissy, die nach einem Leben im Gebet auf dem Totenbett plötzlich von Panik ergriffen wird.

bf Das ist eine der stärksten Szenen der Oper, weil sie uns die Grenzen der Vorbereitung auf den Tod zeigt. Selbst jemand, der sich sein Leben lang mit dem Tod beschäftigt hat, ist vielleicht in der letzten Stunde nicht frei von Ängsten der Ungewissheit, was der Tod bedeutet und was kommen mag. Der Glaube kann tragen, aber er hebt die menschliche Angst nicht auf. Dies zeigt eine tiefe Wahrheit: Die Angst gehört zum Menschsein, sie lässt sich nicht vollständig wegmeditieren oder wegbeten – aber sie kann mutig getragen werden.

»Die Angst gehört zum Menschsein, sie lässt sich nicht vollständig wegmeditieren oder wegbeten – aber sie kann mutig getragen werden.«
BÄRBEL FRISCHMANN

jo Was kann uns in der heutigen, hochkomplexen Welt helfen, mit dieser allgegenwärtigen Angst umzugehen?

bf Unsere Gegenwart ist geprägt von Beschleunigung, unüberschaubarer Informationsflut und großer Verunsicherung hinsichtlich der Zukunft. Das belastet und überfordert viele Menschen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder ein inneres Gleichgewicht zu erreichen, Räume der inneren Sammlung zu schaffen – ob durch Meditation, Gespräche, Rituale oder stabile soziale Bindungen. Einige Philosophen der Antike –Stoiker und Epikureer, ebenso die Buddhisten – haben das »Einüben der Seelenruhe« als Lebenskunst verstanden. Eine solche Haltung ist auch heute noch interessant, um zu lernen, die Angst zu lenken, statt ihr ausgeliefert zu sein. Angst zeigt, dass wir um unsere Freiheit und die Verantwortung wissen, die jede Entscheidung mit sich bringt. In diesem Sinn kann Angst uns helfen, angesichts der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit die Freiheit anzunehmen und in der Angst selbst eine Form von Stärke zu sehen. Poulencs Nonnen sind deshalb keine Opfer – sie sind Zeuginnen der Angst, die in Mut verwandelt wird.

BÄRBEL FRISCHMANN ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich u.a. mit der Thematik der Angst als menschlicher Grundbefindlichkeit. 2023 ist ihr Buch Angst wesen Mensch. Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten erschienen.

JOHANN STRAUSS & BALLETT

Mit der Wiederaufnahme von Roland Petits heiterem Ballett Die Fledermaus zu populären Melodien von vorwiegend Johann Strauß Sohn zollt auch das Wiener Staatsballett dem Jubiläum des 200. Geburtstags des Walzerkönigs Tribut.

Johann Straußʼ zunächst für den Ballsaal, bald auch für Konzertsäle und Theater komponierte Musik scheint wie geschaffen für die Ballettbühne, beinhaltet doch vor allem der Walzer im ¾-Takt vieles, was Tanz ausmacht: Schwung und Leidenschaft, aber auch

Foto AXEL

Zartheit. Das wirbelnde Drehmoment hat nicht zuletzt etwas Virtuoses. So bedienten sich immer wieder Choreograf*innen Straußʼ meisterhaften Kompositionen, jedoch nicht nur dessen Walzer. Auf der internationalen Bühne griffen allein das Fledermaus -

Thema Choreograf*innen wie George Balanchine (The Bat, 1936), Ruth Page ( Die Fledermaus , 1961) oder Ronald Hynd ( Rosalinda , 1978) auf. An der Wiener Staatsoper gelangten bisher unter anderem folgende Werke zu Musik von Johann Strauß zur Aufführung:

OLGA ESINA als BELLA & ENO PECI als ULRICH in DIE FLEDERMAUS (Premiere 2009)
ZEININGER

Heinrich Kröllers G’schichten aus dem Wienerwald (1926), Toni Birkmeyers Kaiserwalzer (1932), Valeria Kratinas Johann Strauß­Tänze (1933), Erika Hankas Titus Feuerfuchs (1942), Gerlinde Dills Wiener

»Das Charakteristische jeder großen Kunst ist auch der von Johann Strauß zu eigen: Sie lastet nicht, sie schwebt und macht, dass wir mit ihr schweben (…).«
FELIX

WEINGARTNER , ÖSTERREICHISCHER DIRIGENT & KOMPONIST (1863–1942)

Skizzen (1983) oder Grete Wiesenthals Wiesenthal Tänze II (1984). In der jüngeren Vergangenheit kreierte Renato Zanella Alles Walzer (1997) als »Best of« zahlreicher Strauß-Melodien, das abendfüllende Ballett Aschenbrödel (1999) – das letzte, unvollendete Werk von Johann Strauß Sohn und zugleich sein einziges Ballett – sowie Kadettenball (2003). 2006 war Harangozó sen. Platzkonzert zu sehen. 2009 feierte Roland Petits Die Fledermaus Premiere, die nun zur Wiederaufnahme gelangt. Martin Schläpfer zeigte mit Marsch, Walzer, Polka 2021 eine durchaus ironische Sicht auf die Straußʼsche Walzerseligkeit.

Einen Blick in die Zukunft warf erst kürzlich im NEST die vielbeachtete Uraufführung Strauss 2225: Dances for the Future des kanadischen Choreografen Robert Binet in Kooperation mit Johann Strauss 2025 Wien. Die Tänzer*innen der Jugendkompanie der Ballett akademie der Wiener Staatsoper zeigten zu vier zeitgenössischen Kompositionen, denen Straußʼ Musik als Basis und Inspiration diente, eine berührende Interpretation und warfen u.a. die Fragen auf: »Wie leben wir … Wie tanzen wir … Wie musizieren wir … in 200 Jahren?«.

Zuletzt ein kleiner Ausblick an dieser Stelle: Im Rahmen der Ballett­ Gala 2026 wird mit dem Wiener Staatsballett erstmals Frederick Ashtons Voices of Spring, ein Pas de deux zu Johann Strauß Sohns Frühlingsstimmen­Walzer op. 410, gezeigt.

EINE GETANZTE OPERETTE

Nach 14 Jahren kehrt Roland Petits beliebtes Ballett Die Fledermaus, das 2009 an der Wiener Staatsoper Premiere hatte und zuletzt 2011 gezeigt wurde, zurück auf die Bühne. Mit der bekannten gleichnamigen Operette, die 1874 ihre Uraufführung im Theater an der Wien feierte, hat dieses Ballett jedoch nur

wenig gemein, ist vielmehr eine Adaption dieser. In Petits als »operette dansée« bezeichnetem Werk, das unter dem Titel La Chauve­souris am 2. Juni 1979 mit den Ballets de Marseille an der Opéra de Monte-Carlo zur Premiere gelangte, ist die Handlung im Wesentlichen auf drei Hauptcharaktere reduziert: Bella, Johann und Ulrich. Ähnlich wie in der Operette dreht sich aber auch hier alles um Maskerade, Verwechslungen und amouröse Abenteuer. Die anfängliche Familienidylle mit fünf entzückenden Kindern, die –mehr oder weniger artig – um den großen Esstisch sitzen, trügt. Bei Petit ist es die charmante Bella, die durch Rollenspiel und Verwandlungen von ihrem Ehemann Johann wieder begehrt werden möchte –, sucht dieser doch außereheliches Vergnügen, indem er sich nachts in eine Fledermaus verwandelt und davonfliegt. Unterstützt von ihrem ebenso getreuen wie gerissenen Freund Ulrich, der stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein scheint und die Fäden spinnt, um die aus dem erotischen Gleichgewicht geratene Ehe zu retten, gelingt es Bella schließlich, ihren Mann wieder zur Einsicht zu bringen und ihm im wahrsten Sinn des Wortes die Flügel zu stutzen.

ROLAND PETIT, DER VIELSEITIGE GESCHICHTENERZÄHLER

Der französische Choreograf Roland Petit (1924–2011) zeichnete sich als äußerst vielseitig aus und gelangte vor allem im Genre des Unterhaltungsballetts zu Weltruhm, aber auch als großer Geschichtenerzähler von Situationen und Gefühlen aus dem echten Leben. So reicht sein Schaffen von Choreografien für Hollywoodfilme wie Anything goes (1955) bis zu Balletten für große klassische Compagnien, darunter jene der Pariser Oper, der Mailänder Scala und das Royal Ballet London – vor allem aber für die Ballets de Marseille, dessen Direktor er 1972 wurde. Führende Compagnien weltweit übernahmen in der Folge Ballette aus seinem rund 165 Werke zählenden Œuvre. An der Wiener Staatsoper kamen bisher neben Die Fledermaus auch sein Einakter LʼArlésienne (2012) zur Aufführung und bei Galas Le Jeune homme et la mort sowie Ausschnitte aus Carmen, Notre­Dame de Paris und Proust ou les intermittences du cœur. Petits Grundlage ist die klassische Balletttechnik, aber stets mit einem zeitgenössischen Touch und dem typischen französischen Esprit versehen sowie mit Elementen verschiedener Tanzstile angereichert, wobei das Schauspiel einen wichtigen Stellenwert einnimmt. So bietet auch Die Fledermaus puren klassischen Tanz, gepaart mit Can-Can, Csárdás, Walzer und pointenreicher Pantomime.

»BEST OF« VON JOHANN

STRAUSS

Die mitreißende Musik zu Die Fledermaus mutet wie ein »best of« von Johann Strauß an und ist ein Arrangement des australischen Komponisten Douglas

ROLAND PETIT

Gamley (1924–1998). Neben hauptsächlich Musik von Johann Strauß Sohn wie die Ouvertüre und die Polka Mazur Glücklich ist, wer vergisst aus der Operette Die Fledermaus zog Gamley weitere Kompositionen des Walzerkönigs heran, darunter der Walzer Künstlerleben oder die Schnell-Polka Leichtes Blut, zu der drei Kellner eine virtuose Nummer tanzen. Überdies fand auch zusätzliche Musik von Johann Strauß Vater und von Bruder Josef Strauß – wie der Walzer Sphärenklänge in der »Gefängnis-Szene« – Eingang in die Partitur.

WEITERGABE

AN DIE NEUE GENERATION Für die Einstudierung sind wahre Vollprofis am Werk. Der ehemalige italienische Tänzer Luigi Bonino verkörperte bereits in der Premiere 1979 die Rolle des Ulrich, wirkte bis zum Tod von Roland Petit im Jahr 2011 als dessen Assistent und zeichnet seither für die Einstudierung all seiner Werke verantwortlich. Nun studiert er, wie bereits 2009, in erster Linie die solistischen Rollen ein, hat aber ein Auge auf das gesamte Ballett. Tatkräftig unterstützt wird er dabei von der Direktorin des Wiener Staatsballetts Alessandra Ferri, die einst als Bella Erfolge feierte, unter anderem an der Seite von Bonino. Gearbeitet wird mit gleich drei unterschiedlichen Besetzungen, darunter zahlreiche Debüts, mit Ausnahme von Olga Esina und Eno Peci, die bereits in der Wiener Premiere 2009 tanzten. Die gebürtige Britin Gillian Whittingham, die unter anderem Erste Ballettmeisterin an der Mailänder Scala war, studiert – wie bei zahlreichen anderen Werken Petits – das Corps de ballet ein. Am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper debütiert Luciano Di Martino, der bereits die Giselle-Serie im September dieses Jahres erfolgreich leitete.

Die Fledermaus ist ein großes Tanzfest für Groß und Klein, aber keineswegs nur lieblich-süßes Ballett im Walzertaumel, sondern mit einer guten Portion Ironie und Augenzwinkern gewürzt.

DIE FLEDERMAUS

18. 21. 24. 27. 28. NOVEMBER 2025 WIEDERAUFNAHME

WEITERE AUFFÜHRUNGEN 8. (DOPPELVORSTELLUNG) 13. DEZEMBER 2025

Choreografie & Inszenierung ROLAND PETIT

Musik JOHANN STRAUSS SOHN, mit zusätzlichem Material von JOHANN STRAUSS VATER & JOSEF STRAUSS arrangiert & orchestriert von DOUGLAS GAMLEY Musikalische Leitung LUCIANO DI MARTINO Bühne JEAN-MICHEL WILMOTTE Kostüme LUISA SPINATELLI Licht JEAN-MICHEL DÉSIRÉ

Leitung Einstudierung LUIGI BONINO Einstudierung GILLIAN WHITTINGHAM

Bella OLGA ESINA / KETEVAN PAPAVA / IOANNA AVRAAM Johann TIMOOR AFSHAR / MASAYU KIMOTO / ARNE VANDERVELDE

Ulrich DAVIDE DATO / ENO PECI / GIORGIO FOURÉS Tenor LUKAS SCHMIDT / DEVIN EATMON

WIENER STAATSBALLETT

BALLETTAKADEMIE DER WIENER STAATSOPER

ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

TIMOOR AFSHAR &
OLGA ESINA in der Probe
Foto ASHLEY TAYLOR

FAUST –DER TEUFEL IN WIEN

FRÉDÉRIC CHASLIN ÜBER FAUST

Es gibt Werke, die – wie Méphistophélès selbst – nicht sterben können. Charles Gounods Faust, 1859 uraufgeführt, gehört zweifellos dazu. Es ist nicht nur eine Oper: Es ist eine Legende im Seidengewand, ein Spiegel, den das 19. Jahrhundert sich selbst vorhält – und Wien, natürlich, entkam diesem Zauber nicht.

Foto TEATRO MASSIMO DI PALERMO, 2025

DER FRANZÖSISCHE PAKT

Als Gounod seinen Faust komponierte, träumte er weniger von Philosophie als von Sinnlichkeit. Er kannte Goethe, doch er liebte mehr die Tränen der Margarethe als die Verdammnis des Gelehrten. Er schrieb eine französische Oper von zarter Innigkeit und unerwarteter Frömmigkeit – Kathedralmusik, in der der Teufel im Dreivierteltakt tanzt.

Die Premiere am 19. März 1859 im Théâtre-Lyrique verlief chaotisch: unfertige Dekorationen, ein kranker Tenor, ein fiebriger Dirigent. Doch allmählich eroberte der Duft dieses Werkes – halb Engel, halb Mensch – die Pariser Herzen. Ein Kritiker schrieb: »Das ist die Oper, in der man sich mit einem Lächeln verdammt.«

TRIUMPH UND SALONS

In den Salons des Faubourg Saint-Germain ließ Gounod erstmals sein »Goldenes Kalb« erklingen. Eine Sängerin fiel vor Rührung in Ohnmacht – eine berühmte Anekdote: Gounod glaubte im ersten Schreck, der Teufel habe sie nie-

dergestreckt. Einige Wochen später ließ das Gartenduo ganz Paris dahinschmelzen. Offenbach spottete: »Gounod, das bin ich – aber nach der Beichte!«

VON GARNIER BIS BROADWAY

Zehn Jahre später zog Faust in die Pariser Oper ein – und blieb. Es war dieses Werk, das 1875 die neue Opéra Garnier eröffnete. Der Erfolg war überwältigend, fast verdächtig. Die Strengen, Saint-Saëns und Fauré, fanden das Werk zu süß, zu gefällig. Doch das Publikum konnte nicht genug davon bekommen: ein Jahrhundert lang war Faust die meistgespielte Oper in Paris. Von dort aus eroberte sie Amerika: Am 22. Oktober 1883 eröffnete das Metropolitan Opera House in New York mit Faust. Die Presse titelte: »The Devil opens the Met!« Der Tenor Italo Campanini, die Sopranistin Christine Nilsson und der große Victor Maurel (später Verdis Jago) machten den Abend unvergesslich. Seither ist Faust untrennbar mit der Geschichte der Met verbunden: Er war die erste Oper des Hauses, die letzte im

alten Gebäude am Broadway, und immer wieder eine Saisoneröffnung – der Teufel als Hauspatron.

UND IN WIEN?

Wien empfing Gounods Faust mit höflicher Zurückhaltung. Man schätzte den französischen Charme, aber nicht den Weihrauchduft. Als die Oper 1862 an der Hofoper herauskam, lobte die Kritik die Melodien, beklagte aber das Fehlen philosophischer Tiefe. Gounods Faust war eben nicht Goethes Faust – er bewahrte die Schatten, aber nicht den Abgrund.

Und genau das irritierte Gustav Mahler, als er 1897 die Leitung des Hauses übernahm. Mahler verehrte Goethe, fürchtete Gott und misstraute Gounod. Für ihn war die französische Oper zu gefällig, zu sentimental. Er weigerte sich, Faust wie auch Massenets Werther aufzuführen: »Das sind«, sagte er, »gezuckerte Goethe-Versionen«. Er liebte den Goethe des Faust II, den kosmischen, verzweifelten, jenen, den er selbst zu vertonen träumte –, ein

Foto

NICOLE CAR als MARGUERITE & ADAM PALKA als MÉPHISTOPHÉLÈS
MICHAEL PÖHN

Traum, der sich nur in den erschütterten Seiten seiner achten Symphonie erfüllte, wo man den einsamen Ruf eines späten Faust zu hören glaubt.

Und doch war Mahler die Gestalt des Gelehrten nicht fremd. In seinen Briefen taucht sie immer wieder auf: Er sah sich selbst als einen, der zwischen Leben und Ideal, zwischen Alma und dem Absoluten zerrissen war. Vielleicht verachtete er Gounods Faust, weil er sich zu deutlich darin erkannte.

MARGARETHE IN WIEN

Die Wiener Geschichte des Faust endet nicht mit Mahler. 1906 brachte Felix Weingartner das Werk neu heraus – ein gesellschaftliches Ereignis. Anna BahrMildenburg, die große Wagner-Sängerin, sang Margarethe mit einer Reinheit, die selbst die Skeptiker entwaffnete. Und dann die Anekdote aus den 1960erJahren: Hilde Güden, in der Kerkerszene, rutschte auf ihrem Kleid aus und fiel in die Versenkung, rufend: »Ich bin noch nicht fertig!« Das Publikum hielt es für eine geniale Regieidee und applaudierte begeistert.

Oder der Abend, als während der Beschwörungsszene ein schwarzer Kater aus den Kulissen trottete und sich würdevoll zu Mephisto setzte. Am nächsten Tag schrieb eine Zeitung: »Der wahre Teufel ist ein Wiener Kater.«

DER TEUFELSTECKT IM DETAIL Jedes Opernhaus hat seinen eigenen Faust. In Paris war er der elegante Dä-

mon; in Wien eine kultivierte Rarität, die man wie einen alten Wein hervorzog; in New York der ewige Hausherr der Met. Doch überall setzte Gounods Werk einen Maßstab: das Böse im Walzertakt, die Sinnlichkeit im Chorgewand, die Höllenfanfaren wie Orgelklänge aus der Kathedrale.

Auch das Groteske fehlte nie. In London vergaß ein Tenor sein Schwert –der Mephisto reichte ihm kurzerhand seinen Stock, den der Sänger am Ende der Szene schwungvoll in den Boden rammte. Da blieb er stecken und ragte die ganze nächste Szene hindurch wie ein Kreuz in die Höhe. In Paris fiel einst ein Gegengewicht in die Höllenversenkung: Margarethe wäre beinahe tatsächlich hinabgefahren.

Und doch gehört all das zu Faust : diese gefährliche Zone zwischen Spiel und Wahrheit, zwischen Ekstase und Absturz.

DEN TEUFEL DIRIGIEREN

Für einen Dirigenten ist Faust Versuchung und Prüfung zugleich. Hinter seiner scheinbaren Leichtigkeit verbirgt sich ein Gebäude aus heiklen Gleichgewichten. Alles hängt vom Atem ab – dem des Gesangs, aber auch dem des Raums. Die Musik muss wie ein lebendiges Wesen atmen: Ein zu lautes Orchester erdrückt Margarethe, ein zu zaghaftes verrät das Drama.

Die größte Schwierigkeit liegt im Wechsel von Transparenz und Glut: ein Orgelpräludium, ein zarter Walzer,

dann plötzlich der Ausbruch des Goldenen Kalbs oder die Kathedralen-Szene. Die Tempi entgleiten der Hand, als wollten sie sich keiner einzigen Logik beugen. Faust zu dirigieren heißt, die Widersprüche zu umarmen: Gebet und Theater, Tanz und Verdammnis zu vereinen.

Aber welche Trunkenheit! Kaum eine Oper schenkt dem Dirigenten dieses Gefühl des ständigen Schwebens zwischen Himmel und Erde. Der Dirigent wird zum Alchimisten, balanciert Licht und Schatten, trägt die Sänger und lässt sie zugleich frei. Wenn das Orchester das Gartenduo haucht, spürt man, dass Gounod jenes Ideal gefunden hatte, nach dem jeder Dirigent sucht: den Moment, in dem Musik aufhört, dirigiert zu werden, und einfach – fliegt.

DAS LETZTE WORT

Vielleicht liegt in diesem Triumph die Ironie des Teufels selbst: Faust , ein Werk des Zweifels und der Verdammnis, hat seine Ewigkeit in der Leichtigkeit und Anmut gefunden. Und genau diese Spannung liebt Wien – die Stadt, die besser als jede andere weiß, dass es keine Schönheit ohne Abgrund gibt. Wenn sich also der Vorhang hebt und der Studentenchor ertönt oder der Garten Margarethes erblüht, hört man hinter den Streichern die Stimme Mahlers, spöttisch und fasziniert: »Man schließt keinen Pakt mit dem Teufel ungestraft… aber was wäre die Oper ohne ihn?«

NICOLE CAR ALS MARGUERITE
Foto MICHAEL PÖHN
Szenenbilder FAUST
Fotos THOMAS AURIN

MEIN CASTORF –LIEBESERKLÄRUNG AN EINEN UNMÖGLICHEN

ZUR WIEDERAUFNAHME VON FAUST AN DER WIENER STAATSOPER

Ich gestehe: Ich war nie cool genug für die Volksbühne. Kein Raucherkreis auf der Rampe, kein mächtiger Insider-Witz in der Kantine. Ich stand draußen und sah zu, atemlos – wie Frank Castorf ein Theater baute, das mich bis heute

erzieht: gegen die Bequemlichkeit, gegen die hübsche Synthese. Für uns, die Nachgeborenen, war er immer schon mehr als ein Regisseur: Er war das Maß. Und jetzt sitze ich in der Wiener Staatsoper, dieser ehrwürdigen Festung der Operntradition, und sehe: Castorf ist schon da. Er inszeniert Faust. Natürlich nicht Goethe, sondern Gounod. Natürlich nicht als frommes Meisterwerk, sondern als wildes, widersprüchliches Panorama.

PARIS, MON AMOUR –

DURCH CASTORFS AUGEN

Ich sehe Paris – aber nicht das Postkarten-Paris. Ich sehe das Paris der frisch gezogenen Boulevards Haussmanns, wo Platz gemacht wurde für Glanz und Kontrolle. Ich sehe die ersten großen Warenhäuser, die den Luxus ins Schaufenster stellten, und den Champagner, der zur Visitenkarte einer neuen Bourgeoisie wurde. Und zugleich sehe ich das Paris der 1950er- und 1960er-Jahre, erschüttert vom Krieg

in Algerien, gezeichnet von Attentaten der OAS und vom Nachzittern eines untergehenden Imperiums. Castorf legt diese Schichten übereinander: 1859, das Jahr der Uraufführung, trifft auf 1960 – Glanz des Konsums stößt auf die Schatten der Kolonialgeschichte. Das ist sein Bühnen-Paris. Und es ist gnadenlos wahr.

Diese Inszenierung denkt Faust als Pariser Sittengemälde. Nicht Ideendrama, sondern Gesellschaftspanorama: Warenhaus und Barrikade, Salon

und Polizeiposten. Castorf rahmt das mit einem dichten Gewebe aus Texten und Zeitzeichen – Baudelaire blitzt auf (Siébel trägt die »Einladung zur Reise« in die Gegenwart), Sartres Rede vom »Kolonialismus als System« steckt wie ein Reisnagel unter dem Theatersitz. Paris wird zur ästhetischen Druckkammer, in der Gounods Bürgerwelt – und unsere – hörbar knackt. Ich liebe diese Unversöhnlichkeit. Castorf glaubt nicht an den Frieden der Bedeutungen. Er setzt Thesen – und negiert sie. Er liebt den Schwebezustand zwischen Ja und Nein, den mephistophelischen Kurzschluss, der Erkenntnis überhaupt erst anstößt. Das ist kein Stil, das ist eine Ethik der Reibung. Und sie zieht sich bis ins Probenpraktische: Brüche, Ironie, Aus-der-Rolle-Fallen – alles Instrumente der Verweigerung von Übereinstimmung

LÄNGE

ALS LIEBESBEWEIS

Ich weiß: Es gibt Menschen, die fürchten sich vor Castorfs berühmten Marathon-Abenden im Schauspiel. Ich nicht. Ich bin Operngängerin – und geübt im langen Atem. Die Dauer ist bei Castorf kein Exzess, sondern Methode: Zeit wird gedehnt, luxuriös sogar, bis die bequemen Lesarten reißen. Dann brennt plötzlich eine Wahrheit auf, die in drei Wohlfühlakten nie aufscheinen würde. (Ein Kritiker nannte Castorfs Theater einmal »zeitgedehntes Ideendrama« – exakt darum geht es.) Für jene, die Wagners Ring lieben oder an Strauss-Abenden das Sitzen zur Kunstform erhoben haben, ist diese Länge kein Problem, sondern ein Geschenk: Sie macht die Welt komplizierter – und uns wacher.

Dass diese Dauer nicht aus Manier, sondern aus Arbeit entsteht, haben wir an der Berliner Volksbühne lernen können: Schauspieler:innen werden durch Räume gejagt, zwischen Filmnähe und Rampe, zwischen Sauna und Sofakante – ein einziger langer Take, der den Körper anders zeichnet als jede Filmillusion. Die Volksbühne unter Castorf – sie ist Geschichte. Sie existiert nicht mehr. Und der Verlust schmerzt.

DIE KAMERA,

DIE UNS SIEHT (und ertappt)

Niemand hat das Video im Theater so selbstverständlich, so gnadenlos und so poetisch eingesetzt wie Castorf. Zwei Kameras wildern in den Winkeln eines monumentalen Denić-Bühnengebirges. Sie holen die verborgene Zonen und Gesichter so nahe heran, dass man die Oper plötzlich als Gegenwartskunst sieht –heute. Nicht im Museum.

Was die Kameraleute finden, wird live gemischt, mit vorproduzierten Clips verschränkt, als zweite Erzählspur in das Bühnenbild integriert – vor, neben, gegen die Opernhandlung. Das Video denkt mit, denkt voraus, widerspricht. Es ist nicht Effekt, sondern Analyse. Und es ist bis heute unerreicht.

Wer das für Behauptung hält, werfe einen Blick in die Werkstattprotokolle: Von der Überwachungskamera und dem Fernseher über drei Leinwände, zwölf Monitore, elf stationäre Kameras, zwei Kilometer Kabel – das ist keine Modeerscheinung, sondern eine Entwicklung, getragen von der Kontinuität eines Teams, das Maßstäbe gesetzt hat. Nein: Niemand war da im Theater weiter. Und ja: Viele bedienen sich inzwischen dieser Mittel – aber selten mit derselben inneren Notwendigkeit.

MEPHISTO, DAS BIST DU, FRANK! Natürlich gehört zu dieser Liebe mein Staunen darüber, wie sauber das alles denkt. Castorf romantisiert nie. Er stellt das Pariser Luxusversprechen neben die französische Kolonialgeschichte; die Eleganz des Walzers neben die Grammatik der Gewalt; die Verführung der Ware neben den Preis, den jemand anderer zahlt. Sein Faust ist keine moralische Predigt, sondern eine Versuchsanordnung: Man schaut einer Gesellschaft beim Selbstgespräch zu – und hört, wie die schönen Sätze kippen.

Frank Castorf ist ein Mephisto – aber nicht der elegante, diabolische Strippenzieher, wie wir ihn aus Goethes Studierstube kennen. Er ist eher der unberechenbare Mephisto der Großstadt, ein Unruhestifter, der nicht um das Seelenheil feilscht, sondern mit Lust die Illusionen zertrümmert. Kein intellektueller Advokat, sondern ein Straßenkämpfer: ein ironischer Dealer, der uns mit Bildern und Versprechen verführt, nur um sie im nächsten Moment wieder zu zerstören. Er ist nicht der Teufel, der den Vertrag sauber unterschreibt, sondern der, der den Stift zerbricht und lacht. Castorf ist ein Prinzipienverweigerer, der uns zwingt, genauer hinzusehen –und gerade darin macht er sichtbar, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Dass er dabei die Oper ernst nimmt, gerade indem er ihr widerspricht, war schon seinem Bayreuther Team eingeschrieben: die große, drehende Maschine (Denić), die Kostüm-Ökonomie (Braga Peretzki), das Licht, das immer auch Kameralicht ist. Das ist kein importiertes Schauspielrezept, sondern eine Opernästhetik, die den Klangraum erweitert, statt ihn zuzukleistern.

DAS WALDVÖGELEIN

AUF DEM ALEXANDERPLATZ

Ich erinnere mich an Bayreuth, an Castorfs Ring, an Siegfried. Und an diese eine Szene, die mich nie mehr losgelassen hat: das Waldvögelein. In Wagners Libretto ist es eine Stimme, die Siegfried den Weg zu Brünnhilde weist. Bei Castorf aber erscheint es leibhaftig – als junge Sängerin, prachtvoll in einem Federkostüm, wie man es aus dem Karneval in Rio kennt, glitzernd und verführerisch. Und auf dem kunstvoll gebauten Alex-

CHARLES GOUNOD

FAUST

6. 9. 12. 15. NOVEMBER 2025

Musikalische Leitung FRÉDÉRIC CHASLIN Inszenierung FRANK CASTORF

Bühne ALEKSANDAR DENIĆ

Kostüme ADRIANA BRAGA PERETZKI

Licht LOTHAR BAUMGARTE Regieassistenz WOLFGANG GRUBER

Videoregie MARTIN ANDERSSON Kamera/Bildgestaltung TOBIAS DUSCHE & DANIEL KELLER

Dramaturgie ANN-CHRISTINE MECKE

Mit JOHN OSBORN / OLGA KULCHYNSKA / ALEX ESPOSITO / STEFAN ASTAKHOV

LEONARDO NEIVA / MARGARET PLUMMER / ZORYANA KUSHPLER

DANIEL KELLER / TOBIAS DUSCHE

anderplatz von Aleksandar Denić kommt es zu einer kurzen, heißen Begegnung mit Siegfried.

In diesem Moment wird klar: Dieses Waldvögelein steht Siegfried näher als jede spätere Partnerin. Man glaubt sofort an die Liebesbegegnung – und versteht, warum alles, was danach mit der Erweckung Brünnhildes kommt, schon im Keim zum Scheitern verurteilt ist. Dieser Junge wird nichts anfangen können mit »Heil dir Sonne! Heil dir Licht!«. Und ebenso konsequent wie folgerichtig ist es, dass Brünnhilde am Ende des Siegfried dieses Waldvögelein in den Rachen eines der zwei riesigen Krokodile stopft, die gemächlich über den Alexanderplatz robben. Ein echter Cas-

torf-Moment: Liebe und Grausamkeit, Überhöhung und Vernichtung. Eine Szene, nach der man nicht mehr zurückfallen kann in alte Gewohnheiten.

WARUM ICH IHN LIEBE (und warum das hierher gehört) Ich habe Castorf nie »verstanden« – und gerade deshalb nie von ihm lassen können. Er ist der Regisseur, der mich denken macht, indem er mir den Boden wegzieht. Sein Grundsatz – keine Übereinstimmung! – ist keine Pose, sondern Werkzeug gegen den Konsensismus unserer Tage. In seinen eigenen Worten: lieber These und sofort deren Negation, lieber schweben

als festschreiben. Wer so arbeitet, bleibt unbequem –und notwendig. Wenn ich versuche, diese Liebe zu begründen, lande ich immer wieder bei Paris: bei einer Stadt, die Ordnung und Schönheit beschwört – und gleichzeitig die Narben der Macht zeigt. Genau dafür ist Oper da, oder? Für die großen Gefühle und ihren Preis. Castorf zeigt beides. Und er zeigt es lange genug, bis wir es nicht mehr wegblinzeln können.

NACHSPIEL:

WIEN HOLT AUF

Die Premiere am 29. April 2021 war – Pandemie lässt grüßen – ein Stream in ein leeres Haus. Doch längst ist dieser Faust Teil des regulären Spielplans geworden und wurde mehrfach vor Publikum gezeigt. Jetzt kehrt er zurück – und mit ihm die langen Wege durch Denićs Stadtmaschine, das Live-Video, das uns ertappt, die Textbrocken und Gedichte, die wie Leuchtraketen durch die Partitur jagen. Und wir werden Paris hören: als Musik und als Geschichte. Endlich. Ich bleibe dieselbe: zu uncool für die Rampe, zu ehrfürchtig für die Kantine. Ich wollte immer so arbeiten wie er – gnadenlos, respektlos, frei. Aber ich konnte es nie. Vielleicht sitze ich deshalb heute hier und schreibe diese Liebeserklärung, während Castorf in der Kantine eines anderen, großen Theaters die nächste Probe kommentiert. Es gibt Regisseure, die Oper inszenieren. Und es gibt Frank Castorf.

WORLD BALLET DAY

Anlässlich des World Ballet Day 2025, der unter dem Motto »Access becomes Art« (»Zugang wird Kunst«) steht, möchte das Wiener Staatsballett seinen diesjährigen Beitrag einem ganz besonderen Herzensprojekt widmen. Der kanadische Choreograf Robert Binet hat basierend auf seiner für das NEST geschaffenen Choreografie Strauss 2225: Dances for the Future gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern der Jugendkompanie der Ballettakademie und jenen von Ich bin O.K. – einem Tanzverein für Menschen mit und ohne Behinderung –in einem Workshop eine Choreografie erarbeitet, die im NEST unter großem Beifall präsentiert wurde. Der Kreationsprozess und die Vorführung wurden filmisch von dem Videografen Balázs Delbó und seinem Team begleitet. Der Beitrag, der sich vor allem mit dem Thema Inklusion beschäftigt, wird ab 12. November, an dem weltweit der heurige World Ballet Day stattfindet, auf dem YouTube- und Facebook-Kanal des Wiener Staatsballetts zu sehen sein.

Fotos ASHLEY TAYLOR

A DIVA IS BORN

Fotos MICHAEL PÖHN

ASMIK GRIGORIAN

ANDREAS LÁNG

A DIVA IS BORN 2.0

Fünf, sechs Mal im Jahr bekommen ausgewählte namhafte Sängerpersönlichkeiten auch an der Wiener Staatsoper die Möglichkeit, sich in einem Solo-Konzert zu präsentieren. Dass jemand wie Asmik Grigorian, die mit ihren Interpretationen grundsätzlich auf keinen ausgetretenen Pfaden wandelt, sondern mutig und maßstabsetzend künstlerisch neues Terrain erkundet, auch in diesem Fall mit keinem 08/15-Programm vor das Publikum treten würde, war von Anfang an klar. Auch der von ihr angekündigte Titel des Abends – A Diva is Born –versprach Neuartig-Ungewöhnliches. Und so war die Spannung förmlich spürbar, als am 28. Mai 2024 die Lichter im Zuschauerraum gedämpft wurden und alles dem Auftritt der Ausnahmesopranistin entgegenfieberte. Was dann folgte, übertraf alle Erwartungen.

Grigorian changierte auf höchst kreative Weise zwischen unzähligen Stilen und Genres, verwob Biografisches mit humorvollen Seitenhieben auf das Starwesen, zeigte die Fragilität jener, die sich täglich den höchsten Anforderungen des Künstlerdaseins zu stellen bereit sind und ließ ein frenetisch jubelndes Publikum zurück. Mittlerweile hat sie den Abend auch auf anderen Bühnen wiederholt – stets durch neuen Facetten bereichert – und wird ihn am 2. Dezember, konzeptuell weiterentwickelt, erneut an der Wiener Staatsoper geben. In einem Gespräch mit Andreas Láng sprach Asmik Grigorian unter anderem über Charisma, unendliches Leben und der Neugier nach neuen künstlerischen Ausdrucksweisen.

al Sie gehen, wie auch bei diesem Konzert, gerne ungewohnte Wege, singen grundsätzlich nur Rollen und Stücke, die Sie interessieren, ganz gleich, ob jemand davon abrät oder nicht. Wann haben Sie gelernt, sich von anderen nicht verunsichern zu lassen und nur dem eigenen Instinkt zu vertrauen? ag Das weiß ich gar nicht, vermutlich bin ich so geboren worden. (lacht) Es ist wohl eine Charaktereigenschaft, nicht immer von Vorteil, aber unveränderbar. Sicher ist, dass meine Eltern bereits ganz früh aufgegeben haben, mir etwas vorgeben zu wollen, da ich schon aus Prinzip nicht das tat, was man von mir erwartete. Da half einfach nichts! Und auch heute,

als Künstlerin, kann mich niemand zu etwas überreden, das mich nicht interessiert. Umgekehrt werde ich alles daransetzen, Dinge, die mir Freude bereiten, Wirklichkeit werden zu lassen. al Was war die Grundidee bei der Entwicklung von A Diva is Born? Wollten Sie mit diesem Konzert Ihre Wurzeln zeigen, eine biografische Skizze, wesentliche Facetten Ihres künstlerischen Werdegangs? ag Nein, da gab es zunächst kein Ziel, keine Marschrichtung. Das Programm und seine Ausrichtung sind gewissermaßen aus dem Nichts entstanden. Ausgangspunkt war ein Benefizkonzert vor ungefähr zehn Jahren, in das ich zufällig hineinkam, weil jemand anderer erkrankt war und bei dem der Pianist Hyung-ki Joo den Sting-Song »Moon of the Bourbon Street« sang. Jedenfalls fanden er und ich, dass es Spaß machen würde, gemeinsam etwas zu entwickeln und so haben wir die folgenden Jahre herumexperimentiert. Weil ich aber zunächst überhaupt keine Zeit hatte, etwas Spezielles zu lernen, fing ich mit den Vokalisen an, da hier keine Texte zu memorieren waren. Irgendwann begann ich mich dann für Lady Gaga zu interessieren und so tastete ich mich Schritt für Schritt in Richtung Pop vor. Einfach, weil ich neugierig auf verschiedene mir bis dahin unbekannte Gesangstechniken war. Geübt habe ich diese unterschiedlichen Lieder immer nur als Einsingprogramm vor den Opernauftritten. Später fügte ich dieses Repertoire mit Arien und den erwähnten Vokalisen zu einer ersten Abfolge zusammen, das unentwegt weiterwuchs, bis wir auf die Idee kamen, meine eigene Lebensgeschichte einzubauen, persönlich Erlebtes, Gehörtes und Gesagtes aufzunehmen. Und je weiter Hyung-ki Joo und ich an dem Abend feilen, desto klarer scheinen einzelne Aspekte und Details durch, die alle mit mir und meinem Künstlerdasein zu tun haben. Aber von Anfang an beabsichtig war das nicht! al Sie haben dieses in vieler Hinsicht außergewöhnliche Konzert erstmals an der Wiener Staatsoper aufgeführt – war Ihr Adrenalinspiegel damals,

knapp vor dem Auftritt, höher als bei sogenannten »typischen« Liederabenden? Und haben Sie diesen großen Erfolg vorausgesehen?

ag Der Adrenalinspiegel war definitiv höher als sonst, gerade weil man bei solchen Projekten oft erst im Nachhinein merkt, ob sie funktionieren oder nicht. Zumindest geht es mir so. Ich habe Bogdan Roščić sogar gewarnt und ihn gefragt, ob er tatsächlich bereit wäre, diese Reise mit ungewissem Ausgang zu wagen. Wörtlich sagte ich zu ihm: »Was, wenn wir Schiffbruch erleiden, wenn unser Boot kentert?« Nun, das ist nicht passiert und ich bin ihm daher sehr dankbar, dass er mir vertraut und diese Idee sogar unterstützt hat, an der wir übrigens unentwegt weiterbasteln, um etwas noch Größeres daraus zu machen. Beim ersten Mal kam dem Unvorhergesehenen ein sehr großer Stellenwert zu, inzwischen haben wir das Programm schon drei- oder viermal aufgeführt und können die Reiseroute klarer überblicken. al Was hat sich denn konkret am Programm von Mal zu Mal geändert?

ag Manches am Beginn haben wir gekürzt, dafür ein paar Arien und PopSongs zusätzlich aufgenommen. Vor allem haben wir die Funktion des Pianisten insofern geändert, als Hyungki Joo nun nicht mehr der fiese Typ ist, der mich ständig schikaniert, sondern so etwas wie meine innere Stimme. Ich selbst bin es also, die mit mir zum Teil so unbarmherzig umgeht. Ich habe oft festgestellt, dass ich auf der Bühne die Gabe habe, Menschen zum Weinen zu bringen. Und selbst bei diesem Konzert, das eigentlich eine Komödie sein soll, gibt es im Publikum gar nicht wenige, die zu Tränen gerührt werden –einfach, weil ich hier sehr ehrlich und offen vor die Zuschauer trete. Ich fühle mich richtig nackt, weil ich so sehr ich selbst bin, nichts verbergen kann. Das macht diesen Abend ja so herausfordernd für mich. Abgesehen davon, dass es stimmlich sehr, sehr anspruchsvoll und schwierig ist, in kürzester Zeit von der Klassik zum Pop und vom Pop zur Klassik zu springen. al Es gibt in der Tat nur sehr wenige Opernsängerinnen, die

so perfekt und glaubhaft das Genre in Richtung Pop wechseln können wie Sie. Woher kommt das?

ag Ob ich wirklich so gut darin bin, weiß ich nicht, aber ich lerne unentwegt weiter: Zuerst nahm ich viele Unterrichtsstunden in New York und jetzt arbeite ich in Wien mit einem wirklich großartigen Coach. Ich muss sie übrigens bald wieder anrufen und einen Termin vereinbaren. Ich beginne diesen Prozess zu genießen, lerne immer neue Lieder und mache wirklich Fortschritte. Natürlich habe ich definitiv nicht vor, Pop-Sängerin zu werden, sondern mache diesen Ausflug nur zum Spaß. Aber ich nehme ihn wirklich ernst, weil ich denke, dass das auch zu mir passt und ich in Allem, was ich tue, versuche, mein Bestes zu geben. al Sie haben sogar den Programmzettel grafisch selbst gestaltet –weshalb?

ag Weil auch er zur Show und dazu passen soll. Ein typischer Abendzettel würde dem Abend nicht gerecht werden. al Lampenfieber und Angst sind ein ständiger Begleiter von Künstlern, die live auftreten müssen. Trotzdem überwindet man sich und geht auf die Bühne. Warum?

ag Es stimmt, das Lampenfieber, die Angst künstlerisch nicht zu genügen, der Kampf gegen die Panikattacken waren ein großes Problem für mich während meiner gesamten doch schon zwanzigjährigen Karriere. In den letzten Jahren ist es aber, Gott sei Dank, besser geworden und ich bin sehr glücklich, weil ich mein Dasein auf der Bühne im Moment jetzt viel intensiver genießen kann.

al Sie sind extrem charismatisch. Ist das etwas, was einem selbst auffällt?

ag Vielen Dank. Natürlich habe ich mich selbst nie als charismatisch empfunden, solche Urteile können immer nur von anderen kommen. Aber mit der Zeit bemerkt man dann doch, dass eine Kraft von einem ausgeht. Ich spüre, besonders wenn ich auftrete, wie sich die Aufmerksamkeit der Menschen mir zuwendet, dass das Publikum bereit ist, mich anzusehen, mir zuzuhören, sich grundsätzlich mit mir zu verbinden.

ASMIK GRIGORIAN & HYUNG-KI JOO

Und genau darum geht es in der Kunst ja auch: Menschen miteinander zu verbinden.

al Aber ist Charisma erlernbar?

ag Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich glaube, dass man wahrscheinlich alles lernen kann. Aber in diesem Fall geht es nicht ums Lernen, sondern ums Zulassen. Jede und jeder von uns hat eine bestimmte Ausstrahlung. Die Frage ist nur, ob wir uns erlauben, wir selbst zu sein, authentisch zu sein. Gestehen wir uns diese Freiheit zu, sind wir automatisch charismatisch.

al Die Wiener Staatsoper gibt im November/Dezember Janáčeks

Věc Makropulos . In diesem Werk geht es um ein geheimes Rezept, das hier auf der Erde unendliches Leben samt Jugend ermöglicht. Würden Sie dieses Rezept zumindest lesen? Vielleicht sogar benützen? ag Ich glaube ohnehin an ein ewiges Leben. Ob hier auf der Erde oder sonst wo im oder außerhalb des Kosmos, jenseits von Raum und Zeit. Ich gehe davon aus, dass ich schon sehr lange auf der Erde lebe. Vielleicht habe ich also schon eine Ewigkeit hinter mir, warum also nicht eine weitere Ewigkeit anhängen? Aber unserem körperlichen Dasein sind natürlich Grenzen

gesetzt und damit bin ich einverstanden. Ich hoffe jedenfalls, in 25 Jahren damit klarzukommen, alt zu werden, zu akzeptieren, wie sich mein Körper verändert. Das ist zwar schwierig, aber ich würde lieber lernen, mein Älterwerden zu akzeptieren, als dagegen anzukämpfen, und zu versuchen, einen Kalender mit unendlich vielen Tagen zu erzwingen.

SOLOKONZERT ASMIK GRIGORIAN

2. DEZEMBER 2025

Gesang ASMIK GRIGORIAN

Klavier HYUNG-KI JOO

EISERNER VORHANG 2025/26

»XOHANAMI« VON EL ANATSUI

Das Opernpublikum sieht sich einer Anhäufung von unbelebten Objekten gegenüber, die Figuren gleichen, mit Köpfen aus runden Markttabletts und Körpern aus Holzpalettenfragmenten. Sie sind so angeordnet, dass eine menschenähnliche Präsenz entsteht, jede mit eigenem Charakter: Ein Spalt im Holz suggeriert einen Mund, oder Gebrauchsspuren lassen an ein Auge oder eine Nase denken. Das Bild von El Anatsui begründet gleichsam einen Dialog: Eine Versammlung stummer Gestalten, die in ihrer Reglosigkeit das vor ihr versammelte Publikum spiegelt, mit einer Gegenwärtigkeit, die sich unheimlich und doch vertraut anfühlt.

Ganz vorne erscheinen die Gestalten klar definiert, doch schweift der Blick weiter über die Menge noch oben, treten sie zurück und verschwinden in der Masse gleichförmiger Holzköpfe. Anatsui vermittelt dem Opernpublikum das Gefühl des Auftretens, des Beobachtet-Werdens, der Rollenumkehr von Darstellenden und Betrachtenden zwischen den Akten, wenn der Vorhang wieder sichtbar wird. Er hält der Szenerie auf diese Weise einen metaphorischen Spiegel vor.

Die in XOHANAMI dargestellten Figuren erinnern auch an die Grundform von Akuaba, Fruchtbarkeitspuppen des Volksstamms der Fante aus der Ethnie der Akan in Ghana. Diese Puppen zeichnen sich durch große, scheibenförmige Köpfe und schmale Säulenkörper aus. Traditionell werden Akuaba von Frauen, die schwanger werden möchten, verwendet; man glaubt, dass sie der Gesundheit und Attraktivität künftiger Kinder zuträglich sind.

Alayo Kinkugbe

Die Ausstellungsreihe »Eiserner Vorhang« ist ein Projekt von museum in progress in Kooperation mit der Wiener Staatsoper und der BundestheaterHolding. Jury: Daniel Birnbaum, Bice Curiger, Hans-Ulrich Obrist. Management: Kaspar Mühlemann Hartl, Alois Herrmann. Projektpartner: iSi Group und Goodman Gallery. Support: Hotel Altstadt, ART for ART, Bildrecht, Schloss Gobelsburg und SO/ Vienna. Medienpartner: Bloomberg Connects, DIE FURCHE und Die Presse.

XOHANAMI EL ANATSUI

»EINE BEREICHERUNG FÜR DAS REPERTOIRE«

Das Wiener Staatsballett tanzte seine erste Premiere in dieser Saison mit Alexei Ratmanskys zeitgenössischem Handlungsballett Kallirhoe. Das Publikum wie auch die Presse feierten die Europäische Erstaufführung und den gleichzeitigen Einstand von Ballettdirektorin Alessandra Ferri frenetisch.

MADISON YOUNG (KALLIRHOE) & VICTOR CAIXETA (CHAIREAS)
Fotos ASHLEY TAYLOR

MADISON YOUNG (KALLIRHOE)

ALESSANDRO FROLA (DIONYSIOS)

Vor der nächsten Vorstellungsserie im Jänner gibt es im November noch eine weitere Aufführung mit zahlreichen Debüts, u.a. Laura Fernandez Gromova und Kentaro Mitsumori als Kallirhoe und Chaireas sowie Arne Vandervelde als Dionysios.

ALEXEI RATMANSKY

KALLIRHOE

BALLETT IN ZWEI AKTEN 10. NOVEMBER 2025 4. 5. 7. 12. JÄNNER 2026

Choreografie ALEXEI RATMANSKY Dramaturgie & Libretto GUILLAUME GALLIENNE nach dem Roman KALLIRHOE von CHARITON VON APHRODISIAS Musik ARAM CHATSCHATURJAN arrangiert von PHILIP FEENEY

Musikalische Leitung PAUL CONNELLY Bühne & Kostüme JEAN-MARC PUISSANT Licht DUANE SCHULER Umsetzung Kostüme SUKIE KIRK Einstudierung NANCY RAFFA, ERIC TAMM

Kallirhoe LAURA FERNANDEZ GROMOVA Chaireas KENTARO MITSUMORI Dionysios ARNE VANDERVELDE Mithridates VLADYSLAV BOSENKO Polycharmos GÉRAUD WIELICK Plangon GALA JOVANOVIC König von Babylon ZSOLT TÖRÖK Königin von Babylon REBECCA HORNER (Novemberbesetzung) WIENER STAATSBALLETT BALLETTAKADEMIE & ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

MADISON YOUNG (KALLIRHOE) & ENSEMBLE

»Der Einstand der neuen Ballettdirektorin des Wiener Staatsballetts Alessandra Ferri in der Staatsoper zeigt, in welche Richtung die Zukunft der Compagnie führt: Ballett auf höchstem Niveau, viele hervorragende neu engagierte Tänzerinnen und Tänzer sowie Choreografien, die im klassischen Ballettvokabular verwurzelt sind.«

»(…) für das Ensemble eine großartige Herausforderung … Madison Young verkörpert die Titelfigur sensibel, aber nicht zimperlich, und Victor Caixeta legt mit seinem kraftvollen Chaireas ein überzeugendes Wien-Debüt hin. (…) Besonders wirkungsvoll setzt Ratmansky tänzerisch großartige und oft ›vielstimmige‹ Frauengruppen ein: Sie interpretieren emotionale Hintergründe des Narrativs oder vertiefen bestimmte Bedeutungsebenen.«

»Kallirhoe, erste Ballettpremiere unter der neuen Chefin Alessandra Ferri, bringt Leidenschaftliches in neoklassischem Stil: Eine Bereicherung für das Repertoire (…) Rohe Energie, Wut, Verzweiflung und große Liebe: Das alles wird in dem Handlungsballett Kallirhoe derart energisch ausgedrückt, dass es eine Freude ist.«

THERESA STEININGER, DIE PRESSE

»Das Erstaunliche ist, dass dieses eklektizistische Werk alles leistet, was ein gutes Handlungsballett sollte: die perfekte Kombination aus Tanz und handlungstreibender Gestik zu einer klaren Story in einer großartigen und anspruchsvollen Choreografie. (…) Sowohl Corps als auch Solisten (u.a. Madison Young, Victor Caixeta, Alessandro Frola, Ioanna Avraam) demonstrierten, was ein getanztes Drama zuwege bringt: Spannung, Faszination, Schönheit. Ratmansky ist ein feinfühliger, präziser Choreograf, der wunderbare Hebefiguren, Drehungen, Sprünge und Phrasierungen schaffen kann.«

»Üppig und theatralisch: Mit Ratmanskys getanztem Liebesroman feiert das Wiener Staatsballett die erste Premiere unter Alessandra Ferri – Europäische Erstaufführung und stürmischer Applaus.«

LUDWIG MITTELHAMMER als PAPAGENO & ILIA STAPLE als PAPAGENA in DIE ZAUBERFLÖTE
Foto MICHAEL PÖHN

DER PRÄGENDE MOMENT

ILIA STAPLE

Eigentlich gab es für mich keinen einen prägenden Moment. Es war einfach immer da. Es ist meine Muttersprache. Musik ist ein ganz natürliches Ausdrucksmittel in meinem Aufwachsen gewesen und das Singen war von Tag eins an das Selbstverständlichste überhaupt.

Meine Mutter war Sängerin und kommt aus Kärnten, wo es eine starke Tradition für Volks- und Chormusik gibt (Kärnten ist ja berühmt für seine Chöre) und wir haben zu Hause einfach immer gesungen und musiziert, haben gemeinsam Opern gehört, zur CarmenOuvertüre getanzt, Carmina Burana auf und ab gehört und die Zauberflöte gespielt. Nie als Muss, sondern einfach, weil es das Natürlichste auf der Welt war. Meine Schwester, meine Mama und ich haben dann oft dreistimmig gesungen und es war auch völlig egal, wer welche Stimme gesungen hat. Es war einfach immer da. Eben wie eine Art Muttersprache.

Und mir war auch immer schon klar, dass ich diesen Beruf machen wollte – wobei ich es eigentlich nie so wirklich als Arbeit empfunden habe. Ich dachte mir nur: »Es ist das Schönste auf der Welt, das es für mich gibt und wenn mir dann dafür auch noch jemand Geld zahlt …«. Während der Oberstufe hab ich ein Vorstudium in Wien gemacht – also schon damals hab ich mich nach der Schule in einen Zug gesetzt und bin nach Wien gefahren. Parallel zum Studium hab ich dann mit kleinen Jobs am Theater angefangen: Statisterie, Extrachor… Später macht man dann Uniprojekte und so ging alles ganz natürlich von einem

ins andere. Also, dass ich das mache, war für mich einfach »common sense«. Aber es geht ja um prägende Momente … Für mich war tatsächlich ein sehr prägender Moment, als ich das erste Mal hier an diesem Haus war. Als ich zum Vorsingen auf der Bühne stand, dachte ich mir bloß: »Wahnsinn, diese Akustik!« Und nach zwei Tönen war ich nicht mehr nervös, weil es einfach so viel Spaß gemacht hat. Kurz darauf war ich dann in der Fledermaus als Cover involviert und hab auch Vorstellungen übernommen. Schon während des Probenprozesses spürte ich ganz stark, dass ich hier meine Muttersprache sprechen kann. Es ist schwer, das in Worte zu fassen, aber es gibt hier einfach so ein musikalisches Grundverständnis, bei Phrasierungen zum Beispiel und solchen Dingen, die für alle hier am Haus ganz natürlich sind. Eine gewisse Art des Musizierens, des Verstehens und Empfindens von Musik. Man begegnet sich auf derselben Ebene und arbeitet dann von dieser Ebene weg. Das fühlte sich für mich an wie ein Ankommen im musikalischen Sinn, ein Nach-Hause-Kommen. Das macht dieses Haus für mich so einzigartig. Naja, und dann ist da natürlich dieses Haus selbst! Es ist halt die Wiener Staatsoper, das nutzt sich nicht ab. Jedes Mal, wenn ich in die Arbeit gehe, denke ich mir: »Wow!« Allein die Sänger, die hier ein und aus gehen. Noch ein prägender Moment war für mich zum Beispiel, Camilla Nylund kennenzulernen (lustigerweise in der Fledermaus im Jahr darauf). Sie ist für mich eine der besten Sängerinnen, die es zurzeit gibt, und wir sitzen dann

beieinander und unterhalten uns ganz natürlich. Sie fragt mich nach meinen Kindern und erzählt von ihrem Hund und ihrer Tochter – das fühlt sich fast schon absurd an. Und natürlich stehen auch alle unter Druck, weil wir halt da sind, wo wir sind. Das ist auch eine gewisse Art der Verantwortung, die man trägt, aber auch tragen möchte. Ich hab mir natürlich nie erlaubt, davon zu träumen, einmal hier zu singen. In meiner Maturazeitung gab es damals eine Seite, wo man sich selbst in Bildern beschreiben sollte und ich hatte dort ein Bild der Wiener Staatsoper ausgewählt. Aber ich hab mir damals natürlich gedacht, dass das immer unerreichbar sein wird. Und dann ist man auf einmal hier und es ist so schön! Und ich bin so dankbar drum!

BIOGRAFIE

Die gebürtige Linzerin Ilia Staple erhielt ihre Gesangsausbildung an der Universität ihrer Heimatstadt in der Klasse von Katerina Beranova. Von 2016 bis 2018 war sie Mitglied des Oberösterreichischen Opernstudios am Landestheater Linz, anschließend bis 2024 Ensemblemitglied des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Seit der Spielzeit 2024/25 ist Ilia Staple Mitglied des Ensembles der Wiener Staatsoper. Ihr Repertoire umfasst hier Partien wie Papagena in DIE ZAUBERFLÖTE , Esmeralda in DIE VERKAUFTE BRAUT, Frasquita in CARMEN und viele weitere. Zum Jahreswechsel ist sie erneut als Adele in der FLEDERMAUS zu erleben sowie am 9. November als Solistin in der Ensemblematinee.

DEBÜTS

HAUSDEBÜTS

FALSTAFF 8. NOV 2025

EMILY POGORELC Nannetta

Die vielfach preisgekrönte amerikanische Sopranistin Emily Pogorelc stammt aus Wisconsin und hat sich schnell zu einer der aufregendsten Stimmen ihrer Generation entwickelt. Das ehemalige Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper erhält mittlerweile Einladungen an zahlreiche große Bühnen der Welt. 2025/26 begann am Opernhaus Zürich mit ihrem Hausund Rollendebüt als Sophie in einer Neuproduktion des Rosenkavalier. An der Wiener Staatsoper gibt sie ein weiteres Haus- und Rollendebüt als Nannetta in Falstaff und singt danach Pamina bei der Mozartwoche in Salzburg. Bei ihrer Rückkehr an die Bayerische Staatsoper singt sie Mařenka ( Die verkaufte Braut), gefolgt von ihrem Debüt an der Niederländischen Nationaloper als Susanna in einer Neuproduktion von Le nozze di Figaro. Anschließend kehrt sie für Auftritte als Juliette in Roméo et Juliette an die Semperoper Dresden zurück und beendet ihre Opernsaison mit einem Debüt beim Festival von Santander, wo sie erneut die Rolle der Pamina singt. Zuletzt feierte sie mehrere Debüts, die ihre Vielseitigkeit unter Beweis stellten: Unter anderem Violetta ( La traviata) an der Detroit Opera und an der Semperoper Dresden, Musetta ( La Bohème) an der New Yorker Metropolitan Opera sowie an der Dallas Opera.

KENTARO MITSUMORI Chaireas

Der Japaner Kentaro Mitsumori wurde an einer privaten Ballettschule in Japan und der John Cranko Schule in Stuttgart ausgebildet. 2017 erhielt er ein Engagement an das Königlich Schwedische Ballett. 2021 erfolgte die Ernennung zum Ersten Solisten und 2022 zum Principal Dancer. Sein Repertoire beinhaltet Hauptrollen in Sir Kenneth MacMillans  Manon  und  Romeo und Julia , Rudolf Nurejews Schwanensee und Don Quixote, Tamara Rojos Cinderella , José Martinez’ Le Corsaire, Pär Isbergs Der Nussknacker, Marcia Haydées Dornröschen , Natalia Makarovas Giselle sowie unter anderem Werke von George Balanchine, JeanGuillaume Bart, Maurice Béjart, Mats Ek, Alexander Ekman, William Forsythe, Serge Lifar, Wayne McGregor, Ohad Naharin, Jerome Robbins und Christopher Wheeldon. Zu seinen Aus zeichnungen zählen der 1. Preis und jener des »Besten Tänzers« bei der All Japan Ballet Competition 2013, der Gallodier Award (2021) sowie das Mariane Orlando-Stipendium (2023).  Zur Spielzeit 2025/26 wechselte Kentaro Mitsumori als Erster Solotänzer an das Wiener Staatsballett.

DIALOGUES

20. NOV 2025 DES CARMÉLITES

Musikalische Leitung

Robin Ticciati wurde in London geboren und ist ausgebildeter Geister, Pianist und Schlagzeuger. Er war Mitglied des National Youth Orchestra of Great Britain. Im Alter von fünfzehn Jahren wandte er sich unter der Anleitung von Sir Colin Davis und Sir Simon Rattle dem Dirigieren zu. Seit 2014 ist er Musikdirektor des Opernfestivals in Glyndebourne. Von 2017 bis 2025 war er Musikdirektor des Deutschen SymphonieOrchesters Berlin, von 2009 bis 2018 Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra. Er ist regelmäßiger Gast beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem London Philharmonic Orchestra, dem Budapest Festival Orchestra und dem Chamber Orchestra of Europe. In den letzten Jahren trat er auch mit den Wiener Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Königlichen Concertgebouw Orchester, dem Orchestre National de France, der Staatskapelle Dresden, dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Cleveland Orchestra, dem Los Angeles Philharmonic und dem San Francisco Symphony Orchestra auf. Seit seiner Ernennung zum Musikdirektor in Glyndebourne hat er vielbeachtete Neuproduktionen von u.a. Parsifal, La damnation de Faust, Pelléas et Mélisande, Der Rosenkavalier, Die Entführung aus dem Serail, La clemenza di Tito und Dialogues des Carmélites geleitet. Er dirigierte Peter Grimes an der Mailänder Scala, Le nozze di Figaro bei den Salzburger Festspielen und Eugen Onegin sowohl am Royal Opera House, Covent Garden als auch an der Metropolitan Opera in New York. Für seine Verdienste um die Musik wurde er zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt.

KALLIRHOE 10. NOV 2025

DEBÜTS

SYLVIE BRUNET-GRUPPOSO

Madame de Croissy Sylvie Brunet-Grupposo wird von der internationalen Presse als eine der herausragenden Interpretinnen ihrer Zeit gefeiert. Ihr Debüt gab sie unter Riccardo Muti mit der Titelrolle in  Iphigénie en Tauride an der Mailänder Scala. Seither ist sie an vielen renommierten internationalen Opernhäusern und bei wichtigen internationalen Festivals aufgetreten. Unter anderem an der Opéra de Paris, dem Théâtre des Champs-Elysée, an der Opéra de Lyon, in Marseille, Nizza, Toulouse und bei den Festivals in Aix-en-Provence und Orange. Weiters war sie unter anderem in München, Wien, Frankfurt, Genf, Brüssel, Philadelphia, San Francisco, Toronto, Santiago de Chile, Tokio, Seoul, Bari, Catania, Sevilla, Madrid, Bonn, Bukarest, Dublin und Kopenhagen zu hören. Zu den Höhepunkten der Spielzeit 2025/26 zählen Madame de Croissy in  Dialogues des Carmélites an der Wiener Staatsoper sowie am Teatro Regio Torino. Im Concertgebouw in Amsterdam wird sie die Marthe in Gounods Faust singen. Ihr Repertoire umfasst Rollen wie Amneris ( Aida), Carmen, Dalila (Samson et Dalila), Sélika ( L’Africaine), La Nourrice ( Ariane et Barbe ­ bleue), Ottavia ( L’incoronazione di Poppea), Iokaste (Oedipus Rex), Geneviève (Pelléas et Mélisande), Ulrica (Un ballo in maschera), Eboli (Don Carlo), Azucena ( Il trovatore), Santuzza (Cavalleria rusticana). Sie wurde mit dem Grand Prix de l’AROP, dem Prix Claude Rostand und dem Prix de la Fondation de la Vocation ausgezeichnet.

FAUST

ROLLENDEBÜTS

6. NOV. 2025

OLGA KULCHYNSKA Marguerite

A LEX ESPOSITO Méphistophélès

LEONARDO NEIVA Wagner

FALSTAFF

8. NOV. 2025

PIER GIORGIO MORANDI Musikalische Leitung

DAVIDE LUCIANO Ford

IVÁN AYÓN RIVAS Fenton

RUZAN MANTASHYAN Alice

EVGENY SOLODOVNIKOV Pistola

ALMA NEUHAUS Meg Page

KALLIRHOE 10. NOV 2025

LAURA FERNANDEZ GROMOVA Kallirhoe

ARNE VANDERVELDE Dionysios

VLADYSLAV BOSENKO Mithridates

GÉRAUD WIELICK Polycharmos

GALA JOVANOVIC Plangon

LUCIA DI LAMMERMOOR 16. NOV. 2025

ROBERTO ABBADO Musikalische Leitung

MATTIA OLIVIERI Enrico

ADELA ZAHARIA Lucia

BEKHZOD DAVRONOV Edgardo

HIROSHI AMAKO Arturo

ADAM PALKA Raimondo

ISABEL SIGNORET Alisa

CARLOS OSUNA Normanno

DIE FLEDERMAUS 18. NOV 2025

LUCIANO DI MARTINO Musikalische Leitung

TIMOOR AFSHAR Johann DAVIDE DATO Ulrich

DIALOGUES 20. NOV. 2025 DES CARMÉLITES

OLGA KULCHYNSKA Blanche

BOGDAN VOLKOV Chevalier de la Force

TERESA SALE REBORDÃO*

Sœur Mathilde

JÖRG SCHNEIDER Beichtvater

SIMONAS STRAZDAS* 2. Kommissar ALEX ILVAKHIN* Offizier

DIE FLEDERMAUS 24. NOV 2025

KETEVAN PAPAVA Bella MASAYU KIMOTO Johann

DIE FLEDERMAUS 28. NOV 2025

IOANNA AVRAAM Bella

ARNE VANDERVELDE Johann GIORGIO FOURÉS Ulrich

VĚC MAKROPULOS 30. NOV. 2025

TOMÁŠ HANUS Musikalische Leitung

MARLIS PETERSEN Emilia Marty

PAVEL ČERNOCH Albert Gregor

KS BO SKOVHUS Jaroslav Prus

LUKAS SCHMIDT Vítek

ALMA NEUHAUS Krista

TERESA SALE REBORDÃO* Aufräumerin

MATTHÄUS SCHMIDLECHNER Hauk-Šendorf

ANITA MONSERRAT* Kammermädchen

* Mitglied des Opernstudios

TODESFÄLLE

KS FRANZ GRUNDHEBER

in der Rolle des MOSES in MOSES UND ARON

WIENER STAATSOPER, 2010

Die Staatsoper ist tief betroffen vom Tod ihres Ehrenmitgliedes KS FRANZ GRUNDHEBER , der am 27. September 2025, also exakt an seinem 88. Geburtstag, verstorben ist. Der gefeierte Bariton wurde in Deutschland geboren und gastierte im Laufe seiner internationalen Karriere u.a. in Brüssel, Paris, London, Madrid, Mailand, San Francisco, New York und bei den Salzburger Festspielen. Im Haus am Ring gab er sein Debüt schon 1976 als Nozze-Figaro, der endgültige Durchbruch zum gefeierten Wiener Publikumsliebling gelang ihm schließlich mit dem Wozzeck bei einer Neuproduktion 1987. Und von da an war er von der Staatsopernbühne nicht mehr wegzudenken. Nicht umsonst wurde Wien für Grundheber eine zusätzliche Heimat. Der Freundeskreis oder die begeisterte Anhängerschaft (die Grenze zwischen den beiden Gruppen war fließend) wurde jedenfalls unentwegt größer – was sich auch an der stets wachsenden Gruppe derer ablesen ließ, die nicht nur an der Bühnentür auf das Erscheinen Grundhebers wartete, sondern nach den Vorstellungen, die Barriere des Bühnenportiers überwindend, die Solistengarderobe des eben Gefeierten stürmte. Dass die Liebe eine gegenseitige war, dass ihm dieses Haus und dieses Publikum besonders am Herzen lagen, zeigte sich nicht zuletzt an seiner

tiefen Traurigkeit, als er nach über 40 Jahren am Ende seiner Karriere 2017 als Schigolch in Bergs Lulu Abschied von der Wiener Staatsoper nahm. Fast 260-mal stand KS Franz Grundheber auf dieser Bühne, und das in einem ungemein breiten Repertoire, das deutsche, italienische und französische Rollen gleichermaßen umfasste. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang, wie er oft gehörte Klischees, dass deutsche Sänger italienische Partien nicht optimal umsetzen könnten, Lügen strafte. Seine Rigoletto-Interpretationen schrieben Aufführungsgeschichte, Grundheber litt und rang als Hofnarr auf der Bühne, dass man als Zuhörer noch Tage danach innerlich erschüttert war; sein verzweifelt-rachsüchtiges »Sì, vendetta, tremenda vendetta« wird jeder dauerhaft in Erinnerung behalten, der es je miterleben durfte. Überhaupt waren es sehr oft die gebrochenen Charaktere, die er auf unnachahmliche Weise vokal und schauspielerisch zu gestalten wusste. Allein wie er als Amfortas dessen »Erbarmen! Du Allerbarmer! Ach, Erbarmen!« oder das »Heraus die Waffen! Taucht eure Schwerter tief, bis ans Heft!« seiner Gralsritterschaft, aber vor allem dem gebannten Publikum entgegenschleuderte, war ein tief aufwühlendes Erlebnis. Natürlich sang er alle die großen Charaktere seines Faches – etwa Amonasro, Holländer, Jago, Orest, die Bösewichter in Contes d’Hoffmann , Scarpia, Cardillac, Dr. Schön, aber er wusste auch in Raritäten zu überzeugen, zum Beispiel als Guglielmo Wulf in Puccinis Erstling Le villi , gab mit großer Hingabe den Moses in einer Neuproduktion des Schönberg’schen Opus oder den Carlo Borromeo in Pfitznes Palestrina. »So vielfältig die Partien waren, die Franz Grundheber an der Wiener Staatsoper verkörperte, in einem glichen sich all seine Interpretationen: Grundheber lebte seine Charaktere, jeder Ton, den er sang, jede Gebärde wurde bei ihm zur psychologischen Tiefenbohrung. Er stieg regelrecht in die verborgensten Regionen einer Figur hinab, um all ihr Fühlen und Denken aus dem Innersten heraus beglaubigen zu können«, so Staatsoperndirektor Bogdan Roščić. 1998 wurde Franz Grundheber zum Österreichischen Kammersänger ernannt, seine enge Beziehung zur Wiener Staatsoper gipfelte 2010 schließlich in der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Hauses am Ring.

Die Solorepetitorinnen und -repetitoren der Wiener Staatsoper sind viel mehr als nur großartige Pianisten und hervorragende Musikerinnen. Dass sie über ein hohes technisches Können wie stilistisches Wissen verfügen, ist Voraussetzung für all die Probentätigkeiten, Auftritte und Tastendienste im Orchestergraben. Aber ihre eigentliche Aufgabe besteht in der verantwortungsvollen Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern: ob Ensemblemitglieder oder Gäste, sie alle müssen in ihrer Entwicklung unterstützt, behütet, geleitet, geformt werden, um auf der Opernbühne bestehen zu können. Zu dieser herausfordernden Tätigkeit einer Solorepetitorin gehört daher viel Wissen, Erfahrung und künstlerisches wie menschliches Feingefühl. KRISTIN OKERLUND verfügte über all das in höchstem Maße und war daher für das Haus und die Kollegenschaft im wahrsten Sinne des Wortes unersetzlich. Außenstehende können daher vielleicht erahnen, was ihr unerwarteter Tod am 10. Oktober für die Wiener Staatsoper bedeutet. Seit 1993 hat die aus den USA stammende, vielfach preisgekrönte Pianistin das tägliche musikalische Werden unserer Bühne intensiv mitgeprägt und getragen. Dirigenten suchten die Zusammenarbeit mit ihr, Sänger und Sängerinnen vertrauten ihr blind. Ihre Meinung hatte einfach Gewicht – auch wenn sie diese niemandem aufdrängte. Und sie schien alles zu beherrschen, was man ihr an Musik vorlegte. Sie konnte in jeder Probe einspringen, beherrschte jedes Werk, ohne es vorher geübt zu haben, spielte das Schwerste und Ausgefallenste problemlos von Blatt. Ihr einziges Utensil, das sie neben einem Bleistift auf die Proben mitnahm, war ein Becher Kaffee, allenfalls eine Wasserflasche. Mehr brauchte sie nicht und konnte schon loslegen. Darüber hinaus besaß Kristin Okerlund die schöne Fähigkeit, anderen die Ohren zu öffnen. Mit wenigen Gesten

KRISTIN OKERLUND

verwies sie auf bestimmte Details der Partitur, lenkte die Aufmerksamkeit auf Nuancen der gerade stattfindenden Vorstellung – wenn man also zum Beispiel in der Dienstloge neben ihre sitzen durfte, ging man nach einer Aufführung mit Sicherheit an musikalischem Wissen reicher hinaus, als man hineingegangen war. Details und Nuancen bestimmten aber auch ihr Spiel auf den Podien: Das Publikum wird sie als sensible Begleiterin und Kammermusikerin u.a. bei Konzerten im Gustav Mahler-Saal oder auf der großen Bühne in Erinnerung behalten. Legendär auch wie sie den Klavier-Solopart in Ariadne auf Naxos oder in Pique Dame absolvierte. Ihr persönliches Glück neben ihrer Arbeit an der Wiener Staatsoper (und an der Musik und Privatuniversität der Stadt Wien, an der sie eine eigene Korrepetitionsklasse leitete) waren ihre beiden Töchter, die nicht zuletzt unter ihrer Obhut zu weltweit gefragten Instrumentalistinnen herangereift waren. Ihr plötzlicher Tod setzte nun all ihrem Wirken ein viel zu frühes, tragisches Ende.

GEBURTSTAGE

KS SIR BRYN TERFEL vollendet am 9. November sein 60. Lebensjahr. Der weltweit gefeierte walisische Bassbariton ist der Wiener Staatsoper seit 1993 eng verbunden. Spätestens seit seinem Erfolg mit den vier Bösewichtern in der Contes d’Hoffmann-Neuproduktion gilt er auch in Wien als einer der großen Publikumslieblinge und sang hier, zum Teil in Premieren, u.a. Holländer, Leporello und Don Giovanni, Falstaff, Don Basilio, Dulcamara, Nozze-Figaro, Balstrode, Jochanaan und Scarpia.

Der aus Oberösterreich stammende Dirigent RALF WEIKERT feiert am 10. November seinen 85. Geburtstag. An der Wiener Staatsoper leitete er über 120 Vorstellungen und bewies seine stilistische Kenntnis in einem breiten Repertoire von Mozart über den Belcanto bis zum Verismo bzw. Richard Strauss.

Die australische Sopranistin YVONNE KENNY wird am 25. November 75 Jahre alt. Das Staatsopernpublikum erlebte sie als Oscar, Susanna, Lucio Cinna (Lucio Silla), Marschallin und Capriccio -Gräfin.

Der Kostümbildner ALFRED MAYERHOFER vollendet am 3. November sein 60. Lebensjahr. Für die Wiener Staatsoper schuf er die Kostüme zu u.a. Lohengrin (2005), Dantons Tod (2018), Tannhäuser (2025) und zuletzt für die Verkaufte Braut im September 2025.

OFFIZIELLER FREUNDESKREIS

DER WIENER STAATSOPER

Der Offizielle Freundeskreis der Wiener Staatsoper veranstaltet im November unter anderem am 8. November eine Gesprächsrunde (Dialog am Löwensofa) zum Thema »Wie frei sind Künstlerinnen und Künstler?« Wie bei allen Löwensofa-Veranstaltungen wird das etwa einstündige Gespräch von musikalischen Einlagen umrahmt. Weitere Veranstaltungen unter WIENER-STAATSOPER.AT/OFK

RADIO- & TV-TERMINE

5. Nov 22.30 WIENER ORF2 STAATS OPER – WELTBÜHNE FÜR ÖSTERREICH

Regie ALEXANDRA VENIER

Buch GERALD HEIDEGGER & ALEXANDRA VENIER

6. Nov 14.05 ERÖFFNUNG Ö1 DER WIENER STAATSOPER 1955 Mit CHRIS TINA TENGEL

8. Nov 19.30 PELLÉAS Ö1 ET MÉLISANDE (Debussy)

Musikalische Leitung ALTINOGLU

Mit LINDSEY - VILLAZÓN, KEENLYSIDE, TEITGEN, KUSHPLER, WEIGL, LEE

Chor & Orchester der Wiener Staatsoper

Live aufgezeichnet in der Wiener Staatsoper im Oktober/November 2025

30. Nov 15.05 DAS WIENER Ö1

STAATSOPERNMAGAZIN

Ausschnitte aus aktuellen Aufführungen der Wiener Staatsoper Mit MICHAEL BLEES

LIVESTREAMS AUS DER WIENER STAATSOPER

2. Nov 18.30

PELLÉAS ET MÉLISANDE (Debussy)

Musikalische Leitung ALTINOGLU Inszenierung, Bühne & Licht MARELLI Kostüme NIEFIND

Mit LINDSEY - VILLAZÓN, KEENLYSIDE, TEITGEN, KUSHPLER, WEIGL, LEE

Chor und Orchester der Wiener Staatsoper

21. Nov 19.30 DIE FLEDERMAUS (Ballett)

FAUST FALSTAFF

DIE FLEDERMAUS (BALLETT)

VĚC MAKROPULOS

SERVICE

ADRESSE

Wiener Staatsoper GmbH

A Opernring 2, 1010 Wien

T +43 1 51444 2250 +43 1 51444 7880

M information@wiener-staatsoper.at

IMPRESSUM

OPERNRING 2

NOVEMBER 2025 SAISON 2025 / 26

Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH / Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ / Kaufmännische Geschäftsführung DR. PETRA BOHUSLAV / Ballettdirektorin ALESSANDRA FERRI / Redaktion NASTASJA FISCHER / IRIS FREY / ANDREAS LÁNG / OLIVER LÁNG / JANINE ORTIZ / REBECCA MAYR / Art Direction EXEX / Layout & Satz IRENE NEUBERT / Am Cover MARLIS PETERSEN / Foto YIORGOS MAVROPOULOS / Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUK TIONS GMBH, BAD VÖSLAU

REDAKTIONSSCHLUSS für dieses Heft: 24. Oktober 2025 / Änderungen vorbehalten / Allgemein verstandene personenbezogene Ausdrücke in dieser Publikation umfassen jedes Geschlecht gleichermaßen. / Urheber/innen bzw. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. WIENER-STAATSOPER.AT

Produziert gemäß Richtlinie Uz24 des Österreichischen Umweltzeichens, Print Alliance HAV Produktions GmbH, UW-Nr. 715

das bewegt

exklusive Proben- & Trainingsbesuche / Kartenvorkaufsrecht / Künstlergespräche / Kartenangebote / Meet & Greets & vieles mehr

jetzt fördern

wiener-staatsoper.at/fksb

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Opernring 2 | November 2025 by Wiener Staatsoper GmbH - Issuu