Programmheft »Die Kameliendame«

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die kamelien dame


inhalt

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Über die heutige Vorstellung

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Handlung

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Es geht um den Menschen Angela Reinhardt

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Fragmente von Liebe John Neumeier im Gespräch mit Nastasja Fischer

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Probenimpressionen

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Folge der Werke Frédéric Chopins

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»Nicht Tänze des Körpers, sondern der Seele« Anne do Paço

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Figurinen zu Die Kameliendame Jürgen Rose

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Fiktion & Wirklichkeit Arthur Scherle

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Der Star & die Hetäre Simone de Beauvoir

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Szenenfotos

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Die Kameliendame und das Ballett Horst Koegler

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Ensemble

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Biographien


FRÉDÉRIC CHOPIN IM DEZEMBER 1831 AN DEN FREUND TYTUS WOYCIECHOWSKI

»Man atmet hier süß, – doch vielleicht seufzt man deshalb auch, weil es leichter fällt. Paris ist all das, was Du willst – Du kannst dich amüsieren, langweilen, weinen, kannst alles tun, was Dir gefällt, und niemand sieht Dich an, weil hier Tausende dasselbe tun wie Du – und jeder geht seinen eigenen Weg.«


die kameliendame Ballett von John Neumeier in einem Prolog & drei Akten nach dem Roman La dame aux camélias von Alexandre Dumas d. J. Für Marcia Musik Frédéric Chopin Choreographie & Inszenierung John Neumeier Musikalische Leitung Markus Lehtinen Bühne & Kostüme Jürgen Rose Licht Ralf Merkel Einstudierung Kevin Haigen, Janusz Mazon, Ivan Urban Klavier Michał Białk / Anika Vavić Igor Zapravdin Orchester der Wiener Staatsoper URAUFFÜHRUNG 4. NOVEMBER 1978 – STUTTGARTER BALLETT – WÜRTTEMBERGISCHES STAATSTHEATER ERSTAUFFÜHRUNG MIT DEM WIENER STAATSBALLETT 24. MÄRZ 2024 – WIENER STAATSOPER


Timoor Afshar (Armand Duval), Ketevan Papava (Marguerite Gautier)



über die heutige vorstellung »Ich habe mit Ergriffenheit diesen schönen Roman zu Ende gelesen, der nur einen Fehler hat, nämlich dass er zu kurz ist«, schreibt George Sand 1851 an ihren Freund Alexandre Dumas d. J. über dessen drei Jahre zuvor veröffentlichtes Werk La dame aux camélias. Es verwundert nicht, dass die Schriftstellerin, die berühmt-berüchtigt lebte und sich für Frauenrechte einsetzte, Gefallen an der Geschichte von Marguerite Gautier und Armand Duval fand. Denn diese erzählt nicht nur von der fesselnden, tragisch endenden Liebe der beiden Hauptfiguren, sondern Dumas d. J. unternahm auch den Versuch, die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit – unter denen er als uneheliches Kind selbst litt und die ihn auch als Geliebter des historischen Vorbilds für Marguerite, Marie Duplessis, beschäftigten – anzuklagen. Vor allem aber besticht der Roman durch seine außerordentliche Struktur: »Dumas beherrscht sein Handwerk, er weiß Spannung zu erzeugen, der Handlungsaufbau ist gekonnt. Mittels einer durchdachten Strategie der Leserlenkung gelingt es ihm, Widersprüchliches zu vereinen: Der Kurtisane gilt alle Sympathie und alles Mitleid des Lesers, ohne dass Armand am Ende als verachtenswerter Bösewicht dastehen müsste […]. Dumas weiß genau, dass seine Heldin, die nicht zuletzt durch ihre ergreifenden Abschiedsbriefe die Herzen der Leser erobert hat, von ihrem Geliebten nicht kaltblütig zur Wahrung der Standesehre geopfert werden darf – und weiß auch dafür eine Lösung. Die Gründe für Marguerites Verhalten erfährt Armand erst am Schluss – dazu noch gefiltert durch die vermittelnde Sicht der Kurtisane, die ihrem eigenen Verzicht bejahend gegenübersteht«, schreibt Michaela Meßner, die den Roman für den dtv Verlag übersetzt hat, in ihrem Nachwort. Das Leben und der Fall der durch wahre Liebe selbstlos handelnden Kurtisane zieht die Menschen bis heute in ihren Bann und inspirierte zahlreiche Künstler*innen sich mit diesem Stoff auseinanderzusetzen: Dumas’ d. J. eigens geschriebene Theaterfassung, in der Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt glänzten, sollte zu einem der größten Erfolge in der Theaterwelt des 19. Jahrhunderts werden, auch Giuseppe Verdis Oper La

ÜBER DIE HEUTIGE VORSTELLUNG

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Traviata oder eine Verfilmung mit Greta Garbo nahmen sich die Geschichte zum Vorbild. Das herzzerreißende Schicksal Marguerites und Armands diente ebenso diversen Choreograph*innen für Tanz- und Ballettinterpretationen als Inspiration. Neben Frederick Ashtons Marguerite and Armand ist dabei vor allem John Neumeiers Handlungsballett Die Kameliendame fest im kulturellen Gedächtnis und Ballettkanon verankert. Nachdem 1973 der Choreograph John Cranko auf tragische Weise verstorben war, versprach Neumeier Crankos Primaballerina Marcia Haydée, dass er weiterhin Ballette für das Stuttgarter Ballett kreieren werde. Zwei Jahre nachdem Haydée die Direktion der Compagnie in Stuttgart übernommen hatte, begann 1978 die Arbeit an Die Kameliendame – angeregt durch ein Dinner mit Haydée, denn ursprünglich wollte Neumeier ein Shakespeare-Ballett nach Antonius und Kleopatra choreographieren. Besetzt waren die Stars des Ensembles: Haydée als Marguerite, Egon Madsen als Armand, Birgit Keil als Manon Lescaut und Richard Cragun als Des Grieux. »Die Form des ganzen Romans, die Vielschichtigkeit der indirekten Erzählweise, seine poetische Kraft, die fragmentarische Art der Rückschau haben mich zu dem Ballett inspiriert«, erläutert John Neumeier und verweist damit auf die filmische Dimension, die dem Roman inne liegt und die er in den schnellen Wechseln der Zeitebenen auch für sein Ballett aufgegriffen hat. Das Interesse, Die Kameliendame als Tanzfilm zu realisieren, hat Neumeier allerdings nie losgelassen und so entstand 1987, neun Jahre nach der Stuttgarter Uraufführung, eine eigene Filmversion des Balletts: »Die Kameliendame ist von mir als Ballett konzipiert, aber schon immer als Film gedacht worden«, so der Choreograph. Mit seiner Fassung der Kameliendame ist Neumeier nicht nur eine der bemerkenswertesten tänzerisch-künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Roman gelungen, sondern auch eines der wichtigsten Handlungsballette des 20. Jahrhunderts. Frédéric Chopins Musik als Partnerin begreifend besticht das Werk neben den raffinierten Erzählarten und diversen Ebenen mittels »Theater im Theater«-Elementen vor allem durch die Bewegungsdramaturgie der Figuren. Als »Zeichner von Gefühlen«, von Seelenzuständen stets an der conditio humana interessiert vermag es der Choreograph, die Geschichte und Gestaltung der Charaktere ganz allein durch den Tanz zu kreieren. Die Figuren äußern ihre gesellschaftlichen oder psychologischen Motivationen und vielschichtigen Emotionen durch Bewegung und Blicke. Während so zum einen in jedem Schritt der Pas de deux von Marguerite und Armand die Leidenschaft und wachsende Liebe der beiden spürbar ist, ist das Duett zwischen Monsieur Duval und Marguerite zum anderen von einer körpersprachlichen Distanz und Stille geprägt, die das Publikum erschauern lässt. Als »Tanz von Menschen für Menschen« choreographiert Neumeier den inneren menschlichen Ausdruck ebenso wie den äußeren Kosmos, in dem seine Figuren leben. Mit der Premiere von Die Kameliendame bekommt ein weiteres Meisterwerk Neumeiers einen Platz im Repertoire des Wiener Staatsballetts. Seit 1977 ist der Künstler der Wiener Staatsoper verbunden und hat – nach der Uraufführung von Josephs Legende – mehrere Werke wie Ein Sommernachtstraum, Daphnis und Chloë oder Le Sacre mit dem Ensemble einstudiert. Auch der gefeierte Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose setzt mit seiner Ausstattung für Die Kameliendame seine erfolgreiche Beziehung mit dem Haus am Ring fort. 5

ÜBER DIE HEUTIGE VORSTELLUNG


handlung

Das Ballett spielt während einer Auktion. Die Handlung entwickelt eine Serie von Erinnerungen, die verschiedene Erzählperspektiven wiedergibt – die von Armand, seinem Vater und die von Marguerite. Sämtliche Vorgänge der Gegenwart sind in der folgenden Handlung kursiv gedruckt.

Prolog Marguerite Gautier, eine der begehrtesten Kurtisanen von Paris, ist gestorben. Die luxuriöse Einrichtung ihres Appartements soll auf einer Auktion versteigert werden. Nanina, ihre treue Dienerin, führt das Tagebuch von Marguerite mit sich und nimmt von ihrer Herrin Abschied. Neben neugierigen Besuchern erscheint auch Monsieur Duval, dessen Sohn Armand verzweifelt hereinstürzt. Von Erinnerungen überwältigt bricht Armand zusammen.

HANDLUNG

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1. Akt Während Monsieur Duval ihn tröstet, erzählt Armand seine Geschichte. Sie beginnt im Théâtre des Variétés während einer Vorstellung des Balletts Manon Lescaut, in dem Des Grieux von der berüchtigten Rokoko-Kurtisane mit zahlreichen Bewunderern betrogen wird. Marguerite Gautier ist im Publikum empört über Manons leichtherzige Treulosigkeit. Armand Duval, der schon seit längerem Marguerite verehrt, wird ihr von Gaston Rieux vorgestellt. Marguerite ist amüsiert über Armands befangene Aufrichtigkeit. Während des Balletts fürchtet er, in Des Grieux’ traurigem Schicksal seine eigene Zukunft zu erblicken. Nach der Vorstellung lädt Marguerite Armand in ihr Appartement ein, mit seinem Freund Gaston, der Kurtisane Prudence und Marguerites Begleiter, dem jungen Grafen N. Verärgert von dem eifersüchtigen Grafen erleidet Marguerite einen Hustenanfall. Armand folgt ihr in das Schlafzimmer, bietet seine Hilfe an und gesteht ihr seine Liebe. Sie ist von Armands aufrichtiger Leidenschaft gerührt. Ihrer tödlichen Krankheit ebenso bewusst wie ihrem unstillbaren Hang nach Komfort und Luxus drängt sie darauf, ihre Affäre geheim zu halten. Marguerite führt ihr hektisches Leben weiter, eilt von Ball zu Ball, von Verehrer zu Verehrer, vom alten Herzog zum jungen Grafen. Doch immer wartet Armand auf sie. Er folgt ihr selbst aufs Land, wo ihr der Herzog ein Landhaus zur Verfügung gestellt hat.

2. Akt Marguerites Strohhut veranlasst Armand seine Geschichte fortzuführen ... Umgeben von feiernden Freunden und glühenden Verehrern setzt Marguerite ihr stürmisches Leben auf dem Land fort. Mit der unvermeidbaren Konfrontation zwischen Armand und dem Herzog naht der Moment der Entscheidung. Sie macht ihre Liebe zu Armand öffentlich. Endlich sind Armand und Marguerite allein. Armands Vater bedauert seine Rolle in dieser Geschichte. Beschämt, dass sein Sohn mit einer Prostituierten zusammenlebt, sucht Monsieur Duval Marguerite im Landhaus auf. Er ist davon überzeugt, dass ihre Beziehung seinen Sohn verderben wird. Schockiert protestiert Marguerite, doch in ihrem Inneren erscheint Manons Bild und das ihrer Verehrer als ein Spiegelbild ihrer eigenen Vergangenheit und unterstreicht die Gültigkeit von Monsieur Duvals Anschuldigung. Er besteht darauf, dass sie Armand verlässt. Aus Liebe fügt sich Marguerite. Armand berichtet seinem Vater, wie er das Landhaus verlassen vorgefunden hat. Vergeblich wartet Armand auf Marguerite, bis Nanina ihm einen Brief überreicht. Er erfährt, dass sie zu ihrem früheren Leben zurückgekehrt ist. Ungläubig eilt Armand nach Paris und findet sie in den Armen des Herzogs. 7

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3. Akt Armand erzählt seinem Vater, wie sie sich später auf den Champs-Élysées begegnet sind. Marguerite wird von Olympia begleitet, einer jungen, schönen Kurtisane. Armand flirtet und verführt Olympia. Auf diese Weise übt er Vergeltung an einer Frau, die ihn tief verletzt hat. Vom Tod gezeichnet sucht Marguerite Armand auf und bittet ihn, sie nicht durch das Prahlen seiner Affäre mit Olympia zu demütigen. Die Leidenschaft zwischen beiden entfacht erneut. Doch im Schlaf wird Marguerite durch eine Vision Manons wieder in ihr altes Leben gewiesen. Als sie erwacht, erinnert sie sich an das Versprechen, das sie Armands Vater gegeben hat. Lautlos verlässt sie Armand zum zweiten Mal. Auf einem Ball erniedrigt Armand Marguerite öffentlich, indem er ihr Geldscheine als Bezahlung für gewährte Liebesdienste überreicht. Marguerite bricht zusammen. Armand hat das Ende seiner Geschichte erreicht. Er wird Marguerite niemals wiedersehen. Ergriffen verabschiedet sich sein Vater. Nanina kommt zurück und überbringt Armand das Tagebuch von Marguerite. Armand liest. Ihm scheint, als ob er Marguerite auf ihrem letzten Besuch ins Theater begleitete. Wiederholt sieht sie eine Szene aus dem Ballett Manon Lescaut. Verarmt stirbt Manon in den Armen ihres treuen Liebhabers Des Grieux. Krank und verzweifelt verlässt Marguerite das Theater. Die Figuren des Balletts folgen ihr in einen fieberhaften Traum. Manon und Des Grieux vermischen sich mit Marguerites eigenen Erinnerungen. Marguerite identifiziert sich mit Manon. Verzweifelt und in Sehnsucht nach Armand vertraut Marguerite ihre letzten Gedanken dem Tagebuch an, das sie Nanina mit der Bitte gibt, es Armand zu überreichen. Marguerite stirbt, von allen verlassen. Schweigend schließt Armand ihr Tagebuch.

HANDLUNG

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ALEXANDRE DUMAS D. J.

»Es war wirklich unmöglich, einer reizenderen Schönheit als Marguerite zu begegnen ... Denken sie sich ein Oval von unbeschreiblicher Anmut, darin zwei schwarze Augen, über denen die Brauen in so reinen Bogen verlaufen, dass sie wie gemalt erscheinen. Denken sie sich weiter lange Wimpern, die beim Senken der Lider Schatten auf die Rosenwangen werfen, eine schlanke Nase, gerade und geistvoll, die ein wenig geschwungenen Nasenflügel verraten Lebenslust und Sinnenfreude. Wenn sie ihren regelmäßigen Mund anmutig öffnet, schimmern ihre milchweißen Zähne. Ihre Haut ist, den Pfirsichen ähnlich, die noch keine Hand berührt hat, wie mit einem Flaum überzogen und samtweich. Jetzt haben Sie ihren entzückenden Kopf vor sich. Ihre pechschwarzen Haare, die anscheinend natürlich gelockt waren, umrahmen ihr Antlitz und ließen die Ohrläppchen frei, in denen zwei Diamanten blitzten, die jeder vier- bis fünftausend Francs wert waren ... Wie ging es zu, dass das leidenschaftliche Leben den charakteristischen Zug in Marguerites Antlitz, den jungfräulichen, fast möchte ich sagen kindlichen Ausdruck nicht zerstörte? Man ist gezwungen, es festzustellen, ohne es begreifen zu können ... Marguerite wohnte allen gesellschaftlichen Ereignissen bei und besuchte jeden Abend das Theater oder den Ball. Sooft ein neues Stück gegeben wurde, konnte man sicher sein, sie dort zu finden und ebenso drei Dinge, die sie immer bei sich hatte und die vor ihr auf der Brüstung der Parterreloge lagen: ihr Opernglas, eine Bonbonniere und ein Strauß Kamelien. An fünfundzwanzig Tagen im Monat waren die Kamelien weiß und an fünf Tagen rot. Niemand hat den Grund für diesen Farbwechsel, den ich erwähne, ohne ihn erklären zu können, je erfahren. Die Besucher ihres Lieblingstheaters und alle ihre Freunde haben es aber ebenso wie ich beobachtet. Man hat Marguerite niemals mit anderen Blumen als Kamelien gesehen. Im Laden der Madame Barjon, ihrer Blumenverkäuferin, wurde ihr deshalb der Beiname ›die Kameliendame‹ gegeben, und dieser Beiname war ihr geblieben.«

AUS DIE KAMELIENDAME


JOHN NEUMEIER

»Tanz ist die lebendige Gestalt von Emotionen.«


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HANDLUNG


es geht um den menschen

ANGELA REINHARDT

Einst war er der jüngste Ballettdirektor Deutschlands, jetzt nimmt er als dienstältester Direktor aller Zeiten Abschied. Der Amerikaner John Neumeier hat den weitaus größten Teil seines 85 Jahre langen Lebens in Hamburg verbracht, über ein halbes Jahrhundert leitete er das Hamburg Ballett – länger als je ein Choreograph einer der großen Compagnien vorstand, eingeschlossen die berühmten Kollegen Marius Petipa und George Balanchine. Selbst ohne Kenntnis seiner 170 Werke muss man bewundern, was er mit seinem Ensemble samt Schule, Ballettzentrum, Bundesjugendballett, einer Stiftung und einem zukünftigen Ballettmuseum aufgebaut hat. Ein solches Imperium mag den zur freien Szene und zur Avantgarde orientierten Zeitgenossen suspekt sein, genau wie Neumeiers Festhalten an Spitzenschuh und Erzählballett. Diejenigen aber, die ohne alle tanzhistorische Dimension einfach nur zuschauen, haben sicher ein Bild aus einem seiner Werke vor Augen, das sie irgendwann mitten ins Herz getroffen hat: wie in Nijinsky der weinende Clown Petruschka mit den Weltkriegssoldaten marschiert, wie am Schluss der Dritten Sinfonie von Gustav Mahler alle Engel schweben, wie König Ludwig in Illusionen – wie Schwanensee in seinem blauen Baldachin ertrinkt oder wie eine ungläubige Hoffnung auf dem Gesicht der Kameliendame erscheint und die Liebe eine Verlorene aus ihrer Krankheit zum Tode zurückholt.

ES GEHT UM DEN MENSCHEN

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John Neumeier ist der große Erzähler unter den Choreographen der Gegenwart, er hat das Genre des Literaturballetts nicht nur unermüdlich hochgehalten, sondern perfektioniert und um so viele Themen, Ideen, Techniken und subtile Feinheiten bereichert. Er hat großartige Rollen für mehrere Generationen von Tänzerinnen und Tänzern geschaffen und viele von ihnen über sich hinauswachsen lassen.

»In einer immer stärker auf die reine Bewegung konzentrierten Tanzwelt bleibt John Neumeier mit seiner umfassenden Bildung, dem metaphysischen Hintergrund, mit seinem Festhalten an den großen Menschheitsthemen wie Schöpfertum, Liebe, Illusion und Tod einer der wenigen Philosophen unter den Choreographen.« Obwohl er sich in seinem Vokabular mitunter weit vom klassischen Ballett entfernt, obwohl er oft mit zeitgenössischer Musik arbeitet, bleibt Neumeier seinem ureigensten Stil immer treu und überlässt das Erforschen neuer Bewegung anderen Kolleginnen und Kollegen. Er wird ein riesiges, bestens dokumentiertes Erbe an Stücken hinterlassen, von denen mehrere ins internationale Balletterbe eingegangen sind und von Paris bis San Francisco, von Moskau bis Sydney getanzt werden. Als er 1973 in Hamburg antrat, wurde John Neumeier nicht gerade herzlich empfangen. Die Zeitungen titelten »Skandal« und das Publikum empörte sich: Der gefeierte neue Ballettchef, den Intendant August Everding da anbrachte, hatte sehr vielen Tänzerinnen und Tänzern gekündigt. Bilder aus der damaligen Zeit zeigen einen zornigen jungen Mann mit wilder, schulterlanger Mähne: Neumeier war nicht immer der elegante, in sich ruhende Grandseigneur, damals brodelte die Stimmung. Über Stuttgart, wo er für wenige, aber prägende Jahre ein Teil von John Crankos »Ballettwunder« gewesen war, und nach vier kurzen Jahren als Direktor des Frankfurter Balletts war der junge Amerikaner an die Alster gekommen, auf den Flügeln jener Aufbruchsstimmung, die mit Crankos Erfolg damals durch die Ballettcompagnien aller deutschsprachigen Länder wehte. Mit seiner ersten Ballettwerkstatt fand Neumeier schnell den direkten Draht zum Hamburger Publikum, der seitdem zur innigen Liebe wurde. Sein Großvater stammte aus Deutschland, daher der Nachname. John Neumeier wurde in Milwaukee am Michigan-See als Sohn eines Schiffskapitäns geboren, lernte Malen, Zeichnen und Tanzen, studierte Literatur und Theaterwissenschaften. Zu den höchst unterschiedlichen Einflüssen, die den späteren Tanzschöpfer prägten, gehörten die Musicalfilme der 1950er Jahre ebenso wie ein theaterbegeisterter Jesuit und die Modern-Dance-Rebellin Sybil Shearer. Durch ein Stipendium an der Londoner Royal 13

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Ballet School kam Neumeier nach Europa, lernte die englische und die dänische Balletttradition kennen. In London warb ihn 1963 Crankos junge Primaballerina Marcia Haydée für Stuttgart an. Nicht einmal zwanzig Jahre nach Kriegsende zog er also ins ehemalige Feindesland, in eine etwas biedere schwäbische Stadt, wo die ausländischen Tanzkünstler zu jener Zeit ein erstaunlich offenes Publikum und eine kreative Atmosphäre antrafen. Bereits als Tanzschüler hatte Neumeier eigene Stücke erstellt, in Stuttgart war er sogleich in den alljährlichen Noverre-Matineen für Junge Choreographen dabei. Fürs Choreographieren verpasste Neumeier eine Karriere als Solist, so jedenfalls erinnert sich Marcia Haydée an den feinen jungen Tänzer. Den Hamburgern bleibt er als Romeo und Christus in der Matthäus-Passion im Gedächtnis, noch bis vor ein paar Jahren stand er in seinen Bernstein Dances auf der Bühne. War es die tief verwurzelte Kultur des alten Europa, die John Neumeier hier faszinierte, die neu erwachte deutsche Kulturnation? Sicher spielte die zuverlässige Finanzierung der Theater, die bürgerliche und staatliche Wertschätzung von Kultur eine Rolle. Was der Amerikaner hier kennengelernt hatte, überzeugte ihn jedenfalls, sein weiteres Leben in Deutschland zu verbringen, genau wie wenige Jahre später seinen Landsmann und Kollegen William Forsythe. Beide wollten etwas dezidiert anderes machen als George Balanchines abstrakte Neoklassik, die damals (und eigentlich heute immer noch) die Ästhetik des amerikanischen Tanzes bestimmte. Genau wie Neumeier trat im September 1973 auch eine junge Frau aus Solingen ihren neuen Job an: Philippine Bausch, genannt Pina, übernahm die Leitung der Tanzsparte am Wuppertaler Opernhaus. Gleichzeitig legten der große Geschichtenerzähler und die Ikone des deutschen Tanztheaters den Grundstein für ihre historischen Tanzimperien. Genau wie Neumeier band Bausch ein weites, treues Publikum an sich, beide lösten später ihre Ensembles aus der Abhängigkeit von der Oper und gewannen künstlerische Eigenständigkeit. Beide trugen den Tanz aus Deutschland in die Welt hinaus. Mit großer Kreativität und dem ihm eigenen Pflichtbewusstsein schuf John Neumeier in Hamburg fortan abendfüllende Stücke, Gesamtkunstwerke nach literarischen Vorlagen oder großen Werken der Musik, oft zwei oder mehr neue Abende pro Jahr. Wo Pina Bausch die Collage postulierte, da stellte sich Neumeier regelmäßig der Herausforderung, eine Symphonie oder ein Oratorium in ganzer Geschlossenheit zu choreographieren.

»Sein Œuvre wird von feinen Leitlinien durchzogen, alles scheint untereinander zu kommunizieren. Da gibt es die TschaikowskiKlassiker, die Shakespeare-Ballette, die Mahler-Symphonien, die Ballette zu Bach und Mozart, die Antiken-Ballette und alten Sagen, die Künstlerbiographien.«

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Oft erzählt er Geschichten von der lebenslangen Suche nach Heimat und Liebe, mit tiefer Empathie zeigt er Leiden und Hoffnung einsamer Figuren wie Odysseus, König Artus, Parzival, Peer Gynt, König Ludwig II., Gustav von Aschenbach, Marguerite Gautier, der amazonenhaften Nymphe Sylvia oder der kleinen Meerjungfrau. Nicht nur fasst der belesene Choreograph große, ausufernde Epen in eine spannende Dramaturgie, genauso sinnfällig adaptiert er wortgewaltige Schauspiele zu getanzten Dialogen. Neumeiers Shakespeare-Ballette reichen von einem Sommernachtstraum mit herrlicher Situationskomik über selten vertanzte Werke wie Was ihr wollt bis zu einem sehr modernen Othello mit brüllenden Soldaten und einem Liebesbeweis in zartester Zeitlupe. Vom Dänenprinzen Hamlet kam der Choreograph lebenslang nicht los, bereits 1976 ließ er Mikhail Baryshnikov in New York tanzend nach »Sein oder Nichtsein« fragen. Von der russischen Literatur über deutschsprachige Werke wie Franz Molnars Liliom spannt sich der weite Bogen seiner Adaptionen bis zur brutalen Vergewaltigung in Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht. Das bekannteste seiner Werke und gleichzeitig das schönste seiner Literaturballette ist Die Kameliendame, 1978 für Marcia Haydée in Stuttgart entstanden und seitdem in den großen Compagnien von New York bis Moskau nachgetanzt. Immer wieder drehen sich seine Werke auch um den Tanz selbst, spielen im Ballettsaal oder verwenden das Ballett als Metapher – so wird der Schriftsteller aus Thomas Manns Tod in Venedig bei ihm zum Tanzschöpfer, genau wie Drosselmeier im Nussknacker. Tschechows Schauspieler aus Die Möwe verwandelt er zu Tänzerinnen und Tänzern.

»All diese Handlungsballette wurzeln fest in der europäischen Theater- und Balletttradition, zusammen mit John Cranko und Kenneth MacMillan hat John Neumeier die Form des modernen Tanzdramas entscheidend geprägt und ist heute einer der letzten Geschichtenerzähler unter den großen Choreographen.« Sein Festhalten am Tanz auf klassischer Basis bringt ihm schon früh Kritik ein, in den tanzpolitischen Richtungsdebatten der 1980er Jahre wird sein Stil als museumsreif bezeichnet. Er verfolgt seine persönliche Mission als Künstler unbeeinflusst von Ideologien, glaubt an das klassische Ballett, an die Tradition der großen Ballettcompagnien. In den bekannten Sagen der Menschheit, in den Epen, Romanen und Dramen liegt für Neumeier eine Wahrheit, die sich immer wieder zu erzählen lohnt, in bester Shakespeare’scher Tradition lacht und weint er mit den Menschen. Auch wenn seine Bewegungen Elemente des Modern Dance, Alltagsgesten, manchmal auch Sprache enthalten, so ist Neumeier kein Revolutionär; rein choreographisch 15

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zertrümmert er keine Schritte oder erfindet eine neue Ästhetik, sondern er entwickelt und verändert, alles ist auf den Inhalt ausgerichtet. Als Student hatte John Neumeier in Milwaukee den Jesuitenpater John Walsh kennengelernt, der zu einem wichtigen Mentor wurde. Der Choreograph, der sich selbst als »Christ und Tänzer« bezeichnet, begann schon sehr früh, Werke von Johann Sebastian Bach zu vertanzen, zunächst Konzerte und Suiten. Bereits 1981 folgte die Matthäus-Passion, die als eine Art getanzter Gottesdienst in der Hamburger Sankt Michaelis-Kirche gezeigt wurde. Neumeier sagte über die Partitur: »Die große Lektion dieses Werks ist, wie Menschen miteinander umgehen sollen.« Zu seinen religiösen Balletten gehören auch Händels Messias, das Mozart-Requiem, Bachs gesamtes Weihnachtsoratorium, inszeniert als Suche eines einsamen Außenseiters nach dem Glauben, sowie erst jüngst das Friedensgebet Dona nobis pacem zu Bachs h-Moll-Messe. Anfangs musste der Choreograph sich vorwerfen lassen, es sei ein Sakrileg, zu Kirchenmusik zu tanzen, aber bald erkannten seine Kritiker die tiefe religiöse Erfüllung, die dieser Tanz zum Ausdruck bringt. John Neumeier choreographierte acht der zehn Symphonien von Gustav Mahler, Das Lied von der Erde und andere seiner Werke. Der österreichische Symphoniker, dessen Musik in den 1970er Jahren ebenfalls noch als sakrosankt gegenüber dem Tanz galt, inspirierte den Choreographen wie kein anderer Komponist: »Mahler führt uns in Bereiche, die tief in unserem Inneren wurzeln.« Entstanden sind handlungslose, aber hochemotionale Ballette; ihr Drama mag nicht mit Worten erzählbar sein, wird aber vor den Augen deutlich. Vor wenigen Jahren hat Ludwig van Beethoven den Choreographen zu zwei großen Abenden inspiriert, sehr oft gab Neumeier auch neue Musik in Auftrag, an Lera Auerbach, Alfred Schnittke, George Couroupos oder Michel Legrand. Bei aller Religiosität, bei allem europäischen Intellekt bleibt Neumeier tief drinnen Amerikaner und liebt die Musik seiner Jugend, vor allem Leonard Bernstein. Der Choreograph inszenierte in Hamburg zwei Musicals und entwarf Ballettrevuen, auch zu Musik von George Gershwin. Wenn man unter all den Einsamen, den Zweiflern und Suchenden in seinen Balletten von einer großen Liebe sprechen kann, dann ist das Vaslav Nijinsky. Der legendäre Ballerino, Mitglied der Ballets Russes und Skandalchoreograph von Le Sacre du Printemps, brachte einst die Dichter zum Schwärmen und wurde zur wichtigsten Leitfigur im Künstlerleben des Hamburger Ballettintendanten. Immer wieder beschäftigen sich seine Werke mit dem Gott des Tanzes, der auf dem Höhepunkt seines Ruhms in die Schizophrenie hinüberglitt. Im Opus magnum Nijinsky betrachtet Neumeier dieses tragische Schicksal vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs, zeigt den gespaltenen Menschen im Spiegel seiner berühmten Rollen – mit jener Empathie, die nur einer aufbringen kann, der den Tanz über alles liebt. Schon mit zehn Jahren hatte der kleine John das erste Buch über Nijinsky gelesen und sammelte im Laufe seines Lebens alles, wirklich alles, was er zu dieser Ikone finden konnte: Fotografien, Statuen, Briefe und Berichte, Originalkostüme und vor allem die dunklen, geheimnisvollsymmetrischen Zeichnungen des psychisch Kranken. Heute lebt Neumeier inmitten all dieser Erinnerungen, sein Wohnhaus enthält die weltweit größte Sammlung an Nijinsky-Memorabilia. Die Stiftung John Neumeier, die er 2006 gegründet hat, wird sein Lebenswerk und diese riesige Ballettsammlung für die Stadt Hamburg erhalten. So vorausdenkend wie kaum ein Kollege vor ihm arbeitet Neumeier an der Aufzeichnung und Bewahrung seiner Ballette.

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Bereits in seiner Stuttgarter Zeit entwarf John Neumeier auch Bühnenbilder, und wenn er nicht mit großen Künstlern wie Jürgen Rose zusammenarbeitete, dann war er oft sein eigener Ausstatter. Als Librettist, Regisseur und Choreograph ist er ein begnadeter Gesamtkunstwerker, der ein riesiges Besteck an Erzähltechniken entwickelt hat – Spiegelungen, Verdopplungen und Vervielfachungen, Symbol- und Traumgestalten, Rückblicke. Wer vom alten, mittels Pantomime und handlungslosen Tanzszenen erzählten Märchenballett kommt, mag damit anfangs Schwierigkeiten haben. Der Beginn der Kameliendame aber ist das perfekte Beispiel dafür, wie Neumeier binnen weniger Minuten die Charaktere vorstellt, ihre Vergangenheit erzählt, eine Liebesgeschichte und einen Konflikt spinnt: Die Auktion als Rahmenhandlung mit symbolischen Bildern wie Kleid und Sonnenhut, der Rückblick auf den Theaterbesuch, das Spiegeln der beiden einsamen Hauptpersonen im Schicksal der Theaterfiguren Manon und Des Grieux.

»Oft genug sieht man durch seinen Tanz einen bekannten literarischen Stoff aus einem völlig anderen Blickwinkel, jede Bewegung seiner choreographischen Sprache ist Ausdruck einer Emotion.« John Neumeiers tanzhistorische Leistung ist kaum zu überschätzen, seit Jahrzehnten weckte er in zahllosen Menschen die Liebe zum Ballett. Bis heute erklärt er unablässig in Werkstätten seine Kunst, fördert das Verständnis von Ballett insgesamt. In der Tanzwelt hat er jeden Preis eingesammelt, den es zu verleihen gibt, natürlich auch hohe staatliche Orden und Ehren. Wie weit seine Kunst wirklich reicht, zeigen andere Preise, der Erich-Fromm-Preis etwa als »Botschafter des Humanum« oder der Herbert-von-Karajan-Musikpreis: »John Neumeier verkörpert und lebt in seinen Werken den höchsten humanistischen Anspruch, das Menschliche schlechthin«, heißt es in der Widmung. Ob er Tschaikowskis Dornröschen choreographierte, Bachs Matthäuspassion oder die Werke Gustav Mahlers, immer hat er seine Ballette bis ins Letzte durchdacht, die Musik in ihren feinsten Emotionen erfasst, eine Verbindung in unsere Gegenwart gefunden. Der Tanz weist bei ihm stets über die reinen Schritte, über die Schönheit der Linien hinaus. Es geht um den Menschen, seine Suche nach Liebe und Sinn.

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Marcia Haydée und John Neumeier 1986 während der Dreharbeiten zum Film Die Kameliendame


JOHN NEUMEIER

»In jeder Figur, die ich porträtiert habe, habe ich einen Teil von mir gesehen. Ich muss die Vielseitigkeit eines Menschen begreifen. Ich versuche, Emotion – meine Emotion, die Emotion der Tänzer – zu übersetzen. Ich mache keinen Plan dafür. Ich bin davon überzeugt, dass es die Ehrlichkeit einer Choreographie ist, die die Menschen überzeugt, nicht der Affekt. Im Zirkus kann man mit Tricks überzeugen, nicht im Ballett. Wenn man ehrlich inszeniert, sieht der Zuschauer auch einen Teil von sich auf der Bühne. Ich mache, was mein Herz bewegt.«


fragmente von liebe JOHN NEUMEIER IM GESPRÄCH MIT NASTASJA FISCHER

Was sind Ihre prägendsten Erinnerungen an den Kreationsprozess der Kameliendame mit dem Stuttgarter Ballett? JN

Die Proben begannen Anfang der Saison. Marcia Haydée kam später aus der Sommerpause, sodass ich zuerst den »Blauen Ball« mit dem Corps de ballet kreierte. Die Choreographien für die Gruppe sind sehr anspruchsvoll. Ich war ungemein klar, nicht, was das Schrittmaterial, aber den Inhalt und Ausdruck dieser Szene anging. Es war eine erste Attacke auf das Ensemble, die es nach der Sommerpause forderte. Ein paar Tage später begann ich mit den Solist*innen zu arbeiten. Wir kreierten die Szene, in der Marguerite und Armand das erste Mal allein in ihrem Boudoir sind. Ich stand noch sehr unter dem Eindruck des Romans und habe den Pas de deux in einer einzigen Probe choreographiert. Das habe ich danach nie wieder gemacht. Über Dumas’ d. J. Roman La dame aux camélias haben Sie einmal gesagt: »Man kommt zu einer Wahrheit aus verschiedenen Perspektiven.« Was hat Sie dazu inspiriert, ein Ballett aus dieser Geschichte zu kreieren? JN

Für einen Roman, der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, ist La dame aux camélias unglaublich modern – vor allem durch die Tatsache, dass wir die Geschichte nicht chronologisch erfahren, sondern aus unterschiedlichen Perspektiven. Zum Beispiel zuerst durch Armand, der das Manon Lescaut-Buch, das er einmal Marguerite geschenkt hat, vom Erzähler, der es bei der Auktion bekom-

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men hat, erstehen möchte. Er wird krank und erzählt während seiner Genesung seine Geschichte. Ein weiterer Teil wird vom Vater Armands berichtet. Das Ende der Geschichte erfahren wir aus dem Tagebuch Marguerites. Diese Perspektivwechsel reizten mich sehr, weil ich nach neuen Möglichkeiten in der Gestaltung des abendfüllenden Balletts suchte – und immer noch suche. Obwohl das Sujet aus dem 19. Jahrhundert stammt, wollte ich nicht die klassische Form des Handlungsballetts aus dem 19. Jahrhundert, sondern einen anderen Zugang wählen. Das Schwierige im Ballett ist, dass wir keine Möglichkeit haben, eine Vergangenheit oder Zukunft durch die reine Bewegung deutlich zu machen. Wir teilen zwar den Körper, das wortlose Instrument, mit unserem Publikum, was einen direkten Kontakt möglich macht, aber gewisse Raffinessen, die der geschriebene Text hat, z.B. das Spielen mit grammatikalischen Formen, die Möglichkeit von dreidimensionalen wörtlichen Bildern, sind im Tanz schwieriger zu gestalten. Ich suchte also nach Schichten, sodass die Figuren nicht plakativ dargestellt werden, sondern eine tiefere menschliche Dimension erhalten. Dafür habe ich mich bestimmter Tricks, bei denen man verschiedene Jetzt-Zeiten nebeneinanderstellt und miteinander vergleicht, bedient. So ist die Inszenierung poetischer und erinnert in ihren schnellen Szenenwechseln an die Kunstform Film. Auch die Etablierung der Manon als Figur, die ebenfalls im Roman suggeriert wird, war ein wichtiger Ausgangspunkt für mich. Wie verändert sich die Beziehung Marguerite – Manon während des Stückes? JN

Auch hier lieferte der Roman die Inspiration. Zu Beginn schenkt Armand Marguerite das Manon-Buch mit einer Widmung. Sie ärgert sich allerdings darüber, denn Marguerite ist der Meinung, dass Manon anders gehandelt, wenn sie wirklich geliebt hätte. Daraus erfahren wir sehr viel über das Denken Marguerites. Sie ist eine kranke Frau, die Luxus als tröstliche Annehmlichkeit sieht und lieber im Komfort statt als arme Frau sterben will. Deshalb möchte sie sich nicht verlieben – aber versteht, was wahre Liebe bedeutet. Sie vergleicht sich am Beginn mit der ManonFigur und bestreitet jegliche Verbindung. In der Konfrontation mit Monsieur Duval aber spürt sie Zweifel, ob sie nicht vielleicht doch eine »Manon« ist. Am Ende wiederum erfahren wir die rührende Trauer aus dem Tagebuch, wenn Marguerite schreibt und eine gewisse Eifersucht darüber ausdrückt, dass Manon wenigstens an der Seite ihres Geliebten Des Grieux sterben kann. Das zeigt für mich etwas sehr Humanes im Denken dieser Frau. Sie konzentrieren sich in Ihrer Fassung der Kameliendame intensiv auf das Schicksal der Protagonisten, auf die Liebe von Marguerite und Armand. Wie stellen Sie die gesellschaftlichen Umstände und Dimensionen dar? JN

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Zum einen durch das sehr aufwendig gestaltete Corps de ballet, aber auch durch die Kontrastfiguren wie Prudence und Olympia. Die Gruppe

FRAGMENTE VON LIEBE


stellt eine Welt dar. Marguerite tanzt in dieser Welt, ergo gehört sie dieser Welt an. Aber was ist anders an ihr? Stellt man Marguerite neben Prudence und Olympia, wird der Unterschied sichtbar. Man muss allerdings erst ihre Welt erfahren und kennen, um zu begreifen, dass Marguerite in diese und zugleich nicht in diese gehört. Das Corps de ballet hat eine entscheidende Funktion im Gestalten dieser Welt. Auch die Choreographien für das Corps de ballet sind sehr lebendig und Reaktionen auf das Geschehen passieren durch den Tanz und nicht nur durch eine rein platzierte Mise-en-scène im Hintergrund. JN

Das ist richtig und war für mich immer entscheidend. Die Welt des Corps de ballet hat eine besondere Sprache. Es gibt sehr klassische Bewegungen und Schritte, aber durch die besondere Form der Ports de bras und der Körperhaltungen wird auch eine Sinnlichkeit, ein erotischer Aspekt suggeriert. Im zweiten Akt, nachdem Marguerite sich für Armand entschieden hat, verschwindet diese Welt, zu der sie eigentlich gehört. Und das Publikum sieht diese erst wieder, wenn Marguerite Armand verlässt, um ihn und seine Familie zu schützen. Sie haben ausschließlich Musik von Frédéric Chopin für das Ballett gewählt – einen besonderen Stellenwert haben dabei das 2. Klavierkonzert im ersten Akt und das Largo aus der h-Moll Sonate, welches als leitmotivisches »Liebesthema« stets wiederholt wird. Was bedeuten diese beiden Kompositionen für Sie innerhalb der Kameliendame? JN

Das Largo ist der Kern des Stückes und wird auch mehrfach im Ballett wiederholt. Wir hören es fragmentarisch bereits im Prolog und am Ende. Der größte Wendepunkt geschieht, wenn Marguerite sich ihre Liebe zu Armand eingesteht. Im Pas de deux »auf dem Land« erklingt das Largo dann zum ersten Mal vollständig. Während die Komposition beginnt, verschwindet in der Introduktion alles um die beiden herum, Liebe ist losgelöst von Zeit und Raum. Das Largo ist wichtig und steht für die einzig glückliche, kurze Zeitspanne ihres Lebens. Das Klavierkonzert verbindet zwei wesentliche Aspekte Chopins: Zum einen das Komponieren für die Salons, die typisch für das 19. Jahrhundert waren. Es ist eine Musik, die gefallen hat, die aufregend ist, die auch die Gesellschaft aus jener Zeit musikalisch beschreibt. Zum anderen die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit. Dem zweiten Satz liegen eine Intimität und unterschwellige Melancholie inne, die diesen Gesichtspunkt widerspiegeln und die auch zum Subtext Marguerites gehören. Die Kameliendame markiert einen wichtigen Punkt in Ihrer Zusammenarbeit mit Jürgen Rose. JN

Vor der Kameliendame haben Jürgen Rose und ich die Produktionen Der Nussknacker und Illusionen – wie Schwanensee gemeinsam realisiert.

FRAGMENTE VON LIEBE

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Eine Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert war also bereits vorhanden und Die Kameliendame hat diese abgeschlossen. Wir haben uns die Frage gestellt, wie man diese bestimmte Zeit abstrahieren kann. Jürgen ist im positiven Sinne ein Fanatiker und zugleich jemand, der an ein Werk geht, ohne egozentrisch zu sein. Er ist weniger daran interessiert, dass seine Kostüme und Bühnenbilder die schönsten sind, sondern dass sie das verdeutlichen, was wir mit dem Stück aussagen wollen. Wenn das Ballett, wie jetzt in Wien, neu einstudiert wird, verändern Sie noch Dinge? JN

Ich ändere meine Stücke immer. Die Veränderung ist dabei aber meist eine Form von Klärung. Wenn man älter wird, soll man aus der Erfahrung lernen und in der Lage sein, das, was man 45 Jahre lang sagen wollte, nun besser und deutlicher ausdrücken zu können. So handelt es sich nicht um essentielle Änderungen, das Konzept des Balletts bleibt stets gleich, es geht eher um Nuancen. Auch die Arbeit mit verschiedenen Tänzer*innen beeinflusst mich. Die Wiener Besetzungen von Marguerite und Armand sind persönlich wie physisch sehr unterschiedlich, darauf gehe ich ein. Es ist wie mit der Arbeit an einem Text, man muss diesen nicht ändern, um ihm eine andere Farbe zu geben, sondern es kommt darauf an, wie man ihn spricht. Solange ich lebe, werde ich meine Werke immer kritisch betrachten. Ist die Arbeit noch relevant und wahrhaftig? Oder gibt es einen anderen Weg? Wenn ich das Gefühl habe, ja, dann muss ich es ändern. Wonach suchen Sie in einer Tänzerin, einem Tänzer bei der Besetzung der Rollen von Marguerite und Armand? JN

Um Marguerite zu tanzen, muss die Tänzerin eine Form der Verletzlichkeit sichtbar machen können. Das hat nichts mit der Größe oder dem Alter, sondern mit einer Ausstrahlungskraft zu tun. Kann ich, welchen Schritt auch immer sie tanzt, glauben, dass sie bestimmt ist zu sterben? Kann ich das in ihrer Bewegung und in ihrem Ausdruck lesen? Weiterhin muss ich einen Dialog, eine Chemie zwischen Marguerite und Armand spüren. Armand ist hingebungsvoll und gleichzeitig – das liest man auch im Text von Dumas – weiß er, was er tut und was er will. Diese Stärke muss für Marguerite deutlich sein. Man kann die Äußerlichkeiten der Beziehung unterschiedlich deuten. Auch der Altersunterschied ist interessant. Das historische Vorbild für Dumas d. J., Marie Duplessis, war 23 Jahre alt. Es gibt also verschiedene Lesarten, aber die menschliche Auseinandersetzung zwischen Marguerite und Armand ist entscheidend. Deshalb bin ich für die Besetzung auch einige Male nach Wien gereist. Ich habe Paare gebildet, sie wieder verändert, weil die Chemie besser oder das physische Zusammenspiel harmonischer oder spannungsvoller war. Auch das reizt mich an meiner Arbeit und der immer wieder neuen Auseinandersetzung mit einem Ballett wie Die Kameliendame: Es gibt so viele Möglichkeiten.

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FRAGMENTE VON LIEBE


Brendan Saye (Armand Duval), Olga Esina (Marguerite Gautier)



Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Eno Peci (Monsieur Duval)


Brendan Saye (Armand Duval), Alexey Popov (Des Grieux)


Hyo-Jung Kang (Manon Lescaut), Marcos Menha (Des Grieux)


Timoor Afshar (Armand Duval), Ketevan Papava (Marguerite Gautier)


Davide Dato (Armand Duval), Elena Bottaro (Marguerite Gautier)



folge der werke frédéric chopins Prolog Aus dem Largo aus der Sonate h-Moll op. 58 (1844)

1. Akt Konzert für Klavier & Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21 (1829) Maestoso – Larghetto – Allegro vivace

2. Akt Valse Nr. 1 As-Dur aus Trois Valses Brillantes op. 34 (1835) Trois Ecossaises op. 72 (1826) Valse Nr. 3 F-Dur aus Trois Valses Brillantes op. 34 (1835) Largo aus der Sonate h-Moll op. 58 Aus 24 Préludes op. 28 (1836–1839) Nr. 2 a-Moll Nr. 17 As-Dur Nr. 15 Des-Dur Aus dem Largo aus der Sonate h-Moll op. 58 Aus 24 Préludes op. 28 Nr. 2 a-Moll Nr. 24 d-Moll

3. Akt Aus Grande Fantaisie sur des airs polonais für Klavier & Orchester A-Dur op. 13 (1828) Largo ma non troppo – Andantino – Vivace Ballade g-Moll op. 23 (1831–1835) Grande Polonaise brillante précédée d’un Andante spianato für Klavier & Orchester Es-Dur op. 22 (1830–1831/1834) 2. Satz (Romanze) aus dem Konzert für Klavier & Orchester Nr. 1 e-Moll op. 11 (1830) Aus dem Largo aus der Sonate h-Moll op. 58

FOLGE DER WERKE FRÉDÉRIC CHOPINS

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JOHN NEUMEIER

»Merkwürdig, wie die Musik für mich manchmal die unkontrollierbare und instinktive Fülle meiner Gedanken ordnet.« »Chopin ist ein Komponist, den ich sehr liebe, dem ich mich ganz nah fühle, und zwar nicht nur von der emotionalen, sondern auch von der rein musikalischen Seite in der Art, wie ich Zeit empfinde. Seine Musikalität entspricht ganz der meinen beim Choreographieren.«


»nicht tänze des körpers, sondern der seele« ANNE DO PAÇO

Im Februar 1848, dem gleichen Jahr, in welchem Alexandre Dumas d. J. seinen Roman La dame aux camélias herausbrachte, gab Frédéric Chopin zusammen mit dem Geiger Delphin Alard, dem Cellisten Auguste-Joseph Franchomme sowie zwei Sängern sein letztes öffentliches Konzert im Pariser Salon des Klavierbauers Pleyel und die Kritik pries erneut hingerissen »die Geheimnisse eines Klavierspiels, das in unserer irdischen Region nicht seinesgleichen hat« – so die Gazette Musicale. Noch einmal hatte sich die gesellschaftliche Elite von Paris zusammengefunden, um einen Künstler zu feiern, den sie seit seinem ersten Auftritt am 25. Februar 1832 im Salon Pleyel wie wenige andere umschwärmt hatte – nicht zuletzt, weil Chopin die großen Bühnen zugunsten der intimeren Salons mied und jeden seiner Auftritte zu einem exklusiven Ereignis machte. Nun musste er sich von einigen Freunden aber sogar zu einem solchen überreden lassen, denn Chopin war in eine tiefe Krise geraten. Im Sommer 1847 hatte die Schriftstellerin George Sand ihre neunjährige Beziehung beendet. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich aufgrund einer schon länger bestehenden Tuberkulose-Erkrankung ernstlich. Und mit der Pariser Februarrevolution, die mit der Ausrufung der Zweiten Französischen Republik der Julimonarchie ein Ende setzte und den »Bürgerkönig« LouisPhilippe zur Flucht nach England zwang, verlor auch Chopin, der – anders als Franz Liszt

»NICHT TÄNZE DES KÖRPERS, SONDERN DER SEELE«

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– sich einer Vermarktung seiner Kunst in den großen Konzertsälen widersetzend ganz und gar kein Virtuose im Geldverdienen war, eine wichtige Lebensgrundlage: Nicht nur zahlreiche Künstler, sondern auch ein Großteil der Aristokratie, aus der Chopin bisher seine gut zahlenden Klavierschülerinnen rekrutieren konnte, verließen Paris in diesen unruhigen Zeiten, die dem enormen, mit einer rasanten Industrialisierung und einer dem »Enrichissez-vous« verpflichteten Lebensauffassung einhergehenden wirtschaftlichen Aufschwung ein jähes Ende setzten. Um seine finanzielle Situation in den Griff zu bekommen, entschied Chopin sich im April 1848 zu einer siebenmonatigen England-Tournee, die seine Lage aber auch nicht verbesserte. Im September schrieb er an seinen Freund Wojciech Grzymała: »Ich bin traurig, und die Leute öden mich an mit ihrer überflüssigen Fürsorge. Und ich kann nicht aufatmen, kann auch nicht arbeiten. Ich fühle mich einsam, einsam, einsam, obwohl ich von Menschen umgeben bin.« Körperlich schwächte ihn die Reise so sehr, dass er sich – nach Paris zurückgekehrt – von den Strapazen nicht mehr erholen konnte. Am 17. Oktober 1849 verstarb Chopin im Alter von 39 Jahren. Von der Öffentlichkeit hatte er sich bereits seit längerem zunehmend entfremdet und letztlich nur noch im Klavier – er selbst sprach von seinem »zweiten Ich« – einen wirklichen Partner gefunden. Solowerke waren ihm zur adäquaten Form des Ausdrucks geworden, sei es als kleinformatige Charakterstücke, als virtuose Etüden, lyrisch-versonnene, oft bewusst fragmentarisch gehaltene musikalische Gedankengänge oder aber als Tänze, die er auf seine ganz eigene Weise vom Ballparkett weg in die Sphäre der Kunstmusik erhob. So erkannte bereits Robert Schumann in den Trois Valses Brillantes op. 34 aus dem Jahr 1835 »Salonstücke nobelster Art«, welche – die Brillanz noch im Titel tragend – nicht als »Tänze des Körpers, sondern der Seele« den Walzer zu einem Genre machen, das – so die Musikwissenschaftlerin Barbara Zuber – »inmitten einer Gesellschaft, in der die Tanzwut grassiert, in die die Galopps und Walzer hereinbrechen wie eine apokalyptische Vision [...], Gegensätze konstituiert wie Innerlichkeit und Welt, Gefühl und Reflexion, schwärmerische Hingabe und elegante Distanzierung«. »Nicht zum Tanzen« hatte schon der junge Chopin auf eine Sendung von Mazurken und einem Walzer geschrieben, die er seiner Familie nach Warschau schickte. Zum Tanzen regte seine Musik spätere Generationen indes dann doch immer wieder aufs Neue und bis heute an: Michel Fokine inspirierte sie 1893 zu seinem Ballett Chopiniana, das er für die Ballets Russes dann zu Les Sylphides umarbeitete. 1904 erregte Isadora Duncan mit ihren Chopin-Tänzen die Gemüter und erntete mit ihrer »Benutzung von Meisterwerken, die ihre Autoren nie als Tanzmusik betrachtet hatten«, heftige Proteste. Und folgt man den zeitgenössischen Kritiken war selbst das Ballett Chopins Tänze, das Josef Haßreiter 1905 als choreographisch wohl eher gefälliges »Dessert« zu einer Aufführung der beiden Operneinakter Cavalleria rusticana und Pagliacci an der Wiener Hofoper mit einer Orchesterbearbeitung von Klavierwerken Chopins präsentierte, nichts für Musikpuristen. Einwände, die einen Choreographen wie Jerome Robbins sicher nicht interessierten. Mit The Concert (1956), Dances at a Gathering (1969), In the Night (1970) und Other Dances (1976) schuf er vier unterschiedliche Chopin-Ballette, die bis heute zum Repertoire aller großen Ensembles gehören. Choreographen wie José Limón (Mazurkas, 1958), Hans van Manen (Ajakaboembie, 1971), Marie Chouinard (Les 35

»NICHT TÄNZE DES KÖRPERS, SONDERN DER SEELE«


24 Préludes de Chopin, 1999), Martin Schläpfer (24 Préludes, 2008), Alexei Ratmansky (24 Préludes, 2013) oder Thierry Malandain (Nocturnes, 2014) – um nur einige wenige Namen zu nennen – zogen ihre Inspiration aus dem Werk des Komponisten. Wie sehr sich Chopins Musik aber auch für den Bau einer balletttheatralischen Dramaturgie eignet, zeigen insbesondere zwei Werke: Frederick Ashtons 1976 uraufgeführtes 40-minütiges Literaturballett A Month in the Country nach Iwan Turgenjews gleichnamiger Komödie sowie John Neumeiers Die Kameliendame aus dem Jahr 1978. »Die Idee, Die Kameliendame zu der Musik von Frédéric Chopin zu choreographieren, stammt von dem Dirigenten Gerhard Markson«, kann man in einem Tagebucheintrag John Neumeiers nachlesen. »Ich war begeistert von dem Chopin-Gedanken, denn ich liebe diesen Komponisten sehr, hatte aber noch nie etwas zu seiner Musik choreographiert.« Aber auch »das von einer Todeskrankheit überschattete Leben Chopins« begann Neumeier im Zusammenhang mit der Kameliendame zu interessieren: »Er hat ja ebenso ein Doppelleben geführt wie Marguerite, er stand im Mittelpunkt der Pariser Salons, gefragt in der Gesellschaft, die er ›gefüttert‹ hat mit seiner Musik. Gleichzeitig hatte er diese tiefe, diese kranke Seite.« In Zusammenarbeit mit Markson traf Neumeier eine wohlbalancierte Auswahl aus Chopins Schaffen, die einige seiner Hauptwerke ebenso integriert wie weniger bekannte frühe Kompositionen. Gerade erst 19 Jahre alt war Chopin, als er in Warschau sein f-Moll-Konzert komponierte, dem nur wenig später das Schwesterwerk in e-Moll folgte, das als erstes verlegt und deshalb bis heute als Nr. 1 bezeichnet wird. Das f-Moll-Konzert zählt zu Chopins persönlichsten Werken, spiegelt es doch die schwärmerischen Gefühle für die Sängerin Konstancja Gładkowska ebenso wider wie die damit verbundene Resignation und Enttäuschung, wie Chopin seinem Freund Tytus Woyciechowski im Oktober 1829 gestand: »Ich erzähle am Klavier, was ich nur Dir ab und zu anvertraue«, heißt es in dem Brief. »Vielleicht bin ich zu meinem Unglück meinem Ideal begegnet, dem ich treu seit sechs Monaten diene, ohne ein Wort von meinen Gefühlen gesagt zu haben. Es hat mich zu dem Adagio meines Klavierkonzertes in f-Moll […] inspiriert. Niemand wird etwas davon erfahren, außer Dir. Es ist unerträglich, wenn einen etwas drückt und man kann seine Last nicht absetzen.« In seiner Poesie und Lyrik wirkt der in freier Liedform komponierte zweite Satz in der Tat wie ein »Gesang des Herzens« mit seinem kantablen und zugleich hymnischen Thema, das vom Klavier mit Triolen, Trillerketten und schnellen Läufen auf eine Weise umspielt und ausgeschmückt wird, dass ganz eigene Klangwirkungen entstehen, bevor sich im Mittelteil die Szenerie über einem gespenstischen Tremolo-Teppich der Streicher verdüstert. Eröffnet wird das Konzert in den Violinen mit einem Thema, dessen lyrische Wehmut mit gewaltigen Orchesterakkorden geradezu erschlagen wird, bevor diese – so unvermittelt wie sie auftraten – wieder in sich zusammensinken. Und auch das von den Holzbläsern exponierte Seitenthema steigert sich in einen FortissimoAusbruch, bevor es wieder in zartestes Pianissimo verschwindet, um dem Auftritt des Klaviers Platz zu machen. Dieses stürzt über fünf Oktaven hinweg in das Geschehen hinein und lässt keinen Zweifel daran, wer im weiteren Verlauf die erste Rolle spielt. Im Finale treffen in freier Rondoform lyrisch-verträumte und virtuose Passagen auf Tänzerisches, verwendete Chopin in diesem Satz doch den polnischen Nationaltanz Mazurka.

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HEINRICH HEINE

»Polen gab ihm seinen chevaleresken Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz, Frankreich gab ihm seine leichte Anmut, seine Grazie, Deutschland gab ihm den romantischen Tiefsinn … Die Natur aber gab ihm eine zierliche, schlanke, etwas schmächtige Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Ja, dem Chopin muss man Genie zusprechen, in der vollen Bedeutung des Worts; er ist nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt, zur Anschauung bringen. Er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuss, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert.«


Immer wieder integrierte Chopin die Musik seiner Heimat in seine Werke, sei es deren Tanzformen, sei es Melodien aus Volksliedern oder anderer Komponisten wie in seiner 1828 während der Studienzeit am Warschauer Konservatorium entstandenen Grande Fantaisie sur des airs polonais A-Dur op. 13 für Klavier und Orchester. Chopin selbst bezeichnete das Werk als »Potpourri über polnische Themen« und zitierte u.a. das polnische Volkslied Już miesiąc zeszedł psy się uśpiły (Der Mond ist schon untergegangen) sowie ein Thema aus einer Oper Karol Kurpińskis – eine Elegie auf den Tod des polnischen Freiheitskämpfers Tadeusz Kościuszko, die im Vivace in den Volkstanz Kujawiak mündet. Die Volksmusik und Tänze Polens bedeuteten für Chopin musikalische Heimat, ihre Verwendung hatte für ihn aber auch politische Implikationen, die von seinem damaligen Publikum durchaus verstanden worden sein dürften. Die Polonaise, welche die Basis seiner 1830/31 komponierten Grande Polonaise brillante Es-Dur op. 22 bildete – ursprünglich ein aristokratischer Tanz zur gesellschaftlichen Selbstinszenierung, der sich bereits im 18. Jahrhundert auch an westeuropäischen Höfen großer Beliebtheit erfreute – avancierte 1830/31 zur Musik des polnischen Aufstands gegen die russische Herrschaft, dessen Scheitern eine Auswanderungswelle in Polen auslöste. Auch Chopin kehrte seiner Heimat damals für immer den Rücken, die Polonaise blieb indes Zeichen des Widerstands wie der inneren Verbundenheit mit den Forderungen nach Freiheit. 1834 stellte Chopin seiner Grande Polonaise brillante ein Nocturne-artiges Andante spianato (»spianato« im Sinne von schlicht, ungekünstelt) als Einleitung voran, widmete das Werk seiner Schülerin Baronin d’Est und brachte es im April 1835 in einem Benefizkonzert des Dirigenten François-Antoine Habeneck am Pariser Conservatoire zu einer Aufführung, die sein letztes großformatiges Konzert in Paris bleiben sollte. Bereits am 12. Dezember 1831 hatte er seinem Freund Titus Woyciechowski berichtet: »Ich weiß nicht, ob es irgendwo mehr Pianisten gibt als hier; ich weiß auch nicht, ob es irgendwo mehr Dummköpfe und Virtuosen gibt als hier.« Er selbst setzte sich den oftmals in regelrechte Saalschlachten ausarteten Pariser Auftritten, mit denen sich manche seiner Kollegen selbst inszenierten, nicht mehr aus. Als Pianist verließ Chopin die große Konzertbühne und beendete seine Zeit der Reisen, die auch eine Zeit der Selbstfindung war. Als Komponist wandte er sich einem individuellen Stil zu, der sich in seinen beiden Klavierkonzerten bereits angedeutet hatte: Virtuose Gesten, wie sie sich im Concert brillant der Zeitgenossen Johann Nepomuk Hummel, Ignaz Moscheles oder Friedrich Kalkbrenner finden und wie Chopin sie 1826 als 16-Jähriger selbst noch so lustvoll in seinen Trois Ecossaises op. 72 entfaltet hatte, bildeten fortan nur mehr eine schützende Hülle um die im Zentrum stehenden, intim-fragilen Emotionen. Mit seiner 1836 publizierten Ballade op. 23 übertrug Chopin vermutlich erstmals das aus der Literatur bekannte Genre auf die Instrumentalmusik und soll dazu, so Robert Schumann, durch die Litauischen Balladen des polnischen Dichters Adam Mickiewicz angeregt worden sein – eine Behauptung, die sich allerdings nicht belegen lässt. Wahrscheinlicher dürfte, jenseits programmatischer Hintergründe und konkreter Textbezüge, die Suche nach einer Form für einen erzählend-dramatischen Duktus gewesen sein, der nicht nur zu einer freischweifenden Poetisierung der Musik führt, sondern ein bruchloses

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Ineinander von jener subtilen Lyrik und dunkel-leidenschaftlichen Dramatik ermöglicht, das die g-Moll-Ballade prägt. Zu den Höhepunkten in seinem Œuvre und den Signaturwerken der romantischen Klaviermusik-Ästhetik zählen die zwischen 1836 und 1839 entstandenen 24 Préludes op. 28, mit denen Chopin bewusst an das Wohltemperierte Klavier des von ihm hochverehrten Johann Sebastian Bach anknüpfte – doch mit welch anderem Ergebnis. »Es sind Skizzen, Etudenanfänge, oder will man, Ruinen, einzelne Adlerfittige, alles bunt und wild durcheinander. Aber mit feiner Perlenschrift steht in jedem Stücke: ›Friedrich Chopin schrieb’s‹«, rezensierte Robert Schumann 1839 die Folge der vierundzwanzig Stücke von ganz unterschiedlichem Charakter, Umfang und spieltechnischem Anspruch. Das Prélude Nr. 2 a-Moll ist mit seiner vom Tritonus und der großen Sept geprägten chromatischen Harmonik und in seiner Motivik die ersten vier Töne der Dies Irae-Sequenz aufgreifend eine von einem bohrenden Schmerz geprägte düstere Meditation. Das Prélude Nr. 15 Des-Dur, komponiert auf Mallorca, erhielt vermutlich durch George Sand seinen Beinamen »Regentropfen-Prélude«, die in dem Stück außermusikalische Assoziationen hörte, gegen die der Komponist sich allerdings wehrte, wie die Schriftstellerin selbst zugab: »Er wurde sogar ärgerlich, als ich von Tonmalerei sprach, und verwahrte sich heftig und mit Recht gegen solche einfältigen musikalischen Nachahmungen von akustischen Einfällen.« Eine schwärmerische Anrufung ist das As-Dur-Stück Nr. 17, die Nr. 24 in der Todestonart d-Moll dagegen von einer brütenden Stimmung, die sich nur kurz aufhellt, geprägt: In eine aus einem grollenden Fünf-Ton-Motiv gebildete Klangfläche stürzen Triller, Arpeggien und Tonleiterkaskaden wie Blitze. Nur drei Klaviersonaten schrieb Chopin, allerdings stellte er mit diesen seine Beherrschung der klassischen Sonatenform unter Beweis. Die h-Moll-Sonate op. 58 entstand 1844 in Nohant auf dem Landsitz von George Sand und zählt zu den bedeutendsten Werken der Gattung im 19. Jahrhundert. Zwischen den großdimensionierten Architekturen der Rahmenteile, schwankend zwischen Pathos und Innerlichkeit, und nach einem aphoristisch-huschenden Scherzo öffnet sich das Largo nach wuchtigen Eingangsakkorden mit einem berückend-schönen »Singen« in eine nächtliche Andacht. Für John Neumeier wurde dieser dritte Satz der h-Moll-Sonate zu einer Art Leitmotiv, das er durch seine gesamte Kameliendame hindurchzieht, mal zum Fragment reduziert, mal in voller Gestalt wie ein roter Faden durch eine Folge von Werken gewebt, die von ihrem Komponisten nicht für den Tanz gedacht waren, aber in all ihren schillernden Farben und verschiedenartigen Charakteren doch so voller tänzerischer Gesten diesen wie Erinnerungen an etwas längst Verlorenes beschwören und damit für Die Kameliendame als getanzte Erinnerungen an eine verlorene Liebe auf geradezu zwingende Weise zur abendfüllenden Partitur werden können.

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OCTAVIO PAZ

nichts blieb von dir, allein dein Schrei nur, und dann, am Ende aller Zeiten, finde ich mich wieder, kurzsichtig, unter Husten in alten Fotos wühlend: da ist niemand, du bist niemand, ein Aschehaufen, Kehrwisch, ein stumpfes Messer und ein Federwedel, Gehäute, aufgehängt an ein paar Knochen, eine verdorrte Traube, schwarze Grube, und auf dem Grund der Grube die zwei Augen des Mädchens, das ertrank vor tausend Jahren … Blicke, vom Grund des Lebens auf uns schauend, als stille Todesfallen – oder ist es grad umgekehrt: in diese Augen fallen, heißt das ins wahre Leben wiederkehren?, fallen und wiederkehren, träumen, mich und dass andre, künftige Augen mich träumen, ein andres Leben, andre Wolken, dass ich sterbe an andrem Tod! – mir genügt diese Nacht, dieser Augenblick, der unaufhörlich sich auftut, mir enthüllt, wo ich gewesen, wer ich war, wie du heißt und wie ich heiße: mache ich Pläne für den Sommer – alle Sommer …


in grünen Wellen wächst das Schweigen, was man auch anfasst, schimmert fahl wie Phosphor; Mausoleen des Luxus, wurmzerfressen die Porträts, schäbig längst die Draperien … ich gehe fiebernd weiter – Zimmer, Straßen –, tappe im Dunkeln durch die Korridore der Zeit, steige hinauf, hinab die Stufen, betaste Wände, bleibe reglos stehen, kehre zurück zum Ausgangspunkt und suche dein Gesicht, wandernd durch die Gassen meines Wesens, unter der alterslosen Sonne …


Figurinen von Jürgen Rose zu Die Kameliendame











fiktion & wirklichkeit

ARTHUR SCHERLE

In seinem Roman Die Kameliendame erwähnt der französische Literat Alexandre Dumas fils mehrmals, dass Armand Duval der Kameliendame Marguerite Gautier den Roman Manon Lescaut des Abbé Prévost geschenkt habe. Prévosts Roman Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut ist nicht nur ein Werk, das hinsichtlich seiner literarischen Bedeutung zur Weltliteratur gehört; er ist gleichzeitig ein Buch, in dem aus dem Geist der Empfindsamkeit erstmals das Leben einer Kurtisane nicht als unmoralisch verurteilt, sondern Verständnis für ihr tragisches Schicksal erweckt wird. Manon Lescaut folgt nicht der Stimme der Vernunft, sondern der Leidenschaft ihres Herzens. Der Student Des Grieux verliebt sich in Manon und entführt sie nach Paris. Dort verlässt Manon ihren Geliebten und schenkt einem reichen Galan ihre Gunst, der ihr ein luxuriöses Leben zu bieten vermag. Manon kann jedoch ihren Des Grieux nicht vergessen. Sie flieht mit dem Geliebten, nimmt den Schmuck mit, den ihr der ältliche Galan geschenkt hatte, wird als Dirne verhaftet und nach Amerika deportiert. Auf dem Theater gibt es Kurtisanen schon seit der Antike, doch sind sie meist als negative Charaktere gezeichnet. Prévost ist der erste bedeutende Schriftsteller, der seine Kurtisane nicht in Schwarz-Weiß-Manier als verabscheuungswürdige Hure oder komische Figur sieht, sondern um Verständnis für deren Schicksal wirbt. Er will beim Leser Mitleid erwecken. Prévost zeichnet gemischte Charaktere, die weder Bösewichter

FIKTION & WIRKLICHKEIT

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noch Tugendbolde sind. Bei Manon und beim Chevalier Des Grieux dominieren Gefühl und Leidenschaft und nicht die Stimme der Vernunft. Des Grieux wird zum Spieler und Manon zur Kurtisane, die zeitweise ihr Liebesglück dem Luxus opfert. Deshalb steuern beide der Katastrophe zu. Prévosts Roman wurde nicht nur zum Vorbild für den Kurtisanenroman des 19. Jahrhunderts. Wir nennen nur Honoré de Balzacs Glanz und Elend der Kurtisanen. Balzac arbeitete an seinem vierteilig angelegten Roman fast zwölf Jahre. Wie in den meisten Kurtisanenromanen schwankt in seinem Werk die Prostituierte zwischen einem jungen Mann, den sie liebt, und einem vergreisten Bankier, der ihr hörig ist und ihr aufwendiges Leben finanziert. Die Kurtisane endet durch Selbstmord. Noch vor Balzac griff Victor Hugo in seinem Drama Marion de Lorme das Thema auf. 1831 wurde sein Schauspiel in Paris uraufgeführt. Marion ist ein junges, lebenslustiges und leichtfertiges Mädchen. Sie lebt im Paris des 17. Jahrhunderts, in der Zeit des Kardinals Richelieu. Marion wird vom Adel und der Hofgesellschaft als Freudenmädchen missbraucht. In dem Weltschmerzler Didier, einer Byronfigur, begegnet ihr die erste große und wahre Liebe ihres Lebens. So äußert Marion im Hinblick auf Didier: »Deine Liebe hat mir die Jungfräulichkeit gebracht«, die Erlösung der Sünderin durch die Liebe eines Mannes. Als Didier jedoch vom Vorleben Marions erfährt, verachtet er seine Geliebte. Er stürzt sich in einen Zweikampf mit einem Rivalen. Als Duellant wird er von Richelieu zum Tod verurteilt. Der Läuterungsprozess einer Frau, die nach einem Leben als Kurtisane den Liebhaber findet, der ihr wahre Liebe entgegenbringt und durch sein Vorbild die Geliebte animiert, ihr Leben zu ändern, ist auch das Thema von Alexandre Dumas fils, der in seinem Roman Die Kameliendame Leben und Sterben der schönen Kurtisane Marguerite Gautier, die später selbstlos auf ihren Geliebten Armand Duval verzichtet und dadurch ihre Vergangenheit sühnt, schildert. Marguerite Gautier ist zweifellos eine der berühmtesten Kurtisanen der Literatur des 19. Jahrhunderts. In seinem Roman erzählt Dumas eine Geschichte, von der er behauptet, Armand Duval, der Geliebte der Verstorbenen Marguerite, habe sie ihm berichtet. Ausgangspunkt ist die Teilnahme an einer Versteigerung in der Wohnung der soeben Verstorbenen, bei der Dumas ein Buch ersteigert, das zum Nachlass der Toten gehört: Prévosts Manon Lescaut. Später meldet sich der junge Armand bei Dumas und bittet ihn um die Überlassung der ersteigerten Ausgabe, die er einst Marguerite geschenkt hatte. Bei einem späteren Zusammentreffen mit Dumas erzählt Armand dann die Geschichte seiner Liebe: »Die Geschichte ist völlig wahr; ich habe lediglich die Namen der beteiligten Personen geändert, denn alle, mit Ausnahme der Frau, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, leben noch«. Dumas hat nur teilweise recht. Marguerite ist eine historische Gestalt. Unter dem Namen Marie Duplessis (eigentlich hieß sie Alphonsine Plessis) war sie in Pariser Adelskreisen und in der »Demi monde« als Kurtisane sehr bekannt. Obschon sie aus einfachsten Verhältnissen stammte, mit sechs Jahren nicht einmal ihren Namen schreiben konnte und von ihrer Mutter ständig geschlagen wurde, hatte sie sich später durch ihre Kontakte mit dem Pariser Adel die Umgangsformen der großen Welt angeeignet. Angeblich hatte ihr Vater das Mädchen an »Zigeuner« verkauft, die sie nach Paris brachten. Dort soll sie zunächst bei einer Modistin gearbeitet haben, bis ein bürgerlicher Freund, dem ein Hotel gehörte, ihr eine 53

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Wohnung einrichtete. Wenig später kümmerte sich ein adeliger Verehrer um Marie: der Herzog von Guiche. Nun war sie in den Kreis der Kurtisanen aufgerückt. Adelige buhlten ebenso wie reiche Bürger um ihre Gunst und verwöhnten sie durch großzügige Geschenke. Der Duft der eleganten Welt verführte Marie Duplessis zu einer unglaublichen Verschwendungssucht. Nur reiche Gönner konnten schließlich ihren Geldbedarf decken. So berichtet im Roman Prudence dem eifersüchtigen Armand: »Begreifen Sie denn nicht, dass das arme Mädchen dem Grafen nicht die Tür weisen kann? Seit langer Zeit ist er ihr gegenüber sehr freigebig, und er ist es auch jetzt noch. Marguerite braucht jene hunderttausend Francs; sie hat viele Schulden. Der Herzog schickt ihr, was sie verlangt, aber sie getraut sich nicht immer, alles von ihm zu verlangen, was sie braucht. Mit dem Grafen, von dem sie mindestens zehntausend Franken bezieht, darf sie sich auch nicht entzweien.« Die im Roman erwähnten Chevaliers, Grafen und Herzöge, die als Freunde, Protektoren und Financiers Marguerites auftreten, lebten tatsächlich: natürlich unter einem anderen Namen als im Roman! Allerdings ist Armand Duval, der Geliebte Marguerites, nicht historisch. Alexandre Dumas d. J. wertete bei der Charakteristik Armands eigene Erfahrungen aus. War er doch selbst zeitweise ein Freund der berühmten Kurtisane. Im Théâtre des Variétés in Paris hatte er sie persönlich kennengelernt. In diesem Theater trafen begüterte Herren der Pariser Gesellschaft die »hautes coquines«. Diese »Edelhuren« waren wie vornehme Damen der Gesellschaft gekleidet und nahmen im Rahmen der »Halbwelt« eine höhere Position als die Grisetten ein. Die »hautes coquines« lebten auf Kosten reicher Kavaliere, die nicht müde wurden, diese Kurtisanen – neben der üblichen Apanage – mit kostbaren Geschenken zu verwöhnen. Einige dieser Damen träumten von der »wahren Liebe«. So auch Marie Duplessis, die Marguerite Gautier des Romans. Im Théâtre des Variétés hatte Dumas Marie Duplessis kennengelernt. Dumas war von der Schönheit dieser Frau sofort bezaubert: »Sie war hochgewachsen und sehr schlank, ihr Haar schwarz, ihr Gesicht sehr weiß, mit einem rosigen Schimmer ... sie hatte einen zierlichen Kopf, längliche Emailleaugen wie die einer Japanerin, aber lebhaft mit stolzem Ausdruck. Man glaubte, eine Figur aus Meissner Porzellan vor sich zu haben.« Als Dumas Marie kennenlernte, saß der ältliche Graf Stakelberg als Kavalier in deren Loge. Stakelberg verehrte die Duplessis, weil sie ihn an seine verstorbene Tochter erinnerte. (Im Roman Dumas’ tritt Stakelberg als »alter Herzog« auf.) Nach der Vorstellung im Theater fuhr Dumas mit der Modistin Clemence Prat (der Putzmacherin Prudence Duvernoy des Romans) in deren Wohnung. Dort meldete sich Marie Duplessis und bat Clemence, sie und Dumas möchten zu ihr kommen, denn das Gespräch mit Stakelberg öde sie an. Den Grafen komplimentierte die Duplessis dann hinaus. Im Salon Maries fiel Dumas auf, dass die Gastgeberin unmäßig trank. Man dinierte auch. Anschließend wurde die Kurtisane von einem starken Husten befallen und spuckte Blut. Wie im Roman Armand bestürmte der junge Dumas die Duplessis mit seiner Liebe. Doch schon nach wenigen Monaten kühlte sich das Verhältnis ab: Dumas scheint ihr wegen ihrer vielen weiteren Liebhaber Vorhaltungen gemacht zu haben. Er wollte nicht ein Freund unter zahlreichen Verehrern, sondern alleiniger Geliebter sein. Diese Zusage konnte ihm die Duplessis nicht geben. So verabschiedete er sich am 30. August 1845 mit einem Brief von ihr.

FIKTION & WIRKLICHKEIT

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ALEXANDRE DUMAS D. J. AN MARIE DUPLESSIS

»Meine liebe Marie, ich bin nicht reich genug, um Sie zu lieben, wie ich es wünschte, noch arm genug, um von Ihnen geliebt zu werden, wie Sie es wünschten. Wir wollen also beide vergessen – Sie, einen Namen, der Ihnen gleichgültig sein dürfte, und ich ein Glück, das mir unmöglich geworden ist. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie traurig ich bin, denn Sie wissen es ja bereits, wie sehr ich Sie liebe. So heißt es also: Adieu. Sie haben zu viel Herz, um nicht zu verstehen, was mich veranlasst, Ihnen diesen Brief zu schreiben, und zu viel Geist, um ihn mir nicht zu verzeihen. Tausend Erinnerungen 30. August 1845 A. D.« 55


Als er später von einem Freunde hörte, sie sei schwer krank, schrieb Dumas am 18. Oktober 1846 von Madrid aus einen Brief, in dem er der früheren Freundin eine baldige Genesung wünscht. Schon vorher hatte die Duplessis den Komponisten Franz Liszt kennengelernt. Sie scheint ihn als Ersatz für Dumas betrachtet zu haben, den sie wirklich geliebt hatte, während sie ihre zahlreichen weiteren Galane zwar als Geldgeber brauchte, ihnen jedoch kaum menschlich nahestand. Auch Liszt ging später auf Distanz und weigerte sich, mit ihr eine Orientreise anzutreten. Er erkannte aber, inwieweit sich Marie von anderen Kurtisanen unterschied: »Ich habe im allgemeinen keine besondere Vorliebe für die Marion de Lormes oder für die Manon Lescauts: Aber sie war eine Ausnahme. Sie hatte Herz.« Als Dumas von seiner Reise zurückkehrte, war Marie bereits tot. Sie starb am 3. Februar 1847. Am 5. Februar wurde sie bestattet. Nur wenige Freunde folgten dem Sarg. Der englische Dichter Charles Dickens nahm an der Versteigerung des Nachlasses der Kurtisane teil, die über achtzigtausend Francs einbrachte. Dumas machte sich Vorwürfe wegen seines Verhaltens. Um sich von seinem Schuldgefühl zu befreien, schrieb er den Roman, in dem die Lieblingsblume Maries, die eine besondere Vorliebe für weiße Kamelien hatte, eine symbolische Bedeutung hat. Ab Mai 1847 hatte Dumas an seinem Roman gearbeitet, der 1848 veröffentlicht wurde und außerordentlich erfolgreich war. Trotz der Skepsis seines Vaters Alexandre Dumas père benutzte Dumas fils seinen Roman als Basis für ein Schauspiel. Das Theaterstück war noch erfolgreicher als der Roman. Berühmte Primadonnen der Sprechbühnen setzten sich als Darstellerinnen der Titelrolle für das Schauspiel ein: von Sarah Bernhardt bis Elisabeth Bergner und Käthe Dorsch. Dumas père berichtet, dass er die Duplessis nur einmal getroffen habe: im Théâtre Français, als sein Sohn mit der Geliebten zusammen in einer Loge saß. Er erinnerte sich, dass eine »entzückende junge Frau von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren ihm einen feurigen Kuss« gegeben habe. Gegen das Verhältnis seines Sohnes mit der Duplessis hatte Dumas père nichts einzuwenden (im Gegensatz zum Vater Duval des Romans und des Schauspiels!). Die Kameliendame war für Dumas fils zweifellos nicht nur eine literarische Angelegenheit. Mitleidvoll setzte er sich in seinem literarischen Schaffen immer wieder für Menschen ein, die der »Halbwelt« angehörten und von einer in bürgerlichen Vorurteilen befangenen Gesellschaft verachtet wurden. Insofern ist er ein Vorläufer des Gesellschaftskritikers und Dramatikers Ibsen. Dumas’ Roman und Theaterstück erstreben gleichzeitig Rührung und Besserung. Er kämpfte für die Ehescheidung, ferner für die Rechte der unehelichen Kinder. (Er ist selbst ein unehelicher Sohn von Dumas père!) Am Schluss seines Romans zieht er sein Resümee, dass nicht »jedes Mädchen von der Art Marguerites fähig ist, das zu tun, was sie getan hat. Davon bin ich weit entfernt, aber ich habe eben hier von einer von ihnen erfahren, dass es in ihrem Leben eine wirkliche Liebe gab, dass sie dafür gelitten hat und dass sie für ihre Liebe gestorben ist. Ich habe dem Leser das erzählt, was ich erfahren habe ... Ich bin kein Apostel des Lasters, aber ich werde mich immer zum Echo eines echten Unglückes machen, wo ich es auch rufen höre!«

FIKTION & WIRKLICHKEIT

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ALBERT CAMUS

»Ich verzweifelte an der Liebe und an der Keuschheit – da fiel mir endlich ein, dass ja noch die Ausschweifung übrigblieb; sie vermag die Liebe sehr gut zu ersetzen, sie bringt das Lachen zum Verstummen, lässt Schweigen eintreten und verleiht vor allem Unsterblichkeit. Wenn man einen gewissen Grad hellsichtigen Rausches erreicht hat, spät in der Nacht zwischen zwei Dirnen liegt und jeden Verlangens ledig ist, dann ist die Hoffnung keine Qual mehr, der Geist herrscht über alle Zeiten, und der Lebensschmerz ist auf immer vorbei. In gewissem Sinn hatte ich seit jeher in der Ausschweifung gelebt, da ich ja nie aufgehört hatte, nach Unsterblichkeit zu trachten. ... Ich liebte mich zu sehr, um nicht zu wünschen, dass der kostbare Gegenstand meiner Liebe nie verschwinden möge. Da man mit einer Spur Selbsterkenntnis im wachen Zustand keine triftigen Gründe sieht, warum einem geilen Affen Unsterblichkeit zuteilwerden sollte, muss man sich wohl oder übel nach einem Ersatz dafür umtun. Weil ich nach dem Ewigen Leben trachtete, schlief ich mit Huren und vertrank ganze Nächte. Am Morgen hatte ich dann natürlich den bitteren Geschmack der Sterblichkeit auf der Zunge. Doch hatte ich lange Stunden in glückseligem Schweben verbracht. Darf ich das Geständnis wagen? Ich denke immer noch voll Rührung an bestimmte Nächte zurück, da ich in einem schmierigen Tingeltangel eine Verwandlungstänzerin aufsuchte, die mir ihre Gunst gewährte und um deren Ehre willen ich mich sogar eines Abends mit einem prahlerischen Zuhälter schlug. Wie ein Pfau stand ich jede Nacht an der Theke, im roten Licht und im Staub dieser Stätte der Wonnen, log, dass sich die Balken bogen, und soff. Ich wartete auf das Morgengrauen und landete schließlich im stets zerwühlten Bett meiner Prinzessin, die sich mechanisch der Lust hingab und dann unvermittelt einschlief. Sachte schlich sich das Tageslicht ein und erhellte die Verheerung, und ich ragte reglos in einen Morgen des Ruhms. Der Alkohol und die Frauen haben mir, wie ich zugeben muss, die einzige Erleichterung gewährt, deren ich würdig war. Ich verrate Ihnen dieses Geheimnis, verehrter Freund, damit Sie nach Belieben von dem Rezept Gebrauch machen können. Dann werden Sie merken, dass die echte Ausschweifung befreit, weil sie keinerlei Verpflichtung schafft. Man besitzt dabei nur sich selber; darum ist sie die bevorzugte Beschäftigung der wahrhaft in sich selbst Verliebten. Sie ist ein Dschungel ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, und vor allem ohne Verheißung und ohne unmittelbare Strafe.«

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FIKTION UND WIRKLICHKEIT


der star & die hetäre

SIMONE DE BEAUVOIR

Die Prostituierte, die einen einzigartigen Wert erreichen möchte, beschränkt sich nicht mehr darauf, passiv ihr Fleisch zu zeigen, sie bemüht sich um besondere Talente. [...] Gewiss, es gibt Girls, Taxi-girls, Nackttänzerinnen, Amüsierdamen, Pin-ups, Mannequins, Sängerinnen und Schauspielerinnen, die nicht zulassen, dass ihr erotisches Leben auf den Beruf übergreift. Je mehr Technik und Erfindungskunst dieser verlangt, umso mehr kann er als Selbstzweck dienen. Aber eine Frau, die sich öffentlich »produziert«, um ihren Unterhalt zu verdienen, gerät leicht in Versuchung, mit ihren Reizen ein intimeres Geschäft zu machen. Umgekehrt wünscht sich die Kurtisane einen Beruf, der ihr als Alibi dient. [...] Aber meistens gelangt sie nur unter männlicher »Protektion« zu ihrem Ziel, und es sind Männer – Ehemann, Liebhaber, Verehrer –, die ihren Triumph bestätigen, indem sie sie an ihrem Vermögen, an ihrem Ruf teilhaben lassen. Durch die Wendigkeit, Individuen oder Massen zu gefallen, sind der Star und die Hetäre einander verwandt. In der Gesellschaft spielen sie eine analoge Rolle: ich möchte mit dem Wort Hetäre alle Frauen bezeichnen, die nicht nur ihren Körper, sondern ihre ganze Person als verwertbares Kapital behandeln. Paradoxerweise schaffen sich diese Frauen, die ihre Weiblichkeit bis zum äußersten ausbeuten, eine Situation, die der des Mannes sehr ähnlich ist. Ausgehend von ihrem Geschlecht, das sie den Männern als Objekt ausliefert, finden sie sich als Subjekt wieder. Nicht nur, dass sie ihren Unterhalt wie Männer verdienen, sondern sie leben auch fast ausschließlich in männlicher Gesellschaft. Frei in ihren Sinnen und in ihren Reden

DER STAR & DIE HETÄRE

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können sie sich zu einer seltenen Freiheit des Geistes erheben. Die bemerkenswertesten unter ihnen werden oft von Künstlern oder Schriftstellern umschwärmt, die sich mit »anständigen« Frauen langweilen. In der Hetäre finden die männlichen Mythen ihre reizvollste Verkörperung: sie ist mehr als jede andere Fleisch und Bewusstsein, Idol, Inspiration, Muse. Maler wie Bildhauer wollen sie als Modell, und sie nährt die Träume der Dichter. In ihr erforscht der Intellektuelle die Schätze der weiblichen »Intuition«. [...] Es kann aber auch sein, dass sie den Mann als Werkzeug benutzen und über seine Mittlerschaft männliche Funktionen ausüben: die »großen Favoritinnen« nahmen über ihre mächtigen Geliebten Einfluss auf die Geschicke dieser Welt. Genau wie manche Frauen die Ehe zu eigenen Zwecken benutzen, setzen andere ihre Liebhaber als Mittel ein, um bestimmte politische oder ökonomische Ziele zu erreichen. Sie überschreiten die Situation der Hetäre wie die anderen die der Matrone. Diese Befreiung kann sich unter anderem auf der erotischen Ebene zeigen. Es kommt vor, dass die Frau in den Geldern oder Diensten, die sie dem Mann abringt, eine Kompensation für ihren weiblichen Minderwertigkeitskomplex findet. Das Geld spielt eine reinigende Rolle. Es hebt den Geschlechterkampf auf. Wenn viele Frauen, die keine Prostituierten sind, Wert darauf legen, ihren Liebhabern Schecks und Geschenke zu entlocken, so tun sie es nicht nur aus Habgier. Einen Mann bezahlen lassen [...] heißt, ihn in ein Werkzeug verwandeln. So wehrt die Frau sich dagegen, selbst eines zu sein. Vielleicht glaubt er, sie zu »haben«, aber dieser sexuelle Besitz ist illusorisch. Sie dagegen hat ihn auf dem sehr viel festeren Boden der Ökonomie. Ihre Eigenliebe ist befriedigt. Sie kann sich den Umarmungen des Geliebten hingeben, ohne einem fremden Willen nachzugeben. Die Lust kann ihr nicht mehr »zugefügt« werden, sie erscheint vielmehr als ein zusätzlicher Gewinn. Die Frau wird nicht »genommen«, denn sie wird bezahlt. Dennoch steht die Kurtisane im Ruf der Frigidität. Es ist ihr nützlich, wenn sie Herz und Sinne zu beherrschen weiß. Sobald sie sich sentimental oder lustempfänglich zeigt, besteht die Gefahr, dass sie dem Einfluss eines Mannes unterliegt, der sie ausbeutet, sie an sich reißt oder sie quält. Unter den Umarmungen, die sie sich gefallen lässt, sind viele – vor allem am Anfang ihrer Laufbahn –, die sie erniedrigen. Ihre Empörung gegen die männliche Arroganz schlägt sich in Frigidität nieder. [...] Kein Mann ist endgültig ihr Herr. Aber sie brauchen den Mann dringend. Die Kurtisane verliert jede Existenzgrundlage, wenn er aufhört, sie zu begehren. Die Anfängerin weiß, das ihr Schicksal in den Händen der Männer liegt. [...] Um ihren Beschützer zu »bewahren«, ohne auf ihre Freuden zu verzichten, greift die Frau zu den gleichen Listen, Machenschaften, Lügen und Verstellungen, die das Eheleben entwürdigen. Auch wenn sie die »Servilität« nur spielt, ist dieses Spiel selbst servil. Solange sie schön und berühmt ist, kann sie sich, wenn der Herr des Tages ihr missliebig wird, einen anderen aussuchen. Aber die Schönheit ist ein Sorgenkind, ein zerbrechlicher Schatz. Die Hetäre hängt eng von ihrem Körper ab, an dem die Zeit ungnädig zehrt. Für sie nimmt der Kampf gegen das Altwerden seinen dramatischsten Aspekt an. Wenn sie ein hohes Ansehen besitzt, kann sie den Verfall ihrer Gesichtszüge und ihrer Formen überleben. Aber die Pflege dieses Renommees, das ihr sicherstes Gut ist, unterwirft sie der schlimmsten Tyrannei: dem Urteil der öffentlichen Meinung. 59

DER STAR & DIE HETÄRE


Adi Hanan (Nanina)


Andrés Garcia Torres (Eugène), Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Duccio Tariello (Édouard), Giorgio Fourés (Arthur)


Timoor Afshar (Armand Duval), Ketevan Papava (Marguerite Gautier)


Tomoaki Nakanome (Verehrer Manons), Hyo-Jung Kang (Manon Lescaut), Marcos Menha (Des Grieux)


Elena Bottaro (Olympia), Ensemble


Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Timoor Afshar (Armand Duval)


Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Hyo-Jung Kang (Manon Lescaut), Herrenensemble



Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Eno Peci (Monsieur Duval)


Elena Bottaro (Olympia), Timoor Afshar (Armand Duval), Ensemble


Ketevan Papava (Marguerite Gautier), Timoor Afshar (Armand Duval)


JULES JANIN

»Es ging von dieser Person, die so früh vom Tod davongetragen wurde, eine gewisse Haltung und ein gewisser unwiderstehlicher Anstand aus. Sie hat abseits gelebt, doch anstatt in einer stilleren und heiteren Gegend, lebte sie dort, wo sich alles verliert ... Ach! Auch sie war nur ein unnützes Ornament, eine Fantasie, ein frivoles Spielzeug, das beim ersten Aufschlag zerbricht – schillerndes Produkt einer im Niedergang begriffenen Gesellschaft, ein Zugvogel, eine Sonne für Minuten ... So war diese besondere Frau im Abseits – inmitten der Pariser Leidenschaften.« AUS DEM VORWORT ZUM ROMAN LA DAME AUX CAMÉLIAS VON ALEXANDRE DUMAS D. J.


die kameliendame & das ballett

HORST KOEGLER

Als Alexandre Dumas’ d. J. La Dame aux Camélias im Revolutionsjahr 1848 als Romanheldin debütierte, hatte die Ballettromantik zwar schon ihren Höhepunkt überschritten, doch einen Stoff von dieser Realismusnähe aufzugreifen, wäre den damals tonangebenden Choreographen à la Coralli, Perrot oder Saint-Léon ebenso absurd erschienen, wie sich ihre Starballerinen à la Grisi und Cerrito mit Entschiedenheit geweigert hätten, eine Kokotte wie Marguerite Gautier zu verkörpern. Sie hielten es damals noch immer lieber mit den Feen, Wilis, Elfen, Sylphen, Undinen, Peris und anderen außerweltlichen Geschöpfen, in denen sich die romantische Sehnsucht nach einem Weiblichkeitsideal der vollkommenen Reinheit und Geistigkeit verkörperte.

DIE KAMELIENDAME & DAS BALLETT

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Sich dem Aufbruch der Künste ins Zeitalter des Realismus anzuschließen, hat das Ballett versäumt – im Gegensatz zur Oper, wo Verdi nicht nur davon träumte, »neue, kühne Stoffe und einzigartige Charaktere« auf die Bühne zu bringen, sondern diesem Traum auch die künstlerische Tat folgen ließ. Bereits 1853 zog er mit La Traviata die Konsequenz – nur ein Jahr, nachdem die Kameliendame aus den Seiten des Romans auf die Bühne des Pariser Théâtre du Vaudeville übergewechselt war. Den Siegeszug des Realismus, der, von der Literatur ausgehend, die ganze zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte und dazu beigetragen hat, das gesellschaftskritische Instrumentarium der Kunst zu schärfen und dem Schauspiel, der Oper und der bildenden Kunst die lebensnotwendigen neuen Energien zuzuführen – ihn hat das Ballett, das eben erst mit dem Spitzenschuh seinen eigensten surrealistischen Auftrag entdeckt zu haben glaubte, mit größter Skepsis par distance verfolgt. Es war diese beharrliche Realismus-Verweigerung, die den Niedergang des Balletts in der zweiten Jahrhunderthälfte in West- und Mitteleuropa beschleunigt hat (wie es die Neuromantik der Jahrhundertwende war, die sein Comeback durch Diaghilew und seine Ballets Russes ermöglicht hat). Zu den großen klassischen Stoffen des Balletts gehört die Kameliendame also nicht, und über das eine historische Kameliendamen-Ballett, das die Ballettgeschichte unter dem Titel Rita Gauthier 1857 in Turin registriert hat, wissen wir nicht mehr, als dass es zu Musik von Verdi getanzt wurde und dass sein Choreograph ein gewisser Filippo Termanini war. Es scheint Rosalia Chladek, Vertreterin des modernen Ausdruckstanzes HellerauLaxenburger Observanz, gewesen zu sein, die Marguerite Gautier zu tänzerischem Leben im 20. Jahrhundert erweckt hat: 1943 in ihrem Solozyklus Ein romantisches Liebesschicksal zu Musik von Chopin, »wobei der gesellschaftliche Aspekt von Dumas d. J. in den Hintergrund rückte zugunsten der individuellen menschlichen Passion«, wie es in Axel E. Buschbecks Chladek-Monographie heißt. Drei Jahre später, 1946, hat dann auch das Ballett nachgezogen, als John Taras, damals 27 Jahre alt, Camille für das Original Ballet Russe zu Musik von Franz Schubert choreographierte, bearbeitet von Vittorio Rieti. In der Ausstattung von Cecil Beaton tanzten Alicia Markova und Anton Dolin die Hauptrollen, das romantische Liebespaar des damaligen Balletts. Fünf Jahre später schuf Antony Tudor mit seiner Lady of the Camellias sein erstes Ballett fürs New York City Ballet, wobei er sich eines Arrangements unbekannterer Stücke aus Verdis frühen Opern bediente, bei der Ausstattung aber gezwungen war, auf die aus dem Fundus des Original Ballet Russe stammenden Bühnenbilder und Kostüme von Beaton zurückzugreifen. Mit Diana Adams als Marguerite und Hugh Laing als Armand wurde das Ballett, was die Angloamerikaner »a qualified success« nennen, ein bedingter Erfolg. Tudor selbst scheint von seinem Werk keineswegs besonders angetan gewesen zu sein, erklärte er doch: »Wenn man eine Erzählung wie diese nimmt, ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Formlosigkeit als tänzerische Struktur. Und dann halst man sich damit auf, eine komplette Geschichte zu erzählen [...], wenn man sich mit diesen ausladenden Krinolinen einlässt, ist es schwierig, sich zu bewegen. Ich wollte die Festgäste sehr ruhig dahingleiten lassen, doch die Tänzer hatten Schwierigkeiten, meine 73

DIE KAMELIENDAME & DAS BALLETT


Bewegungen zu tanzen. Es gab eigentlich nur zwei tänzerische Folgen: die Todesszene und einen Pas de deux auf dem Lande.« Nach den diversen musikalischen Arrangements scheint die 1957 von Tatjana Gsovsky mit ihrem Berliner Ballett herausgebrachte Kameliendame die erste Ballettversion gewesen zu sein, für die eine eigene Musik komponiert wurde. Sie stammte von Henry Sauguet, dem Hans Heinz Stuckenschmidt bescheinigte, »die Tradition des Pariser Dixneuvième sehr persönlich weitergetragen« zu haben. Zweiter französischer Mitarbeiter an dieser Uraufführung der Berliner Festwochen war ein damals gerade 25-jähriger Bühnen- und Kostümbildner namens Jean-Pierre Ponnelle. Abgesehen von der Aufspaltung in eine reale Marguerite (Helga Sommerkamp) und ihr jugendliches Erscheinungsbild (Andrea Marlière) hat sich Tatjana Gsovsky ziemlich eng an Dumas gehalten, beginnend mit dem Prolog der Versteigerung, bei der sich Armand (Gert Reinholm) mittels einer Robe der verstorbenen Marguerite ihres gemeinsamen Liebesglücks erinnert. Die Kritik beklagte allgemein den Mangel an Tanz – wie vorher schon bei Tudor, wie später wieder bei Frederick Ashton. Der vermisste Hauch von Paris stellte sich dann aber doch noch ein, als Yvette Chauviré von der Pariser Opéra die Titelrolle übernahm, »La Reine de la classe des declassés«, die durch ihre subtilen psychologischen Mittel fesselte und die Rolle von Dumas weg und auf Ibsen zu interpretierte. 1960 übernahm dann die Pariser Opéra die Gsovskysche Dame aux Camélias in ihr Repertoire, hier mit George Skibine als Chauvirés Partner, doch alle Bewunderung für die beiden Protagonisten war nicht imstande, das Ballett länger im Repertoire zu halten. Es konnte nicht ausbleiben, dass Ruth Page, in Chicago eine der führenden TanzPionierpersönlichkeiten Amerikas und obendrein eine begeisterte Opernliebhaberin, die schon mit ihren Balletten nach Carmen, Die lustige Witwe, Fledermaus und Troubadour große Publikumserfolge errungen hatte, sich eines Tages auch des Kameliendamen-Stoffes annehmen würde. Sie nannte ihr 1962 zu einem Verdi-Arrangement herausgebrachtes, von José C. Basarte ausgestattetes und von Patricia Klekovic und Kenneth Johnson (später auch von Marjorie Tallchief und Skibine) getanztes Ballett Camille. Später erinnerte sie sich: »Der romantische Geist schien von Anfang an da zu sein. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich zum Friedhof von Père Lachaise gegangen war und dort am Grabe von Marguerite Gautier Tränen vergossen hatte [...], vielleicht auch, weil Marjorie Tallchief eigens dazu geboren schien, die Rolle Camilles zu tanzen. Die ganze Kompanie weinte, als sie sie zuerst, in ihrem üblichen Trainingsdress in einer Bühnenprobe darstellen sah, im harten, weißen Arbeitslicht des Theaters.« Die New Yorker Kritik weinte allerdings nicht, als Camille dann in der Brooklyn Academy gezeigt wurde, wo Doris Hering ihr im Dance Magazine bescheinigte: »Miss Page hat ein paar Eigenheiten hinzugefügt, wie eine bukolische Szene von La Fille mal gardée [...], eine altmodische Visionsszene für Armand, in der er die sterbende Camille im schwarzen Trauerflor herumgetragen sieht, und eine statische halluzinatorische Szene, in der die Karnevalisten in Camilles Sterbezimmer einbrechen. [...] Doch es handelt sich nicht wirklich um ein Ballett, denn die Bewegung ist der Musik aufgepfropft, anstatt ihr natürlicher Teil zu sein.« Seine bisher publikumswirksamste und repertoiredauerhafteste Form als Ballettstoff hat Die Kameliendame zweifellos in Frederick Ashtons Marguerite and Armand gefun-

DIE KAMELIENDAME & DAS BALLETT

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den, das 1963 beim Royal Ballet Premiere hatte, choreographisch maßgeschneidert für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew, getanzt zu Musik von Franz Liszt (La lugubre gondola und die h-Moll Sonate, instrumentiert von Humphrey Searle), in der (Neu-) Ausstattung von Beaton. Dies war die dramaturgisch eigenwilligste aller Kameliendamen-Versionen, zu der Ashton, laut eigener Aussage, durch Alain Resnais’ Film Letztes Jahr in Marienbad inspiriert wurde. Ashton hat sein Ballett als Rückblende aus dem Sterbezimmer Marguerites konzipiert, einen halluzinatorischen Wirbel fieberhafter Erinnerungsbilder in traumhaft-greller Überbelichtung. In vier großen Pas de deux, zwischen die die Gesellschaftsszenen wie Sketches eingeschoben sind, erfüllt sich das Schicksal der beiden Liebenden. Die Kritiker nannten Marguerite and Armand abschätzig ein StarVehikel, aber das Publikum der ganzen Welt war hingerissen und es gibt nicht wenige, die in dem Balletteinakter mit Prolog die Krönung der inzwischen in die Ballettgeschichte eingegangenen Partnerschaft von Dame Margot und Gospodin Rudi sehen. Vermutlich lieferte Ashton auch die Inspiration, als der kubanische Choreograph Alberto Mendez begann, ein Kameliendamen-Ballett für Alicia Alonso zu entwerfen. Er nannte es Nous nous verrons hier soir und brachte es 1971 im Auftrag des Mai Musical de Bordeaux heraus, mit dem kubanischen Nationalballett und Jorge Esquivel als Armand, zu einer überarbeiteten Fassung der Musik, die Sauguet für Berlin komponiert hatte, in einer Ausstattung von Salvador Fernandez, die sich auf ein paar Vorhangdraperien beschränkte und den Kostümen einen leichten 20er-Jahre-Touch gab. Bei Mendez ist Marguerite bereits tot, und so durchlebt Armand die verschiedenen Phasen seiner Leidenschaft für und mit Marguerite noch einmal als Bilder einer Erinnerung, in der sich Wirklichkeit und Einbildung hoffnungslos miteinander verknäueln. Im Grunde handelt es sich auch hier wieder um ein ausgesprochenes Pas-de-deux-Ballett, dessen Rahmen durch Armands Besuch am Grabe Marguerites abgesteckt wird. Die bisher eigenwilligste choreographische Interpretation – und auch der bis zu Neumeiers Stuttgarter Version offenbar letzte Versuch, den Stoff choreographisch in den Griff zu bekommen – war Maurice Béjarts Inszenierung von Verdis La Traviata-Oper 1973 in Brüssels Théâtre Royal de la Monnaie, dessen Logenrund der Ausstatter Thierry Bosquet auf der Bühne mittels Spiegeln reflektierte: Eine Gesellschaft, die gezwungen war, sich selbst ins Gesicht zu sehen! Auch Béjart lässt seine Violetta Valéry bereits im Vorspiel zum ersten Akt sterben, verfolgt mit brennenden Augen von A. D., der Alexandre Dumas d. J. ist, Chronist und Manipulator des Geschehens – der aber auch Armand Duval ist, der eine, einzige, unerreichbare Geliebte, eine Tänzergestalt (Jörg Lanner), die Béjart zusätzlich zu Verdis Alfredo durch die gesamte Oper führt. Am Schluss verwandelt sich Violettas Todesbett in einen Nachen. Während A. D. tot zu ihren Füßen niedersinkt, erhebt sie sich, steht mit ausgebreiteten Armen da – ein Denkmal ihrer selbst, die zur mythischen Gestalt verklärte Dame aux Camélias, ein bisschen Antigone, ein bisschen Jeanne d’Arc, ein bisschen Marianne, ein bisschen Women’s Lib. Ständig überschneiden sich hier Dumas, Verdi, der »Mythos der Kameliendame«, die Gesellschaft von 1850 und Béjarts Vorsatz, keine Handlung zu erzählen, sondern »den Verstand auszuschalten und uns in das Labyrinth des Herzens zu führen«. Béjart zeigt Violetta als Aufsässige gegen eine Gesellschaft, die sie nicht mehr als ein Lustobjekt 75

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ist. Das ist zweifellos ein diskutabler Neuansatz, doch zustande gekommen ist dabei weder eine Oper (in Brüssel wurde erbärmlich gesungen und musiziert) noch ein Ballett (nur ein einziger Solotänzer war an der Inszenierung beteiligt). Als John Neumeier dann im November 1978 seine abendfüllende KameliendamenVersion für das Stuttgarter Ballett herausbrachte, hatte er die brillante Idee, den Stoff von Dumas d. J. mit dem Manon Lescaut-Stoff zu verknüpfen. Dies ist durchaus vorgegeben in Dumas’ Roman, doch war es bisher offenbar noch nie dramatisch genutzt worden. Indem Neumeier den Manon Lescaut-Stoff sozusagen als Vorecho des Schicksals von Marguerite und Armand durch das gesamte Stück zieht, gelingt ihm nicht nur, sein Ballett gänzlich der gefährlichen Nachbarschaft zu Verdis Oper zu entrücken, sondern er gewinnt die zusätzliche Handlungsebene eines Spiels mit den Schatten der Vergangenheit. Es braucht nicht verschwiegen zu werden, dass die Komplexität von Neumeiers Dramaturgie, dieser ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Realität und Fiktion, bei den Auslandstourneen des Stuttgarter Balletts nicht überall die Zustimmung gefunden hat, die die Aufführung in Stuttgart selbst zu einem Serienerfolg hat werden lassen. Ein an Neumeiers Gedankengänge gewohntes Publikum wird indessen gerade diese Komplexität als den spezifischen Reiz seiner KameliendamenVersion würdigen, die ihr einen Reichtum an Motivationen sichert, wie er im Ballett nicht unbedingt üblich ist.

DIE KAMELIENDAME & DAS BALLETT

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ensemble & biographien


tänzerinnen & tänzer

Ioanna Avraam Erste Solotänzerin

Davide Dato Erster Solotänzer

Olga Esina Erste Solotänzerin

Kiyoka Hashimoto Erste Solotänzerin

Hyo-Jung Kang Erste Solotänzerin

Masayu Kimoto Erster Solotänzer

Liudmila Konovalova Erste Solotänzerin

Marcos Menha Erster Solotänzer

Ketevan Papava Erste Solotänzerin

Alexey Popov Erster Solotänzer

ENSEMBLE

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Brendan Saye Erster Solotänzer

Claudine Schoch Erste Solotänzerin

Yuko Kato Senior Artist

Timoor Afshar* Solotänzer

Elena Bottaro Solotänzerin

Sonia Dvořák Solotänzerin

Alice Firenze Solotänzerin

Rebecca Horner Solotänzerin

Aleksandra Liashenko Solotänzerin

Eno Peci Solotänzer

Arne Vandervelde Solotänzer

Daniel Vizcayo Solotänzer

Géraud Wielick Solotänzer

Rashaen Arts Halbsolist

Natalya Butchko Halbsolistin

Jackson Carroll Halbsolist

Iliana Chivarova Halbsolistin

Calogero Failla Halbsolist

Lourenço Ferreira Halbsolist

Giorgio Fourés Halbsolist

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ENSEMBLE


Gaia Fredianelli Halbsolistin

Sveva Gargiulo Halbsolistin

Alexandra Inculet Halbsolistin

Gala Jovanovic Halbsolistin

Helen Clare Kinney Halbsolistin

François-Eloi Lavignac Halbsolist

Eszter Ledán Halbsolistin

Anita Manolova Halbsolistin

Tomoaki Nakanome Halbsolist

Duccio Tariello Halbsolist

Andrey Teterin Halbsolist

Zsolt Török Halbsolist

Benjamin Alexander Corps de ballet Staatsoper

Alisha Brach Corps de ballet Staatsoper

Marie Breuilles Corps de ballet Staatsoper

Victor Cagnin Corps de ballet Staatsoper

Laura Cislaghi Corps de ballet Staatsoper

Vanessza Csonka Corps de ballet Staatsoper

Giovanni Cusin Corps de ballet Staatsoper

Andrés Garcia Torres Corps de ballet Staatsoper

ENSEMBLE

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Javier González Cabrera Corps de ballet Staatsoper

Adi Hanan Corps de ballet Staatsoper

Trevor Hayden Corps de ballet Staatsoper

Isabella Knights Corps de ballet Staatsoper

Zsófia Laczkó Corps de ballet Staatsoper

Phoebe Liggins Corps de ballet Staatsoper

Gaspare Li Mandri Corps de ballet Staatsoper

Sinthia Liz Corps de ballet Staatsoper

Meghan Lynch Corps de ballet Staatsoper

Tatiana Mazniak Corps de ballet Staatsoper

Godwin Merano Corps de ballet Staatsoper

Katharina Miffek Corps de ballet Staatsoper

Igor Milos Corps de ballet Staatsoper

Kirill Monereo de la Sota Corps de ballet Staatsoper

Junnosuke Nakamura Corps de ballet Staatsoper

Laura Nistor Corps de ballet Staatsoper

Hanno Opperman Corps de ballet Staatsoper

Ella Persson Corps de ballet Staatsoper

Kristián Pokorný Corps de ballet Staatsoper

Nicola Rizzo Corps de ballet Staatsoper

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ENSEMBLE


Alaia Rogers-Maman Corps de ballet Staatsoper

Iulia Tcaciuc Corps de ballet Staatsoper

Helena Thordal-Christensen Corps de ballet Staatsoper

Gloria Todeschini Corps de ballet Staatsoper

Chiara Uderzo Corps de ballet Staatsoper

Céline Janou Weder Corps de ballet Staatsoper

Gabriele Aime Corps de ballet Volksoper

Dominika Ambrus Corps de ballet Volksoper

László Benedek Corps de ballet Volksoper

Vivian de Britto-Schiller Corps de ballet Volksoper

Nina Cagnin Corps de ballet Volksoper

Roman Chistyakov Corps de ballet Volksoper

Kristina Ermolenok Corps de ballet Volksoper

Tainá Ferreira Luiz Corps de ballet Volksoper

Riccardo Franchi Corps de ballet Volksoper

Kevin Hena Corps de ballet Volksoper

Tessa Magda Corps de ballet Volksoper

Dragos Musat Corps de ballet Volksoper

Keisuke Nejime Corps de ballet Volksoper

Aleksandar Orlić Corps de ballet Volksoper

ENSEMBLE

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Matilda Poláková* Corps de ballet Volksoper

Olivia Poropat Corps de ballet Volksoper

Marie Ryba Corps de ballet Volksoper

Natalie Salazar Corps de ballet Volksoper

Francesco Scandroglio Corps de ballet Volksoper

Marta Schiumarini Corps de ballet Volksoper

Mila Schmidt Corps de ballet Volksoper

Gleb Shilov Corps de ballet Volksoper

Felipe Vieira Corps de ballet Volksoper

Martin Winter Corps de ballet Volksoper

Una Zubović Corps de ballet Volksoper

*Karenzvertretung

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ENSEMBLE


MARKUS LEHTINEN – Musikalische Leitung Markus Lehtinen studierte Dirigieren und Klavier an der Sibelius-Akademie Helsinki sowie Komposition bei Aulis Sallinen und Einojuhani Rautavaara. Seine internationale Dirigentenlaufbahn startete er nach dem Gewinn des nordischen Dirigentenwettbewerbs 1987 mit Engagements an der Königlich Dänischen Oper Kopenhagen und der Finnischen Nationaloper Helsinki sowie regelmäßigen Auftritten an der Königlich Schwedischen Oper Stockholm. Von 1999 bis 2002 war er Chefdirigent der Jyväskylä Sinfonia, von 2002 bis 2006 Erster Gastdirigent des Malmö SymfoniOrkesters. Die Liste der Opernhäuser, an denen Markus Lehtinen dirigierte, ist lang, angefangen von seinem Debüt an der Hamburgischen Staatsoper 1993 mit Prokofjews Ballett Cinderella, welches die bis heute andauernde, regelmäßige Zusammenarbeit mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett begründete. Weitere Dirigate führten ihn an die Deutsche Oper Berlin, Bayerische Staatsoper München, das Bolschoi-Theater Moskau, das Konzerthaus Bunka Kaikan Tokio, die Opéra national du Rhin Straßburg und Opera Carlo Felice Genua sowie zu renommierten Orchestern wie u. a. das Orchestre Philharmonique du Luxembourg, die Philharmonie Baden-Baden, Sinfonia Lahti, das Norwegische Rundfunkorchester oder Tokyo Philharmonic Orchestra. Als Experte für zeitgenössische Oper dirigierte Markus Lehtinen zahlreiche Uraufführungen, darunter Sir Peter Maxwell Davies’ Caroline Mathilde (Kopenhagen), Rodion Schtschedrins Lolita (Stockholm), George Couroupos’ Odysseus (Athen und Hamburg) sowie Aulis Sallinens Kuningas lähtee Ranskaan und Einojuhani Rautavaaras Aleksis Kivi beim Savonlinna Opera Festival, das ihn 2005 zum Artist of the Year kürte. In der Arbeit mit jungen Musiker*innen engagierte er sich von 1993 bis 2006 als Leiter des Tapiola-Jugendsinfonieorchester am Musikinstitut in Espoo mit zahlreichen Tourneen durch Europa sowie als Dirigent weiterer Jugendorchester Skandinaviens. Seit 2004 ist Markus Lehtinen Professor für Oper an der SibeliusAkademie. Er ist auch als Liedbegleiter und Coach tätig und unterrichtet in Meisterkursen. Auf mehreren CDs und in zahlreichen Aufnahmen für internationale Rundfunkanstalten ist sein Schaffen als Dirigent, Pianist und Komponist dokumentiert. Auf sein Debüt an der Wiener Staatsoper 2011/12 mit dem Ballettprogramm Meisterwerke des 20. Jahrhunderts folgten bis 2015 die Premiere Tanzperspektiven sowie Prokofjews Romeo und Julia in der Choreographie von John Cranko.

BIOGRAPHIEN

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JOHN NEUMEIER – Choreographie & Inszenierung John Neumeier wurde in Milwaukee (Wisconsin) geboren und erhielt seinen Ballettunterricht in seiner Heimatstadt sowie später in Kopenhagen und an der Royal Ballet School London. An der Marquette University Milwaukee absolvierte er außerdem den Bachelor of Arts in Englischer Literatur und Theaterwissenschaften. 1963 engagierte ihn John Cranko ans Stuttgarter Ballett. Nach vier Jahren als Ballettdirektor in Frankfurt am Main, wo er mit Neudeutungen von Der Nussknacker und Romeo und Julia auf sich aufmerksam machte, entwickelte er ab 1973 das Hamburg Ballett zu einer der weltweit führenden Compagnien und die 1978 eröffnete Ballettschule zu einer renommierten Ausbildungsstätte. Seit 1993 steht er dem Hamburg Ballett als Intendant vor. 2006 errichtete er die Stiftung John Neumeier. 2011 gründete er das Bundesjugendballett. In seinen Choreographien sucht Neumeier nach zeitgenössischen Formen für das abendfüllende Ballett – sei es dramatisch oder symphonisch – und stellt sie bei seinen Neufassungen von Handlungsballetten wie Der Nussknacker, Illusionen – wie Schwanensee, Dornröschen, Giselle oder der für das Ballet de l’Opéra de Paris geschaffenen Sylvia in den Kontext der klassischen Tradition. In seinen Neuschöpfungen, darunter Literaturballette wie Die Kameliendame, Endstation Sehnsucht, Peer Gynt, Die Möwe, Die kleine Meerjungfrau, Tod in Venedig oder Tatjana sucht er eigene Erzählstrukturen. Aber auch seine Choreographien zu Symphonien Mahlers sowie zu sakraler Musik Bachs, Händels und Mozarts finden weltweite Anerkennung. Zu seinen jüngsten Kreationen zählen Ghost Light, Hamlet 21, das Beethoven-Projekt II sowie Dona Nobis Pacem zu Bachs h-Moll-Messe. Als Gastchoreograph arbeitete Neumeier u.a. mit dem American Ballet Theatre, Royal Ballet London, Tokyo Ballet, Mariinski-Ballett, Bayerischen Staatsballett, Stuttgarter Ballett, Königlich Schwedischen Ballett und National Ballet of Canada. In Fernsehaufzeichnungen, auf DVD und Blu-ray ist sein Schaffen umfangreich dokumentiert. Zu seinen Auszeichnungen zählen u.a. das Bundesverdienstkreuz, das Ritterkreuz des Dannebrogorden, die von Königin Margrethe II. verliehene Ehrenmedaille »Ingenio et arti«, der Chevalier des Arts et des Lettres, der Ehrendoktor der Marquette University, der Deutsche Tanzpreis und der Prix Benois de la Danse. Neumeier ist Professor der Hansestadt Hamburg und wurde 2007 zu ihrem Ehrenbürger ernannt. Seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Wiener Staatsballett geht auf die Uraufführung der Josephs Legende 1977 zurück, auf die zahlreiche weitere Einstudierungen sowie mehrere Choreographien für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker folgten.

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JÜRGEN ROSE – Bühne & Kostüme Jürgen Rose wurde in Bernburg an der Saale geboren und studierte an der Akademie der Bildenden Künste Berlin sowie an der dortigen Schauspielschule von Marlise Ludwig. 1959/60 erhielt er ein erstes Engagement als Bühnen- und Kostümbildner sowie als Schauspieler an den Städtischen Bühnen Ulm. Von 1961 bis 2001 war er als Kostüm- und Bühnenbildner an den Münchner Kammerspielen tätig. Es folgten Ausstattungen für über 350 Stücke in den Bereichen Ballett, Schauspiel, Oper und Operette u. a. in Hamburg, Stuttgart, Berlin, München, Wien, London, Paris, Mailand und New York sowie bei den Bayreuther und Salzburger Festspielen. Eine enge Zusammenarbeit verband ihn mit dem Choreographen John Cranko für Produktionen wie Romeo und Julia, Schwanensee, Der Feuervogel, Onegin, Poème de l’extase und Spuren. Ein weiterer wichtiger Partner ist John Neumeier, für den Jürgen Rose u.a. die Bühnen- und Kostümdesigns für Daphnis und Chloë, Der Nussknacker, Illusionen – wie Schwanensee, Ein Sommernachtstraum, Dornröschen, Die Kameliendame, Peer Gynt und A Cinderella Story entwarf. Zu seinen jüngsten Arbeiten für das Stuttgarter Ballett zählen eine neue Ausstattung für Kenneth MacMillans Mayerling sowie 2022 das Bühnen- und Kostümbild für Edward Clugs Der Nussknacker. Seit 1996 erarbeitete Jürgen Rose zudem als Regisseur auch eigene Operninszenierungen, darunter Werther, Norma, Don Carlo und Das schlaue Füchslein an der Bayerischen Staatsoper. Auch an der Wiener Staatsoper prägte Jürgen Rose mit zahlreichen Bühnen- und Kostümbildern das Design: im Ballett mit John Neumeiers Daphnis und Chloë, Der Feuervogel und Ein Sommernachtstraum sowie John Crankos Romeo und Julia, in der Oper mit Otto Schenks Inszenierungen von Don Carlo, L’elisir d’amore, Così fan tutte und Die Meistersinger von Nürnberg, Boleslaw Barloghs Salome, Dieter Dorns Die Entführung aus dem Serail und August Everdings Parsifal. 2015 wurde eine Auswahl aus Jürgen Roses Gesamtwerk in einer Doppelausstellung des Deutschen Theatermuseums und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München präsentiert. Von 1973 bis 2000 unterrichte er als Professor für Bühnenbild an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.

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RALF MERKEL – Licht Ralf Merkel wurde in Altenburg geboren. Er studierte Elektrotechnik und beschäftigte sich nach dem Abschluss als Elektroingenieur mit den technischen und künstlerischen Aspekten der Theaterbeleuchtung. Auf Engagements am Landestheater Altenburg und Prinzregententheater München, wo er auch als Dozent an der Bayerischen Theaterakademie tätig war, wechselte er 2002 als Leiter der Beleuchtung zu John Neumeiers Hamburg Ballett, mit dem er auch in zahlreichen Theatern weltweit gastierte. Einstudierungen der Werke Neumeiers mit anderen Compagnien führten ihn u.a. nach Moskau, St. Petersburg, New York, San Francisco, Houston, Toronto, Peking, Kopenhagen, Helsinki, Amsterdam, Oslo und Warschau. Beim Wiener Staatsballett war er zuletzt für das Lichtdesign von Neumeiers Balletten Verklungene Feste und Josephs Legende sowie Le Pavillon d’Armide und Le Sacre verantwortlich.

KEVIN HAIGEN – Einstudierung Kevin Haigen, geboren in Miami (Florida), erhielt sein erstes Training von Diana Avery und Martha Mahr. Mit einem Stipendium wechselte er im Alter von fünfzehn Jahren an die Schule des American Ballet, wo u. a. Suki Schorer und Stanley Williams zu seinen Lehrern zählten. Während seiner Ausbildung choreographierte er sein erstes Werk. Mit Siebzehn brachte er Les Sylphides für das Königlich Dänische Ballett mit Erik Bruhn auf die Bühne. Unter dessen Leitung wurde er 1970 Mitglied des American Ballet Theatre, wo er mit Agnes De Mille, Antony Tudor, Rudolf Nurejew, Jerome Robbins, Glen Tetley und John Neumeier arbeitete. Unter Tetleys Direktion erfolgte 1975 sein Engagement ins Stuttgarter Ballett, ein Jahr später wurde er Mitglied des Hamburg Ballett, wo er 1977 zum Ersten Solisten avancierte. Zu den zahlreichen Rollen, die Neumeier für ihn kreierte, zählen Joseph in Josephs Legende, Puck in Ein Sommernachtstraum und Petruschka. 1984 arbeitete Haigen als Mitglied des Nederlands Dans Theaters mit Jiří Kylián, Christopher Bruce, William Forsythe und Nacho Duato, 1985 wurde er Ballettmeister, Lehrer und Gastkünstler der neu formierten Ballets de Monte-Carlo unter Ghislaine Thesmar und Pierre Lacotte und kreierte für Fürst Rainiers Geburtstag das Ballett Young Apollo. 1986 wechselte er zum Peter Schaufuss London Festival Ballet (heute English National Ballet). Ein Jahr später wurde er Lehrer und Erster Solist des Béjart Ballet Lausanne, wo Maurice Béjart für ihn Rollen in La Valse, Mozart Tango sowie den Alberich im Ring um den Ring schuf. 1991 kehrte Haigen als Ballettmeister und Pädagoge der Ballettschule zum Hamburg Ballett zurück. 2006 folgte seine Ernennung zum Ersten 87

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Ballettmeister, 2011 übernahm er zusätzlich die Künstlerische und Pädagogische Direktion des Bundesjugendballetts. Außerdem arbeitet er international als Gastlehrer. Nachdem er an der Seite Marcia Haydées die Rolle des Armand in der Hamburger Premiere der Kameliendame getanzt hatte, ist er heute für Einstudierungen dieses Werkes verantwortlich – so auch beim Wiener Staatsballett, wo er bereits für Neumeiers Josephs Legende, Verklungene Feste und Vaslaw zu Gast war. Als Tänzer war Haigen 1977 als Joseph in der Uraufführung und weiteren 35 Vorstellungen der Josephs Legende an der Wiener Staatsoper zu erleben, außerdem tanzte er den Jungen Mann in Neumeiers Daphnis und Chloë.

JANUSZ MAZON – Einstudierung Janusz Mazon wurde in Polen geboren und erhielt seine Ausbildung an der Ballettschule in Bytom. 1980 wurde er an das Polnische Nationalballett in Warschau engagiert. 1985 wechselte er zum Hamburg Ballett, wo er 1989 zum Solisten und 1993 zum Ersten Solisten avancierte. Er tanzte zahlreiche führende Rollen im Repertoire des Hamburg Ballett und kreierte mehrere Rollen in Balletten von John Neumeier. 1997 ging er in die USA, schloss hier 2002 eine Ausbildung zum Doctor of Chiropractic ab, eröffnete eine eigene Chiropraktik-Praxis und war als Ballettmeister für die Compagnie und die Schule des Georgia Ballet tätig. Seit 2013 lehrt er an der Ballettschule des Hamburg Ballett klassischen Tanz und Anatomie. Für die Einstudierung von John Neumeiers Die Kameliendame arbeitet Janusz Mazon erstmals mit dem Wiener Staatsballett zusammen.

IVAN URBAN – Einstudierung Ivan Urban wurde in Weißrussland geboren und erhielt seine Ausbildung an der Ballettschule in Minsk sowie der Ballettschule des Hamburg Ballett. Zu seinen wichtigsten Lehrern zählen Alexander I. Kaladenko, Anatoli Nisnevich und Kevin Haigen. 1994 wurde er Mitglied des Hamburg Ballett, 1997 avancierte er zum Solisten und 1998 zum Ersten Solisten. Seit 2020 ist Ivan Urban Ballettmeister der Compagnie. John Neumeier kreierte zahlreiche Rollen für ihn wie Telemachos in Odyssee, König Koll/ Fortinbras in Hamlet, Sir Andrew in VIVALDI oder Was ihr wollt, Eros in Bernstein Dances, Serge Diaghilew in Nijinsky, Kostja in Die Möwe, Carsten in Préludes CV, Friedrich der Große in Tod in Venedig, Der Arzt und Serge Diaghilew in Le Pavillon d’Armide sowie Alexej Alexandrowitsch Karenin in Anna Karenina. Zahlreiche weitere solistische Partien in Neu-

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meier-Choreographien sowie in Werken von George Balanchine, John Cranko, Nacho Duato, Mats Ek, Jiří Kylián, Pierre Lacotte, Natalia Makarova, Rudolf Nurejew und Jerome Robbins ergänzen sein Repertoire. Gastspiele führten Ivan Urban nach Berlin, Düsseldorf, Essen, München, Moskau, Bordeaux, Toronto, Peking, Wien, zum St. Barth’s Music Festival, World Ballet Festival in Japan und zu zahlreichen Galas. Bei der NurejewGala 2018 des Wiener Staatsballetts war er an der Seite von Alexandre Riabko mit Neumeiers Opus 100 – for Maurice zu erleben. 1996 wurde Ivan Urban mit dem Dr. Wilhelm Oberdörffer-Preis ausgezeichnet. Mit Augenblick feierte seine erste Choreographie 2006 im Bolschoi-Theater Moskau Premiere.

MICHAŁ BIAŁK – Klavier Michał Białk wurde 1982 in Krakau geboren. Die intensive Zusammenarbeit mit Elza Kolodin, Matthias Kirschnereit, Jan Wijn und Oleg Maisenberg sowie Meisterkurse von Jacques Rouvier (Perrigueux), Vera Gornostaeva (Paris), Piotr Anderszewski (Linz) und Krystian Zimerman (Basel) bilden einen Schwerpunkt in seinem künstlerischen Werdegang. Seit seinem Debüt in der Krakauer Philharmonie konzertiert er regelmäßig in fast allen Ländern Europas, in Nordafrika und Asien, u. a. bei den Festspielen Mecklenburg Vorpommern, dem Schleswig-Holstein Musik Festival und dem Festival International de Colmar von Vladimir Spivakov. Darüber hinaus ist er ständiger Gastsolist zahlreicher Orchester in Frankreich, Italien, Deutschland und in der Türkei. Innerhalb seiner Konzerttätigkeit nimmt seit 2006 die Zusammenarbeit mit dem Hamburg Ballett John Neumeier einen besonderen Platz ein. Michał Białk ist erster Preisträger internationaler Klavierwettbewerbe in Polen, Frankreich, Spanien, Italien und in der Türkei. Er wurde auch mehrmals für die beste Interpretation polnischer und spanischer Musik ausgezeichnet. Des Weiteren erhielt er den Prix d’Espoir der Stiftung Pro Europa in Krakau und den Europäischen Förderpreis für junge Künstler*innen bei der Kulturpreisverleihung im Europaparlament in Straßburg. Nach seinem Debüt in der Ballettpremiere Meisterwerke des 20. Jahrhunderts in der Saison 2011/12 ist Michał Białk für den Klavierpart in John Neumeiers Die Kameliendame nun erneut in der Wiener Staatsoper zu Gast.

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ANIKA VAVIĆ – Klavier Die aus Belgrad stammende Pianistin Anika Vavić lebt seit ihrem 16. Lebensjahr in Wien, wo sie bei Noel Flores an der Universität für Musik und darstellende Kunst studierte. Wichtige Impulse erhielt sie außerdem durch Elisabeth Leonskaja, Lazar Berman, Oleg Maisenberg, Alexander Satz und Mstislaw Rostropowitsch. Sie ist Gewinnerin des 2. SteinwayWettbewerbs Wien und des Sonderpreises für die beste Haydn-Interpretation und war Stipendiatin des Herbert-von-Karajan-Centrums und der Gottfried-von-Einem-Stiftung. 2002 verlieh ihr das Land Österreich den Frauen.Kunst.Preis in der Sparte Musik. Anika Vavić arbeitete mit Dirigenten wie u. a. Valery Gergiev, Paavo Järvi, Kristjan Järvi, Hannu Lintu, Jun Märkl, Jukka-Pekka Saraste, Stefan Blunier, Mirga Gražinytė-Tyla, Kirill Karabits, Andrés Orozco-Estrada, Jorma Panula, Markus Poschner, Yutaka Sado oder Enrico Calesso zusammen. Zu den Höhepunkten der letzten Jahre zählen Auftritte mit dem London Philharmonic Orchestra im Rahmen der BBC PROMS, dem MariinskiOrchester, beim Enescu-Festival in Bukarest, mit dem Radio Symphonie Orchester Wien, Konzerthausorchester Berlin, Gustav Mahler Jugendorchester oder Helsinki Philharmonic Orchestra. Sie spielte bei den Weißen Nächten in St. Petersburg, dem Mikkeli-Festival in Finnland, beim Klavierfestival Ruhr, bei der Schubertiade Schwarzenberg, beim Grafenegg-Festival, Heidelberger Frühling, der Styriarte Graz, beim Klangbogen Wien, Beethoven Osterfestival Warschau, Istanbul Music Festival, Carinthischen Sommer und bei den Sommets Musicaux in Gstaad. Im Wiener Musikverein und Wiener Konzerthaus ist Anika Vavić regelmäßig zu Gast. Recitals führten sie außerdem u. a. in die New Yorker Carnegie Hall und das Kennedy Center Washington, in die Wigmore Hall London, das Concertgebouw Amsterdam, die Kölner Philharmonie, Cité de la Musique Paris, Philharmonie Luxembourg, in den Palau de la Música in Barcelona, ins Konzerthaus Berlin und Festspielhaus Baden-Baden. Zu ihren Kammermusikpartnern gehören u. a. Gautier und Renaud Capuçon, Rainer Honeck, Patricia Kopatchinskaja, Daniel Müller-Schott, Carolin Widmann, das Quintette Aquilon und Artis Quartett. Neben den Werken der Wiener Klassik und der Romantik widmet sich Anika Vavić intensiv der Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. 2020 gründete sie das Wiener Festival Kunst am Nussberg mit Programmen für Kinder und Erwachsene. Mit dem Klavierpart in John Neumeiers Die Kameliendame gibt Anika Vavić nicht nur ihr Debüt beim Wiener Staatsballett, sondern auch in der Wiener Staatsoper.

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IGOR ZAPRAVDIN – Klavier (auf der Bühne) Igor Zapravdin stammt aus Sewastopol und ist seit 1992 als Ballettkorrepetitor an der Wiener Staatsoper tätig. Ausgebildet in den Fächern Komposition und Klavier am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau und der dortigen Musikalisch-Pädagogischen Akademie, entdeckte er schon früh seine besondere Liebe zum Ballett. Er war Korrepetitor an verschiedenen Theatern und Ballettensembles in Russland, u. a. beim Moskauer Klassischen Ballett, Ballett des Stanislawski- und Nemirowitsch-DantschenkoMusiktheaters Moskau sowie Russischen Staatsballett. Regelmäßig ist er als Solist in den Vorstellungen des Wiener Staatsballetts in der Wiener Staatsoper und Volksoper Wien zu erleben. Für die musikalischen Fassungen von Die Bajadere und Le Corsaire arbeitete er eng mit Vladimir Malakhov und Manuel Legris zusammen. Er trat zusammen mit zahlreichen renommierten Sänger*innen und Instrumentalisten auf, darunter der Cellist Mstislaw Rostropowitsch, und organisierte Ballettgalas in Wien, Moskau, Stuttgart, Luxemburg und Eisenstadt. Auf CD spielte er Musik für Trainings und Ballette ein, zum Teil in enger Kooperation mit Schulen wie der Accademia Nazionale di Danza in Rom.

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Foto © Florian Moshammer

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Die Kameliendame John Neumeier Spielzeit 2023/24 HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Direktor & Chefchoreograph Wiener Staatsballett: Martin Schläpfer Kaufmännische Leiterin Wiener Staatsballett: Mag. Simone Wohinz Redaktion: Mag. Anne do Paço, Nastasja Fischer MA, Mag. Iris Frey Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Bildkonzept Cover: Martin Conrads Layout & Satz: Robert Kainzmayer Hersteller: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau AUFFÜHRUNGSRECHTE für die Choreographie © John Neumeier TEXTNACHWEISE Über die heutige Vorstellung von Nastasja Fischer, Es geht um den Menschen von Angela Reinhardt, das Interview Fragmente von Liebe mit John Neumeier sowie »Nicht Tänze des Körpers, sondern der Seele« von Anne do Paço sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Nachdruck nur mit Genehmigung des Wiener Staatsballetts/Dramaturgie. Umschlagklappe: Chopin. Briefe. Hrsg. mit einem Vorwort und Kommentaren von Krystyna Kobylanska. Aus dem Polnischen und Französischen übersetzt von Caesar Rymarowicz. Frankfurt am Main 1984 / S. 6 ff.: Handlung aus dem Programmheft Die Kameliendame des Hamburg Balletts. Spielzeit 2017/18 / S. 9: Alexandre Dumas: Die Kameliendame. Aus dem Französischen übersetzt von Otto Flake. Berlin, Darmstadt, Wien 1960 / S. 10: John Neumeier auf der Michel-Tafel an der Hamburger St. Michaelis Kirche / S. 19: John Neumeier zitiert nach: »Ich mache, was mein Herz bewegt«. John Neumeier im Gespräch mit Dorion Weickmann. 5. März 2007. deutschlandfunk.de / S. 33: John Neumeier zitiert nach: Die Kameliendame. Stimmungen durch die Bewegungssprache des Corps de ballet. In John Neumeier: In Bewegung. München 2008 / S. 37: Heinrich

Heine über Frédéric Chopin in Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 4. Berlin und Weimar 21972 / S. 40 ff.: Octavio Paz: Auszüge aus Sonnenstein. In Ders.: Das Fünfarmige Delta. Gedichte. Spanisch und Deutsch. Übertragen von Fritz Vogelsang und Rudolf Wittkopf. Frankfurt am Main 2000 / S. 52 ff.: Arthur Scherle: Fiktion & Wirklichkeit. Gekürzter Originalbeitrag aus dem Programmheft La Traviata der Oper Köln, Spielzeit 1988/89 / S. 55: Alexandre Dumas d. J. an Marie Duplessis zitiert nach: Alexandre Dumas: Die Kameliendame. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Michaela Meßner. München 1993 / S. 57: Albert Camus aus Ders.: Der Fall. Roman. Aus dem Französischen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg 1968 / S. 71: Vorwort von Jules Janin zu Alexandre Dumas d. J.: La Dame aux camélias. Paris 1852. Übersetzung aus dem Französischen zitiert nach Michel Parouty: Verdis Meisterwerk La Traviata. Aus dem Französischen von Bettina Schäfer. Bern, München, Wien 2001 / S. 72 ff.: Horst Koegler: Die Kameliendame und das Ballett. Für das Programmheft des Hamburg Ballett 2017/18 erweiterter Originalbeitrag aus dem Programmheft des Stuttgarter Balletts zur Uraufführung Die Kameliendame am 4. November 1978. BILDNACHWEISE Cover: A camellia (Camellia japonica var.): Blühender Stängel. Kolorierte Lithographie, um 1850, nach Guenébeaud. Sammlung Wellcome. Die Szenenfotos fotografierte Ashley Taylor bei der Klavierhauptprobe am 20. März 2024, die Studiofotos im Februar und März 2024. S. 11: © Kiran West / S. 18: © Holger Badekow / S. 42–51: Figurinen zur Kameliendame © Jürgen Rose (mit herzlichem Dank für die Abdruck-Genehmigung) / S. 78–83: Alle Tänzer*innenporträts © Andreas Jakwerth / S. 84: z.V.g. / S. 85–88: © Kiran West / S. 89: © FotoBuzek-Garzyński / S. 90: © Marco Borggreve / S. 91: © Andreas Jakwerth. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.



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