Die Zukunft beginnt

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Toggenburger Verlag Leseprobe

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Toggenburgerblätter fßr Heimatkunde, Heft 47


Abkürzungen OAW Ortsarchiv, Wattwil OMB Ortsmuseum, Bütschwil P Privatbesitz STASG Staatsarchiv St. Gallen TML Toggenburger Museum, Lichtensteig Schriftleitung Hans Büchler, Dr. phil., Wattwil Redaktion Ernst Grob, Brunnadern (Präsident der Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde) Anton Heer, Flawil Bruno Wickli, Dr. phil., Neu St. Johann/Wil Umschlag: Entfernung der Flutbrücke beim Rickenhof, Wattwil. Das Bild zeigt den Umsteigebetrieb: Reisende verlassen den Zug im Hintergrund und umgehen die Baustelle. September 1917, TML. Copyright © 2018 Toggenburger Verlag, CH-9103 Schwellbrunn ISBN: 978-3-908166-84-9 Satz: Toggenburger Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Druck und Bindung: Finidr, s.r.o., Český Těšín (CZ) www.toggenburgerverlag.ch


Die Zukunft beginnt Fotografien aus dem mittleren Toggenburg 1868–1939 Hans Büchler

Toggenburgerblätter für Heimatkunde, Heft 47


Dank Die vorliegende Arbeit wäre ohne die Fotosammlung von Bibliotheken, Archiven oder von Privatpersonen nicht denkbar. Allen voran geht mein Dank an Christelle Wick, Kuratorin des Toggenburger Museums in Lichtensteig (TML) und an Bernhard Schmid, Leiter des Ortsarchivs Wattwil (OAW). Ich durfte ausserdem auf die Unterstützung des Ortsmuseums Bütschwil (OMB), des Staatsarchivs des Kantons St. Gallen (STASG) und von Anton Heer zählen. Ein herzliches Dankeschön geht auch an alle privaten Besitzerinnen und Besitzer (P). Marcel Steiner und Josef Scheuber im Toggenburger Verlag danke ich für die Bereitschaft zur Publikation und die bewährte gute Zusammenarbeit. Präsident Ernst Grob und der Vorstand der Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde haben die Arbeit gefördert, die als Heft 47 der Toggenburgerblätter für Heimatkunde erscheinen darf. Ein besonderer Dank geht an meine Frau Anna für ihre vielseitige Unterstützung. Wattwil, im September 2018. Hans Büchler

Die Herausgabe dieses Buches wurde von Folgenden Institutionen finanziell unterstützt: •

Toggenburger Vereinigung für Heimatkunde

Kultur Toggenburg

Heberlein Stiftung zur Förderung gemeinnütziger Werke

Bürgi-Stadt Lichtensteig


Inhaltsverzeichnis Annäherung

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Fotografie und Fotografen

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Bildteil Lebensalter

36

Arbeit

60

Industrie

118

Bahnfieber

140

Infrastrukturen

168

Augenblicke

208

Freie Zeit

226

Verzeichnis der Fotografen

280

Quellen und Literatur

283

Register

284

Autor

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Annäherung

Seit rund 40 Jahren hat der Autor versucht, zusätzlich zu den alten Beständen weitere fotografische Dokumente der Region zu sammeln und im Toggenburger Museum in Lichtensteig für die Nachwelt zu sichern. Häufig war der Zufall am Erfolg beteiligt. Dank gut hundertjähriger Sammlertätigkeit hat auch das Ortsarchiv Wattwil einen bemerkenswerten Bestand von lokalen Fotografien erwerben können. Das sind beste Voraussetzungen für eine Region. Die Sicherung fotografischer Nachlässe darf sich jedoch nicht mit sachgerechter Lagerung und vorläufiger Inventarisation erschöpfen. In der Vergangenheit hat sich zudem der Wert der Fotografie von familiärer Selbstdarstellung oder touristischer Vermarktung zur wichtigen Quelle für die Volkskunde, für die Geschichtswissenschaft und für das Selbstverständnis der Region entwickelt. Die vorliegende Arbeit soll deshalb nicht nur einen Beitrag zur volkskundlichen und historischen Erschliessung leisten, sondern sie soll der Toggenburger Bevölkerung auch ein Stück «Lebzeit» in Erinnerung rufen. Dem gleichen Ziel diente bereits die Publikation «Alltag und Festtag im oberen Toggenburg. Photographien 1880–1930» im Jahre 2012. Diese zeigt nicht den Aufbruch in eine neue Zeit mit dem gesellschaftlichen Wandel, dem Ausbau der Industrie und der Umgestaltung der Landschaft. Es ist eine Darstellung des Familienalltags, der bäuerlichen und gewerblichen Arbeit und des Dorflebens im Obertoggenburg. Es sind nicht Eindrücke einer «heilen», sondern einer «archaischen» Welt, geprägt von Tra6

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ditionen, vom Lebenswillen der Familien und vom Einfluss einer unberechenbaren Natur. Das vorliegende Buch zeigt noch ein anderes Toggenburg. Das mittlere Toggenburg, vorab Wattwil und Lichtensteig, erlebte in der mit Fotos dokumentierbaren Zeit eine geradezu hektische Veränderung. Der Bau der Toggenburgerbahn von Wil nach Ebnat wurde 1870 begeistert gefeiert als Anbindung an die Wirtschaftszentren St. Gallen und Winterthur, nur selten vermischt mit der Ahnung, dass auch ein Verlust damit verbunden sein könnte. Der Niedergang der Buntweberei hatte in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Depression ausgelöst. Die Verantwortlichen von Handel, Wirtschaft und Politik waren überzeugt, dass das Toggenburg mit der Landwirtschaft allein keine Trumpfkarte besitzt und dass die Anbindung an den Verkehr des Mittellandes der einzige Weg für die Zukunft ist. Das Aufkommen der Maschinenstickerei bestärkte die Ansiedlung neuer Industrien und die Errichtung von Filialen der Toggenburger Bank in Rorschach, St. Gallen und Winterthur untermauerten die Richtigkeit dieses Entscheides. Eine eigentliche Blütezeit für Handel und Industrie zeichnete sich ab. Der Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn 1904 bis 1910 verband das Toggenburg deutlich schneller mit der Stickereimetropole St. Gallen und eröffnete schnelle Wege ins Zürcher Oberland, nach Zürich und in die innere Schweiz. Die Entwicklung der einfachen Garnfärberei Heberlein zum modernen Veredler von Textilien blieb kein einsamer LichtAnnäherung

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blick. Die Firmen Schwegler und Schiess setzten Massstäbe in der Maschinen- und Metallindustrie, und das Gewerbe nahm Anteil an ihrem Erfolg. Für das mittlere Toggenburg begann die Zukunft. Das Buch enthält auch Informationen über Fotografen, die kaum je monographisch erfasst wurden, deren Bilder (noch) nicht galeriewürdig sind und kaum in Auktionen gehandelt werden, die aber im Bewusstsein der Zeitgenossen und bei jenen, die ihre Bilder heute betrachten, regionale Realität und Selbstbewusstsein aufzeigen. Obwohl sie alle als Hobby- oder Atelierfotografen mit einem Kundenservice und einem – wenigstens improvisierten – Porträtstudio tätig waren, erweisen sie sich bei genauerem Hinsehen als sensible und künstlerisch angeregte Persönlichkeiten. Sie haben Informationen vor Ort gesammelt und das ikonographische Bild des Toggenburgs mitgeprägt. Dazu kommen auch jene meist unbekannten Hobby- und Berufsfotografen, die, vom Aufbruch fasziniert, ins Toggenburg reisten oder als Ingenieure, Vermesser oder Beamte zeitlich begrenzte Arbeit gefunden hatten und Szenen der Veränderung festhielten. Bei der Auswahl wurden ausschliesslich Fotos berücksichtigt, die Menschen zeigen oder erraten lassen. Die umfangreiche Landschafts-, Dorf- und Architekturfotografie blieb weitgehend ausgeklammert. Die Fotos sind Abzüge von Glasplatten oder Schwarz-Weiss-Filmen, da die Farbfotografie erst in den 1930er-Jahren einsetzte. Nur wenige wurden von Hand koloriert. Die bisher weitgehend 8

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unbekannten Fotografien auf Papier wurden für die Drucklegung digitalisiert. Schadhafte Stellen, Beschriftungen oder Unschärfen bleiben erhalten. Die knappen Bildlegenden vermitteln erstes Wissen und lassen den Raum für weitere Interpretationen offen. Verschiedene Fotos hätten auch in einem anderen Kapitel Platz finden und dort andere Fragen stellen und andere Antworten geben können. So oder so erzählen sie Geschichten vom Aufbruch in die Zukunft.

Annäherung

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Fotografie und Fotografen

Der Wandel des Bildes Noch im 18. Jahrhundert war es nur einer vermögenden Oberschicht vorbehalten, ein gemaltes Porträt von Familienangehörigen in Auftrag zu geben. Schattenbilder, Porträts in Wachs-, Aquarell- oder Gouachetechnik eröffneten nach der Jahrhundertwende kostengünstigere Möglichkeiten. Erst die Fotografie aber erlaubte nach 1840 einem immer grösseren Bevölkerungskreis, von sich und den Angehörigen Erinnerungsbilder herstellen zu lassen. Zur schnellen Verbreitung der Porträtfotografie trugen nach 1860 Miniporträts, sogenannte Cartes-de-Visite, bei. Die Kleinbildaufnahmen im Format von 5,7 x 9 Zentimeter konnten entscheidend günstiger hergestellt werden. Aber nicht nur Porträts, auch Bilder von heimischen Landschaften, Ländern und Völkern, von berühmten Personen, von Kriegen, Katastrophen und technischen Weltwundern wurden zunehmend verfügbar und eifrig gesammelt. Die Vergrösserung des Formats zur Postkarte führte um 1900 zu einer eigentlichen «Kartomanie». Die Einrichtungen im Fotoatelier passten sich den steigenden Ansprüchen an; Tischchen, Säulen und Vorhang machten Brücke und Geländer Platz und gegen Ende des Jahrhunderts gehörten Hintergrundbilder, Schaukel und Palmen zu den typischen Requisiten. Millionen von Porträtfotos wurden jährlich hergestellt. Sie waren wichtigste Einnahmequelle der Fotografen. Auch die Toggenburger Bevölkerung machte – mit Verzögerung – die neue Mode mit. Im Thur- und Neckertal blieb die 10

Fotografie und Fotografen


Blick von der Gruben auf Lichtensteig. Ausschnitt aus dem gleichnamigen Fotopanorama. Unbekannt, um 1868, TML.

Porträtfotografie neben der reinen Landschafts- und Architekturfotografie bis nach dem Zweiten Weltkrieg die häufigste Anwendungsform. Die wenigen Berufs- und Gelegenheitsfotografen, die nach 1890 vor allem im mittleren Toggenburg arbeiteten, benutzten eine Grossformatkamera. Sie ermöglichte ein präzises Scharfeinstellen und die Möglichkeit, den Bildausschnitt auf der Mattscheibe zu prüfen. Die schwergewichtigen Apparate mit ihren langen Stativen und die grossformatigen Glasnegative erschwerten hingegen Einsatz und Transport. Glasnegative und Objektive erforderten wegen ihrer geringen Lichtempfindlichkeit lange Belichtungszeiten. Die frühen Fotografien hatten deshalb zwangsläufig statischen Charakter: Personen oder Tiere in der Landschaft durften sich während längerer Zeit nicht bewegen. Die technische Tüftelei nahm den FotoFotografie und Fotografen

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Obertorplatz in Lichtensteig. Ernst Roggwiller, um 1905, TML.

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Fotografie und Fotografen

grafen weit mehr in Anspruch als die gestalterische Kreativität. Die Verbesserung der Fototechnik vollzog sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in steigendem Tempo. Eine optimale Verkleinerung der Kamera und ihre bequeme Handhabung, der Ersatz der Glasplatte durch den Zelluloidfilm und die Ablösung des Einzelnegativs durch den Rollfilm wurden zu wichtigen Etappen des Fortschritts. Objektive mit grosser Schärfeleistung und hoher Lichtstärke bestimmten die Qualität der Fotografie. Die im statischen verharrende Studioaufnahme wurde von der Momentaufnahme abgelöst, die ein Festhalten des «realen» Lebens erlaubte. Zu dieser Entwicklungsphase zwischen 1880 und 1930 gehören auch die frühen Fotografen, die Bilder aus dem mittleren Toggenburg zu diesem Buch beigetragen haben. Die Statik wandelt sich zur Bewegung, die Requisiten des Studios werden spontan durch die Realitäten des Alltags, des Berufslebens und der Natur geliefert.


Spontaneität, Ehrlichkeit und Ungeschminktheit der Aufnahme ersetzen das verfälschende Arrangement. Das Zeitalter der Dokumentarfotografie beginnt. Die Dinge werden so abgelichtet, wie sie sind: schön, erbärmlich oder hässlich. Das Bild ermöglicht ein neues Sehen, weitet das Weltbild aus und übernimmt auch – manchmal ungewollt oder indirekt – die Aufgabe der Sozialkritik. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts bestimmen digitale Techniken die Zukunft. Die neuen Speicherkapazitäten überbieten die Möglichkeiten des alten 36er-Kleinbildfilmes, handliche Digitalkameras ersetzen gewichtige Apparate mit zahlreichen Objektiven und nehmen nicht nur Einzelbilder, sondern ganze Filmsequenzen auf. Ein Computer ersetzt das Entwicklungslabor. Das Fotoalbum wird vom Bildschirm abgelöst, auf dem die Bilder bearbeitet und anschliessend in der Datenbank gehortet werden. Von hier lässt sich das Bild drucken, per E-mail verschicken oder via Internet abrufen.

Fotografie und Fotografen

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Inneres und äusseres Bunt, Wattwil. Ausschnitt aus dem Fotopanorama von Gruben, unbekannt, um 1868, TML.

Die Entdeckung der Landschaft Während beinahe hundert Jahren, von der Erfindung der Fotografie bis zum Ende der 1920er-Jahre, hatten sich die Fotografen fast ausschliesslich den Themen Porträt und Landschaft gewidmet. Erstere wurden weitgehend im Atelier konfiguriert und zu Cartes-de-Visite verarbeitet. Der Tourismus hingegen verlangte nach Bildern von Städten, Dörfern, Gebäuden, Plätzen, Bergen und Landschaften. Der Verkauf von Ansichtskarten wurde zum bedeutenden Standbein einer Fotografen-Existenz. Sie begegneten der Nachfrage durch eigene Postkartenverlage oder den Verkauf «fremder» Produkte im heimischen Geschäft. Die Schweiz und einzelne deutsche Länder hatten 1870 die unbebilderte Postkarte eingeführt, und seit 1872 gab es die ersten Ansichtskarten aus der Schweiz. Die Bilder waren zu Beginn einfarbig, nach 1889 setzte sich die Farbpostkarte durch. Mit der wachsenden Beliebtheit der Bildpostkarte setzte auch die Sammeltätigkeit ein. Dem Be14

Fotografie und Fotografen


dürfnis kamen Verlage und Verkehrsvereine durch die Organisation von Postkarten-Ausstellungen entgegen. Auch im Rathaussaal Lichtensteig konnten vom 17. Juli bis 27. August 1899 über 10 000 Postkarten gezeigt werden. Sie wurde gar zur grössten ihrer Art in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Plakate, Verkehrsliteratur und lithographische Panoramen ergänzten die Ausstellung, die als Werbung für den Tourismus und für die Sammelleidenschaft Privater geplant war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Ostschweizer Tourismus rund um Säntis und Bodensee zu einer ersten Blüte entwickelt, die den Fotografen in den Dörfern Verdienstmöglichkeiten boten. Der Feriengast begehrte Bilder einer heilen, ländlichen Idylle. Insbesondere das Appenzellerland und das voralpine Toggenburg waren für ihn eine faszinierende Gegenwelt zur eigenen Alltagssituation. Der Aufenthalt im Hotel liess zwar nur einen oberflächlichen Eindruck zu, da dem Gast der Alltag der Ortsansässigen verborgen blieb. Die von der bäuerlichen Bevölkerung geführten Kleinpensionen hingegen Fotografie und Fotografen

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boten engen Kontakt mit den Gastgebern und garantierten einen «billigen und wohlfeilen Aufenthalt abseits des Stadtgetriebes». Fotos und Ansichtskarten mussten der Erwartungshaltung der Gäste genügen und ihre Sehnsucht nach dem «Ursprünglichen» und «Unverfälschten» stillen. Dorfansichten vor einer imposanten Bergkulisse und weidendes Vieh mit Sennen in heimeliger Hügellandschaft konnten die Erwartungen der Gäste erfüllen. Der Einheimische verlangte nach Bildern, die den lokalen Aufschwung und Fortschritt dokumentierten: Industriebauten, die Weberei, das Areal um den Bahnhof, das Postgebäude oder das neue Schulhaus. Selbst der Grossbrand und die Räumung von Unwetterschäden waren thematisch wichtig genug, mit Grüssen verschickt zu werden. Der Wintertourismus mit seiner Romantik war bis in die Mitte der 1930er-Jahre noch kein Thema.

Dorf Wattwil und Ennetbrücke, im Vordergrund die Station der Toggenburgerbahn. Unbekannt, um 1870, OAW.

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Fotografie und Fotografen


Nicht nur die ortsansässigen Fotografen waren fasziniert von der Vielfalt der Toggenburger Landschaft. Die Betreiber von Ansichtskartenverlagen, vor allem jene in der Ostschweiz, waren bestrebt, ein möglichst breites Angebot anzubieten. Die Inhalte des Bildmaterials zeigen klare Schwerpunkte: Tourismus-Einrichtungen und bäuerliche Lebensform, Streusiedlung und ländliche Architektur. Vielbesucht waren auch die Baustellen des Rickenund Wasserfluhtunnels sowie der Thurkorrektion. Postkartenverlage rechneten auch mit dem Kauf durch die beteiligte Arbeiterschaft, die ihren Lieben vorwiegend im Süden Europas einen Gruss von der Grossbaustelle senden wollte. Renomierte Fotografen wie Wolf in Konstanz und Zumbühl in St. Gallen erhielten von der Bodensee-Toggenburg-Bahn AG den Auftrag, Fotodokumentationen zu erstellen. Überaus begehrt waren Ansichten von Dörfern und die wie durch Zufall verstreuten Bauernhöfe, überhöht von Churfirsten, Speer, Schafberg oder anderen Gipfeln des Säntisgebirges. Die Fotos aus der Jahrhundertwende zeigen die Dörfer des Toggenburgs touristisch noch weitgehend unerschlossen, locker besiedelt und ursprünglich. Im Auftrag von Besitzern und Wirten entstanden Aufnahmen von Hotels, Gasthöfen, Pensionen oder Klubhäusern, um dem Gast ein bleibendes Andenken verkaufen und Werbung machen zu können. Die traditionellen Alpaufzüge in festlicher Tracht, das Jodeln und Johlen, die Viehmärkte und Schauen lieferten «Bodenständiges». Ein besonders attraktives Motiv bot das Toggenburger Haus mit seinen Strickwänden, Reihenfenstern, Klebdächern und Flugsparren. Die Fotos dieser altehrwürdigen Bauten vermittelten «Heimat», waren Mittel zur Identifikation für den auswärts lebenden Toggenburger und ein finanziell erschwingliches Andenken für den fern dem eingebildeten Paradies lebenden Gast. Die von Kurgästen oder Touristen angefertigten Bilder sind eher selten, und die bescheidenen finanziellen Verhältnisse der einheimischen Bevölkerung verhinderten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein rasches AusbreiFotografie und Fotografen

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Wattwil mit altem Thurlauf. Ernst Roggwiller, 1902, TML.

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Fotografie und Fotografen


ten der Fotografie. Die Anfertigung eines Porträts im Atelier galt als aufwendig und zeitraubend, und längst nicht in allen Dörfern des Toggenburgs gab es einen Fotografen. So blieb ein Grossteil der Besucher, vor allem jene aus der Unterschicht, von der Fotografie ausgeschlossen. Für die Einheimischen standen andere Wünsche im Vordergrund. Dazu gehören in erster Linie die Hochzeitsfotos. Die «Sitzung» beim einheimischen Fotografen nach der kirchlichen Trauung gehörte zur Tradition. Die Hochzeit war das Festlichste der Lebensfeste. Das Foto dieses Ereignisses versinnbildlichte nicht nur die individuelle Bindung der Brautleute, sondern auch die verwandtschaftlichen Beziehungen. Zahlreich sind auch die Bilder aus frühen Kinderjahren, zusammen mit den Geschwistern, Porträts als ledige Person oder im Kreis von Jugendund Vereinsfreunden. Die Einquartierung von Truppen, ihre Fahnenweihen und Defilées nach Ende des Dienstes

Panoramabild von Wattwil. Ernst Roggwiller, um 1920, TML.

Fotografie und Fotografen

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Krinau. Unbekannt, um 1900, TML.

bildeten besondere Abwechslung im Alltag des Dorflebens. Schützen- und andere Vereinsanlässe wurden zu geselligen Höhepunkten in der kargen Freizeit. In Wattwil und Lichtensteig galten die aufblühende Industrie sowie die Bahn- und Tunnelbauten als Symbole des Fortschritts, Wohlstands und der Verbundenheit mit der weiten Welt. In der Bauernschaft galten vor allem Tradition, Haus und Hof als «fotogen». Die Porträts und Gruppenbilder wurden in vielen Familien in Fotoalben und Schachteln aufbewahrt und generationenlang als persönlicher Schatz oder familiäre Erinnerung in Ehren gehalten.

Unbekannte Fotografen? Die Suche nach Fotografen im Toggenburg erwies sich als recht schwierig, denn – im Gegensatz zur Stadt St. Gallen – sind hier keine Adressbücher erschienen. Die Fachliteratur in der Ostschweiz liefert zwar punktuelle For20

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Ricken, Humorpostkarte. August Eicher, um 1910, TML.

schungsergebnisse über einzelne Fotografen oder Fotografen-Dynastien, hat aber mit ihren Nachforschungen nur an das Toggenburg heran-, nicht aber hineingereicht. Mit einer Ausnahme. Mit grossem Interesse hat die Fachwelt in den 1970er-Jahren von der zufälligen Entdeckung eines Plattenbestandes von Alfred Lichtensteiger (1873–1952) in Bütschwil Kenntnis genommen. Die Beachtung und Würdigung von dessen erfolgreicher Konkurrenz im industriell aufstrebenden Raum um Wattwil und Lichtensteig ging dabei vergessen. Vollends den Charakter eines fotografischen Niemandslands besitzt in der Fachwelt das obere Toggenburg zwischen Ebnat-Kappel und Wildhaus. Zwar strömten auswärtige Fotografen wie Wolf und Zumbühl zu den attraktiven Bauplätzen der Bodensee-Toggenburg-Bahn, zur Thurkorrektion oder Industriebauten im mittleren Toggenburg, im obersten Thurtal aber fehlten Anreize dieser Art. Fotografie und Fotografen

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Luftbild Wattwil von Walter Mittelholzer, 12. Juli 1920, TML.

Und trotzdem gab es sie, die vorwiegend lokal verwurzelten, frühen Fotografen. Signiertes Fotomaterial, Inserate in den Lokalzeitungen und zufällige Hinweise in Gemeindearchiven geben Hinweise auf ihre Namen und Arbeiten. Eine sehr wichtige Informationsquelle wurden die Nachkommen von frühen Fotografen oder deren Nachfolger im Geschäft, die respektvoll mit dem kulturellen Erbe umgingen oder auf nachträgliches Interesse und Bestellungen hofften. Der Werdegang unserer Fotografen erfolgte meist auf zwei Wegen: Die einen hatten eine eigentliche Berufslehre hinter sich, hatten sich anschliessend an Saisonstellen bis in die Westschweiz oder 22

Fotografie und Fotografen


Luftbild Lichtensteig von Walter Mittelholzer, 12. Juli 1920, TML.

– in Ausnahmefällen – in England weitergebildet und ihr Wissen erweitert. Andere betrieben das Fotografieren neben einer beruflichen, existenzsichernden Tätigkeit als Freizeitvergnügen und wurden zu hervorragenden Beispielen dafür, wie unwichtig der Unterschied zwischen Amateur und Professional im Bereich der Fotografie ist. Die meisten von ihnen kamen von auswärts ins Toggenburg. Einige zogen nach wenigen Jahren weiter, andere verwurzelten sich im Dorf, hielten mit ihren Bildern – bewusst oder unbewusst – den lokalen Strukturwandel fest und wurden so zu eigentlichen Chronisten des Dorfes. Fotografie und Fotografen

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Die Anfänge Erste Aufenthalte von Wander- oder Reisefotografen werden durch Inserate in den lokalen Zeitungen dokumentiert. In dichter besiedelten Gebieten des Toggenburgs war es lohnend, sich als Wanderfotograf per Inserat anzumelden und dann einige Tage zu bleiben. Im April 1846 empfahl sich im «Toggenburger Boten» ein durchreisender Daguerreotypist zur Aufnahme von Porträts im Bierhaus zum Neuhof in Lichtensteig. Bei heiterer Witterung sollte sein Aufenthalt drei bis vier Tage dauern. Die folgenden Tage arbeitete er in Wattwil, Kappel und Ebnat. Der Österreicher Johann Konrad Schwärzler bot 1855 nicht nur fotografische Porträts für Broschen und Medaillons, sondern auch das Kopieren von Bildern und «Unterricht in der Daguerreotypie» an. Sein Atelier befand sich bei Lehrer Juker in Lichtensteig. Gegen Ende der 50er-Jahre des 19. Jahrhunderts nehmen die Inserate für Fotografen aus Wil und St. Gallen deutlich zu. Die «graphische Anstalt von Wegelin & Comp. in St. Gallen» mietete als Atelier kurzzeitig die lithographische Anstalt von Johann Georg Schmied in Lichtensteig (heute Fotopraxis Bruderer) und versicherte: «Für Aehnlichkeit garantiren wir immer.» 1860 empfahl sich S. Schramm für einige Tage in den Gasthäusern «Hecht» (Lichtensteig) und in der «Sonne» in Ebnat. Johann Graf aus «Wädenschweil am Zürichsee» bot um die gleiche Zeit «Unterricht im Photographieren auf Glas und Papier, für Portraits und Landschaftskopien nach neuester und einfacher Methode. Lernzeit 8 bis 10 Tage. Salair äusserst billig.» Ferner verkaufte er unter Garantie Apparate, Chemikalien und Utensilien aller Art. Um 1867 richtete sich R. Hentschel in einem Anbau des «Ochsen» in Ebnat ein Atelier ein. Die Preise für fotografische Porträts betrugen drei bis neun Franken oder mehr. Bei Familiengruppen zahlte jede Person meist einen Franken. Ein Atelierfoto war um 1870 in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage eines grossen Teils der Bevölkerung absoluter Luxus und entsprach bei handwerklichen Berufen einem Tageslohn, ein Lohnsticker verdiente im Tag rund zwei Franken. 24

Fotografie und Fotografen


In den 1870er-Jahren werden die Inserate dichter, Wanderfotografen wenden sich nun direkt ins obere Toggenburg, zumal seit 1870 die Toggenburger Bahn eine Fahrt von Wil bis Ebnat sicherstellte und von hier zwei Mal täglich die zweispännige Postkutsche nach Wildhaus verkehrte.

Konkurrenz Die Fotografen des Toggenburgs beschränkten sich in ihrem Tätigkeitsbereich und ihren Motiven meist auf das Nahe. Ihr Schaffen war lokal orientiert und reichte kaum über die Region hinaus. Diese räumliche Beschränkung funktionierte dort am besten, wo nur ein Einzelner als Fotograf tätig war und die örtliche Konkurrenz fehlte. Diese kam eher von auswärts. Einer von ihnen war der St. Galler Fotograf Hans Gross (1889–1942), der in Ebnat-Kappel eine Zweigstelle und im Flughafen Altenrhein eine Dunkelkammer eingerichtet hatte, von wo er das ganze Säntisgebiet – das Toggenburg eingeschlossen – mit Flugaufnahmen erfasste. Die Zweigstelle in Ebnat-Kappel diente ihm zur fotografischen Erschliessung des oberen Toggenburgs, zumal Wattwil und Lichtensteig zeitweise über mehrere Fotografen verfügten. Er belieferte mit Landschaftsaufnahmen seines Ansichtskartenverlags Kioske, Papeterien und Hotels in der ganzen Ostschweiz. Ebenfalls in den 1920er-Jahren war der Flugpionier Walter Mittelholzer (1894–1937) mit seiner Aero Gesellschaft tätig. Besonders häufig war er über Wattwil aktiv, da er sich mit dem Industriellen, Sponsor und Freund Dr. Eduard Heberlein-Grob eng verbunden fühlte. Seine Dorf- und Städtebilder besitzen einen hervorragenden historischen Wert. Der Bazenheider Ballonfahrer und Fotograf Eduard Schweitzer (1852–1931) – mit Künstlernamen Spelterini – hat sich fotografisch wenig mit seiner engeren Heimat beschäftigt. Das Fotografieren im Toggenburg konnte anfänglich höchstens ein Nebenverdienst sein, der nicht ausreichte, eine Familie zu ernähren. Der Beruf eines Schneiders, Fotografie und Fotografen

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Wirts, Kolonialwarenhändlers oder Angestellten ist besonders zahlreich vertreten. Das Atelier wurde meist als Familienbetrieb geführt. Die Gattin verrichtete neben dem eigenen Haushalt und der Erziehung der Kinder vor allem Arbeiten im Hintergrund. Sie half im Labor, führte die Buchhaltung, bediente die Kunden im Laden oder beruhigte weinende Kinder im Atelier. Manchmal betrieben die Ehefrauen zur Sicherung der Existenz ein eigenes Handelsgeschäft, eine Wirtschaft oder einen bäuerlichen Kleinbetrieb. Trotzdem gab es saisonale Höhepunkte und Tiefen. In den touristisch interessanten Monaten zwischen Frühling und Herbst – einen eigentlichen Wintertourismus gab es bis in die 1930er-Jahre nicht – waren die Fotografen von der Morgenfrühe bis tief in die Nacht an der Arbeit. Zu ihren besten Arbeiten gehören die Aufnahmen aus der Gebirgslandschaft und die Reportagen aus dem Volksleben. Die Arbeit im Atelier war vor allem zu besonderen Anlässen wie Firmung, Konfirmation, Hochzeit und Taufe erforderlich. Der erste Weltkrieg brachte ein jähes Erwachen aus dem Traum von einem besseren Leben und leitete einen wirtschaftlichen und sozialen Wandel ein. Das Stickereigewerbe in der Ostschweiz erlebte einen katastrophalen Zusammenbruch, die Textilindustrie serbelte, die Inflation in Deutschland zerstörte Vermögen. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 liess die Zahl der Arbeitslosen rasant ansteigen. Mit dem Beginn der 1930er-Jahre erlebte der Tourismus und mit ihm die Ansichtskartenverlage und der Fotohandel einen markanten Tiefpunkt.

Herausragende Fotografen Die frühen, im oberen Toggenburg tätigen Fotografen sind relativ einfach fassbar, wenn sie ihre Fotos konsequent mit ihrem Stempel versahen oder signierten. Das trifft leider nur bei den Lichtbildnern von St. Gallen, Wil, Wattwil oder Ebnat-Kappel zu. Die in den ländlichen Dörfern ansässigen Fotografen übten einen anderen 26

Fotografie und Fotografen


Hauptberuf aus, waren geschäftlich schlecht organisiert und konnten oder wollten sich teure Werbung nicht leisten, da die wenigsten Mitbewohner eine Zeitung besassen. Den einheimischen Fotografen kannte man auch ohne Werbung. Zu letzteren gehört Emil Knuchel (1875–1927) in Wildhaus. Hier besass er eine Schneiderwerkstatt und übte die Fotografie als Zweitbeschäftigung aus. Die mündliche Überlieferung im Dorf weiss von ihm, dass er unter dem Gasthaus Tell in Lisighaus wohnte, in jenem häufig verkehrte und noch häufiger Schulden machte. Man habe über den Fotografen gelächelt und sich gefragt, ob das Fotografieren eine wirkliche Arbeit oder lediglich dem lieben Gott den Tag gestohlen sei, wusste der Volksmund noch vor einigen Jahren zu erzählen. Nach seinem Tod wurde das Geschäft in Lisighaus 1928 an den ausgebildeten Fotografen Pirmin Anton DietFotografie und Fotografen

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rich (geb. 1892) aus Baden verkauft, der 1925 bereits während drei Monaten in Wildhaus geweilt hatte. Ursprünglich lebte er in einem Tätschhaus, wo sich heute das Sporthaus Steiner befindet. Er soll ein steifes Bein gehabt haben und in der Bevölkerung nicht beliebt gewesen sein. Er zog 1943 nach Zürich. Von ganz anderem Schlag war Fotograf Fritz Müller (1920–2007), dessen Vater bereits ein Fotogeschäft in Buchs betrieb und das Atelier von Dietrich kaufte. Müller war auch routinierter Berggänger, an unzähligen Reportagen im oberen Toggenburg beteiligt und in der kargen Freizeit überall dort aktiv, wo man ihn brauchte. Auch der Lütisburger Fotograf Vitus Reinhold Bürgi (1872–1933) war im oberen Toggenburg tätig. Er hatte sich 1911 im Haus zu den «Drei Eidgenossen» in Nesslau niedergelassen und empfahl sich vor allem für Vereinsund Familiengruppen sowie Kinder- und Einzelaufnahmen. Offenbar war die Nachfrage zu gering, denn er machte 1914 in einem Inserat im «Obertoggenburger Wochenblatt» bekannt, dass er auch in zwei Ateliers in Wildhaus zu arbeiten gedenke. Im «Wilhelm Tell» und im «Acker» war er donnerstags und sonntags von neun bis nachmittags um vier anzutreffen. 1916 verschwand er aus dem oberen Toggenburg. Offenbar konnte die Region damals noch keinen hauptberuflich tätigen Fotografen ernähren. Ausschliesslich als Hobbyfotograf war Erich Buner (1921–2004) in Alt St. Johann tätig. Als Posthalter kannte er die Gemeinde und ihre Bewohner bestens und war häufig im obersten Toggenburg mit seiner Kamera unterwegs an festlichen Anlässen. Er hat vor allem die Phase der touristischen Entwicklung in Unterwasser und Alt St. Johann nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert. Unbekannt ist bisher Benjamin Lichtensteiger (1874– 1964) aus Neu St. Johann geblieben. Obwohl keine Verwandtschaft der beiden Familien besteht, führen sein Familienname und die Tätigkeit als Fotograf immer wieder 28

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zu Verwechslungen mit seinem bekannteren Namens- und Berufskollegen Alfred Lichtensteiger aus Bütschwil. Mit sieben älteren Geschwistern der Lehrerfamilie August und Henrike Lichtensteiger-Grob wuchs Benjamin im Sidwald (Neu St. Johann) auf. Als seine älteren Brüder bereits eine akademische Laufbahn beschritten hatten, starb 1883 der Vater. Der Neunjährige musste seine Schulbildung mit der Ergänzungsschule abbrechen und bei Glaser Leuze im anderen Hausteil im Sidwald eine Lehre antreten. Er begann seine spärlichen Einkünfte mit Porträts und Postkarten aufzubessern. Dank seiner «Nebenbeschäftigung» sind zwischen 1895 und 1930 zahlreiche Porträts und Bilder entstanden, die all das darstellen, was die Bevölkerung in jenem Talabschnitt interessierte. Von 1917 bis 1924 war er als nebenamtlicher Gemeindeschreiber tätig. 1932 übernahm er die damalige Darlehenskasse – heute RaiffeisenFotografie und Fotografen

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bank – als «Platzhalter» für seinen gleichnamigen Sohn, der aber an Tuberkulose verstarb, bevor er sein Amt antreten konnte. Diese Arbeit übte er bis 1952 aus, als sein Schwiegersohn Toni Häfliger die kleine Bank übernahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die Fotografie in den Hintergrund. Sie war zu einem Hobby für jedermann geworden und die Arbeit des Spezialisten war im Raum Neu St. Johann/Nesslau weniger gefragt. Aus einer Andermatter Fotografenfamilie stammte Philipp Gassler d.Ä. (1888–1972), der nach Tätigkeiten in Basel und Gossau 1928 ein Atelier beim Bahnhof Ebnat begründete. Ebnat und Kappel waren bisher zwar nicht ohne Atelier – bisweilen erscheinen die Namen Fritz Näf und Carl Eugen Looser –, sind aber weitgehend von Fotografen aus Wattwil, Lichtensteig und von St. Gallen her bedient worden. Zu letzteren gehörte vor allem Zumbühl & Gross. Dieser Umstand führte dazu, dass Bilder von Ebnat

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und Kappel (nicht aber Porträts) aus der Zeit vor und nach 1900 recht selten sind. Mit Philipp Gassler d. Ä. begann in den beiden Dörfern ein eigentlicher Foto-Boom, der in zahlreichen Einzel-, Dorf- und Landschaftsbildern zum Ausdruck kommt. Erst jetzt zeigen die Bilder ausgiebig das Dorf- und Vereinsleben. Sein Sohn Philipp Gassler d. J. (1925–2014) hatte reiche Erfahrung in Genf, Lausanne, Zürich, London und Glasgow gesammelt und übernahm 1961 das Geschäft seines Vaters in Ebnat-Kappel. 1970 gründete er die Belcolor AG, die seit 1988 von Sohn Thomas Gassler geführt wird. Teile des alten Geschäfts gingen an die Besitzer Bichsel, Haab und Brunnschweiler weiter. Im Wattwiler Bunt trat als Erstes um 1868/1874 das Atelier von Ferdinand Grob-Heberlein in Erscheinung. Es empfahl sich für kleinste Medaillons und grosse Platten, für Visitenkarten, Vergrösserungen in Daguerreotypie und Reproduktionen von Ölgemälden, Stahlstichen und Handzeichnungen. Grob nahm 1873 neben dem Flawiler Fotografen J. Weber an der Gewerbeausstellung in Lichtensteig teil. Nach der Verlegung an die Bahnhofstrasse in Wattwil übernahm 1878 Theodor Bucher sein Geschäft. Einen wesentlichen Teil zur Geschichte der Fotografie im mittleren Toggenburg hat die Fotografen-Dynastie Abderhalden/Roggwiller beigetragen. Der «Büntliger» Gottlieb Abderhalden (1833–1902) hatte am Lederbach in Lichtensteig (heute Loretostrasse 3) von Schirmmacher, Weinhändler und Fotograf Johannes Reiser ein Haus erworben und 1874 auf dem Dachboden ein theaterähnliches Atelier mit Glashaus eröffnet. Er führte dieses bis zu seinem Tod im Jahr 1902. Zahlreiche Inserate im «Toggenburger Boten» bezeugen Tätigkeit und Erfolg. Obwohl das Gewerbestädtchen Lichtensteig und das industriell aufstrebende Wattwil durch Anzahl und Einkommen der Bevölkerung gute Voraussetzungen für eine Fotografenexistenz boten, reichte sein Arbeitsfeld von Näfs gemietetem Atelier in Kappel bis nach Bütschwil. Um 1880 machte er sich bekannt durch Foto-Reproduktionen historischer Ansichten und Fotografien von Dörfern und WeiFotografie und Fotografen

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lern der Region. Seine Tochter Elisa verheiratete sich im Mai 1895 mit dem Wattwiler Fotografen Ernst Roggwiller. Im Juli 1896 verstarb sie. Im August 1897 verheiratete sich der Witwer erneut: mit Elisas Schwester Frida Abderhalden. Die Beziehung der Fotografenfamilien Abderhalden/ Roggwiller gedieh auch geschäftlich. Im Jahr 1902 – kurz vor seinem Tod – verkaufte Abderhalden sein Haus mit Atelier dem Schwiegersohn in Wattwil. Der Fotograf Ernst Roggwiller (1869–1952) hatte 1893 nach Wanderjahren in Österreich und Deutschland das Fotoatelier von Emil Brunner in der Wattwiler Ennetbrugg gekauft. Es war der Beginn einer 53-jährigen beruflichen Karriere. Mit der Übernahme des Lichtensteiger Geschäfts der Schwiegereltern hatte sich der Arbeitsbereich deutlich erweitert. Der Bau der Bodensee-Toggenburg-Bahn und der Durchstich der Tunnels durch Wasserfluh und Ricken zwischen 1904 und 1910, die 1912 vollendete Erweiterung der Toggenburger Bahn von Ebnat nach Nesslau und die Thurkorrektion zwischen 1906 und 1914 hatten neben dem Atelierbetrieb auch interessante Aufträge von Gesellschaften und Gemeinden eingebracht. Dazu kamen Aufträge der Wattwiler Firmen Heberlein und Schwegler. Einen Grossteil seines Lebens verbrachte er – im Gegensatz zu seinen Berufskollegen im Toggenburg – nicht in der Natur oder bei Tagesreportagen, sondern im Atelier und im Entwicklungslabor. Bis zum Auftreten von Philipp Gassler in Ebnat-Kappel hatte er sich zum unbestrittenen Beherrscher der fotografischen Szene in Wattwil und Umgebung emporgearbeitet. Seine Marktstellung führte 1928 im «Toggenburger Boten» zu einem «Werbeduell» mit dem Konkurrenten Gassler d.Ä., der die Neueröffnung des Ateliers in Ebnat bekanntgab. Auf Gasslers aggressive Empfehlung als «Erstes Atelier im Toggenburg» konterte Roggwiller als «Ältestes und bestrenommiertes Atelier im Toggenburg». Roggwillers über 30 Jahre dauerndes Präsidium des evangelischen Dorfschulrates Wattwil und die konservative, aber solide Arbeit machten ihn weitherum bekannt. 1930 hatte 32

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er zusätzlich zum Atelier in der Ennetbrugg im neuen Kino beim Bahnhof Wattwil eine Zweigstelle eingerichtet. Seine fotografische «Erbschaft» übernahm 1947 der Appenzeller Willi Bachmann. In Lichtensteig war Johann Ulrich Bänziger (1850–1935) als Leiter der Niederlassung der St. Galler Kantonalbank und Hobbyfotograf zwischen 1890 und 1929 tätig. Seine Nachfolge übernahm der Mechaniker und Heberlein-Angestellte Jakob Ambühl (1899–1990). Beide waren vor allem für Vereine aktiv. Bänziger dokumentierte ausführlich die Bauarbeiten der Bodensee-Toggenburg-Bahn und gab die Fotos St. Galler Fotografen zur Vermarktung. Ambühl pflegte Kontakt zum Postkartenverlag Frei & Co. 1902 änderte der Tod des Lichtensteiger Fotografen Gottlieb Abderhalden die Konkurrenzsituation im Raum Bütschwil, Mosnang und Ganterschwil. Alfred LichtensteiFotografie und Fotografen

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ger (1873–1952) nutzte die Gelegenheit zum Einstieg in das Geschäft mit der Fotografie. Der ausgebildete Metzger aus Dietfurt war aus gesundheitlichen Gründen gezwungen, seinen Beruf aufzugeben, arbeitete zwischen 1892 und 1898 als Schweizergardist in Rom und erlernte hier die Kunst des Fotografierens, spielte Violine und erweiterte seine Sprachkenntnisse. Sandkuren-Therapien brachten ihm Heilung seiner Gelenkleiden. Nach seiner Rückkehr betätigte er sich im elterlichen Gasthaus Linde in Dietfurt und im kleinen Lebensmittelgeschäft. Seine Erzählungen aus der Fremde machten ihn in der Bevölkerung zum weitgereisten Unterhalter. Vier Jahre nach der Eröffnung des «Spezialgeschäfts zur Anfertigung von Ansichtskarten» übernahm er 1906 die Wirtschaft, die von seiner Frau Philomena Casanova betrieben wurde. Als dritte Einnahmequelle führte seine Mutter das Lebensmittelgeschäft. Als Atelier für Einzel- und Gruppenporträts, Hochzeits- und Vereinsbilder diente dem Autodidakten die Lau34

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be der Gartenwirtschaft. Ortsansichten, Landschaftsbilder oder Aufnahmen von Gaststätten und Hotels für den Kartenverlag entstanden bei schönem Wetter, wenn er mit dem Motorrad die Landschaft durchstreifte. Lichtensteiger trug unermüdlich Eindrücke zusammen, von denen er bei Gelegenheit zu profitieren hoffte. Was er mit seiner Kamera leistete, war solides Handwerk, das er als grosses Plattenlager der Nachwelt überliess. Die schönsten Bilder entstanden dann, wenn er auf seinen Fahrten Zufälliges erspähen konnte: arbeitende oder ruhende Bauern, fröhliche Kinder auf dem Schulweg, schwer beladene Marktfahrer, Hausierer. Den Ruf eines Sonderlings zu haben war ihm gleichgültig, die Arbeit in Atelier und Labor eher lästig. Wohl war ihm in der Natur, wo seine Kreativität gefordert war. In den 1930-er Jahren gerieten Verlag und Fotohandel in die wirtschaftliche Krise, die unermüdliche Konkurrenz aus Wattwil wurde drückend. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beendete er seine Arbeit als Fotograf. (Weitere, im Toggenburg tätige Fotografen sind aus dem Verzeichnis der Fotografen im Anhang ersichtlich).

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