Toggenburger Jahrbuch 2025

Page 1


Die Herausgabe des Toggenburger Jahrbuchs 2025 wurde ermöglicht durch folgende Firmen und Personen (12er-Klub):

Kulturförderung & Stiftungen:

Alex Kaufmann Stiftung

Heberlein-Stiftung für die Förderung gemeinnütziger Werke Kultur Toggenburg

Firmen:

Schällibaum AG

Ingenieure und Architekten Wattwil Flawil

E. Weber AG Strassenbau Hochbau Tiefbau Wattwil

Personen:

Fredi Högg, Wattwil

Peter Hüberli, Lichtensteig

Peter Ledergerber, Wattwil

Bruno Sutter, Lichtensteig

Paul Widmer, Bern

Manfred Zähnler, Lichtensteig

Umschlagbild

René Güttinger | RGBlick, Nesslau

FRITZ SCHIESS AG Feinschnitt-Stanzwerk CH-9620 Lichtensteig

Toggenburger Jahrbuch 2025

Redaktionsteam

Irène Häne-Ebneter, Kirchberg

Anton Heer, Flawil

Albert Holenstein, Jonschwil

Administration

Arthur Lieberherr, Ebnat-Kappel

Geschichte/Kultur

Barbara Anderegg, Wattwil

Hans Büchler, Wattwil

Patrick Rüegg, Wattwil/Zürich

Bruno Wickli, Neu St. Johann/Wil

Paul Widmer, Bern

Literatur

Peter Weber, Wattwil/Zürich

Musik

Markus Meier, Winterthur

Natur

René Güttinger, Nesslau

Toggenburger Verlag

Chronik

Marlis Kaufmann, Wattwil

Willy Schönenberger, Gähwil

Lektorat

Verlagshaus Schwellbrunn

© 2024 Toggenburger Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Herstellung

Toggenburger Verlag CH-9103 Schwellbrunn

ISBN 978-3-907399-07-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Vorwort 7

Anton Heer

Zwischen Tradition und Moderne: 9

Das Toggenburg im Wandel

Mathias Müller

Sieben Jahre Orgelstreit in Stein 21

Markus Meier

Die erste Digitalisierungswelle 33

Anton Heer

Die gescheiterte Trennung 45

Das Anschlussgesuch der Wattwiler

Gebiete Bahnhof Lichtensteig, Flooz und Gurtberg an Lichtensteig 1917–1924

Hans Büchler

Minister Karl Bruggmann aus 61 Lichtensteig (1889–1967)

Paul Widmer

Kirchenbau, Zwangsfusion und ländliche 71

Entwicklung: Autonomie und Fremdbestimmung am Beispiel von Krinau

Daniel Klingenberg

Die Toggenburger Alpeinrechnung – 87

Ein faszinierendes Kulturerbe

Stefan Sonderegger

Auf den Spuren der toggenburgischen 97

Klosterbibliotheken

Albert Holenstein

Zeitliche Schichtung in einem Grenz- 109 land: Die Toggenburger Ortsnamen

Stefan Würth

Natur und Landschaft im Spannungsfeld 121 der Melioration Kirchberg

Christoph Häne

Kino Passerelle Wattwil – 139 Eine kulturelle Institution im Toggenburg

Paul Balzer

Die «Eintracht» Kirchberg seit 1950: 153 Kulturgeschichte(n)

Pablo Rohner

Das neue Stadtmuseum im 163 «Schmalzhaus» Wil

Werner Warth

Es ist angerichtet: Kulinarische 171 Höhenflüge im Toggenburg

Nina Kobelt

Wie kommt die Nymphe auf den 181 Altmann?

Willy Schönenberger

Patron mit Gespür für Innovationen 195 und Angestellte

Jürg Berlinger (1939–2023), Ganterschwil

Daniel Klingenberg

Der Volksgesundheit verpflichtet 201 Bruno Bischof-Näf (1929–2024), Wattwil

Hans Bachmann

Eine starke Stimme für die Frauen 203 Susi Eppenberger-Egger (1931–2023), Wildhaus/Nesslau

Kristiana Eppenberger Vogel

Der Schuhversteher 208 Armin Näf (1930–2023), Unterwasser

Christiana Sutter

Buchbesprechungen 212

Irène Häne-Ebneter

Chronik der Toggenburger Gemeinden 219 Marlis Kaufmann/Willy Schönenberger

Die Autorinnen und Autoren

256

Im Jahr 2000 verfassten Hans Büchler und Jost Kirchgraber das Vorwort zum Toggenburger Jahrbuch 2001. Damit wurde die Nachfolgepublikation der Toggenburger Annalen erstmals vorgestellt. Nun erscheint im Jahr 2024 bereits die Jubiläumsausgabe 2025 – das Silberjubiläum ist angesagt! Rückblickend darf das damals gewählte Jahrbuchkonzept bezüglich Inhalt, Form, Umfang und redaktioneller Arbeit als gelungener und glücklicher Wurf betrachtet werden. Wir dürfen nun ein Stück Kontinuität feiern, weiterentwickeln und in die Zukunft tragen. Das soll seitens Redaktionsteam und Verlag auch als Auftrag verstanden werden.

Vor einigen Jahren wurden wir mit der Pandemie, einer zuvor kaum vorstellbaren Situation, konfrontiert. Wir standen unvermittelt vor Einschränkungen, Ungewissheiten oder gar Existenzfragen. Unerbittlich zeigen sich gegenwärtig die Folgen des Klimawandels und politische Unwägbarkeiten. Vorsorglich wird 2024 bereits das Attribut «Annus Horribilis» zugewiesen – Zukunftsängste sind unüberhörbar. Mit einem fiktiven Erfahrungsbericht aus dem fernen und doch nahen Jahr 2052 wird uns durch das Jahrbuch eine Kulturlandschaft Toggenburg vorgestellt, in der die Zeichen der Zeit erkannt wurden und wo Aufbruchstimmung herrscht, dies zwischen Tradition und Moderne.

Das Jahrbuch 2025 zeichnet sich durch eine bewusst gewählte grosse thematische Weite und Vielfalt aus. Spannende Rückblicke lassen kulturelle, politische, technische und wirtschaftliche Entwicklungen aus überraschender Perspektive betrachten – und schaffen dadurch auch Verständnis für aktuelle Gegebenheiten aller Art. Einer grenzüberschreitenden Tradition gehorchend ist der Stadt Wil auch diesmal ein Beitrag gewidmet. Mehrere Nachrufe und die Chronik der Toggenburger Gemeinden reflektieren die Ausstrahlung der Landschaft Toggenburg zwischen dem obersten Toggenburg, dem Thurtal und dem Untertoggenburg, dem Grenzgebiet zum Fürstenland. Das Toggenburger Jahrbuch bleibt wiederum eine unentbehrliche Quelle und Orientierungshilfe für uns und unsere Nachgeborenen.

Anton

Zwischen Tradition und Moderne: Das Toggenburg im Wandel

Ein fiktiver Erfahrungsbericht aus dem Jahr 2052

Da sitze ich auf der Sitzbank bei der Ruine Neutoggenburg. Ehrlich gesagt war es früher weniger anstrengend, den Weg vom Städtli hinauf zur Ruine zu nehmen. Ich kann mich gut daran erinnern, als ich noch vor wenigen Jahrzehnten die etwas über 400 Höhenmeter gerannt bin. So wandelt sich die Zeit. Heute werde ich 70 Jahre alt und kann auf ein interessantes Leben zurückblicken. Seit meiner Geburt 1982 im Spital Wattwil und dem heutigen Geburtstag hat sich doch einiges verändert, nicht nur bei mir persönlich, sondern auf der Welt, im Toggenburg und im Städtli Lichtensteig, dessen Stadtpräsident ich eine lange Zeit sein durfte.

Lichtensteig und der Wakkerpreis Besonders in Erinnerung geblieben ist mir in meiner Amtszeit der Gewinn des Wakkerpreises, welchen wir am 1. Juli 2023 erhielten. Gewonnen haben wir den Preis aufgrund des Umgangs mit dem Wandel. Einst war Lichtensteig ein wichtiges Handelsund Regierungszentrum im Toggenburg. Das um 1200 begründete Städtchen wurde im Spätmittelalter zum Verwaltungssitz der Landvögte der Fürstabtei St. Gallen, und dank seiner Märkte erlangte Lichtensteig eine ökonomische Zentrumsfunktion im Thurtal. Mitte des 18. Jahrhunderts nahm die Textilverarbeitung an wirtschaftlicher Bedeutung zu und erreichte im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt. So wurde 1863 mit der Bank Toggenburg der Grundstein für die spätere UBS gelegt. Mit dem Anschluss an die Eisenbahnlinie nach Wil im Jahr 1870 und 1910 an die Bodensee-Toggenburg-Bahn entwickelte sich Lichtensteig zum Verkehrsknotenpunkt.

Doch die Zeiten haben sich gewandelt. Ab den 1980er-Jahren hatte Lichtensteig mit dem Niedergang zu kämpfen. Hunderte Arbeitsplätze in Industrie, Handel und Dienstleistung verschwanden. Die Bevölkerung schrumpfte von 2200 auf gegen 1830 Einwohnerinnen und Einwohner. Das Resultat waren leer-

stehende Flächen im Zentrum, Industriebrachen im Umfeld und schlecht unterhaltene Liegenschaften. Die Steuern mussten 1997 gleich um 27 Prozentpunkte erhöht werden. Der Bedeutungsverlust und die schleichende Entleerung zehrten am Selbstbewusstsein der einst stolzen Kleinstadt.

Gemeinsam mit der Bevölkerung packten wir ab 2013 die Zukunft an. Mehrere hundert Personen wirkten an partizipativen Prozessen und Projekten mit. So entstand das Rathaus für Kultur im ehemaligen Rathaus, die Posträumlichkeiten wurden zum Coworking Space umfunktioniert, die Spinnerei «Niederer» wurde zur Genossenschaft Stadtufer und die ersten 7x24h Läden gingen in Betrieb. Über 30 Vorhaben wurden realisiert und die meisten haben bis heute im 2052 Bestand. Dies gelang nur, weil trotz aller Unkenrufe die Toggenburger Tugenden über die Jahrzehnte dieselben blieben: Schaffenskraft und Durchhaltevermögen. Toggenburgerinnen und Toggenburger bleiben dran und geben nie auf!

Hier oben bei der Ruine habe ich den Weitblick, der mir ehrlicherweise unten im Tal manchmal etwas gefehlt hat. Man muss gar nicht weit weg, um etwas weiter zu sehen. Deshalb habe ich diesen anstrengenden Weg immer wieder gemacht. Es lohnt sich.

Das Toggenburger Wirtschaftswunder Es gibt sie auch 2052 noch im Toggenburg, die Handwerkerinnen und Handwerker sowie die Kleinmanufakturen. So betreibt die Familie Stauffacher in Ennetbühl weiterhin die Weissküferei, die auf eine 170 Jahre alte Geschichte zurückschauen kann. Es wird weiterhin ziseliert, und in der Klangschmiede werden Weidschellen geschmiedet. Diese Traditionen werden sorgfältig gepflegt. Gleichzeitig haben sich Handwerk und Industrie massiv entwickelt. In den letzten 30 Jahren wurde digitalisiert und die Technologisierung stark vorangetrieben. Dieser Prozess machte die Ostschweiz zur eigentlichen «Werkbank» der Schweiz. Es ist das Zeitalter des Goldenen Handwerks. Im Toggenburg blühen besonders die Holzbaubetriebe. Angetrieben wurde dieser Prozess ab den 2020er-Jahren durch innovative Firmen wie die Technowood AG in Alt St. Johann. Die Firma ist seit mehreren Jahrzehnten internationaler Branchenprimus für Holzindustriemaschinen.

Wichtiger Netzwerkakteur in dieser Entwicklung ist der Verein Säntis Innovationscluster Holz, welcher seinen Sitz im Forum für Innovation und Nachhaltigkeit in Wattwil hat. Längst werden Holzhäuser nicht mehr «nur» für die Schweiz produ-

ziert, sondern innovative Handwerksbetriebe setzen ihre Produkte international ab. Dank der Technologisierung sind wir längst wieder konkurrenzfähig. Nicht zuletzt wurde damit auch die Kreislaufwirtschaft im Tal gestärkt, so dass viel Wertschöpfung im Toggenburg bleibt. Offensichtlich ist dies in der Holzbranche, vom Holzschlag im Wald über die Verarbeitung in der Sägerei bis hin zum Bau, schliesslich folgt die Wiederverwendung der Materialien.

Die Landwirtschaft trägt ebenfalls zu diesem Erfolg bei. Die Branche war lange ein Sorgenkind im Toggenburg. Zu Zeiten von Ulrich Bräker gehörten die Bäuerinnen und Bauern noch zur Unterschicht, und bis in die 2040er-Jahre hatten sie noch grosse finanzielle Herausforderungen. Dies hat sich in den letzten Jahren jedoch stark verändert.

Ich packe in der Ruine Neutoggenburg meinen Rucksack aus und krame den weltbekannten Käse von Nicola, Sohn von Willi Schmid, hervor. Noch immer gehört die Milchwirtschaft und die Käseproduktion zur Haupteinnahmequelle der Landwirtschaft. Durch Technologisierung und Digitalisierung konnte die Effizienz weiter erhöht werden. Die steilen Hänge werden längst nicht mehr von Hand gemäht, sondern von Robotern bewirtschaftet. Die Ställe wurden weiter hochgerüstet. Dies ist nicht nur ökonomisch nachhaltig. Die Produktion ist vielmehr ökolo-

Das «Toggenburgerhaus 4.0». Erstellt mit OpenAI, 1. Juni 2024.

Diversifizierte Landwirtschaft um 2050. Erstellt mit OpenAI, 1. Juni 2024.

gischer als früher und die Arbeitsbelastung für die Landwirtinnen und Landwirte ist gesunken. Zur höheren Effizienz hinzu kommen die durch das Internet stark veränderten Absatzkanäle. Eine wichtige Rolle übernimmt dabei die ChääsWelt Toggenburg, das regionale kulinarische Netzwerk, welches sich seit über 30 Jahren bewährt. Die frühere Marktmacht der Schweizer Grossverteiler konnte durchbrochen werden. Viele Einkaufszentren wurden geschlossen und zu Wohnungen umgenutzt. Dank des Direktvertriebs profitieren Landwirte, Käsereien und weitere Verarbeiter von einer wesentlich höheren Wertschöpfung. Gleichzeitig haben die Kundinnen und Kunden bessere Preise für regionale Produkte.

Eine Herausforderung für die Landwirtschaft stellen die wiederkehrenden Dürren dar. Dank einer nachhaltigen Wasserressourcenstrategie, welche 2024 unter dem Titel «Schwammregion Toggenburg» startete, konnten die gröbsten Probleme aufgefangen werden. Damit aber nicht genug, hat sich die Landwirtschaft stark diversifiziert. Gewachsen ist der Anteil an im Tal angebauten Getreiden. In diesem Zusammenhang sind der Verein Alpsteinkorn und die grosse Getreidemühle in der Gemeinde Nesslau wichtige Akteure. Ebenfalls haben sich die Bauernhöfe zu eigentlichen Kleinkraftwerken entwickelt. Die Gülle wird für die Produktion von Energie genutzt, und Scheunendächer produzieren ebenso wie kleine Windräder Strom für den Eigenverbrauch.

Von der Ruine Neutoggenburg habe ich einen schönen Blick auf die Toggenburger Rebberge. Inzwischen hat sich das Tal zu einem

erstklassigen Weinbaugebiet gewandelt. Es wird auch wesentlich mehr Obst angebaut. Man wähnt sich fast ein bisschen im Vinschgau der 2020er-Jahre. Ich gönne mir auf der Sitzbank einen Schluck des mehrfach prämierten Jost-Bürgi-Weins, welcher seit 2016 im Städtli angebaut wird.

Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre hat sich übrigens positiv auf die Steuerrechnungen der Gemeinden ausgewirkt. Längst gehören die Toggenburger Gemeinden zu den steuergünstigsten Gemeinden im Kanton, so wie das für Lichtensteig noch 1993 der Fall war. Manch einer blickt neidisch von der Kantonshauptstadt ins «Potenzialtal» Toggenburg.

Ein nachhaltiger Tourismus hat sich etabliert

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs konnte sich das Toggenburg seine Natürlichkeit und eine gewisse Ruhe erhalten. Diese wird von Touristinnen und Touristen sehr geschätzt. Im Zentrum der Arbeit der touristischen Leistungsträgerinnen und -träger steht der Klang. Das Klanghaus ist seit über einem Vierteljahrhundert erfolgreich in Betrieb. Das kantonale Projekt gab wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des touristischen Angebots im Toggenburg. Längst reichen die Räumlichkeiten für die Musikantinnen und Musikanten aber auch für Firmen und Sinnsuchende nicht mehr aus. In Wildhaus wurde deshalb 2030 ergänzend das Klangzentrum eröffnet und in Unterwasser das Klangbad. Die Marke «Klang» konnte ihr Potenzial voll entfalten.

Das Klangbad Unterwasser, um 2050.

Erstellt mit OpenAI, 1. Juni 2024.

Das in den 2030er-Jahren gebaute Klanghotel Harmonia in der Schwendi.

Erstellt mit OpenAI, 1. Juni 2024.

Umgeben von der Natur bei der Ruine lausche ich der Klanglandschaft der Toggenburger Natur. Verschwunden sind durch die Elektrifizierung glücklicherweise die dröhnenden Motorräder und Autos, welche die Wasserfluh hinauf und hinunter rasten. Vielmehr höre ich hier oben das Zwitschern der Vögel, das Rauschen der Blätter im Wald und das mehrstimmige Glockenspiel des Glögglifrosches.

Quer durchs Tal haben sich Tourismusanbieter etabliert, welche sich auf das räumliche Tourismusentwicklungskonzept Klang (rTEK 2020) stützen. In Nesslau ist es das Thema Natur und Moor mit der Wolzenalp und dem Johanneum, in Lichtensteig das Kulinarikzentrum der ChääsWelt Toggenburg, und in Mogelsberg konnte das Thema Holz rund um den Baumwipfelpfad stark ausgebaut werden. Besonders erfreulich ist, dass die neu eröffneten Hotels in der Schwendi (Klanghotel Harmonia), im Iltios (Berghaus), das Hotel Neu-Acker Wildhaus sowie die Hotels in Mogelsberg und Lichtensteig gesunde Wurzeln schlagen konnten.

Daneben konnten sich traditionelle Familienbetriebe wie diejenigen der Familien Schneider (Krone Mosnang), Thalmann (Toggenburgerhof Kirchberg / Rössli Tufertschwil) oder Stump (Stumps Alpenrose) erfolgreich behaupten. Besondere Freude löste vor einige Jahren der Zusammenschluss der bei-

den Toggenburger Bergbahnen aus, die sich weiter positiv entwickelten.

Zwar erzeugt der Wintertourismus immer noch einen gewissen Anteil an den Tourismuseinnahmen, doch liegt die Haupteinnahmequelle heute im Ganzjahrestourismus. Erfreulicherweise fand parallel dazu ein Wechsel statt vom Tages- zum Aufenthaltstourismus. Zudem sind über die Jahre immer mehr sogenannte «Remote Worker» aus aller Welt zu beobachten, welche ins Toggenburg kommen und sich hier für einige Wochen oder Monate zum Arbeiten in ruhiger Atmosphäre zurückziehen, zum Beispiel auf eine Alp.

Diese Entwicklung und die neuen Mobilitätsangebote im Tal reduzierten die Blechlawinen erheblich, die es zuweilen bei schönem Wetter gab. Bei der Lancierung des Rufbussystems MyBuxi vor fast 30 Jahren und beim Aufbau eines Mobilitätsclusters im Toggenburg glaubte noch niemand so richtig daran, dass dies funktionieren würde. Tatsächlich sieht die Situation heute ganz anders aus als noch vor wenigen Jahrzehnten.

Kulturelle Vielfalt

Auf der Weide unterhalb der Ruine weidet das altbekannte Braunvieh. Selbstverständlich tragen die Kühe eine Weidschelle der Klangwelt Toggenburg. Das «Erbe» von Peter Roth bleibt so in der Region verankert. Obwohl sich vieles verändert hat, wird die Alpwirtschaft weiterhin betrieben. Der Alpsegen wird gerufen, Alphorn gespielt und die Jugend hat sich dem Jodeln verschrieben. Und doch hat sich auch in der Kultur einiges getan. Die Klangwelt Toggenburg ist zu einer internationalen Institution gewachsen, welche sich zwischen den Polen Tradition und Moderne sowie zwischen Heimischem und Fremdem bewegt. Der klassische Naturjodel wird ebenso gepflegt wie die avantgardistische Musikkultur. Die Klangwelt-Bewegung führte darüber hinaus zu überraschenden wirtschaftlichen Impulsen. Diverse Firmen sind neu entstanden oder haben sich angesiedelt, sie bilden ein Cluster aus Bauakustikern, Sounddesignern, Hörgeräteakustikern, Musiktherapeuten, Musikproduzenten und vielen mehr.

Ebenso ist das Rathaus für Kultur zu einem wichtigen Kulturknotenpunkt in der Schweizer Kulturszene geworden. Das historische Rathaus wurde im Jahr 2019 von der Gemeinde Lichtensteig dem Verein «Rathaus für Kultur» überlassen und war einer der Gründe, wieso Lichtensteig den Wakkerpreis gewann. Das Rathaus wurde 2026 umfassend saniert und die Gebrauchsleihe

läuft nun schon seit mehr als drei Jahrzehnten. Dank der steten inhaltlichen Erneuerung hat sich das Rathaus für Kultur eine hohe Innovationskraft erhalten. Das führt zuweilen zu Diskussionen im Städtli. Die kritischen und konstruktiven Auseinandersetzungen gehören zur DNA des Kulturzentrums und wurden beispielsweise schon 2023 geführt, als sich gar nationale Medien zur Berichterstattung über eine Petition im Städtli eingefunden haben.

Bei der Baukultur fällt auf, dass es dem Städtli nach dem Gewinn des Wakkerpreises gelungen ist, die Qualität der historischen Altstadt zu erhalten. Auch ausserhalb der Altstadt konnte sich eine hochwertige Baukultur durchsetzen. Ohnehin ist diesbezüglich im Toggenburg eine grosse Entwicklung vonstatten gegangen. Angetrieben wurde diese vom Forum Innovation und Nachhaltigkeit in Wattwil sowie einer engen Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Ost, welche seit 2021 in Lichtensteig einen Kompetenzcluster betreibt. Mit dem «Toggenburgerhaus 4.0» konnte sich die Region international einen Namen machen. Grundlage war ein Leitfaden der Gemeinde Nesslau für qualitätsvolles Bauen ausserhalb der Bauzone. Lange stellte der Bregenzerwald das Vorbild für Bauen im ländlichen Raum dar. Das Toggenburg hat hierbei jedoch längst die Führungsrolle übernommen. Es wird gar gemunkelt, dass das Toggenburg aufgrund der baulichen Entwicklung im Kleinen wie im Grossen bald den Wakkerpreis erhalten soll.

Die Sitzbank, auf der ich sitze, ist übrigens keine «normale» Sitzbank, sondern dieses «Toggenburger Bänkli» hat diverse Designpreise gewonnen. Entwickelt und umgesetzt wurde es im Bildungscampus Wattwil als interdisziplinäre Abschlussarbeit von einer Lernenden in Holzbautechnologie, einem Industriedesignstudenten der Fachhochschule Ost sowie zwei Mittelschülerinnen der Kantonsschule.

Gesellschaftlicher Wandel

Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe sind und waren schon immer in den Genen der Toggenburgerinnen und Toggenburger. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in den Zahlen der Genossenschaft Zeitgut Toggenburg, die vor mehr als 35 Jahren in Lichtensteig gegründet wurde im Rahmen eines partizipativen Prozesses mit dem Netzwerk 60+. Inzwischen sind über 80 Prozent der Toggenburgerinnen und Toggenburger in der Genossenschaft. Jährlich werden von den 48 000 Mitgliedern über 2,4 Mio. Stunden Freiwilligenarbeit geleistet. Dank

diesem Instrument und einer gemeinsamen «Vereinsagentur» sind viele Toggenburger Vereine bis heute erstaunlich aktiv geblieben.

In den vergangenen Jahren bewährten sich im Tal zudem verschiedene innovative Wohnkonzepte. Pionierprojekte waren die Wohnbaugenossenschaft beim Zukunft.Bahnhof Lichtensteig, welche 2024 gegründet wurde, oder die innovativen Wohnkonzepte beim Stadtufer. Genossenschaftswohnungen, Clusterwohnen oder Mehrgenerationenprojekte haben sich längst etabliert und zu einer Senkung der Wohnfläche pro Person geführt. Dadurch konnten ohne nennenswerten Kulturlandverlust wesentlich mehr Wohnungen geschaffen werden.

Ohnehin hat sich der Bahnhof Lichtensteig über die Jahrzehnte zu einem wichtigen Knotenpunkt für gesellschaftliche und soziale Themen in der Schweizer Innovationslandschaft entwickelt. Immer wieder kommen Entwicklungsteams, Hochschulen und «Changemaker» nach Lichtensteig, um sich mit Zukunftsthemen auseinanderzusetzen. Ermöglicht wurde dies durch den Visionär Jan Colruyt, der heute noch beim Bahnhof Lichtensteig wohnt. Der Fokus liegt auf der Umsetzung neuer Ideen. Denn allzu lange waren zwar Rezepte zur Lösung von Problemen bekannt, aber sie liessen sich nicht in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat übertragen. Die Stiftung bietet eine Plattform zur Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen, und sie gibt vor allem Werkzeuge mit auf den Weg zur eigenverantwortlichen Umsetzung, was die Selbstwirksamkeit der Menschen stärkt.

Diese Selbstwirksamkeit spielt in den Volksschulen eine wichtige Rolle. Der Wandel in den letzten Jahrzehnten, insbesondere im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz, war so rasant, dass die Schule sich ebenfalls fundamental verändern musste. Heute, im Jahr 2052, ist die Volksschule nicht nur ein Ort des Lernens, sondern sie wurde zu einem Zentrum für Gemeinschaft und soziale Entwicklung. Die Schülerinnen und Schüler lernen in einem Umfeld, das traditionelle Werte und moderne Technologien vereint. Klassische Tugenden wie Durchhaltevermögen, Respekt und Gemeinsinn werden ebenso gefördert wie technische und digitale Kompetenzen. Die Lehrpläne sind so gestaltet, dass sie sowohl theoretisches Wissen als auch praktische Fähigkeiten vermitteln. Was bei meinen Enkeln gleich geblieben ist wie zu meiner Zeit: Die Lieblingsfächer bewegen sich zwischen Sport und Pause.

Auf meinen Rucksack, den ich zur Ruine mitgenommen habe, bin ich besonders stolz. Dieser ist von der Schweizer Landes-

ausstellung 2038. Hier war das Projekt Zukunft.Bahnhof präsent als «Hub» für den ländlichen Raum. Im Zentrum dieser Landesausstellung standen nicht monumentale Pavillons, vielmehr wurde gemeinsam mit der Bevölkerung die Zukunft diskutiert, ausgehandelt und ein Zielbild 2050 entworfen.

Immer wichtiger wurden in den Jahren vor 2052 Wohnangebote für ältere Menschen. Schon Ende 2019 zählte die Schweiz 1,6 Mio. Menschen über 65 Jahre. Inzwischen sind es über 2,7 Mio. Das wirkte sich auch auf das soziale Gefüge im Toggenburg aus. Die Zunahme liess sich nur bewältigen, indem die ambulante Versorgung massiv ausgebaut wurde. Dank einer integrierten Gesundheits- und Altersversorgung in der Region funktioniert das gut. Kaum vorstellbar ist, dass es früher ein Spital im Toggenburg gab – zuerst in Lichtensteig, später in Wattwil. Inzwischen werden fast alle Behandlungen ambulant oder zu Hause durchgeführt. Für komplexe Eingriffe stehen entsprechende Kompetenzzentren – auch in Wattwil – zur Verfügung.

Energie- und Naturtal Toggenburg

Das Toggenburg ist heute energieautark! Was 2008 begann, unter anderem mit der damaligen Bundesrätin Doris Leuthard, funktioniert inzwischen wie selbstverständlich. Die Menschen haben sich unlängst an Windräder gewöhnt, die Umfahrungsstrassen werden von Fotovoltaikanlagen gesäumt und es entstanden neue Wasserkraftwerke. Dank dieser Entwicklung schaffte sowohl die Region wie auch die Schweiz die Energiewende. Besonders erfreulich ist die Tatsache, dass viele Energieproduktionsanlagen als Bürgeranlagen errichtet wurden. Dank Crowdinvesting beteiligten sich viele Bürgerinnen und Bürger an den Anlagen und profitieren heute sehr direkt. Der genossenschaftliche Gedanke liess frühere Widerstände schnell verschwinden. Ebenfalls ist es inzwischen unvorstellbar, weshalb es zu Beginn des Jahrtausends so viele Vorbehalte gegen neue Antriebsformen wie Elektromotoren gab. Die letzten Verbrennungsmotoren im privaten Verkehr, im Gewerbe oder in der Landwirtschaft wurden vor Jahren ausser Betrieb genommen. Wer doch mal noch in den guten alten «Dieselzeiten» schwelgen will, besichtigt die historische Landmaschinenausstellung von Sepp Schlumpf in der Erlebniswelt Toggenburg. Hier, bei der Ruine, ist die Biodiversität eindrücklich. Es blüht an allen Ecken und Enden. Für eine hohe Artenvielfalt wurde viel investiert. Besonders auffällig ist der Wald, der sich heute ganz anders präsentiert als früher. In den Jahrzehnten vor 2052

wurde der Wald nachhaltig umgebaut. Fichten und Buchen sind zum Beispiel fast vollständig verschwunden. Bezüglich der Biodiversität fand ein Umdenken statt. Früher wurde auf Quantität gesetzt und den Bäuerinnen und Bauern Flächenvorgaben gemacht. Seit längerem wird verstärkt auf Qualität gesetzt, wodurch sich Nutzungskonflikte deutlich reduzieren liessen.

Politische Entwicklung

Das Toggenburg war schon immer so etwas wie der heimliche politische Hotspot der Schweiz. Besonders in Erinnerung bleiben Karl Müller Friedberg, letzter äbtischer Landvogt und Gründer des Kantons St. Gallen, Bundesrat Thomas Holenstein, Regierungsrätin Rita Roos, Toni Brunner, politisches Naturtalent und ehemaliger Präsident der SVP, und last but not least die Bundesrätin Esther Friedli, welche während 12 Jahren die Geschicke der Schweiz mitsteuerte.

Im Toggenburg selbst kam es in den letzten Jahrzehnten zu keinen weiteren Gemeindefusionen. Doch hat sich inzwischen eine vertiefte Zusammenarbeit der kommunalen Behörden ergeben. Viele Verwaltungsfunktionen wurden im Haus der Region in Wattwil zusammengeführt und die Verwaltungsgeschäfte werden fast vollständig digital abgewickelt. Erhalten blieben die lokalen Gemeinderäte, welche sich wie eh und je der Entwicklung ihrer Ortschaft widmen. Somit bleibt weiterhin ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gemeinden bestehen, der dafür sorgt, dass immer wieder Innovatives ermöglicht wird.

Umfahrungsstrassen als Kraftwerke, um 2050. Erstellt mit OpenAI, 1. Juni 2024.

Ich stehe von der Sitzbank bei der Ruine Neutoggenburg auf, werfe einen ehrfürchtigen Blick auf die Grundmauern aus dem späten 12. Jahrhundert und mache mich auf den Rückweg ins Städtli. Obwohl viele baulichen Strukturen seit Jahrhunderten bestehen, hat sich vieles verändert. Diese Dualität aus historischer Beständigkeit und dynamischem Fortschritt zeigt, wie das Toggenburg seine Wurzeln bewahrt und gleichzeitig eine blühende Zukunft gestaltet hat.

Nachwort

Die fiktive Reise ins Jahr 2052 illustriert, wie sich das Toggenburg durch den klugen Umgang mit Wandel und Innovation zu einer blühenden Region entwickeln könnte. Veränderungen sind nicht nur als Herausforderungen zu verstehen, vielmehr bieten sie Chancen, die ergriffen werden müssen. Indem wir offen für Neues sind und gleichzeitig unsere kulturellen Wurzeln bewahren, können wir eine nachhaltige und erfolgreiche Zukunft gestalten. Es liegt an uns, die Basis für eine positive Entwicklung zu legen und die Chancen des Wandels zu nutzen. Dabei müssen wir auf Qualität, Langfristigkeit, Kreativität, Innovation und auch Bodenständigkeit setzen.

Sieben Jahre Orgelstreit in Stein

In der damals von beiden Konfessionen genutzten Kirche platzieren 1821 die Steiner Katholiken eine ehemalige Hausorgel. Diese Aktion ist der Beginn eines sich sieben Jahre hinziehenden Konfliktes zwischen den beiden Religionsparteien. Der Steiner Orgelstreit steht für das problematische Zusammenleben im grössten und bedeutendsten Spannungsgebiet der konfessionell gespaltenen Eidgenossenschaft als ein Beispiel von vielen – das einzig belegte jedoch, in dem es sich beim «Stein des Anstosses» explizit um die Orgel handelt.

Der Steiner Orgelstreit kann als späte und letzte heftige Eruption in der leidvollen Geschichte der beiden Religionsparteien des kleinen Obertoggenburger Dorfes gedeutet werden – ein Konflikt «Fürstlich St. Gallische Obrigkeit versus evangelische Bevölkerungsmehrheit», der in der Talschaft schon 140 Jahre vorher zu eskalieren droht. Der aus schwarzem Marmor gefertigte und 1688 datierte Taufstein ist die einzig übrig gebliebene historische Reminiszenz dieser Kirche und stummer Zeuge einer turbulenten Zeit, die mit wenigen Schlaglichtern illustriert sei: 1680 werden evangelische Waisenkinder katholischen Familien übergeben, auf dass sie katholisch erzogen würden. 1681 finden in Lichtensteig öffentliche Verbrennungen von diversen, als militant deklarierten, reformierten Schriften durch den Scharfrichter statt. 1683 erhält in Degersheim ein Protestant ein Wirtshaus zugesprochen, weil er bereit ist, wieder katholisch zu werden. 1690 schenkt der katholische Pfarrer Schwarz von Wildhaus einem Brautpaar eine Kuh, weil es sich zur Konversion bereit erklärt. Den Episoden der im Rahmen der Rekatholisierungsbestrebungen erfolgten Drangsalierungen von Reformierten, veranlasst durch die fürstäbtische Obrigkeit, könnten weitere zugefügt werden. Umgekehrt ist ebenfalls aktenkundig, dass protestantischerseits in katholischen Kirchen nachts die Glockenklöppel ausgehängt, Altäre beschädigt, auf Friedhöfen immer wieder die Grabkreuze ausgerissen oder – wie in Kappel – in der paritätischen Kirche an den Bänken die Kniestützen demoliert werden. So viel zum historischen Kontext des interkonfessionellen Klimas, das dem Steiner Orgelstreit voraus geht. Zwar glätten sich die Wogen des paritätischen Zusammenlebens im

Der aus schwarzem Marmor gefertigte und 1688 datierte Taufstein ist die einzig übrig gebliebene historische Reminiszenz der ehemals paritätischen Kirche Stein. René Güttinger, Nesslau.

Die heute evangelische Kirche Stein im Toggenburg. Die Katholiken dislozieren 1929 in ihre eigene, neu erbaute Kirche an der Thur. Res Reber, Wattwil SG.

Verlauf des 18. Jahrhunderts merklich, die Situation bleibt aber kompliziert – auch die Installierung von (gemeinsamen) Orgeln betreffend.

Der umfangreichen Korrespondenz der beiden Konfliktparteien – hauptsächlich mit den vorgesetzten Instanzen – und den Protokollen des Kleinen Rates (heute Regierung) des Kantons St. Gallen ist es zu verdanken, dass der Verlauf der Streitigkeiten zwischen den Katholiken und Reformierten erstaunlich detailliert rekonstruierbar ist. Diskussionen um den Standort der Orgel in paritätisch beanspruchten Kirchen sind zwar bekannt – ein erbitterter Streit über Jahre, wie der von Stein dokumentierte, ist aber beispiellos.

Die Standortfrage

Im April 1823 wendet sich die katholische Verwaltung an die evangelische und ersucht die Reformierten um einen Platz für ihre Orgel auf der «Emporkirche», die sie in einer Art und Weise anzubringen gedenkt, die weder beengend noch platz­

einschränkend sein soll. Die Katholiken hätten dabei auch die Absicht, «die schon lange zerrissene Einigkeit und brüderliche Eintracht zwischen den Glaubensgenossen wieder herbeÿzuführen und zu befestigen, […]» Eine schriftliche Antwort sei bis auf den heutigen Tag ausgeblieben und nur auf den Gassen die abschlägige Haltung der evangelischen Gemeinde «auf ungeziemende Art» zu vernehmen. Die Katholiken bieten die «Hand zum Frieden» und ersuchen nochmals um einen Platz für die Orgel auf der Empore – zusätzlich mit dem Angebot der Beteiligung am Instrument zu vorteilhaften Konditionen: «Wir wiederholen also nochmals unser demüthiges Ansuchen, uns gefälligst zu gestatten, einen Platz für die Orgel auf der Emporkirche zu machen, […]» Das «demüthige Ansuchen» wird von den Reformierten offensichtlich weiterhin ignoriert. Für die Katholiken erschwerend hinzu kommt, dass «der Orgelmacher den von uns bezeichneten Orgelplatz für untauglich und unzulässig in jeder Hinsicht gefunden, theils würde der Ton zu sehr gehemmt, theils die Orgel des feuchtenden Platzes wegen in wenig Jahren unbrauchbar und faul werden.» Wo sich der von den Katholiken bezeichnete Orgelplatz und vom Orgelbauer als nachteilig beurteilte Standort befunden haben könnte, ist dem Brief des katholischen Verwalters Gabriel Stump an den Präsidenten der evangelischen Gemeinde, vom 15. Dezember 1823 zu entnehmen: «[Die Erkundigung beim Orgelbauer hat ergeben], dass die Orgel am verabredeten Platze, nämlich im ebnen Eck der Emporkirche nicht angebracht werden könne, […] Sie sollte also auf der Emporkirche an das Bord gebracht werden. […]» Unter dem «ebnen Eck der Emporkirche» ist die hintere Emporenbegrenzung an der Westwand zu verstehen. Diese dem Wetter zugewandte Wand wäre tatsächlich kein idealer Orgelstandort, insbesondere wenn das Instrument direkt an die Mauer zu stehen käme. Als Orgelbauer Klingler 1892 für eben diesen Standort eine neue Orgel offeriert, will er darum gemäss einem Sitzungsprotokoll «die Kirchenmauer […] dreimal bestreichen und mit einer für diesen Zweck besonders geeigneten Art Wollteppich bekleiden». Jedenfalls empfiehlt der Orgelbauer 1823 die Anbringung «auf das Lehrerbord», womit er sich vermutlich ein in die Emporenbrüstung eingebautes, von hinten zu bespielendes, Instrument vorstellt. Die Reformierten allerdings wünschen sich die Orgel ins «Butterloch», womit ein Platz im Chorraum gemeint sein muss. Die Katholiken scheinen sich dieser Forderung zu beugen, denn Gabriel Stump schreibt im Auftrag der katholischen Verwaltung an Bezirksstatthalter Steger: «Endlich haben

Orgelpositionierung, wie sie der Orgelbauer (vermutlich Johann Silvester Walpen) vorschlägt: «an das Lehrerbord […] gerade dahin, wo man von der EmporkirchStiege hinaufkommt». Die beschriebene Orgelpositionierung an der – von unten betrachtet –linken Emporenbegrenzung folgt zwar nicht der Gewohnheit, ist aber in der Gegend wenigstens in einem bekannten Fall (Oberhelfenschwil, 1836) auf diese Weise realisiert worden.

KGdeA Oberhelfenschwil SG.

wir im Chor einen uns sehr bequemen, und den Reformierten ganz unhinderlichen Platz ausfindig machen können. Sie wird mit dem Altar verbunden angebracht […]» Stump meint damit eine in den Altar integrierte Chororgel, wie sie der Orgelbauer Thomas Silvester Walpen (1802–1857) 1842 für die Hofkirche Luzern erbaut. Sein Vater Johann Silvester Walpen (1767–1837) ist in den 1820er­Jahren an verschiedenen Orten unserer Region tätig, etwa 1822 im Kloster St. Maria der Engel in Wattwil, ferner im Rheintal, in Amden und Weesen, in Appenzell und schliesslich 1831 in Gossau. Verwalter Stump dankt dem Statthalter für seine Vermittlungsdienste, worauf dieser – in Erwiderung des Schreibens – zum Orgelplatz im Chor zwar gratuliert, aber auch festhält, dass die Katholiken mit dem Bemühen um die Anbringung der Orgel auf dem Lehrerbord zum Nachteil der Evangelischen, «von dem gerechten gütigen Ausgleichsschritte ziemlich abwichen.» Die katholische Verwaltung lässt den Vorwurf des Abweichens nicht auf sich sitzen und reagiert mit der Rechtfertigung, dass es ihr nicht möglich sei, den Reformierten bezüglich finanzieller Beteiligung noch mehr entgegenzukommen. Im Weiteren wird darauf hingewiesen, dass es des Orgelbauers Vorschlag war, die Orgel nicht an die feuchte Westwand, sondern auf das Lehrerbord zu stellen: «Er giebt den Vorschlag, die Orgel an

das Lehrerbord anzubringen gerade dahin, wo man von der Emporkirch­Stiege hinaufkommt, wo sie der Aussicht auf die Kanzel nichts schaden könne, […]»

Weder die katholischen Verhandlungsbemühungen noch des Orgelbauers Empfehlung können die Reformierten dazu bewegen, die Orgel auf der Emporkirche zu dulden – sie muss ins «Butterloch», wo sie mit dem Altar verbunden werden soll.

Dieses Projekt sei nicht ohne Rücksprache mit der reformierten Gemeinde ins Auge gefasst worden. Auf die Frage von Administrationsrat Wirth in Lichtensteig an die katholische Verwaltung von Stein, ob und unter welchen Bedingungen eine gütliche Regelung mit den Reformierten hinsichtlich der Orgelfrage möglich wäre, antwortet diese mit Vorbehalten und gibt zu bedenken, dass das neue Instrument im Chor um «vieles köstlicher» und dementsprechend auch teurer werde – im Unterschied zur vorhandenen Hausorgel, die man auf der Empore platziert und lediglich ergänzt hätte: «Denn diese war eine alte, wäre nur gehörig durch Zusatz ausgebessert worden, die nur im Prinzipal 2, und im Bass 4 Fusston bekommen hätten. Eine grössere hätte des minderen Platzes wegen nicht angebracht werden können. […] Die itzig verakodirte Orgel wird ganz neu, bekomme ein Register mehr, Prinzipal 4, und Bass 8 Fusston, mit grossem Oktav, 2 neuen Blasbälgen, zudem bekommt sie auch für die Reformirten eine bequeme Stellung. […] Wir haben ihre Bedingnisse nicht, und sie die unsrigen nicht angenommen, somit sind beÿde Theile in keinen verbindenden Vertrag getretten [?]. Nichts wird uns in der Ausführung des bald vollendeten Werkes rechtlich zu hinderen. […]»

Das Gerichtsurteil

Im Juli 1824 hat sich erstmals der Kleine Rat des Kantons St. Gallen mit dem Steiner Orgelstreit zu befassen. Er beschliesst die Behauptung der Katholiken, dass sie für die Aufstellung der Orgel im Chor «durch Bewilligung und Vertrag» befugt seien, vor den Richter zu bringen und dass die Arbeiten an der Orgel bis zum Gerichtsentscheid unterbrochen werden müssen. Ende Januar 1825 fällt das Appellationsgericht das Urteil zum Steiner Orgelstreit:

«H. Pfarrer Wespi, Pfleger Götti und Verwaltungs Rath Stumpp als Bevollmächtigte des kathol. Verwaltungsraths im Stein appellieren das Neu St. Johannische Bezirksgerichtsurtheil vom 5ten dies Monaths, und behaubten, dass die evangelische Verwaltung auf ihr Ansuchen wegen Ver­

derbnuss und Feüchtigkeit der alten Orgel die Stellung einer neüen auf der Emporkirche abgeschlagen, entgegen aber im Kor am Plaz der alten bewilligt habe, wen auch dieselbe etwas mehr, doch zu vieles beenget würde. Worauf sie dan im Decemb. 1823 den Orgelbau im Khor, der in allen paritaetischen Kirchen das Eigenthum der Katholischen seÿe, angefangen, und so in die Höche gestellt, dass durch Zuruckschiebung des Hochaltars noch an Plaz gewonnen werde. Da dann auch die neüe Orgel nur 8 Schuo breit seÿe, so werde dadurch auch am Liecht nichts benommen. Weil dan gegen diese Herstellung erst 10 Wochen später protestiert worden, so wären sie beträchtlich geschädigt, wan sie mit dem Orgelbau nicht fortfahren könten. […] Verwaltungs President Johannes Giger, und Kreisrichter Kaspar Bohl [im Namen] des evangelischen Verwaltungs Raths im Stein antworten, dass sie sich zwar erklärt haben, dass sie gegen eine neüe Orgelherstellung nicht entgegen seÿen, wan dieselbe nicht um vieles mehr Platz einnehme, als die vorige. Nachdem dann Gegnern auf einmal ein Gerüst angebracht, und auf dieses eine 12 Schuo breite Orgel hergestellet, wordurch der 14 Schuo breite Khor, dessen Eigenthum sie denen Gegneren nicht zugestehen, verdunklet worden, haben sie ihre Protestation beÿm Statthalteramt eingelegt. Wan Gegnern nicht beweisen können, dass ihnen weder von der Gemeinde, noch von der evangelischen Verwaltung die Herstellung einer solchen Orgel bewilliget worden, so erwarten sie in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils die Abweisung um derselben Gesuch.

Rechtsfrage, ob die evangelische Verwaltung der katholischen Verwaltung im Stein die Herstellung einer neüen Orgel im Khor bedingt, oder unbedingt bewilliget habe?

Erkennet:

Dass diese Bewilligung bedingt gegeben worden seÿe, die heütige Gerichtsgebühren à 16 Franken haben beide Theile jeder zur Helfte zu bezallen. […]»

Am 14. Februar 1825 gelangt der katholische Verwaltungsrat direkt an die Regierung, schildert den Streit zwischen den evangelischen und katholischen Gemeindegenossen betreffend Aufstellung der Kirchenorgel und ersucht um eine «gütige Erledigung desselben». Anfangs Juni schildert Statthalter Steger die Sicht der Reformierten in einem Brief an die Regierung. Demnach hätten die Katholischen «eigenmächtig und unbefugt»

Veränderungen im Chor vorgenommen und dabei die Rechte der Evangelischen missachtet. Dass die Katholiken den Chor als ihnen «eigenthümlich» erachten, trifft bei den Reformierten auf Unverständnis, «da die Evangelischen an die Unterhaltung des Chors, sowie des übrigen Theils der Kirche, vier Fünftheile bezahlen, mithin auf das Chor eben so gute Rechte als auf die übrige Kirche haben». Sie schieben die Schuld als Verursacher des Streites hauptsächlich dem katholischen Pfarrer Wäspi zu und «nie seÿe von einer anderen Orgelstellung im Chor die Rede gewesen als an die Stelle des alten Beichtstuhls, und daher habe auch nur auf dort die freündschaftliche Einräumung eines etwas grössern Platzes Bezug nehmen können». Die Reformierten bleiben unnachgiebig und erhoffen sich von der Regierung, dass diese den Befehl erteilen möge, die «Sache in den ehevorigen Stand» zu stellen. Statthalter Steger resümiert am Schluss des Briefes: «Die Stimmung ist unverändert, ich möchte eher sagen fast schlimmer und allgemein».

Legitimationsbemühungen der Katholiken für ihre «Altar-Orgel» Bereits im Februar 1825 hat sich die katholische Verwaltung an den Kleinen Rat gewandt, ihm die bisherige Orgelgeschichte

Das «Butterloch», der von den Reformierten geringschätzig bezeichnete und von den Katholiken beanspruchte Chorraum, vielleicht in Anlehnung des in seiner Form an die Öffnung eines Butterfasses erinnernden Chorbogens. Die Dimension der Orgel lässt sich durch das Vorrücken des Hochaltars in die Nähe des Taufsteins in etwa vorstellen. Die Kanzel wird nach der Aufgabe der Parität in die neue katholische Kirche überführt. (Aufnahme um 1920) KGdeA Stein SG.

ausführlich unterbreitet und insbesondere auf die Vorzüge des neuen Instrumentes aber auch auf die bedenklichen Folgen, die ein Rückbau nach sich ziehen würde, hingewiesen. Der eindringliche Appell an den Kleinen Rat endet mit der rhetorischen Frage: «Sind wir nicht befugt, und berechtiget die gemachte Orgel an den bedingt bewilligten und dem Beding gemäss und entsprechend gemachten Orgelplatze in unserem eigenthümlichen Chor aufzustellen?» Ende Mai ersucht die katholische Verwaltung wiederum den Kleinen Rat «um hoheitliche Einschreitung und Verfügung, dass ihr mit der evangelischen Genossenschaft obwaltender Streit wegen dem Orgelbau, in Bälde, gütlich oder rechtlich zu einer Entscheidung und Endschaft gelange». Der Rat überweist den Fall an die «Justiz­ und Policeycommission». Noch bevor deren Bericht vorliegt, drängt der katholische Verwaltungsrat bei der Regierung erneut auf eine verbindliche Stellungnahme und erwähnt dabei, dass die reformierten Mitbürger nun nichts mehr gegen den gewählten Platz und die Aufstellung der Orgel einzuwenden hätten: «Es hat allen Anschein, als wollen unsere reform. Mitbürger den angebrachten Orgelplatz ferners nicht mehr streitig machen, und somit uns gegen Aufstellung der neuen Orgel nichts mehr entgegen haben. Somit machen wir bei Ihnen, hochwohlgeachter H. Landammann und Kleinen Rath die Einfrage, ob wir die neue Orgel itzt aufstellen dürfen?»

Ob das angebliche Einverständnis der reformierten Mitbürger dem wahren Sachverhalt entspricht, darf bezweifelt werden; vielmehr scheint sich hinter dieser Information die Finte zu verbergen, dem Kleinen Rat intakte Beziehungen vorzugaukeln und ihn damit zur ersehnten schriftlichen Zusage für den Orgelbau zu bewegen. Jedenfalls wird auch dieses erneute Gesuch der Katholiken vom Kleinen Rat an die Justiz­ und Polizeikommission weitergeleitet.

Die Sichtweise der Reformierten

Nachdem die katholische Verwaltung schon mehrfach schriftlich bei der Regierung vorstellig geworden ist, sind es im Mai 1826 erstmals auch die Reformierten, die – vertreten durch ihren Juristen J. Weber von Lichtensteig – ihre Sicht der Dinge dem Kleinen Rat unterbreiten. Sie kritisieren insbesondere die Anmassung der Katholiken «der Chor seÿ ihr ausschliessliches Eigenthum» mit der Begründung, dass sie als Reformierte vier Fünftel der Unterhaltskosten der Kirche – einschliesslich des Chors – zu bezahlen und demzufolge ebenfalls Anrecht auf

diesen hätten. Auch dieser Brief enthält den Appell: «… schenken Sie unserer dringenden Bitte, unsrem sehnlichsten Wunsche ein geneigtes Gehör, den Befehl an die löbliche katholische Verwaltung ergehen zu lassen, fürs erste in unserer Kirche alles wieder in den alten Zustand zu setzen. […]» Gleichzeitig weisen die Reformierten auf das von Beginn weg geltende Angebot an die Katholiken hin: «… mögen unsere Gemeindsglieder katholischer Confession, an der Stelle des alten Beichtstuhles, wie zuerst bestimmt, ihre Orgel aufrichten, mögen sie auch selbst noch etwas mehr Platz dazu gebrauchen, wir stehen ihnen nicht im Geringsten im Weg, solange nicht Raum und Licht im Chor uns allzusehr entzogen wird. […]» Die Evangelischen drängen unvermindert auf eine Beseitigung der verhassten katholischen Orgel und werden im Juli 1826 – da in der Zwischenzeit offenbar nichts geschehen – erneut beim Regierungsrat vorstellig: «Noch sind keine Spuren jener gewaltthätigen Unternehmung unserer katholischen Gemeindsgenossen ausgewischt, die uns seit dem 24. Februar 1824 der nöthigen Lichter in der Kirche beraubten, […] O es schmerzt tief in der Seele, täglich die Katholischen ihres gewaltsamen Bauens sich freuen zu sehen, […]»

Die Regierung ist nun – gestützt auf ein Gutachten der JustizKommission – bereit durchzugreifen, und zwar zugunsten der Evangelischen. Mit einem letzten Versuch wendet sich die katholische Verwaltung an die Regierung und macht diese darauf aufmerksam, dass die beschlossene Beurteilung der Angelegenheit durch eine Kommission bisher nicht stattgefunden habe. Sie sei erst dann bereit dem Abbruchbefehl nachzukommen, wenn «die gesetzlichen Formen des Rechtsganges» erfüllt seien. Man müsse die Leute auf das Gesetz verweisen können und werde dieses nicht eingehalten, «so giebts Streite, Entzweÿungen und schädliche Folgen für die ganze Gemeinde».

Die Regierung jedoch hält – «den vielbesprochenen Orgelbaustreit daselbst betreffend» – an ihrer Verfügung fest, das Instrument unverzüglich abzubauen. Die Angelegenheit wird vom Kleinen Rat ad acta gelegt.

Der Kompromiss

Die Zeit der folgenden vier Monate ist nicht aktenkundig, dürfte in Stein aber vom verordneten Rückbau der Orgel und ultimativen Versuchen der Katholiken, mit den Evangelischen doch noch eine einvernehmliche Lösung zu finden, geprägt gewesen sein. Die «Kostenforderung der evangelischen Verwaltung da­

Die von den Katholiken zu Beginn gewünschte und letztlich von den Reformierten gebilligte Positionierung der Orgel: auf der Empore, im «ebnen Eck» an der Westwand. Die Abbildung zeigt die KlinglerOrgel von Ennetbühl, welche 1949 vom Chor auf die Empore versetzt wurde – eine mutmasslich mit der damaligen Situation in Stein vergleichbare Ansicht.

KGdeA Ennetbühl SG.

selbst, von dem Orgelbaustreit herrührend», worüber sich die Katholische Verwaltung bei der Regierung beschwert, nährt die These, dass die Reformierten sich in irgendeiner Weise kooperativ zeigen, im Gegenzug aber auf Entschädigung pochen. Zwar müssen die Katholiken im August 1826 auf «Befehl» von Statthalter Steger ihre Altarorgel im Chor endgültig zurückbauen, das heisst «alles in ehevorigen Stand zu stellen, welchen wir auch ungesäumt vollzogen haben», doch muss es Steger gelungen sein, die Konfliktparteien einer «gütlichen» Verständigung zuzuführen. Diese dürfte darin bestanden haben, dass die Reformierten «ihre Emporkirche» schliesslich doch noch zur Verfügung stellen und das Instrument – wie von den Katholiken zu Beginn der Orgelfrage vorgeschlagen – im «ebnen Eck» an der Westwand zu stehen kommt. Die demontierte Chororgel wäre demnach in abgeänderter Form auf der Empore neu aufgebaut und später vermutlich auch von den Reformierten benutzt worden, denn sie sind es, die 1891 bei Musikdirektor O. Wiesner, Rorschach ein Gutachten zum Zustand der Orgel in Auftrag geben, das in der Folge 1892 zum Bau einer neuen Orgel von Max Klingler führt. Dass sich die Katholiken 1845 grosszügiger an den Kosten einer Kirchenrenovation beteiligen, als es ihrem

Bevölkerungsanteil entsprochen hätte, spricht ebenfalls für die These, dass die erste Steiner Kirchenorgel ihren Platz schliesslich auf der Empore gefunden hat. Pfarrer Johann Lutz, von 1808 bis 1853 reformierter Seelsorger in Stein, gelangt 1847 mit einem Bittschreiben an den evangelischen Hilfsverein von Basel. Dabei schildert er die finanziellen Probleme seiner Gemeinde und das Entgegenkommen der Katholiken bei der erwähnten Renovation: «An die Kirchenreparaturkösten zahlen die Catolischen, da man sie wegen dem Orgelplatz begünstiget hat, statt ein fünftel zweÿ 5tel, und 3 fünftel die Evangelischen».

«Begünstigung der Katholiken» kann in diesem Fall nichts anderes heissen, als ihnen im «reformierten Bereich» – zu welchem die Empore gehört – einen Platz für die Orgel zuzugestehen, denn die übliche paritätische Raumaufteilung folgte dem konfliktträchtigen Prinzip: der Chorraum den Katholiken, die übrige Kirche den Reformierten.

Der Kompromiss ist bemerkenswert und wohl einem der ländlichen Bevölkerung im Obertoggenburg eigenen Pragmatismus zu verdanken. Das räumliche Problem wird in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts schliesslich gelöst, indem die Katholiken an der Thur ihre eigene Kirche bauen. Damit sind die konfessionellen Spannungen in diesem Dorf allerdings noch lange nicht aus der Welt geräumt. So flammen sie etwa nach dem Steiner Brand von 1947, als es um die Verteilung von Hilfsgütern geht, wieder auf. Erst in den letzten Jahrzehnten und einhergehend mit einer in unserer Gesellschaft zunehmenden «landeskirchlichen Bedeutungslosigkeit» sind die konfessionellen Dispute aus dem Alltag der Steinerinnen und Steiner verschwunden. Bald sind auch die beiden im Orgelstreit involvierten Kirchgemeinden Geschichte: Die reformierte fusionierte schon 2015 mit den Nachbargemeinden, die katholische plant auf das kommende Jahr die Vereinigung mit Neu St. Johann.

Quellen und Literatur

Evang. KGdeA Stein SG: Bittschreiben (1847) von Pfr. Johann Lutz an den evangelischen Hilfsverein von Basel. Dabei schildert er die finanziellen Probleme seiner Gemeinde und das Entgegenkommen der Katholiken bei der erwähnten Renovation.

Kath. PfarrA Stein, Bd. 3. Sig. B06.01, S. 108/109, Protokoll vom 1. Mai 1892: «Protokoll der katholischen Kirchengenossenversammlung in Stein, 1872–1924», betr. Bau einer neuen Orgel zusammen mit den Reformierten.

StA St. Gallen, ARR B 2, Bde. 86, 90, 91, 94, 95, 96: Protokolle des Kleinen Rates (Regierungsrat) des Kantons St. Gallen, betr. den Steiner Orgelstreit.

StA St. Gallen, G 15.5 Appellationsgericht, Spruchprotokoll, Seite 487: Urteil des Appellationsgerichtes St. Gallen zur Steiner Orgel vom 27. Jan. 1825.

StA St. Gallen, KA R.186­10c­cc: Korrespondenz der beiden Konfliktparteien, betr. den Steiner Orgelstreit.

Rothenflue, Franz: Toggenburger Chronik. Urkundliche Geschichte sämmtlicher katholischer & evangelischer Kirchgemeinden der Landschaft Toggenburg, Bütschwil 1887, S. 76.

Sigrist, Christoph: «75 Jahre Steiner Dorfbrand», in: Toggenburger Jahrbuch 2023, S. 9–36.

Die erste Digitalisierungswelle

Die Mitte des 19. Jahrhunderts war mit geprägt von technischen Innovationen und hohen Zukunftserwartungen: Nachrichten­ und Transporttechnik im Umbruch! Die Eisenbahn erreichte bereits Ende 1855 das Untertoggenburg. Weniger bekannt ist dagegen, dass die digitale Nachrichtenübermittlung – die Telegrafie – noch etwas früher kam.

Anton Heer

St. Gallen profilierte sich sehr früh durch die Förderung der Telegrafie in der Schweiz. Die Bedeutung der hochmodernen Kommunikationsform wurde durch den St. Galler Handelsstand zusammen mit der Regierung, dem Regierungsrat des Kantons St. Gallen, erkannt. Der damalige Vorsteher des eidgenössischen Post-Departements, Bundesrat Wilhelm Näff (*1802 ✝ 1881) von Altstätten, ergänzte die innovationsfreundliche Seilschaft aus der Ostschweiz in geradezu idealer Weise. In kürzester Zeit holte die Schweiz den technischen Rückstand in der Nachrichtentechnik auf. Die in den 1850er-Jahren volkswirtschaftlich bedeutenden Toggenburgerorte Flawil, Lichtensteig und Wattwil wurden 1853 durch Stationen der eidgenössichen Telegrafenverwaltung erschlossen. Am 1. Juli 1853 kam die Telegrafenstation Flawil in Betrieb – ein Meilenstein und ein denkwürdiges Datum für die Landschaft Toggenburg.

Pionierzeit der Digitalisierung

Die Morsetelegrafie ist eine digitale Nachrichtentechnik, die Zahlen, Buchstaben und einige Sonderzeichen durch Punkt/ Strich- oder Kurz/Lang-Codes darstellt. Übermittelt werden die Zeichen in optischer, akustischer oder elektrischer Form. Die elektrische Zeichenübermittlung ermöglichte die Überwindung grosser Distanzen. Was einst durch Meldeläufer oder durch umständliche Übermittlungsketten zu bewerkstelligen war, liess sich nun fast ohne Zeitverzug erledigen. Die NZZ fasste am 29. Juli 1851 die Entwicklung der Telegrafie und die damit verbundenen wirtschaftlichen Aspekte wie folgt zusammen:

«Schweizerische Telegraphie. Die ‹Société des Arts› in Genf hat auf die Anregung eines dortigen Handelsmanns die Einführung

schweizerischer Telegraphen in Berathung gezogen und von der Handelssektion einen Bericht erhalten, den das Journal de Genève in einer eigenen Beilage veröffentlicht.

Um einen Begriff von dem praktischen Werth der Telegraphie zu geben, führt der Bericht an, dass die Aktionnärs des Philadelphia­Pittsburg­Telegraphen gleich anfangs 14 bis 15 vom 100, jetzt aber 60 vom 100 des Ertrags der Anstalt unter sich theilen können. In Amerika existiren 60 bis 70 telegraphische Linien, an einigen Orten 2 bis 3 zumal, ja in den Verkehr zwischen New­York und Boston theilen sich bereits 4 telegraphische Gesellschaften. Im Ganzen reichen die amerikanischen Telegraphen schon 3000 Stunden oder 9000 amerikanische Meilen weit.

In Europa ist die Schweiz einzig noch ohne telegraphische Anstalten und dürfte wohl noch lange Zeit darauf warten, wenn der Telegraph nothwendig den Eisenbahnbau voraussetzen müsste; dieses ist aber nicht der Fall; nach einem Bericht des eidgenössischen Postdepartements lasse sich eine telegraphische Verbindung von Bregenz über St. Gallen, Winterthur, Zürich, Aarau, Basel, Bern, Neuenburg, Lausanne und Genf um 150 000 Frcs. (die Stunde zu 1500 Frcs.) herstellen.

Vom kaufmännischen Direktorium in St. Gallen ist daher die Angelegenheit bereits beim Bundesrathe anhängig gemacht worden, mit dem Gesuch, die Sache in die Gesetzgebung zu bringen. Hr. Näff hat auch schon ein Projekt für die Bundesversammlung ausgearbeitet und man erwartet zum gleichen Zweck Petitionen aus den verschiedenen dabei betheiligten Städten der Schweiz. Diese sollen nämlich, so wird im Interesse der Sache gewünscht, die nöthigen Vorschüsse auf 10 Jahre hin garantiren, auf deren Verzinsung verzichten und sich amortisationsweise mit einem jährliche Zehnttheil der vorgeschossenen Summe zurückbezahlen lassen. Die Herstellung der Linien würde unter der Aufsicht des Bundesrathes geschehen.

Das Postdepartement hat nebst der genannten Linie eine Gotthardlinie von Basel über Luzern nach Mailand im Auge.

In Genf geht man bereits auf Sammlung von Unterschriften aus, sowohl für Petitionen als für Beiträge. Man erinnert sich nämlich dort an die Krisen von 1830 und 1848 in Paris und Wien und an die Millionen, welche man bei rascherer Kenntniss derselben hätte retten können.

Die Bedeutung der Telegraphie liegt aber auch für die ganze Schweiz um so mehr auf der Hand, als es nach unserer glücklichen Lage nur eines Anbindens bedarf, um mit einem Male aller der Vortheile theilhaftig zu werden, welche London, Berlin, Paris,

Havre, Brüssel, Wien, Mailand, Triest mit den grossartigsten Opfern erkauft haben.

Der Bericht der Genfer Handelssektion veröffentlicht auch ein Schreiben, in welchem ihr von Hrn. Bundesrath Näff summarisch seine Vorschläge an die Bundesversammlung mitgetheilt sind. Es sind zwei Linien, die erste von Bregenz über die genannten 9 Städte gehend, würde für 100 Schweizerstunden 150 000 Frcs. erfordern, die zweite, als Verzweigung von Aarau nach Chiasso, wird für 60 Stunden 240 000 Frcs. veranschlagt. Die erste Linie würde sobald in Angriff genommen als die verlangten Kosten gedeckt wären.»

Wenn damals von Stunden die Rede war, dann handelte es sich meist um die einst üblichen Distanzangaben. Eine Schweizerstunde oder Wegstunde mass etwa 4,8 Kilometer. Die Eisenbahn machte das Längenmass Stunde bald gegenstandslos, denn der Fussmarsch verlor seine Bedeutung als Distanzmass. Die Welt wurde mindestens zehnmal kleiner.

Kunst-Empfehlung. Oder HighTech-Vermittlung für die Bildungsschicht von 1847. Quelle: NZZ 28.08.1847.

Im Kanton St. Gallen wurde die Telegrafie dem Baudepartement unter Matthias Hungerbühler (*1805 ✝ 1884) zugewiesen. Bemerkenswert und zugleich selbsterklärend ist die Rolle des Baudepartements für die Entwicklung der Telegrafie, die eigentlich Bundessache war. Die Telegrafenleitungen folgten anfänglich weitgehend den Kantonsstrassen und die Wegmacher sorgten für den Leitungsunterhalt. Aus den Amtsberichten ist zu entnehmen, dass dem Unterhalt der Telegrafenleitungen Priorität zufiel und somit bald zusätzliches Personal erforderlich wurde. Mit der Eröffnung der St. Gallisch-Appenzellischen Eisenbahn kam es zur ersten Verlegung von Telegrafenlinien, weg von den Strassen, hin zu den neu eröffneten Eisenbahnlinien. Denn die Bahnen nutzten für die betriebliche Kommunikation ebenfalls die Morsetelegrafie. Die öffentliche Telegrafie blieb aber weiterhin beim Baudepartement.

Der Anfang der Telegrafie erfolgte unter der eidgenössischen Telegrafenverwaltung. Im Jahr 1853 nahmen auf dem Gebiet des Kantons St. Gallen zehn Telegrafenstationen den Betrieb auf. Es waren dies (in alphabetischer Reihenfolge): Altstätten, Flawil, Lichtensteig, Ragaz, Rapperswil, Rheineck, Rorschach, Uznach, Wattwil und Wil. Die Linie Zürich-St.Gallen kam bereits 1852 in Betrieb. In St. Gallen amtete Richard Wieland als erster Telegrafeninspektor in den Jahren 1852 bis 1854. Wieland spielte später für den Bau der Toggenburgerbahn als Teilhaber der Baufirma Wieland & Gubser eine wichtige Rolle.

Telegrafie – kurz erklärt

Technisch beruhte das schweizerische Telegrafenwesen auf der Morsetelegrafie, die durch die Elemente Punkt, Strich und Pause definiert ist. Kodierung und Dekodierung erfolgten noch manuell und oblagen den Telegrafisten. Selbstredend konnten diese Zeichenfolgen auf den Papierstreifen weder durch die eigentlichen Absender noch durch die Empfänger der Depeschen interpretiert werden. Für die «Kunden» wurden die Depeschen handschriftlich auf Telegramm-Formularen festgehalten.

Durch die elektrische Morse-Telegrafie wurde die Nachrichtentechnik revolutioniert. Kurznachrichten konnten mittels einfachster Technik über mehrere Hundert Kilometer nahezu zeitverzugslos übermittelt werden. Die erste Digitalisierungswelle erfasste so die Welt des 19. Jahrhunderts. Für das Eisenbahnwesen, es stellte die erste synchron über ganze Regionen oder Länder funktionierende Organisation dar, war diese Technik unentbehrlich. Bald darauf wurden auch Handel, Verwaltung

Zeichengeber Morsetaste und Zeichenempfänger Schreiber. Quelle: K. Sumpf 1910.

Telegrafenleitungen waren üblicherweise als Freileitungen ausgebildet. Das Bild von Telegrafenund Telefon-Pionieren der Armee aus den 1910er-Jahren vermittelt einen Eindruck von den Leitungen und der Arbeit in luftiger Höhe –im Pannenfall bei fast jeder Witterung und Tageszeit. Slg. A. Heer.

und Presse ohne Kommunikationsmittel Telegrafie undenkbar. Nicht überraschen wird daher die Tatsache, dass einzelne Eisenbahnstationen oder gar Industriebetriebe in das öffentliche Telegrafennetz eingebunden wurden.

Die ausgewerteten Quellen, die Amtsberichte der Regierung sowie die «Civil-, Militär- und Kirchen-Etats des Standes St. Gallen», bieten spannende Einblicke in die regionale Entwicklung der Telegrafie. Telegrafisten der Telegrafenverwaltung, der Postverwaltung und der Eisenbahngesellschaften hatten Einblick in private, amtliche oder sehr vertrauliche Nachrichten und waren der Vertrauenswürdigkeit und grösster Zuverlässigkeit verpflichtet. Diese Vertrauensstellung war mit ein Grund für Transparenz und Öffentlichkeit mittels Etat. Das war praktizierter Datenschutz unserer Urahnen. Im Etat sind sogar einige Frauennamen, d.h. Telegrafistinnen, zu finden. Frauen durchbrachen dank der Telegrafie die damals weitgehende Dominanz der Männer im Etat, dem späteren Staatskalender!

Verschiedene Fakten zur technischen oder betrieblichen Entwicklung sind zudem den Amtsberichten der Regierung zu entnehmen. Vorerst ging es der Regierung um die Förderung der Telegrafie, später spielten Wirtschaftlichkeits- bzw. Kostenüberlegungen eine Rolle. Die jährliche Depeschen-Anzahl war damals mit einer magischen Schwelle von 2000 pro Telegrafenstation bzw. Telegrafenbüro verbunden. Die Depeschenanzahl war massgebend für allfällige Nachzahlungen der öffentlichen Hand oder technisch-betriebliche Alternativen.

Um 1880 wurde die Telefonie langsam spruchreif. Die analoge Nachrichtenübermittlung, ohne Aufzeichnung der Inhalte, kündigte sich an. Die Freileitungen taugten weiterhin sowohl für die Morsetelegrafie als auch für die Telefonie. Allerdings blieb die Reichweite der Telefonie ohne elektronische Verstärkertechnik noch während Jahrzehnten sehr begrenzt. Analoge Verfahren dominierten fortan die Kommunikation. Die zweite Digitalisierungswelle folgte erst in den späten 1950er-Jahren – nicht durch die Nachrichtentechnik sondern durch die elektronische Datenverarbeitung (EDV).

Die Telegrafie in der Landschaft Toggenburg Aus dem jährlich publizierten Amtsbericht ist die Entwicklung der Telegrafie summarisch ersichtlich. Auffällig sind dabei die regional sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Entwicklungen und Interessenlagen. Aus der Landschaft Toggenburg war beachtliches Interesse und Wohlwollen für das neue Kommuni-

kationsmittel, das auch seinen Preis hatte, zu vernehmen. Dies erstaunt wenig, denn zahlreiche Unternehmen erkannten den wirtschaftlichen Nutzen rationeller Kommunikationsmittel und verlangten sogar mit Nachdruck den Zugang zur Telegrafie. In schwach industrialisierten Gegenden, beispielsweise im Werdenbergischen und weiteren landwirtschaftlich geprägten Regionen, musste die Kantonsregierung wiederholt ermahnend eingreifen und an den volkswirtschaftlichen sowie sicherheitsrelevanten Nutzen der Telegrafie erinnern.

Der Amtsbericht für das Jahr 1861 zeugt davon: «Telegraphenwesen. Unsere Absicht, einzelne werdenbergische Gemeinden (Buchs, Grabs, Gams, Haag) zur Betheiligung für Einrichtung eines Telegraphendienstes im dortigen Bezirk, als Mittelstation zwischen Altstätten und Ragatz, zu bewegen, hat noch zu keinem Ziele geführt. Buchs und Grabs wollen vor Allem den Entscheid der Bundesversammlung über Benutzung der Eisenbahn­Telegraphen für den Staats­ und Privatdienst gewärtigen. Geneigter zeigte sich Haag, unter Verweisung auf allfällige Beiträge von Gams. Auf Wunsch des Gemeinderathes von Mels haben wir bei dem Bundesrath die Errichtung eines Telegraphendienstes daselbst mit Rücksicht auf den zunehmenden Verkehr angelegentlich empfohlen.»

Der Amtsbericht für das Jahr 1869 dürfte in der Landschaft Toggenburg auf offene Ohren und grosses Gefallen gestossen sein: «Telegraphen. Die Errichtung neuer Telegraphenbureaux ist in stetiger Zunahme begriffen. Im Laufe dieses Jahres sind solche in Kappel, Bruggen, Au und Buchs eröffnet worden. Einleitungen für weitere Bureaux wurden in Wildhaus, Unterwasser und Stein getroffen, mit deren Erstellung somit jede grössere Ortschaft im Thurtale von Bütschwil bis Wildhaus mit einer solchen Anstalt versehen sein wird. Gewiss ein sprechendes Zeugnis von der regen Thätigkeit, von der diese Gegend belebt ist.»

Aus dem Amtsbericht für das Jahr 1877 werden der Stand der Erschliessung durch die Telegrafie und weitere Aspekte erkennbar:

«Telegraphen. Im Berichtsjahre wurden öffentliche Telegraphenbüreaux errichtet in Haag (Aufhebung der Zuschlagstaxe auf dem Eisenbahntelegraphenbüreau) Marbach und Mosnang, womit die Anzahl der öffentlichen Telegraphenbüreaux im Kanton auf 77 steigt.

In Flawil war das Hotel Post Sitz der Telegrafenstation und der Telefonzentrale. Die vielen Leitungsabgänge auf dem Dach zeugen von wirtschaftlicher Aktivität im Bezirkshauptort des Untertoggenburgs.

Slg. OMF / Nachlass K. Anderegg.

Freileitungen an der Flawiler Bahnhofstrasse. Telefonleitungen und Freileitungen der Stromversorgung gehörten einst zum Ortsbild.

Slg. OMF / Nachlass K. Anderegg.

Keine Telegraphenbüreaux besitzen noch 25 Gemeinden, nämlich: Muhlen, Mörschwil, Steinach, Berg, Tübach, Untereggen, Eggersriet, Rorschacherberg, Balgach, Eichberg, Vilters, Amden, Rieden, Gommiswald, Ernetschwil, Jona, Eschenbach, Goldingen, St. Gallenkappel, Hemberg, Krinau, Lütisburg, Jonschwil, Bronschhofen und Andwil.»

Die sich um 1880 ankündigende Telefonie bot sich gelegentlich als Ergänzung zum Telegrafennetz an. Nicht rentable Stationen liessen sich vermeiden, indem sich die telefonische Anbindung nutzen liess. Magdenau und Wolfertswil wurden so über Flawil und Degersheim bedient. Weitere Orte wie Lütisburg, Dicken, Hemberg und Oberhelfenschwil kamen mittels Telefonie in den Genuss der Telegrafie. Die analoge Kommunikationsform Telefonie verwies die Morsetelegrafie langsam aber sicher auf Nebenschauplätze.

Chronik zur Telegrafie in der Landschaft Toggenburg

Die Chronik zeigt die Anfänge des st. gallischen Telegrafennetzes sowie die nachfolgende Entwicklung in der Landschaft Toggenburg in der Zeit zwischen 1851 und 1891. Als Quellen dienten der Amtsbericht, der Etat des Standes St. Gallen bzw. der Staatskalender sowie der 1952 erschienene Aufsatz von Emil Huber.

1851 Bundesgesetz zur Telegrafie

1852 St. Gallen, Konferenz zur Entwicklung der Telegrafie

1852 erste Telegrafenverbindung zwischen St. Gallen und Zürich

1855 schwere Unwetterschäden an Telegrafenlinien der Region 1856 Verlegung der Telegrafenlinie an die neu eröffnete Eisenbahnlinie (SGAE)

1857 Ebnat ersucht trotz Nähe zu Kappel um den Anschluss an eine Telegrafenlinie

1858 die Vereinigten Schweizerbahnen ersetzen hölzerne Telegrafenstangen durch beständigere Eisenmasten

1880 die Telefonie als Zugang zum Telegrafennetz wird erstmals erwähnt

Betriebsaufnahme in:

1853 Flawil

1853 Wattwil

1853 Lichtensteig

1857 Ebnat

1864 Uzwil, für Henau und Oberuzwil

1865 Bütschwil

1866 Peterzell

1866 Schönengrund

1867 Neu St. Johann

1868 Degersheim

1868 Brunnadern

1869 Kappel

1870 Nesslau

1870 Stein

1870 Wildhaus

1870 Alt St. Johann (Unterwasser)

1870 Mogelsberg

1872 Oberuzwil

1872 Niederuzwil

1872 Bazenheid (Stationsbüro Toggenburgerbahn)

1873 Dietfurt

1875 Ganterschwil

1875 Necker

1876 Kirchberg

1876 Gähwil

1877 Mosnang

1881 Jonschwil

1884 Krummenau

1891 Mühlrüti

Die Gesprächsvermittlung in Flawil: Telefonistinnen sorgten in der Flawiler Zentrale für die verlangten Verbindungen und für die korrekte Abrechnung der Leistungen.

Slg. OMF / Nachlass K. Anderegg.

Wenn von einer ersten Digitalisierungswelle die Rede ist, dann stellt sich die naheliegende Frage nach weiteren oder gar vergessenen Digitalisierungswellen. Sogenannte Binärsysteme, Elektronenröhren und Halbleitertechnik waren Voraussetzungen für die moderne elektronische Datenverarbeitung. In der Landschaft Toggenburg waren es Textilunternehmen, die in der EDV-Anwendung Pionierarbeit leisteten. Die zweite Digitalisierungswelle datiert also auf die späten 1950er-Jahre. Administration, Produktionsplanung und -Steuerung machten den Anfang. Die Textilindustrie weist durch die im frühen 19. Jahrhundert eingesetzten Jacquard-Webmaschinensteuerungen auf weitere mögliche Ausprägungen der Digitalisierung hin. Die mechanische Abtastung grosser Jacquard-Lochkarten steuerte nämlich direkt den Webvorgang, also die Produktion der Webmuster. Die Digitalisierung ist und bleibt ein weitläufiges Thema!

Lange Zeit blieb das Telegramm als Festtagsüberraschung der gehobenen Gesellschaft populär. Die Hochzeitsgesellschaft Thomann in Rapperswil wurde am 19. September 1907 mit zahlreichen Telegrammen von nah und fern beglückt. Slg. A. Heer.

Literatur

Die nachfolgend aufgeführte Literatur ist als Einstieg und Anregung für eine vertiefte Auseinandersetzung geeignet. Die enge Verknüpfung der neuen Kommunikationstechnik Telegrafie mit dem Verkehrsmittel Eisenbahn ist im 19. Jahrhundert beachtlich. Standardliteratur zu den Themen Post- und Telegrafennetz mit dem Schwerpunkt Ostschweiz scheint nicht zu existieren.

Einzelne Publikationen bzw. amtliche Publikationsreihen dienten als Quellenmaterial für das Thema Telegrafie.

Giacometti, Enrico: Die Einführung des Telegraphen in der Schweiz. Mit besonderer Berücksichtigung von Graubünden, Chur 2006.

Heer, Anton: Das Informatikzeitalter – eine ges(ch)ichtslose Episode? in: Toggenburger Jahrbuch 2002, S. 139–155.

Hilfiker, Hans: Fernmeldeanlagen, in: Ein Jahrhundert Schweizer Bahnen 1847–1947, Bd. 2, hrsg. vom Eidgenössischen Amt für Verkehr, Frauenfeld 1949.

Huber, Emil: 100 Jahre Telegraph im Toggenburg, in: Toggenburger Heimat-Jahrbuch 1952, S. 107–113.

Kanton St. Gallen (Hg.): Amtsbericht des Regierungsrathes des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1852 ff.

Kanton St. Gallen (Hg.): Civil-, Militär- und Kirchen-Etat des schweizerischen Standes St. Gallen, St. Gallen 1852 ff.

Keller, Walter und Hans Rudolf Schmid: Matthias Hipp 1813–1893, in: Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Bd. 12, Zürich 1961, S. 9–39.

Lüönd, Karl: Versuch – Erfolg – Irrtum, Telekomindustrie von Hasler zu Ascom (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Bd. 116), Zürich 2020.

Neue Zürcher-Zeitung: NZZ Archiv 1780, online: https://zeitungsarchiv.nzz.ch [Hinweis: NZZ-Ausgaben ab 1780].

PTT (Hg.): Vom Feuerzeichen zur elektronischen Telegrammvermittlung, Bern 1975.

Schenker, Walter: Aus den Anfängen der Telegraphie in der Schweiz, Zeit des Provisoriums 1851–1854, in: Technische Mitteilungen T.T. 22 (1944/1–4) [Fortsetzungsartikel].

Sumpf, Karl: Grundriss der Physik, 12. Aufl., Hildesheim 1910.

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.