

Im Zug und in Olten
Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974 Nr. 229, November 2024, ISBN 978-3-85830-328-8; ISSN 1016-7803
Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen:
230 Detlev Liliencron
231 St. Gallen
232 Alpentöne
233 Märchen
234 Deutschsprachige rumänische Literatur
Sollten Sie sich für eines dieser Themen oder eine Mitarbeit in der orte Redaktion interessieren, bitten wir Sie, sich per E-Mail an redaktion@orteverlag.ch zu wenden. Vielen Dank für Ihr Interesse.
Leitung Redaktion: Annekatrin Ranft-Rehfeldt
Redaktion orte
Bärenmoosweg 2, CH-5610 Wohlen
Tel. +41 44 742 31 58, redaktion@orteverlag.ch
Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Leitung)
Gabriel Anwander, Viviane Egli, Regina Füchslin, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli
Verlag: orte-Verlag
Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn
Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch
Einzelnummer: Fr./Euro 18.–
Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr./Euro 90.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Abonnemente im Ausland: Fr./Euro 12.– Zuschlag
Inseratepreise: 1 / 1 Seite (121 × 180 mm) Fr. 400.–1 / 2 Seite (121 × 88 mm) Fr. 200.–1 / 4 Seite (121 × 42 mm) Fr. 120.–
Inserateverkauf: Annina Dörig, inserate@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 40
Umschlag: Gestaltung: Mike Müller, Verlagshaus Schwellbrunn Bild: Raphael Zubler
Das Copyright der Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechtsinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.
orteinhalt
«Es sind noch ganz andere Strecken denkbar» ............ Regina Füchslin
Orhan Ajvazovic und sein Akkordeon.......................... Viviane Egli
orte-bestenliste ........................................................
Strebel
orte-festival: Internationales Lyrikfestival Basel Annekatrin Ranft-Rehfeldt
orte-bücherregal: Esther Künzi, Denise Buser, Franziska Greising Regina Füchslin, Gabriel ................................................................................. Anwander, Monique Obertin 68 orte-werkstattgespräch: Leta Semadeni ...................... Gabriel Anwander 71 orte-rückblick Gabriel Anwander
74 orte-agenda Annekatrin Ranft-Rehfeldt
78 orte-longseller
80 orte-marktplatz
80 orte-marktplatz-briefkasten


ZUM 50-JAHRJUBILÄUM VON ORTE
LITERATUR UNMITTELBAR UND LEBENDIG
Der zweite orte-Podcast wird Ende dieses Jahres veröffentlicht:
Eine literarisch-musikalische Collage mit O-Tönen aus den Jubiläumsveranstaltungen «Joachim B. Schmidt und sein Island», «Buchhandlungen» sowie «Im Zug und in Olten».
Diese literarischen und musikalischen Auszüge werden im Tonstudio kontextualisiert von Schauspielerin Karin Pfammatter als Sprecherin, in Zusammenarbeit mit Musikproduzent und Komponist Cyril Böhler und der orte-Redaktion.



› Joachim B. Schmidt und Akkordeonist Tom Egger in der Wasserkirche Zürich.
› Für orte in Olten aufspielend: die Roma-Musikgruppe «Ssassa».

Bereits zu hören:
Der erste orte-Podcast zu den Jubiläumsthemen «nichts & nirgends» und «Appenzeller Beizen» auf unserer Website verlagshaus-schwellbrunn.ch/ erleben/50-jahre-orte sowie auf Spotify.
Mit Richi Küttel (Bild) sind auch Spoken Words im ersten orte-Podcast zu hören.
Foto: Raphael Zubler
Fotos: Raphael Zubler
Liebe Leserinnen und liebe Leser
Mit der vorliegenden Ausgabe «Im Zug und in Olten» fährt der orte-Jubiläumszug fulminant in der Schweizer Literaturstadt Olten ein. Olten und sein Bahnhof sind Brennpunkte der Schweizer Literatur. Gelangen Sie lesenderweise zum literarischen Knotenpunkt, bei dem alle Fäden zusammenlaufen: zum Verleger Thomas Knapp. Dank dessen grosser Unterstützung hält der vielbeschworene literarische Geist von Olten Einzug in dieses orte-Heft. Alexandra von Arx, Franz Hohler und Rebekka Salm haben Texte für diese orte-Nummer verfasst, Peter Bichsel sowie der Wahl-Oltner Pedro Lenz haben bereits geschriebene Texte zur Verfügung gestellt. Franco Supino aus Solothurn nimmt uns mit auf seine Reise nach Italien. Die beiden thematischen Stränge Olten und Zugfahren werden in den Texten auf originelle Weise miteinander verbunden. Die Roma-Musikgruppe «Ssassa» begleitet durch diese Ausgabe sowie am 30. November 2024 –nach ihrem Aufspielen am Bahnhof Olten –durch die Altstadt in die «Magazin Bar» des Hotels Astoria, den Ort unserer Lesung. Wir danken Olten und auch der SBB f ür die Gastfreundschaft, insbesondere dem Stadtpräsidenten Thomas Marbet für seine Begrüssung um 15 Uhr in der «Magazin Bar».
Von Ort zu Ort mit «Orte für orte» sind wir mit fünf Heften, flankiert von sieben Veranstaltungen, durch das Jubiläumsjahr gereist. Wir starteten literarisch-musikalisch im «Salon Theater Herzbaracke» auf dem Zürichsee und im Museum für Kommunikation in Bern mit «nichts & nirgends». Im Festsaal der «Linde»
im appenzellischen Heiden, nahe der Wirtschaft Rütegg in Oberegg, wo orte-Gründer Werner Bucher gelebt hatte, feierten wir das Thema «Appenzeller Beizen». Der aus Island angereiste Bündner Autor Joachim B. Schmidt begeisterte in der «Wasserkirche Zürich» das Publikum mit seinen Texten und einer isländischen Ballade aus der dritten Jubiläumsausgabe. Neun Autorinnen und Autoren lasen in der Berner Buchhandlung Stauffacher, musikalisch umrahmt vom Akkordeonisten Tom Egger, zum Thema «Buchhandlungen».
Diese Veranstaltungen wurden begleitet vom Fotografen und Filmschaffenden Raphael Zubler, der nicht nur für Fotos, sondern auch für die O-Töne im orte-Podcast sorgte. Dass wir die Jubiläumsaktivitäten planen und umsetzen konnten, dafür danken wir den elf Förderstellen. Unzählige orte-Zugewandte, Helfende und alle ehemaligen sowie amtierenden orteRedaktionsmitglieder haben mit ihrem unermüdlichen Wirken, gemeinsam mit dem orteVerlag, ermöglicht, dass bisher 229 orteNummern erscheinen konnten.
Notieren Sie sich den 30. November 2024 (siehe S. 48). Die Musik von «Ssassa» unterstreicht den Spirit unserer orte-Literaturzeitschrift – einen Spirit, der im Jahr 2025 neue orte-Wegmarken setzen wird.
Beste Grüsse
Annekatrin Ranft-Rehfeldt und das orte-Redaktionsteam
PS: orte dankt den elf Förderstellen für die Unterstützung der Jubiläumsaktivitäten durch das ganze Jahr. Dank ihnen werden die sieben thematischen Veranstaltungen und der literarische orte-Podcast 2024 ermöglicht. Siehe auch Seiten 48 und 49.

Die Roma-Musikgruppe «Ssassa» spielt am Bahnhof Olten auf
Wo sich Schienen kreuzen und Menschen treffen
Thomas Knapp und sein literarisches Olten
Cyrill Stieger
Olten, eine langweilige Kleinstadt im Schweizer Mittelland mit einem überdimensionierten Bahnhof? Weit gefehlt. Hier wird Literatur gepflegt und gelebt, in der Vergangenheit und heute, beflügelt von der zentralen Lage.
Wer in der Schweiz mit dem Zug von einem Ort zu einem anderen fährt, kommt schnell einmal in Olten vorbei. Die Passagiere kennen den Ort, zumindest den imposanten Bahnhof mit dem weitgeschwungenen Dach. Es ist der Eisenbahnknotenpunkt der Schweiz. Hier kreuzen sich die Schienen von Nord nach Süd und von Ost nach West. Als sich die Bahnpioniere Mitte des 19. Jahrhunderts daran machten, das Eisenbahnnetz zu vermessen, wählten sie Olten als Ausgangspunkt, als Kilometer Null. Daran erinnert noch heute der sogenannte «Null-Kilometer-Stein», der sich auf dem Perron 12 befindet.
Doch Olten ist nicht nur ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, Olten nennt sich auch Literaturstadt, und das zu Recht. Thomas Knapp, seit seiner Kindheit mit Büchern verbunden, kennt das kulturelle Leben in Olten wie kaum jemand sonst. Er ist ein waschechter Oltner, hier gebo -
ren und aufgewachsen, hier lebt er noch immer. Knapp ist so etwas wie der literarische Knotenpunkt, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. Er leitet den gleichnamigen literarischen Verlag, den grössten im Kanton Solothurn. Wir treffen ihn in den Räumen von «Literatur und Bühne» unterhalb der Altstadt, dem Oltner Literaturhaus, das von Knapps Verlag und vom Verein «Freunde des gepflegten Buches» getragen wird. Er hat viel zu erzählen über seine Literaturstadt. Angefangen habe alles mit der Gründung des Buchzentrums 1882. Später kam der Walter-Verlag hinzu, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu den renommiertesten deutschsprachigen literarischen Verlagen gehörte. Er hatte seinen Sitz in der Nähe des Buchzentrums. Auch die bekannte und zu ihrer Zeit einflussreiche «Gruppe Olten», die 1971 gegründete Vereinigung Schweizer Autorinnen und Autoren, nannte sich nach dem Na-
men der Stadt. Im legendären Bahnhofbuffet hatten nämlich vor der eigentlichen Gründung in Biel die vorbereitenden Treffen stattgefunden. Die Gruppe löste sich 2002 wieder auf.
Er sei schon früh mit Büchern in Berührung gekommen, erzählt Thomas Knapp. Sein Vater habe fast fünfzig Jahre lang im Buchzentrum gearbeitet. Er sei ein «Buchzentrumskind», meint er lachend, denn seine Eltern hätten sich dort kennengelernt. So ist es nicht verwunderlich, dass er eine Buchhändlerlehre absolvierte. Bücher begleiteten ihn sein ganzes Leben, auch als er journalistisch tätig war. Zahlreiche namhafte Autorinnen und Autoren sind in Olten geboren, haben hier eine Zeitlang gelebt oder sind in anderer Weise mit der Stadt verbunden. Olten scheint ein fruchtbarer Boden für literarisches Schaffen zu sein. Davon zeugt der 2016 eingeweihte Schriftstellerweg. Thomas Knapp war am Projekt beteiligt. Er hatte die Schriftsteller Franz Hohler, Pedro Lenz und Alex Capus angefragt, ob sie mitmachen wollten. Und sie waren bereit dazu. Über die Stadt verteilt kann man an 70 Stationen QR-Codes scannen und zwei- bis vierminütige literarische Texte hören, gelesen von mehr als zwanzig Autorinnen und Autoren, auch jene von Hohler, Lenz sowie von Capus, der heute in Olten eine Bar betreibt. Sie ist als einzige 365 Tage im Jahr geöffnet –auch das ein literarischer Ort, denn Capus steht am Montag oft selbst hinter dem Tresen. Bei der Einweihung des Schriftstellerwegs, so erzählt Thomas
Knapp, hätten Hohler, Lenz und Capus mit Mikrofonen vor dem Mund ihre Texte laut gelesen, an jeder der jeweils acht ihnen gewidmeten Stationen. Jedem von ihnen seien 100 bis 200 Leute hinterhergezogen.
«Die Eisenbahn ist für die Entwicklung von Olten zentral», meint Knapp. Die Stadt hat heute 19 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die geografische Lage sei ideal, von überall her gut erreichbar: «Man ist schnell hier, und man ist schnell wieder weg.» Hier traf man sich. Zum Knotenpunkt für diese Treffen und Begegnungen wurde das bereits erwähnte Bahnhofbuffet. Es wurde 1856 eröffnet und befindet sich zwischen den Gleisen 4 und 7. Während Jahrzehnten war es der bevorzugte Ort für Versammlungen und Sitzungen von Verbänden, Organisationen und Parteien aus der ganzen Schweiz, aber auch von Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Man nannte das Restaurant das «Bahnhofbuffet der Schweiz», und das aus gutem Grund. Hier wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter anderem der Schweizer Alpen-Club, die Freisinnig-Demokratische Partei, der Gewerkschaftsbund und der Schweizerische Fussballverband gegründet. Hier soll zudem der Wurstsalat erfunden worden sein. Weil sich im Bahnhofbuffet so viele Leute von überall her mit unterschiedlichen Dialekten trafen, ist scherzhaft vom «Bahnhofbuffet Olten-Dialekt» die Rede. Gemeint ist ein Gemisch von Idiomen, die keine Rückschlüsse mehr auf die Herkunft der Sprechenden zulässt. Heute
Foto: Raphael Zubler
hat das Bahnhofbuffet als Ort der Begegnung an Bedeutung verloren. Seine Zukunft ist ungewiss.
Das Fazit von Thomas Knapp: In Olten gibt es keine spektakulären Veranstaltungen wie etwa die Solothuner Literaturtage, dafür aber ein Buchfestival. Es strömt nicht die ganze Welt hierher, aber es strömt regelmässig, wie die Aare durch Olten fliesst. Es kommen immer Men-
schen in das Städtchen, die sich für Literatur interessieren oder Geschichten im öffentlichen Raum hören wollen: «Das alles ist unspektakulär, wie auch Olten selbst unspektakulär ist.» Interessierte hätten hier die Möglichkeiten, Literatur zu erleben, ohne dass viel Aufhebens darüber gemacht werde, betont Thomas Knapp. In ihm lebt der viel beschworene literarische Geist von Olten weiter.

Bahnhof
Peter Bichsel
Die stereotype Durchsage des Kondukteurs im Zug fr üher hiess: «In Olten umsteigen.» Auf diesen Satz waren wir stolz. Olten, der Kilometer null. Hier endeten die Züge und von hier fuhren sie weg in die ganze Schweiz. Olten, der Eisenbahnknotenpunkt, die Mitte der Welt. Und wir, wir Buben, waren Eisenbahn. Unsere Väter waren Eisenbahner. Und wir gingen zum Bahnhof und bestaunten die Bahnen unserer Väter. Am 19. September 1946, ein Jahr nach dem Krieg, standen nicht nur wir auf dem Perron, sondern auch viele Erwachsene. Wir wollten Churchill sehen im Roten Pfeil auf der Reise nach Zürich, wo er seine ber ühmte Europarede hielt. Schon nur der Rote Pfeil war damals eine Sensation. Und in Olten hielten alle Züge. Aber der Rote Pfeil hielt nicht. Er fuhr sehr schnell durch den Bahnhof, aber alle behaupteten hinterher, dass sie Churchill erblickt hätten, die einen sahen ihn in Gedanken versunken dasitzen, die anderen stehend und Zigarren rauchend, und einer sah ihn vorn beim Lokomotivf ührer wild gestikulierend. Niemand sah ihn, aber alle dachten daran, dass sie später als alte Männer davon erzählen könnten – so wie ich das jetzt hier tue. Und immer noch liebe ich Bahnhöfe, ich bin gern allein, und ich bin gern unter Leuten. Hier im Bahnhof kann ich beides gleichzeitig sein, und ich gehöre dazu. Und eigentlich nur deshalb erneuere ich Jahr f ür Jahr mein GA – um dazuzugehören, zu der Eisenbahn unserer Väter. Das macht mich zum Oltner.
Aus: Das Schaukelpferd in Bichsels Garten. Geschichten vom Schweizer Schriftstellerweg. Knapp Verlag, Olten 2021.
Das Ächzen der Güterzüge
Franz Hohler
Ich bin in Olten aufgewachsen, etwa 100 Meter von der Eisenbahnlinie, auf welcher die Züge von und nach Luzern und Bern durchfuhren. Ganz in der Nähe meines Elternhauses stand das Einfahrtssignal, das den Weg zum Bahnhof Olten freigab. Oft, wenn ich nachts im Bett lag und am Einschlafen war, wurde ein Güterzug durch das rote Licht zum Anhalten gezwungen. Das Anhalten eines Güterzuges ist ein Ereignis. Die Bremsbacken, die auf die Räder drücken, erzeugen Kreischgeräusche, Proteste eigentlich gegen das Abwürgen der Fahrt, wo der Zug doch gerade so schön am Rollen war, jeder Wagen drückt während des Bremsens auf den vorderen, man hört die Puffer knirschen, die Kohlen oder der Kies auf den offenen Wagen geraten ins Ruckeln, wahrscheinlich verschiebt sich auch die Ladung im Innern der Waggons ein bisschen, man glaubt die Kisten aufeinander stossen und das Benzin in den Zisternenwagen blubbern zu hören. Und bis zum endgültigen Stillstand entfahren dem Zug noch die seltsamsten Seufzer, ja er scheint, auch wenn er sich nicht mehr rührt, zu atmen.
Aber das Ächzen, wenn er sich wieder in Bewegung setzt, das Aufbegehren gegen das Weiterfahren, das Stöhnen über die Last, die er transportieren muss – ich habe Güterzüge immer als Lebewesen empfunden, als nachtaktive Kriechtiere, welche die Welt von einem Ende zum andern tragen, und habe mich wohlig unter die Decke verkrochen, wenn ich von draussen ihr Gerumpel vernahm und das quietschende Gejammer über ihr Schicksal, dem Menschen untertan zu sein.

Christian Fotsch
Im Zug nach Olten
Christian Fotsch und seine Oud
Viviane Egli
Landschaft zieht vorbei. Christian Fotsch, Musiker, Komponist sowie Gründer und Leiter der Roma-Musikgruppe «Ssassa», und seine Oud sind unterwegs nach Olten, zum Fototermin für orte. Seit mehr als 30 Jahren gehören die Oud und er zusammen. Es war damals in der Türkei, «... ich war ziemlich fit auf meiner Flamenco-Gitarre ...», in einem Schaufenster in Urfa ist eine verlockend schöne, aber völlig unspielbare Oud ausgestellt, eine Art Vorläuferin der Gitarre. Ein Gespräch auf «Basistürkisch», ein kleiner Bub führt Christian auf den Markt, dann in einem Bus bis zum Stadtrand, dort ist ein Musiker mit einer Oud, man wird sich schnell handelseinig ...
Die Gedanken kehren zurück in den Zug nach Olten. Christian ist mit der Bahn unterwegs, wenn immer es ihm die Situation erlaubt – wenn es nicht per Kleinbus zu einem Konzert oder einer Projektwoche in einem Schulhaus mit seinen Musikern und Musikerinnen, allen Instrumenten und Utensilien geht. Wenn es stattdessen eine Fahrt ist zu zweit, mit der Gitarre oder der Oud, wenn er unterwegs mit Kopfhörer Gesangsstimmen editiert, Tourneedaten in der Agenda überblickt oder die Buchhaltung führt. Ein Bahnhof zieht vorbei, dann wieder Wiesen. Erinnerungen führen in sein Leben damals als Strassenmusikant, das Glücksgefühl geteilt mit den Passantinnen und Passanten – wie heute in Olten am Bahnhof, vorbeieilende Passagiere überraschen. Stets herausfinden, was im Moment das Richtige ist. Ein konzentriertes, durchgetaktetes Musikerleben mit fast täglichen Auftritten, mit intensiver Integrationsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, mit Konzerten am Abend, mit Komponieren, mit Organisieren, mit ganz vielen Inseln der Spontanität, des Humors und mit einem immensen Engagement.
Nächster Halt: Olten.
Blick uf d Wäut
Pedro Lenz
Vom Flügurad us gsehni d Wäut, vom Flügurad us gsehni d Schine, vom Flügurad us gsehni d Isebahne, wo vo überau härchöme, wo überau härefahre, wo Cholen umefüehre oder Chemie-Tänk oder Wandergruppe oder Laschtwäge, huckepack.
Si chöme Nacht für Nacht, immer, immer, immer, immer chutte di Laschtchäre vor em Flügurad düre, ufbocket uf Bahnwäge, i aune Farbe beschriftet.
Chasch cho luege, us em Flügurad cha me luege, wi d Laschtwäge vor em Flügurad dürechrüüche, dürefahren und d Chauffeure stöh am Bahnwagefänschter und rouche chli und chöme vilecht vo Polen oder Finnland oder Portugal oder Rumänie, hei Chappen annen oder Hüet und chöi nid säuber fahre, wöu si ihri Laschtwäge uf ne Zug hei müesse lade.
Sie chöi nüt mache, stöh am Bahnwagefänschter, ig am Flüguradfänschter, mir gseh nang, sie im Ungerliibli, ig im Hemmli, mir chöi nang i d Ouge luege, chönnte nang zuewinke, chönnte nang es Zeiche mache, aber maches när nid, luege nang numen aa, ig im Flügurad – sie im Zug, ungerwägs uf Chiasso, Gänf oder Basu, wo si de wieder säuber chöi fahre, wuchelang uf Outobahne, und Chleider vo China umfüehre oder Chüeu-Container mit Müuchprodukt us Öschterriich oder Konsärve, wo weni choschte und scho chli roschte.
Am Flügurad chunnt d Wäut verbii und ungerdessen trinkeni chli, cha chli grüblen und chli trinke und cha chli nochedänke, chli a die Chauffeure dänke, wo i ds Flügurad chöi ineluege, wenn si rouchen am Wagefänschter oder eifach chätschgümmele.
I chönnt dene Chauffeure winke, vom Flügurad us chönnti se grüesse oder sie mi vom Bahnwagen us, aber mir maches nid, luege nang numen aa, e churze Momänt lang chrüze sech üsi Gschichte, chrüze sech üsi Blicke, chrüze sech üsi Gedanke, aber mir chöi nang nüt verzöue, di Chauffeuren und ig scho rein zitlech nid oder vor Dischtanz här.
Mir chöi nume vermuete, dass mer nis gliich verstöh, sie uf Schinen i Bewegig und ig deheim im Flügurad.
Aus: Alex Capus, Franz Hohler, Pedro Lenz: Die Prinzessin, der General und die Sängerin. 3. Auflage. Knapp Verlag, Olten 2024.