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orteinhalt
Lesungen September – Oktober 2024
Vorverkauf zpk.org/lesungen
Anlass zum80. Geburtstag
Sonntag, 1. Sept. 2024, 11:00 L ukas Hartmann liest aus Martha und die Ihren
Sonnta g, 29. Sept. 2024, 11:00
Frank Witzel liest aus Die fernen Orte des Versagens
Sonnt ag, 27. Okt. 2024, 11:00
Ursula Fricker liest aus Fangspiele
Liebe Leserinnen und Leser
Unsere orte-Sommerausgabe ist jene im Jubiläumsjahr, die Literatur aus einer anderen Kultur vermittelt. Der renommierte Schriftsteller Joachim B. Schmidt ist zwar ein Schweizer, wohnt aber seit vielen Jahren in Island. Der persönliche Briefwechsel zwischen Schmidt und dem Schweizer Journalisten Peer Teuwsen bildet den Auftakt zu dieser reichen und gegenwartsbezogenen Island-Ausgabe. Das Fotoportfolio Island und eine alte isländische Ballade wurden von Joachim B. Schmidt ausgewählt und bearbeitet. Cyrill Stieger und Viviane Egli von der orte-Redaktion starteten bereits im April 2023 persönliche Treffen und eine intensive Zusammenarbeit mit dem Autor. Cyrill Stieger, Monique Obertin und Susanne Mathies haben gemeinsam die in diesem Heft abgedruckten Texte ausgewählt und kontextualisiert.
Die Übersetzung der alten isländischen Ballade ins Churer Rheintalische, ein Schmuckstück dieser Nummer, wird an der orte-Jubiläumsveranstaltung in der Wasserkirche Zürich am 3. September 2024 sowie in der zweiten Folge des Jubiläumspodcasts zu hören sein und somit einen schönen Baustein in unserem Jubiläumsjahr bilden, der dank der Unterstützung der elf Förderstellen (siehe orte-Seite 51) möglich wurde.
Im hör-orte schreibt Serena Schranz von der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Sehund Lesebehinderte (SBS) über Joachim B. Schmidts Roman Tell – einer Neuinterpretation der alten Schweizer Nationalheldensaga. Unsere orte-agenda bindet für Sie einen bunten Strauss an Veranstaltungen von Lesewanderung bis Ausstellung. – Wo werden Sie diesen Sommer Literatur geniessen? Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften! Das fund-orte feiert den 80. Geburtstag des Schriftstellers Jürgen Theobaldy, und die orte-bestenliste versammelt die Lesetipps von Bergführer und Skilehrer Martin Nellen.
Wir freuen uns, Ihnen dank der Verlage, der elf Förderstellen und allen Beteiligten an dieser 227. Ausgabe einen vielseitigen Einblick in das literarisch-poetische Schaffen des Autors Joachim B. Schmidt geben zu dürfen. Ihnen allen wünsche ich eine vergnügliche Sommerreise nach Island, quer durch die Seiten dieses Heftes, und schöne Reise- und Leseerlebnisse hin zu Ihren ganz persönlichen Lieblingsorten.
Beste Grüsse
Ranft-Rehfeldt
PS: orte dankt den elf Förderstellen für die Unterstützung der Jubiläumsaktivitäten durch das ganze Jahr. Dank ihnen werden die sechs thematischen Veranstaltungen und der literarische orte-Podcast 2024 ermöglicht. Siehe auch Seiten 32, 50 und 51.
Annekatrin
«Dieses Aprikosengold des Himmels, das gibt es nur hier».
Joachim B. Schmidt
Grüsse aus Island
Joachim B. Schmidt
Liebe Daheimgebliebenen
Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, werde aber immer wieder zu der Anzahl Jahre gefragt, schlechthin gezwungen, sie zu zählen. Auch jetzt zerbreche ich mir den Kopf, bräuchte vier Hände, um die Jahre an den Fingern abzuzählen: Auswandern 2007, im Frühling, 17 Jahre ist das also her. Fussfassen in einer Gärtnerei in Laugarás, geplagt von Zweifeln, ich, ein
26-jähriger Ausländer mit Mindestlohn für eine Arbeit, die keiner Ausbildung bedarf, ganz zuunterst in der Hierarchie also, zudem einsam und darum heilfroh, dass mich meine Freunde besuchen kommen, Adrian und Sandro. Wir wollen mit meinem chronisch defekten Peugeot in die Westfjorde fahren, doch der Franzose gibt kurz vor Abreise den Geist auf, der Auto -
Foto: Joachim B. Schmidt
mechaniker im Dorf muss ein Ersatzteil aus dem fernen Frankreich bestellen, und das kann dauern. Zum Glück gelingt es mir, ein Ersatzauto aufzutreiben, und wir drücken aufs Gas, entdecken die Westfjorde, baden in heissen Quellen, planschen im eiskalten Meer, übernachten auf Zeltplätzen, quatschen trunken durch ganze Mitsommernächte, und wenn wir uns mittags aus den Schlafsäcken schälen, sind wir allein, die Touristen weg. Und meine Freunde sind es nach zwei Wochen auch und ich wieder mausallein in der Gärtnerei, pflücke Cherrytomaten und wässere Salate, entschliesse mich Ende Sommer, mit meinem unzuverlässigen Peugeot in die Westfjorde zu ziehen, nach Ísafjörður, denn ich habe begonnen, einen Roman zu schreiben, in dem der Protagonist von einem Berg fällt, platsch, über einen Felsen ins Meer, und zwar in den Westfjorden, da will ich also hin, wo die Bergflanken steil und brüchig sind, eine für Wanderer gefährliche Gegend. Ich will das Buch vor Ort fertigschreiben, wo sich die Geschichte abspielt, habe mir einen Berg ausgesucht, von dem ich meinen Protagonisten fallen lassen will, Bolafjall, so heisst der Berg. Er thront hinter dem Fischerdorf Bolungarvík. Wie mein Protagonist bleibe ich in den Westfjorden hängen, bekomme eine Anstellung in einem Café, das auch einfache Gerichte kocht, ich serviere und koche, und wenn am Wochenende die Stühle zur Seite geschoben werden, um Platz für Tanzende zu schaffen, und Halfdán den DJ macht, zapfe ich Bier in die Gläser und mixe Drinks, mache einen ganz akzeptab -
len Mojito. In meiner Freizeit schreibe ich, und ich spiele Volleyball im Plauschteam, besuche eine Sprachschule, habe eine hübsche Freundin aus Bolungarvík, und trenne mich von ihr, wie das halt so ist. Endlich fühle ich mich integriert. Ich ziehe in die Hauptstadt und finde da meine Frau, die Mutter meiner Kinder, meinen Hafen, und ich mache fest. Hier, in der Hauptstadt Islands, bin ich noch immer, hier schreibe ich meine Bücher – und diese Zeilen.
Eigentlich war ich schon früher in Island, nämlich von 2003 bis 2004; über ein Jahr lang, das ich auf einem Bauernhof verbrachte, insgesamt sind es also, wenn man es genau nehmen möchte, 18 Island-Jahre. Ich hatte nämlich schon da mit dem Gedanken gespielt auszuwandern, doch zuerst wollte ich einen isländischen Winter erleben, in Dunkelheit gehüllt, schlotternd vor Kälte, das volle Programm! Ich liebte diesen ersten Islandwinter, er bleibt unvergesslich, prägend, geprägt von einem tiefschneidenden Gefühl der Melancholie und Einsamkeit. Ich erlebte meine ersten Weihnachten, die ich nicht in der Familie verbrachte, geplagt von Heimweh, doch die Kühe mit ihren wunderschönen, neugierigen Augen und ihren grossen Ohren trösteten mich. Kühe hören zu, schenken dir Aufmerksamkeit, wenn du ihnen dein Herz ausschüttest. Sie machen dir auch keine Vorwürfe. Abends las ich Bücher oder schaute amerikanische Talkshows, die im isländischen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Und ich fing an zu schreiben, verspürte den plötzlichen Drang, meine Erlebnisse irgendwie
in Worte zu fassen, verpackt in Geschichten, die sich in mir angestaut hatten. Ich versuchte, ein Buch zu schreiben, und als ich plötzlich den letzten Satz aufs Papier gekritzelt hatte, hastig, weinend, war ich überrascht, dass mir das überhaupt gelungen war. Veröffentlicht wurde das Manuskript nie, aber ich hatte zumindest eine Leidenschaft entdeckt, und schon schrieb ich an der nächsten Geschichte. Und danach an der nächsten. Zurück in der Schweiz – ich hatte Island, die Quelle meiner Inspiration, mit gemischten Gefühlen verlassen – sattelte ich vom Hochbauzeichner zum Journalisten um, absolvierte meinen Zivildienst, aber fortan würde Geschichtenschreiben eine Konstante in meinem Leben sein, ein roter Faden, der sich durch die folgenden 20 Jahre ziehen würde.
Schon als ich zum allerersten Mal nach Island gekommen war, 1996, 15-jährig, vor 28 Jahren also, zusammen mit meiner Gotte Julika, wurde ich von einem Gefühl überwältigt, das ich nicht gekannt hatte. Die Fahrt vom Flughafen zum Gästehaus erlebte ich wie in Trance, als wäre ich im Halbschlaf. Ich war müde von der Reise, wach von den neuen Eindrücken. Das Halblicht dieser isländischen Sommernacht schien mir unwirklich. Ich erinnere mich an den Faule-Eier-Geruch des Wassers, die dünnen Wände und dünnen Vorhänge des Gästehauses, die überraschend trockene Luft der Vulkaninsel im Nordatlantik. Frühmorgens schlich ich mich aus dem Gästehaus, ging einem Feldweg entlang, überquerte die Ringstrasse, blieb dabei mitten auf dem Asphalt stehen, kein
Auto weit und breit, niemand ausser den Zugvögeln schien unterwegs zu sein, die Insel war wie ausgestorben. Und das überwältigte mich.
Man sagt, dass die Seele länger braucht, um anzukommen, besonders dann, wenn man mit dem Flugzeug unterwegs ist. Möglicherweise hat mich die Seele an genau der Stelle, mitten auf der leeren Ringstrasse eingeholt, und zwar mit Wucht. Wusch! Ein Schub durchfuhr mich, ein Glücksgefühl erfasste mich, ich hüpfte, ich tanzte, ich jubelte. Ich lief hinunter ans Meer, Tränen in den Augen, ein Lachen im Gesicht, und ich schwor mir, die Insel erneut zu besuchen; ein Versprechen, das ich hielt: 2002, 2003, 2004, 2005 – immer wieder war ich auf der Vulkaninsel anzutreffen, bis ich zum Schluss kam, dass es wohl am einfachsten wäre auszuwandern. Naiv, wie ich war, habe ich mich verzaubern lassen. Islands Natur hat mich in den Bann gezogen, sein Zauber hat mir die Sinne geraubt. Dass Auswandern auch bedeutet, eine Heimat zu verlassen, Wurzeln aus dem Boden zu reissen, sich umzutopfen, von ganz unten anzufangen, um eine Leiter hochzuklettern, deren Sprossen nicht den gewohnten Abstand haben, das alles war mir nicht bewusst. Die isländische Sprache entpuppte sich als grösstes Hindernis. Sie ist ein mittelalterliches Relikt, alt und kompliziert, konservativ, sie mag keine Zuwanderer. Das kleine isländische Volk hängt seine ganze Identität an diese eine Sprache, schon seit Jahrhunderten, denn sie war einst die wichtigste Waffe im Kampf um Unabhängigkeit vom Königreich Dänemark. Die zwei Völ-
ker verstanden sich nicht, wortwörtlich. Zwar spreche ich die Sprache inzwischen fliessend, aber selbst nach 18 Jahren noch immer nicht fehlerfrei. Ich bin weit davon entfernt, ein Buch auf Isländisch schreiben zu können.
Als ich anfing, Islandromane zu veröffentlichen, stellte sich heraus, dass meine Bücher auf der Insel nicht als isländische Literatur anerkannt, ja gezielt ignoriert wurden. Denn was nicht in isländischer Sprache geschrieben ist, wird als Gefahr für den Erhalt ebendieser Sprache angesehen. Geht es um Isländisch, sind die sonst eher liberalen Inselbewohner plötzlich sehr konservativ und protektionistisch, sogar unwirsch. Sprachreformen sind ein Tabu. Dagegen ist die eigentlich konservative Schweiz durch ihre Vielsprachigkeit geradezu offen und multikulturell. Es dauerte einige Jahre, bis ich als Schriftsteller überhaupt wahrgenommen wurde. Dazu brauchte es viel Überzeugungsarbeit und Geduld, doch als mein vierter Roman Kalmann endlich übersetzt wurde, freute man sich über die Geschichten des Autors «af erlendu bergi brotinn», wie man auf der Vulkaninsel den Zugewanderten sagt: «von einem fremdländischen Felsen abgebrochen». Denn die Heimat ist ein Fels, aber er kann, wenn auch nur mit viel Sprengkraft, abgetragen und in ein anderes Land geschleppt werden. Ein grosser Teil meines Felsens ist noch heute in Graubünden. Doch es ist mir gelungen, mit den Bruchsteinen, die ich über die Jahre nach Island geschleppt habe, ein Steinmännchen zu bauen, es steht aufrecht und stabil, sogar in den Winterstür-
men, und manchmal setze ich mich in seinen Windschatten, denn ich möchte ja bleiben, sei es aus Trotz, aus Verliebtheit, Faszination, Inspiration, denn das Land hält mich noch immer in seinem Bann, ich bin verzaubert, schon seit Jahren, und diese werden zahlreicher, häufen sich, noch ein Winter, und noch einer – bis es schliesslich so viele sein werden, dass man mich nicht mehr nach der Anzahl Jahre fragen wird.
Herzlich, Joachim
Grüsse aus der Schweiz
Peer Teuwsen
Lieber Joachim
Wie weit weg du bist. Und doch so nah. Als Mensch wie als Schriftsteller.
Ich mochte dich sofort, als wir uns vor ein paar Jahren kennenlernten, in diesem Restaurant in Reykjavik, wo du als Erstes Gammelhai servieren liessest und dir angesichts meines angewiderten Gesichts ein Grinsen nicht verkneifen konntest, weisst du noch? Mein Gott, war ich froh, als es danach Schnaps gab, der diesen Geschmack in meiner Nase wegbrannte. Ich meine, man muss nicht alles probieren, wenn man in ein anderes Land kommt. Du bist da anders. Vielleicht auch mutiger. Sicher bist du das. Du wolltest ja dieses Island für dich einnehmen unbedingt, hast dort jeden Job gemacht, nur damit du bleiben konntest – ohne zu wissen, was werden wird. Es wurde was. Seit über 18 Jahren wohnst du jetzt in Island. Hast dort Frau, zwei Kinder – und deinen «Seelenfrieden» gefunden, wie du sagst. Und doch pochen weiterhin beide Länder in deinem Herzen, Island wie die Schweiz. Das ist vielleicht das Geheimnis deines schriftstellerischen Erfolges. Du trägst die Erfahrungen beider Länder in deine Bücher, ganz besonders in deinen Tell, deine meisterliche Korrektur dieses Schweizer Nationalepos, das von einem Deutschen zur Hel-
dengeschichte hochgeschrieben, von Hitler anfangs geliebt wurde (bevor er es verbieten liess, des Tyrannenmords wegen) und auf einer dänischen Sage beruht. Aber auch deine so komische wie spannende Islandstudie Kalmann, dessen erstem Band du vergangenes Jahr einen zweiten, wunderbar durchgeknallten folgen liessest, sie nährt sich aus Berg, Insel und Meer.
Die Berge, auf denen du schon als Bub mit deinem Vater gewandert bist, die hast du in dir. Das Meer, das du mit knapp 16 Jahren zum ersten Mal gesehen hast, als dein Gotti dir zum Geburtstag eine Reise mit ihr schenkte, du durftest wählen. Da du gerade in der Schule von der Existenz einer riesigen Insel erfahren hattest mit Gletschern, Feuer spuckenden Bergen und Menschen, die von den Wikingern abstammen, sagtest du nur: «Island.» Es klang für dich wie «Magie». Das verbindende Glied deines schriftstellerischen Tuns, das sind die Sagen, das Mystische auch, das du in beiden Ländern gefunden und für deine Bücher nutzbar gemacht hast. Ich denke, du hast einen besonders glühenden Draht zu den Dingen, die zwischen Himmel und Erde anzutreffen sind. Das Leuchten in deinen Augen, dein Honigmelonengesicht, als wir aus
der Stadt fuhren und sich die Sonne langsam über den Rücken des Esja schlich, den Hausberg Reykjaviks, das werde ich nie mehr vergessen. Und auch nicht den Satz, den du dazu gesprochen hast: «Dieses Aprikosengold des Himmels, das gibt es nur hier, es übermannt mich immer von Neuem.»
Du hast deine Sehnsucht nach Island, diese Sehnsucht, die dich nach deinem ersten Besuch wiederkommen liess, nicht einfach in ein Hinterzimmer deines Herzens verschoben. Nein, du bist wieder auf die Insel geflogen. Und geblieben. Für immer.
Manchmal denke ich, du hast es richtig gemacht, mit deiner Auswanderung nach Island, von den Bündner Bergen ans Meer. So wie deine Geschwister. Deine Schwester lebt in Neuseeland, ein Bruder in Brasilien. «Wir suchen wohl alle das Unbefangene», hast du mir mal gesagt.
«Mein quirliger Lebenslauf, mit so viel verschiedenen Jobs, war in der Schweiz verdächtig. Hier aber scherte man sich nicht darum, ich war ein unbeschriebenes Blatt, man empfing mich als Menschen.» So was nennt man wohl Freiheit. Island ist eine Insel, auf der der Mensch noch der Illusion erliegen kann, er sei fast allein auf der Welt.
Die ziemlich berühmte isländische Sängerin Björk, in deren Nachbarschaft du wohnst, hat mir auch mal etwas zu diesem Thema gesagt: «Ich denke, als Folge der Distanz zum Rest Europas konnte Island der Natur gegenüber sehr offenbleiben. Und in mancher Hinsicht werden wir bis heute von der Natur regiert. Wir verfügen
über die grösste unberührte Landschaft Europas. Und nur die Tatsache, dass wir eine Insel oben im Norden sind, rettete uns. Wir hatten etwa nicht unter dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zu leiden, was unserer Psyche sehr dienlich war. Wir haben seit 700 Jahren keine Armee. Es herrscht Frieden hier oben.»
Wir haben darüber nie gesprochen, aber ich denke, es gibt noch einen anderen Grund für deine Auswanderung. Du hast damit deinen Traum von der Schweiz auf Island verlängert. Du hast wohl gemerkt, dass dieser Traum von Freiheit und Unbefangenheit, den du in dir trägst, sich in der Schweiz auf Dauer nicht leben liesse.
Denn die Schweiz, lieber Joachim, sie hat sich sehr verändert seit deiner Kindheit. Das wirst du auf deinen Stippvisiten in deiner ehemaligen Heimat nicht so mitbekommen. Dieses Land, schon lange eine Insel der Glückseligen, ist eng und fett geworden, ein einziger Siedlungsbrei fast, bevölkert von sehr vielen, vielleicht zu vielen reichen Menschen. Das ist ein Problem, für das es keine einfachen Lösungen gibt. Aber das ist nicht mehr deine Sorge, lieber Joachim. Und dafür hast du viel getan.
Ich wünsche mir noch viele Bücher von dir, lieber Joachim. Und vor allem ein Wiedersehen.
Dein
Peer
«Die Welt war jetzt ganz still»
Joachim B. Schmidt
Petra schnitt zügig durchs glatte Wasser und machte kleine Wellen. Nun begann es richtig zu schneien, die Flocken fielen leise aufs Wasser und lösten sich da sofort auf, wurden selber Wasser und dadurch Teil des Meeres. Hier draußen ist die Natur so vollkommen wie sonst nirgendwo. Der Schneefall wurde ganz dicht, ich war plötzlich in einer völlig anderen Welt, denn alles um mich herum war in Bewegung, ich sah aber keine fünf Meter weit. Es gab nur noch mich und Petra. Ich stellte mir vor, dass die Schneeflocken Planeten waren und ich auf Petra mit Lichtgeschwindigkeit durchs Weltall flog. Auf dem GPS sah ich genau, wo ich mich befand, obwohl bald alles um mich herum genau gleich aussah. Weiß gibt es in ganz vielen Farben. Aber plötzlich nahm der
Schneefall ab. Ich fuhr durch den letzten Schleier wie durch einen Vorhang, stand jäh auf der beleuchteten Bühne, aber ohne Publikum und ohne Lampenfieber. Die Welt war jetzt ganz still und ausgeschlafen, ausgeschneit, wie frisch erschaffen. Großvater hatte dieses Wetter geliebt. Ich konnte es ihm jeweils ansehen, auch wenn er es nicht zugab. Bei solchem Wetter sagte er dann meistens kein Wort, stopfte sich eine Pfeife und starrte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck aufs Wasser, obwohl er noch überhaupt nicht wusste, ob die Haie angebissen hatten oder nicht. Manchmal stellte er den Motor ab, wenn wir bei den Leinen waren, vor allem wenn er eine Schnapsflasche dabei hatte, obwohl er manchmal Mühe hatte, den Motor wieder anspringen zu lassen. Und dann, wenn
Joachim B. Schmidts Roman Kalmann spielt in Raufarhöfn, einem kleinen Dorf im Nordosten von Island. Kalmann Óðinsson, der Protagonist, ist keine Landratte. Auf dem Land wirkt er eher ungebärdig und wird von den Dörflern belächelt, scheinbar ohne sich viel daraus zu machen. In der Einsamkeit des offenen Meeres aber, auf Kutter Petra, ist Kalmann zu Hause. Hier jagt er den Grönlandhai, um daraus den traditionellen Gammelhai herzustellen. Im Dorf ereignen sich derweil seltsame Dinge: Es werden Blutlachen im Schnee gefunden, und Personen verschwinden. Kalmann macht sich seinen eigenen Reim auf die Ereignisse. Ausgerüstet mit einer alten Pistole, mit Sheriffstern und Cowboyhut, fängt er an, Ermittlungen anzustellen.