
Die Männer am Tisch brummeln
Die Männer am Tisch brummeln
Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974
Nr. 226, Februar 2024, ISBN 978-3-85830-326-4; ISSN 1016-7803
Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen:
227 Joachim B. Schmidt & isländische Literatur
228 Buchhandlungen
229 Von Ort zu Ort – unterwegs im Zug
Leitung Redaktion: Annekatrin Ranft-Rehfeldt
Redaktion orte
Bärenmoosweg 2, CH-5610 Wohlen
Tel. +41 44 742 31 58, redaktion@orteverlag.ch
Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Leitung)
Gabriel Anwander, Viviane Egli, Regina Füchslin, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli
Verlag: orte-Verlag
Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn
Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch
Einzelnummer: Fr./Euro 18.–
Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr./Euro 88.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda)
Abonnemente im Ausland: Fr./Euro 12.– Zuschlag
Inseratepreise: 1 / 1 Seite (121 × 180 mm) Fr. 400.–1 / 2 Seite (121 × 88 mm) Fr. 200.–1 / 4 Seite (121 × 42 mm) Fr. 120.–
Inserateverkauf: Annina Dörig, inserate@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 40
Umschlag: Hundwiler Höhe, Hundwil
Gestaltung: Mike Müller, Verlagshaus Schwellbrunn
Bild: Andreas Butz
Das Copyright der Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren.
Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechtsinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.
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Literarischer Spaziergang in Heiden, kurze Lesungen aus Werken von Robert Walser, Friedrich Glauser und weiteren. Begleitet von Maya Stieger (Violine). 16. Juni 2024 | 11 Uhr
Die Schweizer Literaturzeitschrift «orte» wird 50 Jahre alt und lädt zu Literatur & Musik im Festsaal der Linde in Heiden (AR) ein. Freier Eintritt, Kollekte.
11.00 Uhr
Lesung aus der aktuellen orte-Jubiläumsausgabe
12.30–14.00 Uhr
Mittagessen Kulturmenu (mit vegetarischer Variante) Anmeldung bis 3. Juni an verlag@appenzellerverlag.ch
14.00 Uhr
editorial
Liebe Leserinnen und Leser
Auf den folgenden Seiten laden wir Sie mit grosser Freude in die Gaststube der Wirtschaft Rütegg ein. Dort werden Sie mit Cyrill Stieger, Gabriel Anwander und Erwin Messmer, die den Thementeil dieser Ausgabe zusammengestellt haben, von Wirtin Irene Bosshart am Stammtisch willkommen geheissen. Es bietet sich Gelegenheit, mit ihr, der Witwe von Werner Bucher, bei einem imaginären Glas Wein oder Kafi Fertig alte orteZeiten aufleben zu lassen.
Wir wandern in unserem Heft gleich weiter zu unserer dritten Jubiläumsveranstaltung. Am Sonntag, 16. Juni 2024 ab 11 Uhr können Sie an der Sonntagsmatinée im Festsaal des Hotels Linde in Heiden (AR) der Geschäftsleiterin Publizistik des Verlagshauses Schwellbrunn Christine König begegnen. Die orteRedaktion und viele Gäste erwarten Sie mit Literatur und Musik. Wir danken unserem Verlag und dem Gestaltungsduo Daniela Saravo / Mike Müller für das aufgefrischte Layout unserer BeizenNummer, dem Fotografenduo Katja Nideröst und Andreas Butz für das gelungene Bildkonzept, den elf Förderstellen für die finanzielle Unterstützung unserer Veranstaltungen inklusive des Podcasts, sowie allen Mitwirkenden an diesem Heft vor und hinter den Kulissen. Spezieller Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die eigens für unseren Thementeil Texte verfasst haben, sowie Rainer Stöckli für die BeizenRecherche in Peter Morgers Werk. Autorin Karin Künzle fragt: «Wo ist die Welt, wenn ich sie nicht sehen kann» (S. 9) und
Autor Richi Küttel mahnt: «Bhüet üs s gmischt Plättli/ Und s Pule im Chrättli / Äs dörf dänn nöd z fätt sii / Bhüet d Stange und s Spezli» (S. 12). Ruth Weber «wischt» auf der suche nach orten mit worten «das lamento von den lippen» (S. 14) und Thomas Fuchs berichtet in seinem Beitrag Interessantes zur Geschichte der Wirtshäuser im Appenzellerland (S. 30). Auf dem Weg durch unsere orte Seiten begegnen Sie dem Literaturkritiker und Freund unserer Zeitschrift Charles Linsmayer, lesen im ortebücherregal von Putins kleinem Finger, von Drehpunkten auf der Welt, die bis AAFRIKAA reichen – einem Buch über die Schönheit unseres Planeten im Allgemeinen und unseres Lebens im Besonderen – und weiteren spannenden Neuempfehlungen unserer Redaktion. Aufmerksamkeit verdient die ortolanRubrik, die sich der neusten QuadrigaAusgabe von vier Mundartautorinnen widmet, und das hörorte über Friedrich Nietzsche. Im wanderorte wird Ihnen der literarische Spaziergang in Heiden vorgesellt, den Sie am 16. Juni 2024 ab 14 Uhr direkt erleben können.
Treten Sie ein, in unsere orte 226 – kommen Sie nach Heiden – in die Linde – in die Beizen des Hügellandes – in unser Jubiläum 2024!
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.
Beste Grüsse
Annekatrin Ranft-Rehfeldt und das orte-Redaktionsteam
PS: orte dankt den elf Förderstellen für die Unterstützung der Jubiläumsaktivitäten durch das ganze Jahr. Dank ihnen werden die sechs thematischen Veranstaltungen und der literarische orte-Podcast 2024 ermöglicht. Siehe auch Seiten 44 und 45.
Die Männer am Tisch brummeln
In der Wirtschaft Rütegg: der orte-Gründer Werner Bucher (1938 – 2019) stets präsent.
Irene Bosshart begrüsst uns im Garten ihrer Wirtschaft Rütegg mit einem Glas eisgekühlten Weisswein, gespritzt mit hausgemachtem Holundersirup. Das Getränk leuchtet hell in der Sonne und verspricht eine köstliche Erfrischung nach der Wanderung an diesem frühlingshaften Tag im Februar. Wir setzen uns vor dem Haus an den langen, durch Wind und Wetter zerfurchten Holztisch und stossen mit ihr auf das Jubiläum an. Vor 50 Jahren hat Irenes Ehemann Werner Bucher die Literaturzeitschrift orte gegründet.
Gabriel Anwander: Irene, wie ist das für dich gewesen, in den Anfangszeiten?
Irene Bosshart: Wir haben uns im Jahr 1987 in Zürich kennengelernt. Werner leitete seinen Verlag und brachte fünf Mal im Jahr die Zeitschrift orte heraus. Ich arbeitete in einem Architekturbüro und half ihm nebenbei im Büro. Von den Arbeiten in einem Verlag habe ich so gut wie nichts verstanden, von der Herstellung einer Zeitschrift noch weniger. Wenn ich ihn etwas gefragt habe, hat er gesagt: «Mach einfach. Du kannst das.» Werner hat mich bei allem ins kalte Wasser geworfen. Heute bin ich ihm dankbar dafür, durch ihn hat sich mein Leben total geändert.
Vieles hätte ich mir ohne ihn nie zugetraut.
Wann habt ihr euch entschieden, ins Appenzellerland zu ziehen?
Werner wollte unbedingt den Verlag mit einer Beiz kombinieren. Mir war nicht
wohl dabei, ich habe mich nie als typische Wirtin gesehen. Noch bevor ein Jahr um war, hat er mich an den Wochenenden ins Appenzellerland geschleppt. Wir haben da und dort eine Beiz besichtigt, zuletzt die Wirtschaft Kreuz in ZelgWolfhalden. Schliesslich hat er mich überredet: «Nur für fünf Jahre, dann sehen wir weiter.» Auf einmal hat es pressiert: Meine Arbeitsstelle kündigen, zwei Haushalte zügeln, dazu einen Verlag mit Stapeln von Büchern, die Wirtschaft Kreuz übernehmen, die Fahrprüfung bestehen, die Wirteprüfung und neben all dem den Verlag weiterführen und nicht zuletzt die Zeitschrift fristgerecht herausgeben. Jeden Wirtesonntag haben wir gearbeitet, und unter der Woche oftmals bis spät in die Nacht. Morgens habe ich pünktlich wieder aufgemacht und Gäste bedient. Eine harte Zeit ist das gewesen, damals, das kann ich dir sagen.
Damals sind die ersten Personal Computer auf den Markt gekommen. Habt ihr euch schon früh einen angeschafft?
O ja. Werner hat einem Kollegen so eine kleine AppleKiste abgekauft. Ich habe alle Adressen der Abonnenten von seinen Karteikarten abgetippt. Vorher hat er die Adressen jeweils auf einem Umdrucker reproduziert und sie auf die Couverts geklebt. Die Post hat jedes Mal reklamiert, viele Adressen seien unlesbar (lacht). Ich habe die Adressen auf Endlospapier ausgedruckt. Das hat die Post akzeptiert. Zwei Jahre lang haben wir parallel Buch geführt, er auf den Karteikarten, ich auf dem kleinen Apple. Bei den Kontrollen, wann läuft welches Abo ab und wer hat noch nicht bezahlt, sind wir regelmässig auf Differenzen gestossen. Das hat dann intern zu Knatsch geführt (lacht wieder).
Wie habt ihr euch die Arbeiten an der Zeitschrift geteilt?
Er hat zusammen mit den Mitgliedern der Redaktion die Beiträge beschafft – oder selbst geschrieben – und die Bilder ausgelesen. Ich habe das Layout gemacht, mit dem Drucker Korrektur gelesen und die Administration erledigt. Die zeitraubendste Arbeit aber ist der Versand gewesen. Die Hefte einpacken und jedes Abo kontrollieren. Nach fünf Ausgaben haben wir eine Rechnung beigelegt und die Abonnierenden im Begleitbrief gebeten, ihr Abo zu erneuern. Einige haben wir mahnen müssen, andere haben ein Abo verschenkt, da durfte keine Rechnung zum Heft. Wir haben Abos im Ausland gehabt und Bibliotheken und Buchhandlun
gen gesondert angeschrieben. Auf einem grossen Tisch habe ich verschiedene Stapel gemacht, dann die Stapel in eine Kiste gepackt, peinlich darauf geachtet, dass nichts durcheinandergerät, und bin schliesslich mit der Kiste zur Post gefahren. Zum Glück haben mir immer Leute geholfen. Freundinnen. Verwandte. Stammgäste. Nach jedem Versand sind wir erleichtert und froh gewesen. Nach zwei Tagen ist es von vorne los gegangen (lacht).
Einen Verlag leiten, eine Zeitschrift herausgeben und eine Beiz führen. Hat das funktioniert? Haben sich die Bereiche gegenseitig angeregt, vielleicht sogar befruchtet?
Ja, auf jeden Fall. Werner hat sich das immer gewünscht, mit Menschen, die er schätzte, an einem Tisch zu sitzen und bei einem Glas Wein über Gott und die Welt zu diskutieren. Das ist ihm wichtig gewesen. Diese Art von Kultur hat er gepflegt, davon ist viel in seine Arbeit und seine eigenen Texte eingeflossen.
Stimmt es, habt ihr die Redaktionssitzungen in einer Beiz abgehalten?
Ja, immer, in der Weinstube in Zürich. Werner ist alleine hingefahren und mit neuen Ideen nach Hause gekommen.
Ist diese Offenheit gegenüber allen und allem und der Geist der unkomplizierten und direkten Art das Geheimnis von orte? Hat die Zeitschrift deshalb 50 Jahre bestehen können?
Vermutlich schon, ja. Werner hat aber auch die Finanzen immer im Auge behal
ten. Er hat bei der Zeitschrift wie bei den Büchern stets nach tragbaren Lösungen gesucht.
Hat es Tage gegeben, in denen er die Zeitschrift aufgeben wollte?
Nein. Ich glaube nicht, dass er je daran gedacht hat, aufzuhören. Er hat immer weitergemacht. Es ist vorgekommen, dass die Zeitschrift nur viermal statt fünfmal im Jahr herausgekommen ist. Aber aufgeben?
Nein. Er hat immer gesagt, er sei kein Sprinter, eher ein Marathonläufer. Er hat ständig gearbeitet und nach vorne geschaut.
Hat Werner immer klare Vorstellungen gehabt, was in die Zeitschrift passt und was nicht?
Am liebsten hat er Texte von unbekannten Autorinnen und Autoren veröffentlicht. Er hat laufend Neuentdeckungen gesucht – und auch gefunden. Darauf ist er stolz gewesen. Wenn ich überlege, glaube ich, er hat besser gewusst, was er nicht wollte.
Habt ihr je geplant, die Zeitschrift zu vergrössern?
Nein. Er hat am Bewährten festgehalten. Ich bin sicher, wenn er noch lebte, er würde genau gleich weiterfahren. In dieser Beziehung bin ich ähnlich. Ich bekomme viele Ratschläge, was ich in der Wirtschaft anders machen müsse. Neues Konzept, mehr auf den Erfolg ausgerichtet und so. Das ist nicht mein Ding. Ich bleibe beim Bewährten im gängigen Rahmen.
Die jetzige Redaktion hält auch am Bewährten fest, hat allerdings den Rahmen für Beiträge ordentlich erweitert. Wie habt ihr den Stamm der Abonnentinnen und Abonnenten erweitert?
Ich sage dir, wir haben um jede Abonnentin und um jeden Abonnenten gekämpft. Hat jemand gekündigt, haben wir angerufen und versucht, sie oder ihn zum Bleiben zu animieren. Es sind wenig Rückmeldungen zu den einzelnen Heften eingegangen, daher haben wir jede Erneuerung eines Abos als ein Kompliment betrachtet. Viele sind uns jahrelang treu geblieben. Von Zeit zu Zeit haben wir ältere orteHefte zu Werbezwecken verschickt, zum Beispiel an Lehrer und Pfarrer, aber das hat wenig gebracht.
Und sonst?
Bei jedem neuen Buch haben wir die Vernissage in der Beiz abgehalten. Die meisten Autorinnen und Autoren haben für die Gäste gekocht und zwischen den Gängen gelesen. Da hat oft nicht alles geklappt wie geplant. Egal, dem Publikum hat es gefallen. Immer. Noch Monate später haben viele von der gelungenen Vernissage geschwärmt.
Hast du nie daran gedacht, selbst ein Buch zu schreiben?
Ach nein. Wir sind von Manuskripten eingedeckt worden. Tag für Tag sind welche eingetroffen. Nein, ich habe im Hintergrund gearbeitet und die Beiz geführt. Das hat für mich gestimmt. Und heute ist
orte in neuen Händen, und das ist gut so. Nur die Beiz, die führe ich selbst weiter.
Irene, wir danken dir für das Gespräch. Ich danke euch. Es ist für mich eine Freude, zu sehen, wie ihr orte in gewohnter Manier weiter produziert. Wir sehen uns am 16. Juni an der Jubiläumsfeier in Heiden.
Die Fragen stellten Gabriel Anwander, Viviane Egli, Erwin Messmer und Cyrill Stieger von der orte-Redaktion.
Siehe auch: www.ruetegg.ch
Hinweis: Irene Bosshart hat orte ihre Lieblingsbücher verraten. Siehe Bestenliste S. 54 – 56.
Im Jubiläumsjahr 2024 bietet orte unter dem Motto «Orte für orte» neben den fünf regulären Ausgaben weitere Begegnungen mit Literatur: sechs literarische Veranstaltungen mit Musik und einen Podcast in zwei Folgen. Siehe Seiten 44 und 45.
Mäandern Sie auch?
fragt er
Verlassen Sie auch meinen Gipfel?
Wie all die andern
Gesättigt von der Kulisse
Die Muskeln müde und zufrieden
Mäandern Sie auch?
Steinbockgleich durch das Geröll
Wie ein Gletscherfluss das Gebirge hinunter
Es ist ein Schauspiel das seinesgleichen sucht
Mäandern Sie auch?
Dem Nebel entgegen
Tröpfeln sie in die Gaststuben die Hütten hinein
Wärmen die Hände
Von Weitem ein Donnergrollen: Sind Sie alle daheim?
Er hat seinen Hund getätschelt. Nicht gerade sanft. Mehr so als wäre es ihm ein wenig unangenehm. Aber doch so, dass mir klar geworden ist, wie vertraut dieses Verhältnis sein muss. Dazu hat er etwas gemurmelt wie «Jaja, gell Bläss.» Und ich habe gesagt: «Bläss ist ein schöner Hundename.» Danach ist es mir peinlich gewesen. Welcher Bläss im Appenzellerland heisst denn nicht Bläss? Dann hat er nichts mehr gesagt und ich auch nicht. Also habe ich genickt und gehen wol
len. «Grüssen Sie sie mir», hat er dann aber gesagt, «die Sonne. Falls Sie sie noch sehen.»
Jetzt stehe ich auf dem Hügel und weiss genau: In wenigen Minuten wird sie weg sein, die Sonne. Nicht weg im Sinne von «Fürimmerweg». Bloss weg aus meinen Augen. Die Wolken werden sie verdecken. Ich erinnere mich, wie ich als Kind manchmal die Augen schloss und erschrak: Wo ist die Welt, wenn ich sie nicht sehen kann?
Ich bemühe mich, in den wenigen Augenblicken, die mir noch bleiben, die Berge zu betrachten. Sie sehen heute wenig durchdringend aus, fast langweilig. Ich schäme mich für den Gedanken. Ich schäme mich auch ein wenig, dass ich, wie alle anderen, dem Nebel entkommen wollte. Alle anderen sitzen jetzt drinnen im Restaurant oder draussen auf der Terrasse dicht aneinandergedrängt an den langen Tischen und sehen zu, wie der Nebel zuweilen bedrohlich steigt. Und ich schäme mich auch – nein: eher bin ich wütend –, dass der Mann mit dem Bläss recht gehabt hat, als er mir sagte, dass die Sonne sicher bald verschwinden würde.
Zuerst hat er nur genickt, als ich ihn nach dem Weg gefragt habe. Dann aber hat er seine Säge zur Seite gelegt, sich auf einen Stock gestützt und gesagt, ich würde sowieso gescheiter in die Beiz unten am Bach gehen. Man würde da besser essen.
Chäshörnli zum Beispiel. Und sowieso sei die Sonne bald weg. Was wolle ich auch da, mit all den Wandervögeln. Ich habe gelächelt und es besser wissen wollen. Fast zum Trotz schaue ich jetzt in das Sonnenlicht, das sich langsam hinter den Wolken verzieht. Verflucht.
Der Rückweg fühlt sich an wie eine Niederlage. Das Scheppern der Trinkflasche im Rucksack kommt mir vor wie ein wehmütiges Klagen. Ich scheine die Einzige zu sein, die zurück ins Nebelmeer geht.
Der Tee ist so heiss, dass ich mir die Oberlippe verbrenne, und ich stelle die Tasse schnell zurück auf den Tisch. Umständlich packe ich das Biskuit aus seiner Plas
tikverpackung und lasse es Stück für Stück im Mund zergehen. Es kommt mir seltsam vor, keine einzige Stimme zu hören. «Geschlossene Gesellschaft», steht kraklig draussen an der Tafel. Die Wirtin hat mich zum Glück gesehen, vielleicht habe ich ihr leidgetan, wie ich in meinen Turnschuhen zitternd vor Kälte dagestanden bin. «Ein Getränk können Sie haben», hat sie gesagt und mich in die Gaststube geführt. Am Stammtisch jassen sie. «Die sind immer da», hat die Wirtin erklärt und auf die Frau und die beiden Männer gezeigt, deren Kartenspiel einer Choreografie gleicht. Schnell, präzise, grazil. Selten gerät das Spiel ins Stocken, noch seltener fällt ein Wort. Manchmal ist ein leiser Seufzer zu hören.
Aus der Küche dringen Radioklänge, fast im Takt dazu sehe ich die Regentropfen sich in den Kacheln des Ofens spiegeln. Während ich zusehe, wie der Ofen die Aussenwelt einfängt, erschreckt mich das Knarren der schweren Tür. Ich wehre mich gegen das aufsteigende Gefühl der Beklemmung und zucke trotzdem zusammen. Es ist der Mann mit Bläss, der eintritt, ohne Bläss. Er nickt mir zu. Erkenne ich einen kleinen Triumph in seinen Augen? Sein Bier kommt ebenso automatisch wie die Jasskarten in seine Hände. Ich bemühe mich, nicht hinzusehen, und tue es trotzdem. Runde für Runde, Schilten um Schellen um Eicheln. Mein Hagebuttentee ist fast fertig, und ich will die Wirtin um nichts Weiteres bitten, also nippe ich nur daran. «Ich habe zuerst überlegt, Rosen zu machen», durchbricht einer die Stille. Er kann sich ein Lächeln