Frigg Adidas und Zoccoli
Marco Frigg
Frigg Adidas und Zoccoli
Marco Frigg
orte Verlag
Dieses Buch wurde unterstützt von der SWISSLOS/Kulturförderung, Kanton Graubünden, und der Kulturfachstelle der Stadt Chur.
© 2024 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Mike Müller Gesetzt in Arno Pro Regular Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn
ISBN 978-3-85830-324-0 www.orteverlag.ch
«Lass uns leis das Herz befragen, nach der Jugend Tagen.»
Aus dem Churer Maiensässlied
(Text: Martin Schmid / Melodie: Wilhelm Steiner)
Die Erzählung beruht auf den Erinnerungen des Verfassers im Zeitraum der 1960er-Jahre. Namen wurden geändert, Zeitspannen komprimiert, Erinnerungslücken mit einer Prise Fantasie gefüllt.
Für meine Familie, Verwandten und Freunde. Ohne sie gäbe es kaum Erinnerungswürdiges.
Fuchsteufelswild reagierte ich als Kind jeweils auf das Schmähwort Tschinggeli, negierte deshalb gar meine italienischen Wurzeln. Gleichzeitig empfand ich Gewissensbisse gegenüber Mama, Verwandten und Freunden im Veltlin, fühlte mich hin- und hergerissen zwischen zwei Lebenswelten. Mit dem Heranwachsen verblassten Unsicherheit und Zweifel. Ich stand selbstbewusst zu meiner Identität, betrachtete sie als kulturellen Schatz, den ich bis heute hege und pflege.
Als ich mich auf das Schreibprojekt einliess und das Familienarchiv durchstöberte, öffnete sich die Zeitkapsel der Kindheit und Jugend. Längst vergessen Geglaubtes kam hoch. Vor dem geistigen Auge erschienen geliebte Menschen und Orte. Erinnerungsfragmente wirbelten wie bunte Glaspartikel eines Kaleidoskops durch den Kopf, regten die Sinne an. Ich hörte vertraute Stimmen, das Rauschen der Plessur, die Glocken von San Matteo. Stand auf der Piazza, spazierte durch die verwinkelten Gassen der Altstadt, nahm den Duft von Sommerregen auf heissem Asphalt wahr. Musik aus den 1960er-Jahren lieferte die passende Tonspur zum Erinnerungsfilm, der sich auf der Gedankenleinwand abspielte. Ohne den zündenden Im-
puls und die motivierende Rückmeldung der Historikerin
Silke Margherita Redolfi wäre es beim Kopfkino geblieben.
Ich speicherte auf dem Computer über Wochen und Monate hinweg einen kunterbunten Episodenmix aus einer Zeit, in der Träume in den Himmel wuchsen und der Fantasie kaum Grenzen gesetzt waren.
Dass lose Manuskriptseiten schliesslich zu einem Buch gebunden wurden, verdanke ich Christine König und Susanna Schoch. Die Zusammenarbeit mit dem renommierten Verlagshaus Schwellbrunn erwies sich als Glücksfall.
Primo stand bedrückt in der rustikalen Wohnküche seines Elternhauses. Im gemauerten Kamin knisterte das Feuer. Darüber hing an Kette und Haken ein grosser, schwarzer Kessel, in dem eine nahrhafte Minestra köchelte.
«Die Maestra schickt mich nach Hause, wenn ich mit den Zoccoli zur Schule komme», schniefte Primo und wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase ab, seine schmutzigen Füsse in den roh gefertigten Holzsandalen … Betreten streckte ich die Beine unter den Tisch, verbarg die neuen Turnschuhe.
«Was macht die denn mitten in den Sommerferien in unserem Dorf?», staunte Primos Mutter Sira. «Das Schuljahr beginnt ja erst Anfang Oktober.»
«Sie putzt das Schulzimmer und hängt Vorhänge an die Fenster. Ich bin ihr auf der Piazza über den Weg gelaufen, und da hat sie mir gesagt, dass …» Primo brach in Tränen aus.
«Was sagt man dazu?» Primos Vater Girolamo verteilte Tabak auf ein hauchdünnes Papier, leckte den Rand behutsam ab und drehte sich sorgfältig eine dünne Zigarette. «Das Dämchen hat wohl das Gefühl, dass hier in Valle alle Kinder in Sonntagsschuhen zum Unterricht erscheinen
müssen. Soll sie doch in Como bleiben!» Aufgebracht entzündete Girolamo ein Schwefelholz am rissigen Daumennagel, hielt es ans Ende der Selbstgedrehten, zog den Rauch ein und spuckte einen Tabakkrümel auf den Boden.
Sira goss Kaffee nach und wandte sich an meine Mutter: «Was sagst du dazu, Maria? Ist es unangebracht, Zoccoli zu tragen?» Sie wies auf ihre und Girolamos Füsse, die in Holzpantinen steckten.
Mama, wie ihre Kusine Sira in Valle geboren und aufgewachsen, schüttelte den Kopf. «Du erinnerst dich sicher, wie wir damals zur Schule gingen: wetterfeste Scarponi im Winter, Zoccoli oder gar barfuss im Sommer.»
Girolamo griff nach dem Feuerhaken, hängte den Kessel mit dem kochenden Wasser höher, schürte das Feuer. Die Zigarette im Mundwinkel, nuschelte er: «Weisst du, Maria, ich arbeite den Winter über zusätzlich in der Sägerei oberhalb von Albaredo. Reparaturen an Haus und Stall, saftige Rechnungen die kargen Ersparnisse schmelzen dahin wie Schnee in der Frühlingssonne.» Er zog kräftig an seiner Zigarette. «Keine Zoccoli in der Schule? Pah, lächerlich! Das wird hier bei uns nicht geduldet.» Er kniff das linke Auge zu, wedelte mit der Hand den Tabakrauch weg. «Die Maestra wird ihre städtischen Allüren ablegen müssen, sonst …»
«Lass die Junglehrerin im Herbst erst mal mit dem Unterricht starten», beschwichtigte ihn Mama. «Es wird nichts so heiss gegessen wie gekocht.»
«Si vedrà – man wird sehen», erwiderte Girolamo.
Der raubeinige, aber gutherzige Bauer lebte mit seiner Frau und vier Kindern im abgelegenen Veltliner Bergdorf, das oberhalb des Städtchens Morbegno am steilen, terrassierten Berghang klebte. Sie bewohnten ein bescheidenes, altes Haus, das lediglich über eine Wohnküche, zwei Schlafzimmer, Vorratskammer und eine Laube verfügte.
Ein offener Kamin sorgte für Wärme, Wasser schleppten die Einheimischen vom Dorfbrunnen ins Gebäude. Wer austreten musste, erleichterte sich auf dem Plumpsklo.
Die Familie lebte von Girolamos schmalem Einkommen und dem, was fünf Rinder, ein Schwein, einige Ziegen und Hühner sowie ein bescheidener Gemüsegarten hergaben.
Die beschwerliche Arbeit auf dem stotzigen, terrassierten Gelände, das keinerlei maschinelle Hilfe zuliess, hatte den Familienvater gezeichnet. Girolamo schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen, war jedoch trotz seines hageren Äusseren erstaunlich robust und kräftig. Obwohl
Sira mit ihren Kindern und dem Haushalt alle Hände voll zu tun hatte, unterstützte sie ihren Mann nach Kräften. Für einen willkommenen Zustupf in die Familienkasse sorgte die 14-jährige Tochter Antonietta, die im Sommer in einer Familienpension in Gerola arbeitete.
Sonnenstrahlen fielen durchs schmale Fenster. Staubpartikel und Insekten tanzten im Lichtstreifen, der den düsteren Raum nur spärlich erhellte. An der grob verputzten, schmutziggrauen Wand fand sich der «Calendario Fa-
miglia Cristiana 1960». Verstohlen musterte ich meinen Freund. Kurze, geflickte Hosen. Ein Hemd, das aussah, als hätten sich die Motten darüber hergemacht. Verschorfte Knie und struppiges Haar, das in alle Richtungen abstand. Während ich in Valle geruhsame Ferienwochen verbrachte, kam Primo auch in der schulfreien Zeit nicht zur Ruhe: Brennholz beschaffen, auf dem Feld mithelfen, Tiere füttern, Stall ausmisten, schwere Wasserkessel ins Haus tragen, Gemüsebeete jäten, Obst pflücken, Beeren lesen – der Kontrast zwischen meinem komfortablen, städtischen Alltag in Chur und seinem entbehrungsreichen Landleben hätte kaum grösser sein können. Wir waren beide im selben Jahr und Monat geboren worden, wuchsen jedoch in völlig unterschiedlichen Welten auf.
«Hallo!» Mama zog mich am Arm. «Wo bist du mit den Gedanken? Hast du nicht zugehört? Zieh deine Schuhe aus!»
Ich schreckte auf. «Wie? Weshalb soll ich …»
«Zieh sie bitte aus!», beharrte sie.
Ich nestelte verwirrt an den Schnürsenkeln.
«Schlüpf in die Turnschuhe, Primo. Mal schauen, ob sie dir passen», ermunterte Mama meinen Freund.
«Das geht doch nicht, Maria!», protestierte Sira. «Die Schuhe gehören deinem Sohn.»
Mutter ignorierte den Einwand. «Die sitzen ja wie angegossen. Jetzt wird die Maestra kaum mehr etwas einzuwenden haben, oder?»
Verdattert starrte Primo auf die Sportschuhe. Verlegenheit rötete seine Wangen. Ich hatte die Anprobe mit gemischten Gefühlen verfolgt, schluckte leer. Ausgerechnet die neuen Adidas, meine Lieblingsschuhe …
Girolamo schien Gedanken lesen zu können. «Das kommt gar nicht infrage, Maria! Sie sind neu, die kann später euer Jüngster austragen. Ich werde mit der Lehrerin ein Hühnchen rupfen!» Erregt schnippte er den Zigarettenstummel ins Feuer.
Primo zog die Schuhe aus, schlüpfte in die Zoccoli und hastete zur Tür hinaus. Ich ergriff die Turnschuhe, rannte ihm in Socken hinterher. «Fermati – bleib stehen!»
Auf dem Vorplatz bekam ich ihn am Arm zu fassen, hielt ihm die Adidas hin. «Da, nimm! Sie gehören dir.» Er zögerte. «Nimm sie bitte», wiederholte ich.
Mein Freund griff mit gesenktem Kopf zu. «Grazie …
Bist du sicher, dass …»
«Sicuro. Ich schenke sie dir gern», bestätigte ich. Primo strahlte.
Die Turmuhr im Nachbardorf schlug zwölf. Papa und mein jüngerer Bruder Robert stellten die mit Himbeeren gefüllten Schüsseln auf den Küchentisch. Vater wusch die Hände, hob den Pfannendeckel, sog das verführerische Aroma von aufkochendem Sugo ein.
«Wir haben Sira beim Brunnen getroffen», bemerkte Papa und setzte sich zu Tisch. «Du hast Primo deine
Sportschuhe geschenkt. Grossartig!» Er zerzauste mein Haar. «Wir sind stolz auf dich.»
Ich schwieg befangen. Verdiente ich das Lob? Als hätte Mama meine Gedanken erraten, zwinkerte sie mir verschwörerisch zu und trug einen Topf dampfender Spaghetti auf.
«Im Oktober feierst du Geburtstag.» Papa wischte sich mit der Serviette Parmesankrümel vom Kinn. «Da könnte es sein, dass du neue …» Er liess den Satz unvollendet, schaute auf meine ausgelatschten Sandalen, zog vielsagend die Augenbrauen hoch. Ich war sprachlos vor Freude, stopfte mir den Mund voll, kaute ausgiebig.
«Du hast ganz rote Ohren», stellte Robert kichernd fest. Der feuchte Abwaschlappen landete punktgenau auf seinem mit Tomatensauce verkleckerten Plappermaul.
Zwei
Heftiges Hämmern an der Eingangstür. «Aprite – subito!», bellt eine heisere Stimme. Wir erstarren vor Schreck. Mutter überwindet die lähmende Angst, fasst Robert und mich am Arm, schiebt uns zur Treppe, die ins Schlafzimmer führt. Atemlos hetzen mein Bruder und ich hinauf. Erneutes Poltern, Vater öffnet die Tür. Vier uniformierte, bewaffnete Männer stürmen in die Wohnküche, verlangen Brot, Käse, Salami und Wein. Mama beeilt sich, die Wün-
sche der Eindringlinge zu erfüllen, die sich in deutsch-italienischem Kauderwelsch unterhalten. Ungeniert schlagen sie sich die Bäuche voll, schenken fleissig nach. «Habt ihr Partisanen gesehen? Maultiere und Motorräder auf dem Weg Richtung Passo San Marco?», fragen die ungebetenen Gäste wiederholt.
Schliesslich steht der Kommandant auf, rülpst zufrieden und befiehlt: «Haus durchsuchen! Jeder Winkel wird kontrolliert – los!»
«Nein, aufhören!» Zähneknirschend, mit mühsam unterdrückter Wut, stellt sich Papa ihnen in den Weg. «Genug ist genug. Bereits letzte Woche frassen und soffen uns deutsche Soldaten und italienische Milizionäre alles weg, schliefen sogar in unseren Betten. Und nun kommt ihr und …»
Ein Fausthieb beendet Papas Widerstand. Die Männer poltern die Holztreppe hinauf, hämmern an die Schlafzimmertür, treten sie kurzerhand ein. Dann rattert eine Maschinenpistole …
«Wach auf, mein Grosser.» Mutter fuhr mir beruhigend übers Haar. «Du hast wohl schlecht geträumt.» Sie öffnete das Fenster, stiess die Läden auf. «Jetzt mach vorwärts. Robert und Papa warten auf dich. Das Frühstück ist bereit.»
Es dauerte eine Weile, bis ich den verstörenden Albtraum aus dem Gedächtnis verdrängt hatte. Benommen
stieg ich aus dem schmiedeeisernen Doppelbett, das zusammen mit dem grob gezimmerten Kleiderschrank den Raum ausfüllte. Blinzelnd schaute ich ins Freie. Strahlender Sonnenschein übergoss die eng aneinander geschmiegten, roh gemauerten Häuser. Guido trat fluchend den Kickstarter seiner Moto, die jeweils nach kurzem Knattern den Geist aufgab. Zio Gianni hämmerte Nägel in die Dachlatten des Autounterstands. Ich brachte ein schiefes Grinsen zustande. Bewaffnete Schergen, todbringende Maschinenpistole? Mitnichten. Nachbar und Onkel hatten für die Geräuschkulisse des Albtraums gesorgt, der mich in Angst und Schrecken versetzt hatte.
«Hallo, Schlafmütze!», ertönte Mutters Stimme aus der Wohnküche. «Bist du wieder eingenickt? Komm runter, Primo ist hier. Du hast versprochen, ihm beim Heuen zu helfen.»
Augenblicke später betrat ich die Küche. Mein Freund hockte mit am Tisch, mampfte ein Honigbrötchen und murmelte ein kaum verständliches «Ciao, auch schon wach?» Ich nickte zerstreut.
Mutter gab zwei Löffel Banago und warme Milch in die Tasse. «Was um Himmels Willen hast du geträumt, das dich dermassen aufgebracht hat?»
Ich rührte in der Schokomilch, erzählte in knappen Worten.
Mama schüttelte verwundert den Kopf. «Wie kommst du nur zu einem solch wirren Traum?»