Eismusik

Page 1

Philipp Probst EISMUSIK

Die Reporterin im Bavonatal

Philipp Probst Eismusik

Die Reporterin im Bavonatal

orte Verlag

© 2023 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Arno Pro Regular Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85830-320-2

www.orteverlag.ch

Sie sass vor dem Spiegel und starrte auf ihre goldenen High Heels. Sie müsste sie anziehen. Jetzt.

Jemand klopfte an die Tür. Nunzia reagierte nicht.

Die Tür wurde geöffnet. Im Augenwinkel sah Nunzia, dass Iviza hereinschaute.

«In zwölf Minuten geht es los», sagte er. «Bist du bereit?»

«Nein», antwortete Nunzia, ohne ihn anzuschauen.

«Wie nein?»

«Ich bin nicht bereit. Ich will nicht auf die Bühne.»

Iviza trat ein und schloss die Tür. Dann ging er neben Nunzia in die Hocke und legte seine Hand auf ihr Knie, das von ihrem gold-weissen Spitzenkleid knapp bedeckt war. Vorsichtig strich er eine Locke aus ihrem Gesicht, achtete darauf, mit seinem Finger nicht in Kontakt mit Nunzias Haut zu kommen, damit er ihr aufwendiges Make-up nicht ruinierte. Er lächelte Nunzia an:

«Prinzessin, du siehst toll aus, du bist toll, du bist die Beste.»

«Das sagst du vor jedem Konzert», entgegnete Nunzia und starrte noch immer auf ihre Schuhe.

«Nein, nein, nein», sagte Iviza und schüttelte theatralisch den Kopf. «Ich sage es nur, wenn dich wieder Selbstzweifel packen.»

«Mich packen keine Selbstzweifel.»

«Schau mich an, Prinzessin», bat Iviza. Nunzia blickte ihn an.

«Oh – mein – Gott, bist du schön! Deine dunkelbraunen Augen, deine schwarzen Locken mit dem Goldstaub …» Iviza schlug die Hände zusammen. «Du wirst immer schöner, Prinzessin.» Er stand auf, strich sein orange-rotes Hemd glatt und hielt Nunzia die Hand hin. Energisch sagte er: «Los jetzt! Noch elf Minuten.»

«Vergiss es», murrte Nunzia.

5 Prolog

Iviza ging wieder in die Hocke und fragte: «Ist es wegen der Schuhe?» Mit hoher, kindlicher Stimme sagte er: «Diese bösen, bösen, bösen Schuhe.» Er streichelte sanft Nunzias Füsse, die in einer blickdichten, hautfarbenen Nylonstrumpfhose steckten. «Die zarten Nunzia-Füsschen wollen einfach nicht in diese blöden Schuhe, nicht wahr?»

Nunzia stand auf und schlüpfte wortlos in die High Heels.

Auch Iviza stand auf und verdrehte die Augen. «Na endlich, geht doch, immer dieses Theater! Noch zehn Minuten.»

«Ich werde nicht …»

«Keine Widerrede! Dreissig Minuten Trallala und schon ist die Show vorbei.»

«Es sind zweiunddreissig Minuten und siebenundvierzig Sekunden», sagte Nunzia. «Das solltest du als Produzent und Regisseur der Show eigentlich wissen.»

«Ach, Prinzessin. Hopp, hopp, auf die Bühne mit dir.»

Die beiden verliessen die Garderobe und fuhren mit dem Lift vom fünften Stock ins Erdgeschoss. Dort war die grosse Eingangshalle der Softwarefirma Powersoftware4U beim Escher-Wyss-Platz in Zürich zu einem Konzert- und Bankettsaal umgestaltet worden.

«Und nicht vergessen, bitte, Prinzessin», flehte Iviza, als sie den Lift verliessen, «bitte, bitte, immer schön mit deinem süssen, charmanten, italienischen Akzent singen und sprechen. Sonst wird unser künstlerisches Genie Gözart einen Herzinfarkt erleiden.»

«Was ist mit mir?», fragte Gözart, der sich von hinten den beiden genähert hatte.

«Oh – mein – Gott, Gözart», sagte Iviza schockiert. «Du schleichst dich an wie eine Giftschlange. Ich habe Nunzia nur darauf hingewiesen, dass sie unbedingt mit Akzent singen soll.»

Iviza blieb stehen und musterte Gözart. «Dein Béret sitzt schief.»

6

«Das muss schief sitzen», fauchte Gözart.

«Ein echter Künstler …»

Gözart warf Iviza einen bösen Blick zu und wandte sich dann an Nunzia: «Iviza ist zwar ein Spinner, aber er hat recht: schön mit Akzent …»

«Endlich!», schnauzte Jessy, die mit klappernden Pumps herbeigeeilt kam. «Noch sechs Minuten. Wo habt ihr bloss gesteckt?» Sie hielt ihr Funkgerät vor den Mund: «Kann losgehen. Sie ist da.»

Jessy packte Nunzia am Arm und führte sie hinter die Bühne zur Band. Die Musiker bildeten mit Nunzia einen Kreis und streckten ihre Hände in die Mitte. Jessy zückte ihr Smartphone und rief: «Wir machen ein nettes Foto für unsere Fans auf Social Media. Alle lächeln!»

Nunzia schaute grimmig.

«Nunzia, bitte!», sagte Jessy resolut und stampfte mit ihrem Absatz auf den Boden.

Nunzia lächelte. Kurz und gequält.

Jessy knipste und lud das Bild auf Facebook hoch. Dann aktivierte sie den Videomodus. Bernd, der Schlagzeuger, gab die Parole durch: «We will, we will …»

«Rock you!», skandierten Nunzia und die anderen vier Bandmitglieder.

«Sehr gut», lobte sich Jessy selbst und postete den Clip auf Instagram und TikTok.

Bernd nahm Nadine, die grosse, schlaksige Gitarristin mit den kurzen, blonden Haaren zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: «Warum ist Nunzia so spät gekommen? Stimmt etwas nicht?»

«Keine Ahnung», antwortete Nadine ebenfalls flüsternd. «Ich frage sie gleich.»

Ein Fotograf, der für den Backstagebereich akkreditiert war, schoss ein Bild nach dem anderen.

7

Nadine löste sich von Bernd und ging zu Nunzia. Sie drückte ihre Hand. «Sweetie, was ist los?»

«Das wird eine mega Katastrophe. Lass uns nach Hause fahren.»

«Hach», seufzte Iviza, der neben Nunzia stand. Er wandte sich an Nadine: «Rede du mit ihr. Unserem Prinzesschen ist eine Laus über die Leber …»

Nunzia funkelte ihn mit ihren dunkelbraunen Augen an.

«Schon gut, ich bin weg», sagte Iviza und verschwand mit kurzen, schnellen Schritten.

Aus der Lobby drang jetzt neben dem Geschwätz des Publikums der Bee-Gees-Hit «You Win Again» aus den Lautsprechern. Es war wie bei jedem Nunzia-Konzert der zweitletzte Titel der Hintergrundmusik vor der Show. Der letzte Titel würde Elvis mit seinem Schmachtfetzen «Can’t Help Falling in Love» sein. Der ideale Einstieg zu Nunzias Auftritt. Fand zumindest Iviza. Das ganze Publikum würde sich in Nunzia verlieben …

«Nunzia», sagte Nadine und legte den Arm um die Sängerin. «Nur noch diese Show. Danach haben wir zwei Wochen Zeit für uns.»

«Ach, Nadine, diese Show wird eine Katastrophe.»

«Warum denkst du das?»

Nunzia nahm Nadine an der Hand und führte sie zum Bühnenrand. «Schau dir diese Leute an. Die werden mich nicht mögen.»

Die Bee Gees wurden leiser, Elvis begann zu singen.

«Noch zweieinhalb Minuten!», schrie Iviza.

«Wir rocken das», sagte Nadine, warf Nunzia eine Kusshand zu und hüpfte zu den anderen Bandmitgliedern.

«Wir rocken gar nichts», murmelte Nunzia.

Jessy hakte sich von hinten bei Nunzia ein und sagte: «Zwei Wochen Ferien. Ich fliege auf die Malediven. Was machst du ei-

8

gentlich? In deinem geliebten Tessin hocken? Du könntest rund um den Erdball jetten und dir die schönsten …»

«Jessy, ich werde heute nicht auftreten.»

Aus dem Konzertsaal erklang das schmerzerfüllte «Can’t Help Falling in Love» von Elvis.

Jessy baute sich vor Nunzia auf. «Pass auf, Prinzessin! Du machst diese Show, danach ein nettes Blabla mit den beiden Bossen dieser Firma, also dem jungen und dem alten, noch ein bisschen Fanpflege, Meet and Greet und dann ab nach Hause. In anderthalb Stunden sind wir hier Geschichte. Und ich als deine Managerin darf sagen: Leicht verdientes Geld. Viel Geld. Kapische?»

«Hör auf mit deinem fürchterlichen Italienisch», murrte Nunzia. «Ich habe solche Auftritte nicht mehr nötig, basta!»

«Als uns die Firma Powersoftware4U gebucht hat, waren wir auf solche Auftritte angewiesen. Niemand ahnte, dass du innert Wochen ein Superstar wirst. Und ich habe schliesslich nur die besten und lukrativsten Angebote für dich ausgesucht. Der Inhaber des Unternehmens war und ist dein Mäzen, Fan der ersten Stunde. Sein Sohn übrigens auch. Und der ist genauso jung wie du.» Sie zwinkerte Nunzia zu. «So, und jetzt bieten wir der ganzen Belegschaft an diesem tristen Novembertag das, was wir am besten können: eine Spitzenshow.» Sie schaute auf ihre digitale Armbanduhr. «Noch 32 Sekunden.»

Der Funk plärrte. Jessy eilte zum Bühnenrand, winkte die Band zu sich und streckte den Daumen nach oben.

Elvis verstummte. Die Scheinwerfer gingen an. Dann betrat ein junger Mann mit Hipster-Bart und runder Brille die Bühne. Er trug einen viel zu weiten, grauen Pullover und schlabbrige Jeans. Auf Englisch sagte er: «Hello! Ich kann gut programmieren, das wisst ihr hoffentlich.» Gelächter. «Sonst kann ich nicht viel.» Noch lauteres Gelächter, kurzer Applaus. «Vor allem kann ich nicht so tolle Musik machen wie Nunzia. Und re-

9

den kann ich auch nicht. Deshalb übernimmt jetzt mein Vater.»

Langer Applaus.

Nun betrat ein etwas älterer und schmächtiger Mann die Bühne. Er umarmte seinen Sohn. «Danke, Matteo, danke.»

Dann wandte er sich auf Englisch an seine Angestellten: «Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde. Ich habe drei Leidenschaften: Meine Familie, diese Firma und die Musik. Es ist mir deshalb eine Ehre, die Überfliegerin der Popwelt präsentieren zu dürfen.» Und dann schrie er ins Mikrofon: «Nunziaaa!»

Das Licht ging aus. Sphärische Musik erklang.

Iviza trug jetzt einen Kopfhörer, schaute die Band an und zählte herunter: «Drei, zwei, eins, viel Spass!»

Die Band betrat, wie im Skript geplant, ohne Nunzia die Bühne. Der Star sollte erst etwas später erscheinen. Nadine ergriff ihre Gitarre, brachte sich in Position und liess den ersten Ton erklingen. Den zweiten. Den dritten. Der Scheinwerfer ging an. Jetzt ihr Solo. Ein kurzes, perfektes Riff. Pause. Ein Blick zu Schlagzeuger Bernd. Dieser schlug drei Mal seine Sticks aufeinander. Dann ein Schlag auf das Snare. Gitarre, Bass und Keyboard setzten ein. Voller Sound. Volles Licht.

Die Show begann.

Iviza spurtete zu Nunzia und strahlte sie an. «Prinzessin, hopp, hopp, in dreissig Sekunden kommt dein phänomenaler Auftritt.»

«Ich werde nicht auftreten. Die Leute passen nicht. Zu jung, zu international. Das ist eine Softwarefirma. Die verstehen nur Englisch. Ich singe Deutsch, wir machen Schlager. Das passt nicht. Zudem sind alle betrunken. Nein, mein Auftritt wird ein Flop. Die werden mich fertigmachen.»

«Oh – mein – Gott», sagte Iviza. «Nunzia, bitte! Auf die Bühne mit dir.»

Managerin Jessy kam hinzu. «Was ist los?»

10

«Sie will nicht», schimpfte Iviza.

Jessy schaute Nunzia giftig an.

Dann stoppte der Sound.

Jetzt müsste Nunzia auf der Bühne erscheinen, Bernd würde seine Sticks wirbeln lassen und das erste Lied anspielen: «Ich will nur dich».

Stille.

Plötzlich Buhrufe und Pfiffe.

Nadine reagierte als Erste, liess die Saiten ihrer Gitarre erklingen und fing mit dem Intro von vorne an. Ihre Bandkollegen begriffen sofort und überspielten die Panne professionell.

Aus dem Funk war der Tonmeister, der am Regiepult mitten im Saal sass, zu hören: «Was ist los?»

Jessy packte Nunzia an beiden Schultern. «Du gehst jetzt auf diese Bühne und singst. Hast du das verstanden? Wo liegt dein gottverdammtes Problem?»

«Das passt nicht, Jessy, das passt einfach nicht. Das sind nicht meine Fans. Die hassen Schlager, die hassen mich.»

Von hinten schubste Iviza Nunzia nach vorne. «Prinzessin, versau uns nicht die ganze Arbeit, lächle, lächle. Und plaudere mit italienischem Akzent. Dann werden sie dich lieben. Can’t help falling in love!»

Das Intro war zu Ende. Pause.

«Los!», flüsterte Iviza und gab Nunzia noch einen Stoss. Diesmal einen heftigeren. Nunzia sprang in ihren goldenen High Heels gekonnt auf die Bühne.

Applaus. Aber auch Buhrufe und Pfiffe.

Bernd trommelte, ein schneller Disco-Beat, ein kerniger Bass, der Keyboarder legte den Soundteppich dazu, Nadine liess auf ihrer Gitarre die Harmonie erklingen, und Nunzia sang: «Ich will nur dich. Nimm meine Hand, lass alle Zweifel los. Ich sage dir, das mit uns hier ist gross. Lass uns das Glück neu erfinden, eh es ganz zerbricht. Ich will nur dich.»

11

«Geht doch», kommentierte Jessy und umarmte Iviza. Der Regisseur strich sein Hemd glatt, schloss die Augen und wippte zum Takt. «Magisch, diese tiefe, samtene Stimme, dieser charmante Akzent. Ein Glücksfall, Jessy! Was für ein Mädchen.»

«Sie wird uns reich machen.»

«Ich werde uns reich machen», sagte Gözart trocken und drückte sein Béret noch tiefer und schiefer auf den Kopf. «Nunzia ist mein Produkt, meine Mona Lisa.»

«Oh – mein – Gott», sagte Iviza und verdrehte die Augen. «Maler bist du auch noch! Ach was, du bist ein Universalgenie, wie Leonardo da Vinci.»

«Ich will nur dich», sang Nunzia. «Ich will nur dich. Nimm meine Hand, lass alle Zweifel los.»

Schlussakkord. Buhrufe, Pfiffe. Nunzia verneigte sich trotzdem. Dann begrüsste sie das Publikum auf Deutsch und Englisch, natürlich mit italienischem Akzent. Wieder Buhrufe.

Die Band setzte mit dem zweiten Titel an: «Die Nacht ist stärker als wir». Doch wieder schallten Buhrufe, Pfiffe und lautes Geschwätz aus dem Publikum.

Nunzia, die Band und das ganze Team spulten die vorgegebene Setlist herunter. Nunzia sang wunderschön, ergreifend. Besonders bei den Balladen kam ihre tiefe, volle Altstimme zur Geltung. Bei den Tanzhits wirbelte Nunzia auf der Bühne umher, klatschte und forderte das Publikum zum Mitmachen auf. Nunzia – die immer fröhliche Stimmungskanone aus dem Tessin, der Sonnenstube der Schweiz.

Aber der Funke sprang einfach nicht über.

«Sie kämpft», sagte Iviza zu Jessy. Dann schrie er Richtung Bühne: «Prinzessin, zeig es diesen Banausen!»

Fliessender Übergang zu Nunzias grösstem Hit. «Unsere Zeit ist immer und ewig, ab jetzt». Mit ihm hatte sie vor wenigen Monaten den Durchbruch geschafft, die Hitparaden in der Schweiz, Deutschland und Österreich gestürmt.

12

Doch hier, in der Lobby dieses mondänen Geschäftshauses in Zürich, blieb das Publikum kühl und abweisend. Kein Mitklatschen, kein Mitsingen, kein Mitschunkeln. Und beim langsameren Mittelteil des Songs keine leuchtenden Smartphones.

«Und die Zeit ist immer und ewig», sang Nunzia tapfer, wurde immer lauter, klatschte und hüpfte. «Und die Zeit ist immer und ewig.»

Doch das Publikum ging einfach nicht mit.

Dann änderte Nunzia plötzlich den Text: «Und die Zeit ist abgelaufen, jetzt!» Sie zog ihre goldenen Schuhe aus, warf sie ins Publikum und schrie ins Mikrofon: «Eure Zeit ist abgelaufen, für immer und ewig. Verpisst euch!»

Sie stapfte von der Bühne.

13

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Eismusik by Verlagshaus Schwellbrunn - Issuu