Almas Rom

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Patrizia Parolini Almas Rom

orte Leseprobe

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Patrizia Parolini

Almas Rom Roman

orte Verlag


Dieser Roman basiert auf wahren Begebenheiten, jedoch sind die Namen der Personen geändert sowie weitere Figuren und die allermeisten Fakten erfunden. Die Textauszüge stammen aus dem Buch «Nostalgie» von Grazia Deledda. Sie wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

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© 2018 by orte Verlag, ch-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Umschlaggestaltung: Janine Durot Gesetzt in Arno Pro Regular Satz: Verlagshaus Schwellbrunn Druck und Bindung: Finidr, s.r.o., Český Těšín (CZ) ISBN 978-3-85830-240-3 www.orteverlag.ch


für Elvira

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ROMA i Alma brach die Schale auseinander. Ihre Finger brannten. Sie roch den rauchigen Duft der gerösteten Kastanie und hörte die ciociari – die Bauersleute aus der Ciociaria –, wie sie unter den Arkaden entlang der Piazza weiter riefen: «Calde e arroste, calde e arroste! – Heisse Marroni, heisse Marroni!» Es war ein kalter Januartag im Jahr 1901. Die Verkäufer sassen eingehüllt in abgetragene Jacken und dicke Decken hinter ihren Röstöfen, neben Körben voller Edelkastanien und aufgeschichteten Holzscheiten für das Feuer. Alma trug ihren rostroten Wollmantel und die weisse Strickmütze, unter der ein zartes, blasses Gesicht mit schmalen Augen und dunkelbraune, gewellte Haare hervorschauten. Während sie auf die Kastanie in ihrer Hand pustete, schaute sie zu, wie der ciociaro vor ihr seinen Atem in die Hände hauchte, um sich zu wärmen. Es waren grosse, abgearbeitete Hände mit russigen Fingern. Anna, die Mutter, hatte Alma vom Institut an der Via Buonarroti und Romeo von der Sonderschule an der Piazza Pepe abgeholt. Sie hatte die centesimi abgezählt, die Tüte entgegengenommen und die caldarroste an ihre Kinder verteilt, an Alma, Romeo und die kleine Amelia. Neben ihr stand der Kinderwagen, in dem Attilio schlief, das fünf Monate alte Brüderchen. Alma kratzte das haften gebliebene Stück dünne, haarige Haut von der Frucht und steckte diese in den Mund. Mehlig zerfiel das Fruchtfleisch auf ihrer Zunge. «Meine grosse Schwester hatte gestern Geburtstag!», platzte Romeo voller Stolz heraus. 7


«Wie alt bist du denn geworden?», brummte der Mann mit dem gegerbten Gesicht, musterte Romeo und fuhr mit der Kelle durch die Kastanien in der Röstpfanne. «Sieben!», antwortete Alma schüchtern. Die kleine Amelia stellte sich selbstbewusst vor den Verkäufer hin und streckte ihm drei Finger entgegen: «Tre!» «Hmm! Kommt her!» Mit seiner Kelle legte er jedem der Kinder eine zusätzliche Kastanie in die Hand. «Ihr müsst blasen, sie sind sehr heiss!» «Danke!», freute sich Alma und liess die Kastanie von einer Hand in die andere rollen, bis sie nicht mehr brannte auf der Haut. Langsam gingen sie die Via Leopardi hinunter. An der Mündung in die Via Merulana warteten sie, bis die carrozze – die Kutschen – und die von Pferden gezogene Tramway vorbeigerattert waren. Dann überquerten sie die breite Strasse und standen vor der Bar von Vater und zio Edgardo. ii Kaffeeduft steigt mir in die Nase. Spirituosen stehen auf dem beleuchteten Glasregal an der Wand. Campari, Fernet-Branca, Ramazotti. Mein Blick schweift zur Kasse, zur Vitrine mit den gefüllten cornetti und hinaus zu den Tischen auf dem Gehsteig unter dem dichten Blätterdach der ahornblättrigen Platanen. Italienische Popmusik ertönt aus dem Hintergrund. Die Serviererin stellt mir die Tasse hin. Unter dem röstbraunen Schaum ist der Kaffee nachtschwarz. Mit der Hand streiche ich über die grünlich gläserne Theke. Das ist sie also, die Kaffeebar, die einst Cristoforo und Edgardo, meinem Urgrossvater und dessen Bruder gehört hatte. Der Ort in Rom, wo das Leben von Alma, meiner Grossmutter, eine erste dramatische Kehrtwende erfuhr. 8


Ich sehe mich, das sechsjährige Mädchen mit den Stirnfransen, an Almas Beerdigung – nicht in Rom, sondern im Puschlav. Wie ich auf dem engen Vorplatz stehe, rund um mich herum schwarz gekleidete Menschen, die sich begrüssen, flüstern, sich die Nasen schnäuzen. Und mittendrin stand der Sarg. Ich wusste, etwas Wichtiges war passiert, und ich wollte dabei sein. Doch so sehr ich mich auch gewehrt hatte, ich weiss noch genau, ich hatte nicht mitgehen dürfen. Vage erinnere ich mich, dass auch die zie aus Rom da gewesen waren, die Nichten von Alma. Sie kamen beinahe jeden Sommer hinauf in das Bergtal und schwärmten immer von der aria genuina – der gesunden Bergluft. Sie waren klein, elegant gekleidet und voller Temperament. Meine Schwestern und ich freuten uns, die drei Tanten zu sehen, denn sie gingen jedes Mal mit uns in das Café an der Piazza. Wir Kinder waren wild auf die gelati, die es dort gab, weil man sie so, frisch in der Waffel, nicht bekam an unserem Wohnort in der Deutschschweiz. Auch wir verbrachten die Sommerferien im Puschlav und nicht etwa am Meer wie meine Schulkameraden. Deshalb war mir Italien kein Begriff, bis ich zum ersten Mal nach Rom reiste und mich in einer verrückten, verkehrsverstopften Stadt wiederfand. Ich war siebzehn und entsetzt darüber, dass abends, wenn wir uns die Nasen putzten, sich die weissen Taschentücher schwarz färbten. Ich weiss auch noch, wie meine Schwestern und ich auf dem Rücksitz des roten Topolino sassen. Am Steuer die zia. Wir brausten über die Piazza Venezia. Ich staunte über das riesige, blendend weisse Monument. Die Tante nannte es spöttisch die «Schreibmaschine». Später raste sie über eine Kreuzung, obwohl die Ampel bereits auf Rot gesprungen war. Sie wollte die andere Tante und unsere Eltern, die vorausfuhren, im Chaos des römischen Stadtverkehrs auf keinen Fall verlieren. Wir Kinder kreischten, vor Schreck und vor Übermut. 9


Und jetzt, zwanzig Jahre später, bin ich zum zweiten Mal in Rom. An der Piazza Venezia habe ich festgestellt, dass die «Schreibmaschine» anders aussieht als in meiner Erinnerung. Auf dem verkehrsberuhigten Platz ist jetzt ein grasbewachsener Kreisel, Sigthseeingbusse und Reisecars fahren heran, Touristen flanieren auf der autofreien Strasse, die zum Kolosseum führt. Meerkiefern spenden Schatten. Das Vittoriano ist eine gigantische Säulenreihe mit Treppen, Balustraden und Ornamenten und der bronzenen Reiterstatue von König Vittorio Emanuele II in der Mitte. Das Weiss des Marmors hebt sich ab vom Rostrot der anliegenden Palazzi. Nach dem Willen der Erbauer sollte das Denkmal zur Ehre des neuen, geeinten Italiens alle bestehenden Wahrzeichen der Stadt überstrahlen. Heute wirkt es fremd und selbstgefällig. Mit dem Lift bin ich auf das Dach des Monuments hinaufgefahren, um die Stadt von oben zu sehen. Ein Foto in einem Schaukasten auf der Zwischenterrasse zeigt Szenen der Einweihung: ein schwarzes Meer von gedrängt stehenden Menschen und gehissten Fahnen. Jeder Zwischenraum, jeder Vorsprung und sogar das Dach ist von Feiernden besetzt. Man sieht den klein gewachsenen König Vittorio Emanuele III flankiert von den corazzieri – den gross gewachsenen Soldaten seiner Leibgarde. Ich habe mir vorgestellt, wie die Leute damals, von der Piazza aus, nur den hohen Zylinder sahen, wie er sich hob und senkte mit jeder Stufe, die der König emporstieg, im Takt mit den hin- und herpendelnden Rosshaarschweifen auf den Helmen der Gardisten, und wie deren silbrige Brustpanzer glänzten und die Reitersäbel rasselten. Man hatte die Einweihung des Vittoriano im Jahr 1911 zum Anlass genommen, Cavour, Mazzini und Garibaldi und das fünzigjährige Bestehen des italienischen Nationalstaats zu feiern. 10


Rom, Blick vom Vittoriano in Richtung Kolosseum, im Hintergrund die Basilika San Giovanni in Laterano und die Albaner Berge, 2012.

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Das war das Jahr gewesen, in dem Alma Rom hatte verlassen müssen. Mit siebzehn Jahren. Ich denke nicht, dass sie bei der Einweihungsfeier dabei gewesen war. Die Puschlaver Auswanderer hielten, sofern sie denn katholisch waren und nicht re­ formiert, dem Papst die Treue. Und Kirche und Königreich waren sich spinnefeind. Aber bestimmt war die ganze Familie zur Gelateria Fassi gefahren, die an diesem besonderen Tag des Monats Juni allen Kindern ein Eis frei ausgegeben hatte. iii Nervös strich sich Cristoforo mit der mageren Hand über den Schnurrbart und zwirbelte ihn nach oben. Er eilte voraus, um am Largo Brancaccio nach einer freien Kutsche Ausschau zu halten. Alma und Pietro, der fünfjährige Bruder mit den pechschwarzen Locken, hielten mit ihm Schritt. Der Vater schaute seine Tochter an. Sie war mittlerweile fast so gross wie er. Angst, dass ihm nur noch wenig Zeit verbleiben könnte, regte sich in ihm. Fahrig zeigte er auf die Ankündigung der Einweihungsfeier an der Plakatsäule und erklärte, mit dem Bau des Vittoriano habe man begonnen, kurz nachdem er in Rom angekommen sei. Damals habe er in der Nähe gewohnt, und ja, den Kapitolshügel habe er noch gesehen, bevor man ihn abzutragen begann. Das sei auch die Zeit gewesen, als man die Piazza in ihrem Quartier erstellt habe, die Parkanlage, ebenfalls zu Ehren des verstorbenen Königs. «Ah!» Alma nickte. Vater sprach von einer Vergangenheit, für die sie keine Bilder hatte. Ihr Quartier, das war die Peripherie Roms. Dort, wo all ihre Freundinnen lebten. Die meisten waren Töchter von Landsleuten ihrer Eltern. Von Zugezogenen. Aber Herkunft hin oder her: Sie war Römerin, und die Stadt war ihr Zuhause. Hier 12


würde sie eine Liebe finden, heiraten und Kinder haben. Keines würde früh sterben müssen, weil es für sie alle nur die beste medizinische Versorgung geben würde. Sie würde ins Kino gehen und in den grandi magazzini Kleider kaufen. In der Stube ihrer Wohnung würde ein Grammophon Musik abspielen, und sie würde Fahrrad fahren. Und wenn sie dann einmal ganz alt sein und sterben würde, sollten ihre Kinder sie auf dem Campo Verano begraben. Zia Ludovica, Vaters ältere Schwester, und Anna, die Mutter, hatten sie eingeholt. Die Tante hielt keuchend an und strich sich weisse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Giacomo schmiegte sich an die Mutter. Wie immer. Mammà, dachte Alma, ist das Gegenteil von Vater. Ein kleiner, fülliger Körper und energische Hände, ein schönes rundliches Gesicht. Vater und Mutter kamen aus der Schweiz, aus dem südöstlichsten Zipfel des Landes, der an Italien grenzte. Das winzige Dorf, steile Berge und der ewige Schnee auf den höchsten Gipfeln tauchten in ihrer Erinnerung auf. Sie war ein einziges Mal dort gewesen. Im Sommer 1900, als Attilio auf die Welt gekommen war. Sie sah das ärmliche Haus der Grosseltern am Fuss des Berges und die Tiere. Sie hatte sich vor den Kühen gefürchtet, aber sie spürte noch, wie aufgeregt sie gewesen war, als sie die Schafe hatte streicheln dürfen. Deren Wollkringel waren nicht weich gewesen, sondern rau und fest. Sie zuckte zusammen und packte Pietro an der Hand. Vor ihr schrien und winkten Attilio und Irene aufgeregt einem herannahenden Kutscher zu. Pietro riss sich von ihrer Hand los, und Folco, der in der Hocke Kieselsteinchen vom Boden aufgelesen hatte, sprang auf. Vater hob beide in die Kutsche, drückte Anna einen Geldschein in die Hand, sagte: «Ciao, bambini!» und wandte sich hastig ab. Er musste zurück an die Arbeit. Zia Ludovica nahm Folco, den Jüngsten, auf ihren Schoss, Mutter Pietro, den Zweitjüngsten. Die anderen Kinder kletter13


ten ebenfalls in die Kutsche. Als Letzter, wie immer, und mit der Hilfe von Alma, Romeo. Der sechzehnjährige Bruder, der versehrte Junge im Kind gebliebenen Körper. Sie sassen zusammengepfercht und schwitzten. Zum Glück hatte sich die Sonne hinter weissen Schleierwolken versteckt. Er Ponentino – die frische Brise vom Tyrrhenischen Meer her – wehte wohltuend durch die Strassen. Pietro beugte sich zu Folco hinüber und stupste ihn. «Bleibt ruhig, Kinder, sonst wird mir schlecht!» Mutter zog Pietro zurück und warf Folco einen warnenden Blick zu. Sie ratterten durch die Via Nazionale, den hohen, stattlichen Palazzi entlang, vorbei an flanierenden Fussgängern und durch das Durcheinander der Kutschen hindurch, die in alle Richtungen fuhren. Kurz vor der Piazza delle Terme liess der Kutscher die Pferde nach links in die Via Torino abbiegen. Das Gewicht der Familie hinauf zur Via XX Settembre zu ziehen, machte den Tieren zu schaffen. Vom Fontanone dell’Acqua Felice her streifte sie ein kühler Lufthauch. Dann bogen sie nochmals links ab und stiegen in der Via di Porta Salaria aus. Die Grande Gelateria Elettrica Siciliana di Giovanni Fassi war die modernste Konditorei und die beste Eisdiele der Stadt. Sie erreichten die grosse, laute Menschenmenge, die drängelnd vor dem Eingang stand. Missmutig stellte sich Alma mit den anderen zuhinterst an. «Mammà, ich will Eis!» Auch dem dreieinhalbjährigen Folco war die Warterei verleidet. «Es wird dir schmecken.» Mutter lächelte und strich Folco über die Wange. «Du hast ja keine Ahnung, was es gibt!», spöttelte Irene, die vier Jahre ältere Schwester. «Do-och! Fata bianca!» «Und was ist das?» 14


«Eis!» «Macché! Die fata bianca ist eine Fee. Die rutscht in deinen Bauch hinunter und verzaubert dich.» Sie bohrte den Zeigefinger in Folcos Bauch. Dieser schaute mit grossen Augen an sich hinunter. «Aber ich will Eis!» Er packte ihren Finger. «Und wenn du verzaubert bist, kannst du fliegen.» «Ich komme mit ins Zauberland», warf Pietro eifrig ein. «Dann fliegen wir zu Pupi und Drago!» Er ruderte heftig mit den Armen. «Jaa!» Folco und Giacomo lachten aufgeregt. «So ein Blödsinn», kommentierte Attilio trocken die Begeisterung seiner jüngeren Geschwister. «Beh, pass du bloss auf! Wenn du Drago nicht magst, dann holt er dich!» Irene packte Attilio an den Schultern und fauchte ihn an. «Hör auf!» Bevor sich Attilio ihrem Griff entwinden konnte, stürzten sich Pietro und Folco auf ihn. Er rannte davon, um sie loszuwerden, die anderen drei hinter ihm her. Die Mutter schaute Alma an: «Gehst du?» Alma verzog das Gesicht und eilte widerwillig den Geschwistern nach. In Richtung Porta Salaria. Als sie zurückkehrten, stand Mutter mit Giacomo, zia Ludovica und Romeo im halbdunklen Innern des Lokals. Die Kleinen stellten sich vor den Glaskasten, der sie magisch anzog, und starrten mit glänzenden Augen in die aneinandergereihten Kübel mit den bunten Eissorten. Als die Kinder endlich die Waffel mit der schneeweissen, flaumigen Eiscreme in die Hand gedrückt bekamen, machten sie sich gierig über das zauberhafte dolce her. Innert weniger Augenblicke waren Münder und Hände verschmiert und Hosen und Jacken verkleckst. Später, nachdem sie die Hände an einem nahegelegenen 15


Brunnen gewaschen hatten, bummelten sie die Hauptstrasse entlang und fuhren dann mit der elektrischen Tramway zur Piazza Santa Maria Maggiore. Auf dem von neu gepflanzten Platanen gesäumten Strassenstück bis zum Häuserblock, in dem sie wohnten, gingen sie zu Fuss. Schon bald tauchte Vaters Geschäft auf. Der Eingang befand sich in der Spitze des Winkels, dort, wo die Via Mecenate in die Via Merulana mündete. «Bar e liquoreria» stand darüber in goldgelben Buchstaben auf einem schwarzen Schild. Neben der Tür prangte eine Tafel mit dem weissen schwungvollen Schriftzug «Coca Cola» auf rotem Hintergrund. Ein brandneues kaffeebraunes Getränk, das, so hiess es, aufputsche und Kopfschmerzen lindere. Daneben die Werbung für Fernet-Branca mit dem Bild eines Adlers über einer Erdkugel, das Alma schon als kleines Mädchen fasziniert hatte. Der forno e drogheria – die Bäckerei mit dem Laden – befand sich rechts davon in der Via Mecenate, die Bar und das Eingangsportal zu ihrem Wohnblock links in der Via Merulana. Übermütig stiegen sie die Treppen hinauf und traten, durch die mittlere der drei Wohnungstüren, direkt in die Küche ein. Nazzarena, die Gouvernante, stand am Kochherd. Die schwarzen Röcke unter der weissen, spitzenbesetzten Schürze standen von ihren Hüften ab wie eine grosse Glocke. Ihr gutmütiges ­Gesicht war umrahmt von dichtem, pechschwarzem Haar, das in einem strengen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden war. Nazzarena klatschte die Hände zusammen und starrte die Flecken auf den Sonntagskleidern der Kinder an: «Mamma mia!» Alma sah, wie sie mit sich rang und nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Bis Folco die Arme nach ihr ausstreckte, Nazzarena ihn auf den Arm nahm und die anderen Kinder, lachend und schimpfend zugleich, ins Badezimmer dirigierte. 16


Derweil erzählten ihr diese schwärmend von den Zauberkünsten der fata bianca und der Fahrt mit der Tramway. Alma verschwand unbemerkt in ihr Zimmer. iv Über die Via Cavour habe ich die Basilika Santa Maria Maggiore erreicht. Dahinter beginnt die Via Merulana. Sie führt schnurgerade zur Basilika San Giovanni in Laterano hinunter. Von dort aus sind, über die Aurelianischen Stadtmauern und die Bogen der antiken Wasserleitungen hinweg, die Albaner Berge sichtbar. Im oberen Teil der Via Merulana steht der Palazzo Brancaccio. Hinter ihm erstrecken sich dessen riesige Gartenanlage und die Reste der Trajansthermen. Weiter unten befindet sich das Goldene Haus von Kaiser Nero im Parco del Colle Oppio mit seinen hohen Palmen und Zypressen, der zu einem meiner Lieblingsorte in Rom wird. Von da aus sieht man das Kolosseum unten am Fuss des Hügels, das seit fast zweitausend Jahren, zwar halb zerfallen, doch immer noch aufrecht dasteht. Im Rücken des Vittoriano. Ich hatte den Stadtplan genau studiert. Nach dem Palazzo Brancaccio musste die Kaffeebar sein. An der Ecke zur Via Mecenate. Ich war aufgeregt, neugierig, und ich brauchte einen starken caffè. Den ich jetzt in zwei Schlucken hinunterstürze. Das dazu servierte Wasser ist frisch und gut. Ich behalte das kühle Glas in den Händen, bestelle einen zweiten Kaffee und setze mich draussen an einen Tisch. In meinem Blickfeld der Hauseingang. In den Blättern über mir das Rascheln des Windes. Wann hatte ich gemerkt, dass ich nichts wusste von Alma, meiner Grossmutter? Ausser an die Beerdigung habe ich eine einzige ferne Erinnerung an eine zerbrechliche Gestalt, die in der Küche sass, in einem Sessel, eine selbstgestrickte Decke 17


Rom, Stadtplan (Ausschnitt) aus Baedeker, Karl: Handbuch fĂźr Reisende, Mittelitalien und Rom, Leipzig, 1908.

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über den Knien, und nie sprach. Wie ein verblasstes Foto, auf dem nur noch die Umrisse erkennbar sind. Wie konnte ich mehr über sie erfahren, über den Ort und die Zeit, in die sie hineingeboren worden war? Solange ihre jüngeren Geschwister noch lebten, hätte ich diese fragen können, doch als Jugendliche interessierte mich das alles nicht. Warum denn jetzt diese Suche nach den Vorfahren? Hatte die Krankheit diese Sehnsucht ausgelöst? Die Erfahrung, physisch und psychisch an Grenzen zu stossen? Das Ringen nach Halt im Zerfleddern des Körpers, im bodenlosen Dahinfallen der Seele? Eine Ahnung der Endlichkeit des irdischen Lebens, die mich aufrüttelte? Ich bemerkte auch, dass Alma auf keinem meiner Kindheitsfotos abgebildet ist. Nur der weisshaarige Attilio. Warum nur? Hatte sie nicht dabei sein wollen an meiner Erstkommunion? Oder hatte man sie nicht eingeladen? Ich war entrüstet. Sie war halt alt. Aber Grossmütter sind alt! Ich begann, Fragen zu stellen. Meinem Vater, seiner Schwester und seinem Bruder, Almas Kindern. Und jetzt bin ich da, um den Ort und die zie erzählen zu lassen. Auf einmal fällt mir auf, dass andauernd Leute auf die Klingelknöpfe am Hauseingang drücken und dann das hohe Eingangsportal aufspringt. Wenn auch ich das Haus betreten könnte? Ich fasse mir ein Herz und beschliesse, die Nächsten, die eintreten, anzusprechen. Es sind zwei junge Männer, die zu meiner Überraschung sehr zuvorkommend reagieren und mich, als ich den Grund für mein Hiersein schildere, mit hinauf nehmen. Die Wohnung im ersten Stock habe ein Chinese gekauft und daraus eine Pension gemacht, erzählen sie mir. Und, was für ein Zufall, einer der jungen Männer ist der gerente – der Geschäftsführer. Ich darf einen Blick in jedes der zahlreichen hohen Zimmer werfen, in die Küche, in den engen Innenhof. Ich kann fast 19


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