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orte Leseprobe

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Gegründet von Werner Bucher im Jahr 1974 Nr. 184, Dezember 2015 ISBN 978-3-85830-178-9; ISSN 1016-7803 Erscheint 5 Mal jährlich Redaktion: Redaktion orte Annekatrin Ranft-Rehfeldt Urdorferstrasse 59, CH-8953 Dietikon Tel. +41 44 742 31 58, redaktion@orteverlag.ch Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Co-Leitung), Regina Füchslin (Co-Leitung), Viviane Egli, Anne-Marie Kenessey, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Peter K. Wehrli Verlag:

orte Verlag Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch

Einzelnummer: Fr. 18.– Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr. 140.–   (5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr. 80.–   (5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr. 60.–   (5 Ausgaben pro Jahr ohne Poesie-Agenda) Abonnemente im Ausland: Fr. 12.– Zuschlag Inseratepreise: Inserateverkauf:

1 / 1 Seite (121 x 180 mm) Fr. 400.– 1 / 2 Seite (121 x   88 mm) Fr. 200.– 1 / 4 Seite (121 x   42 mm) Fr. 120.– Rosmarie Gamboni, rosmarie.gamboni@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 42, Fax +41 71 353 77 56

Umschlaggestaltung: Janine Durot, orte Verlag, Schwellbrunn (unter Verwendung des Bildes Beine von Judith Albert) Copyright der Texte bei den Autorinnen und Autoren. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Für die wertvolle finanzielle Unterstützung unserer Zeitschrift danken wir herzlich:


orteinhalt 3 Editorial

orte 5 inhaltsverzeichnis Lyrikfestival Basel

Annekatrin Ranft-Rehfeldt

10 Interview mit Ron Winkler

DADA UND WEITER: LASST DIE WÖRTER FREI! 22 Einführung

Anne-Marie Kenessey Peter K. Wehrli

24 Kommt wir haben die Welt entdeckt! Interview mit Walter Mehring und Marcel Janco

Peter K. Wehrli

30 Dada 100

Gerhard Jaschke

36 Hörlinge und Sehlinge

Elisabeth Wandeler-Deck Heike Fiedler Jurczok 1001

48 Dadaïsierendes ABC

Anton Bruhin Christian Uetz

52 Neodada und Fluxus 66 Dada und Dadadanach Interview mit Roland Scotti

Emmet Williams Ghérasim Luca Gellu Naum Gerhard Rühm Dieter Roth Erwin Messmer

72 Autorenbiographien 74 orte Poesie-Agenda

Interview mit Jolanda Fäh und Susanne Mathies

76 78 80 83 85 86 88

orte Bestenliste hör-orte orte-Buchladen orte-Lyrikregal orte-Longseller orte-Agenda orte-Marktplatz

Regina Füchslin David Philip Hefti Peter K. Wehrli

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orteeditorial

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im cabaret VOltaire

täglich 6 :30 OFFizium 20 :00 sOirée

ausstellung

Dieses von Annemarie Kenessey, Erwin Messmer und Peter K. Wehrli zusammengestellte orte Heft erscheint anlässlich des 100 Jahre Dada-Jubliäums. Dass wir diese Gelegenheit für ein Dada-Heft nutzen wollen, stand für die Redaktion schon lange fest. Ebenso, dass es nicht eine rein rückwärts schauende Zusammenstellung des historischen Dadaismus sein soll. Vielmehr bietet Ihnen die vorliegende orte-Nummer nun die Gelegenheit mitzuverfolgen, wie der Urantrieb «Dada» auch im Schaffen von nach Dada geborenen – und besonders natürlich zeitgenössischen – Künstlerinnen und Künstlern eine wirksame Kraft ist. Ausserdem dürfen wir in dieser Ausgabe den Preisträger des Lyrikfestivals Basel vorstellen. Annekatrin Ranft-Rehfeldt hat sich mit Ron Winkler in Berlin unterhalten und Ulla Hahn und Mirko Bonné eingeladen, mit ihren Texten einen Vorge-

5.2.2016 –18.7.2016

165 Feiertage

ObsessiOn

DaDa

Liebe Leserinnen, liebe Leser Liebesleer, nein: lieber lesen Belesene Innerei, bell leiser Ein Leben, ein Sellerie. Selber!


täglich 6:30 OFFizium 20: 00 sOirée

im cabaret VOltaire

Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre und grüssen zum Jahresende herz­lich       Regina Füchslin und Annekatrin Ranft-Rehfeldt

ausstellung

5.2.2016 –18.7.2016

165 Feiertage

DaDa

schmack auf das Festival zu geben. Dieses wird Ende Januar 2016 zum dreizehnten Mal in Basel stattfinden. Noch nicht gerade 100-jährig, aber immerhin ein Vierteljahrhundert alt ist die Poesie-Agenda des orte Verlags. Ihre He­ rausgeberinnen, Jolanda Fäh und Susanne Mathies, erzählen im Interview, was es mit diesem schönen Büchlein auf sich hat – und wichtig: Die Agenda eignet sich hervorragend als Weihnachtsgeschenk. Hinweise auf Veranstaltungen und Bücher für lange Dezembernächte finden Sie wie immer in den Rubriken, in denen diesmal auch zwei Neuerscheinungen zum Dadaismus vorgestellt werden.

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Internationales Lyrikfestival Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel findet 2016 zum 13. Mal von 29. bis 31. Januar 2016 statt. Eine Gruppe von Lyrikerinnen und Lyrikern aus Basel und zugewandten Orten lädt Gäste aus dem In- und Ausland ein und stellt deren Werke vor. Lesungen, Performances, Gespräche, Workshops und Seminare geben Einblick in das aktuelle Lyrikschaffen im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Zur Programmgruppe gehören Rudolf Bussmann, Ingrid Fichtner, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues, Rolf Hermann und Kathy Zarnegin. Gastgeber ist das Literaturhaus Basel. Im Rahmen des Lyrikfestivals wird seit 2008 der Basler Lyrikpreis verliehen. Er ist mit 10 000 Franken dotiert. 2016

geht er an den deutschen Lyriker Ron Winkler. Die Literaturzeitschrift orte hat den Preisträger Ron Winkler in Berlin besucht. Ein Interview mit dem Lyriker und eine Auswahl aus seinem Schaffen werden in dieser Ausgabe präsentiert. Das gesamte Programm des Festivals finden Sie in unserem orte-Heft. Gäste des Festivals werden unter anderen die deutsche Gegenwartslyrikerin Ulla Hahn und der Autor und Lyriker Mirko Bonné aus Hamburg sein. Wir freuen uns, Sie mit einigen Kostproben ihrer Lyrik bekannt machen zu können und hoffen, damit Ihr Interesse für einen persönlichen Besuch am Inter­natio­nalen Lyrikfestival zu wecken. Annekatrin Ranft-Rehfeldt

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RON WINKLER

Foto: Christiane Wohlrab

Ron Winkler, geboren 1973 in Jena, lebt in Berlin. Schriftsteller und Übersetzer. 2013 erschien neben seinem vierten Gedichtband Prachtvolle Mitternacht (Schöffling & Co.) die Kurznovellensammlung Torp. Neue Wimpern (Verlagshaus J. Frank). 2014 publizierte er Zuwendung in Zeichen. Postkarten (SuKuLTur). Er ist Herausgeber unter anderem von Schwerkraft. Junge amerikanische Lyrik (Jung und Jung 2007), Die Schönheit ein deutliches Rauschen. Ostseegedichte (Connewitzer Verlagsbuchhandlung 2010) und Schneegedichte (Schöffling & Co. 2011). Gemeinsam mit Tom Schulz herausgegeben erschien zuletzt Der v ­ enezianische Traum, eine Sammlung deutschsprachiger Venedig-Lyrik (Schöffling & Co. 2015). 2005 erhielt er den Leonce-und-Lena-Preis, 2006 den Mondseer Lyrikpreis und 2015 den Lyrikpreis München.

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Ich habe eine Falte, wo die Stadt beginnt. Die Sonne ist die eigentliche Sonne. Vieles findet in Alkoven statt: Sünderholz und Kaffeekränze, Schützenfeste. Phlox. Die Gegenwart empfinde ich noch stärker als die Peitsche der Vergangenheit. Die Zukunft als die Vorstufe von etwas, das davor kam. Mein Klima ist subtropisch wie die Kleidung. Die Eigentümer vermehren sich durch Umbruch. Auch davon gibt es nur dieses eine Land. Du spürst die Erosion am eigenen Leibe, dramaturgisch ein Fauxpas. Manchmal klag ich Licht ein, Eigentümer hin und Eigentümer her. Ich atme frei. Die Yanomami kommen bis zum Arm. Die Analyse zeigt, dass wir uns lieben. Und das verkaufen wir frontal.

Ich weidete die Auen, Dünen, weidete das Meer und wiegelte die Möwen ab, blickte mit dem Martinshorn bis an den Rand der Tiefe. All das 23-Stunden-Gold. Aber die Kinder waren süss. Als Amtssitz reichte das für ein paar Tage immerhin. Auch die Wellen schienen noch in Ordnung. Manche sahen aus wie invertierte Köpfer. Im Reservat kürzte man sie nachmittags mit altem Zauber zu einem Aerosol, das das Geflohene an das Gewollte bindet. In den Einkaufszentren, weit von sich entfernt, lag der dazu synchrone Sand. In Röntgenlicht. Die uns begegnen, leben in den Spinnen. Sie gehen ohne Schutzblech auf die höchsten Klippen. Glühwürmchen sind ihre Schlüssellöcher, ihre Schlüssel. Ich unterstreiche das, so weit es geht, mit deinem Honig und gehe wie Petrarca mit zerschundenen Händen in den Traum und aus dem Traum heraus.

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Es gibt kein Halten mehr. Die Wolken finden keinen Himmel. Das Cockpit ist verklebt mit Schmetterlingen, innen, auch ich bin Toter Admiral zu manchen Zeiten. Im Charaktersimulator durchkalbte mich etwas grosses Glaziales, ich mass sofort, ob wir die Berge sahen und wer die Fremden waren in unserem Stream. Poesie vielleicht? Deine Bauschkraft federt uns noch immer ab. Schon die Kinder schreiben Sinfonien für Bolzenschussgeräte. So übermannen sie den Fjord. Obwohl Natur persönlich etwas anderes ist, sind die Fleischereien überheizt. Wachsen die Bäume über sich hinaus, holt man sie ab. Das ist ein dunkles Öl für unsere Herzen. In ihnen geht es stündlich besser. Ich selbst fühle mich ganz und gar wie abgebildet auf dem Hundertträumeschein. Sei stark zu Hause, heul Treppen in die Heimat und nimm den nächsten Papst zum Mars.

Das Containerschiff war jeden Tag ein anderes Land. Wir standen am Kai, bildeten in Sichtweite zur Sonne ein Ja und schauten, was passierte. Es geschah. Die Flut, sehr Laune der Natur, lieferte ein kleines Weisses. Die Stradivari brannten schlechter, als wir dachten. Die Möwen brachten nicht die richtige Umgebung. Das sah einfach aus, erforderte jedoch bestimmt Geschick. Es gab ein stetes Brummen, wir tranken Weitungswasser und gingen doch ins Ich zurück. Teenies trampten durch das Parkhaus bei den Landungsbrücken. Mit zerstörtem Deutsch. Was sie wollen. Wie. Ich will nicht mit meiner Peer ins gleiche Krankenhaus.

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Die Letzten wollen nicht. Früher oder später müssen sie. Am Himmel herrscht seit Wochen Pracht. Die Wilden sind ein guter Christenmensch und die Bäche (jauchzet und frohlocket) erinnern uns an eure Tränen, Tränentäler. Ich vergesse das manchmal, doch leckt mich Schlaf ab, fremdet mich zurück. Wir liegen dort, wo die Kantine ihren Dschungel hat. Kochen Marmelade aus dem Laub, sichern die Spuren, schleifen die Antennen. Man hat Asche für Korrekturen ausgegeben und Schallschutztrichter für die Münder. Wenn ihr könntet, würdet ihr mich in meiner Winterpose sehen. Es ist warm.

Den Kondensstrahl konnte ich nicht halten. Wir alle trinken jetzt direkt aus dem Orakel, oh denksächliches Sein! Uns umschwirren tatselige Insekten. Die Wespen stechen nur sich selbst. Das eilt sie aber nicht. Die Vögel können gut auf Mendelssohn, sobald der Mond islamisch steht. Ich hab Flut dann unter den Lidern, grünschwarz Moll. Die Zweitgeborenen stehen in Kolkgewässern und wissen nicht mehr weiter. Es durchfliesst sie kalte Lymphe, obwohl die Sonne brennt. Das entspricht nicht meinem Kulturell, nicht meinen Paragrafen. Doch ich schlafe gut, und nackter jede Nacht und unbelegter. Laichballen in Händen meinen wir die Herzschläge der Quappen spüren zu können. Der Quappenschlag, gut aufbewahrt macht er die Feen am Grössten. Es kann kaum besser sein: subtropische Nächte, Früchte, Lüste. Obwohl: Das absolute Meer hab ich verpasst.

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Interview mit Ron Winkler, dem Gewinner des Basler Lyrikpreises 2016 Lokaltermin: Das Berliner Scheunenviertel, ein gutbürgerliches Wohnquartier, Viertel nach vier. Das Summen der Gegensprechanlage lässt uns wortlos in das Haus des Dichters eintreten. Eine Altbauwohnung aus der Gründerzeit mit hohen, weissen Decken, schweren Holztüren und einem Blick in den Innenhof zu einem dunkelblau angemalten Haus. Das bunte Herbstlaub rund um das Fester lässt diesen Blick aus der Küche wie ein Gemälde aussehen. Der graue Himmel gibt einen Rahmen der Phantasie.

Auf dem Herd brodelt in einer alten Silberkanne das Wasser für den Kaffee. Zwei braune Tassen; eine kleine, dicke Dunkelbraune und eine hohe, glatte Schlanke ohne Henkel stehen wenig später auf dem mit Büchern und Schriften vollbelegten Küchentisch. Die Worte scheinen förmlich in der Luft zu hängen, und wir laufen während dem Gespräch immer wieder durch die Räume der Wohnung, um sie abzupflücken.

Annekatrin Ranft-Rehfeldt: Was bewegt einen jungen Mann wie Sie im 21. Jahrhundert Lyriker zu werden? Ron Winkler Die Zählnummer des Jahrhunderts ist nicht unbedingt eine wichtige Kategorie, obwohl Gegenwärtigkeit wesentlich zu den Impulsen meines Schreibens zählt. In und mit und aus der Gegenwart zu schreiben, für sie und durch sie, erachte ich als unabdingbar. Das immer Neue in der Welt braucht immer Neues in der Sprache, Vernetzung und Verneuerung. Und überhaupt braucht es auch immer weiter Schönheit, Zauber, Euphonie und Wahrheit und Konterper­ spektiven und Utopie. Das Gedicht darf gerne eskapistisch sein, exterritorial und aussersinnlich, aber ich muss in ihm auch Synchronisierdocks finden können. Und: Ich empfinde das Denken selbst als lyrisch, insofern ist es ein genuiner Vorgang, dessen verblüffungsreiche Struktur auch in einer Kunstform produktiv zu machen. Man ist da, denkend, und hat sich trotzdem nicht, also muss man sich mit sich selbst vereinbar machen. Und sich dann hinausverüben. Das ist ein bleibend grosser Reiz. Herzlichen Glückwunsch zum Basler Lyrikpreis 2016. Was bedeutet der Schweizer Lyrikpreis für Sie? Mit meinem Aufenthalt in Lenzburg habe ich von dort aus die Schweiz besser kennen lernen dürfen. Zusammen mit kürzlichen Einladungen nach Thun und St. Gal-

Fotos: Annekatrin Ranft-Rehfeldt

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len hat sich nun so etwas wie eine Schweizer Aufmerksamkeit ergeben, was schön ist und man vielleicht schon eine Schweizer Periode nennen kann. Abgesehen vom persönlichen Wow-Effekt, der mich als Lyriker in diesem Jahrzehnt irgendwie real macht, stehen Preise natürlich an der Spitze der Wahrnehmungsbeschleuniger. So wie man als Autor per Preisverleihung erfährt, dass es da draus­ sen wirklich Leser gibt, erfahren mögliche Leser von einer Poesie. Was könnte besser sein? Wann haben Sie begonnen zu schreiben? In je verschiedener Hinsicht zu unterschiedlichen Zeiten. Äusserst sporadisch zu Ende der Achtziger, als eher private Spielform früh in den Neunzigerjahren, konsequenter dann im Anschluss, als ich auf ähnlich Gesinnte traf. Dass mein Debüt dann erst Jahre später erschien, zeigt, welche Räume ich noch zu durchschreiten hatte. Im Wohnzimmer stehen hohe einzelne Regale voller Bücher. Aber nicht wahllos aufgereiht, sondern eine Sammlung an schmalen, schlanken, fast unscheinbar wirkenden Lyrikbänden. Alle alphabetisch geordnet. Im Flur hängt eine graue Filzpostkarte an der Wand und eindrückliche Werke der Künstlerin Jorinde Voigt, deren schwarz-weiss Arbeiten auf strengen Regelwerken, Algorithmen und arith­ metischen Parametern basieren, sind in den Wohnräumen verteilt.

Welches wäre ihr Lieblingsbuch aus der Lyriksammlung und warum? Das ist wirklich, wirklich schwer zu sagen. Nur ein Lieblingsbuch zu haben, kann

Filzpostkarte im Flur des Autors

man sich eigentlich auch gar nicht leisten, das wäre statisch. Unter den Favoriten finden sich materialreiche Poetiken polyphoner und multimentaler Natur, aber auch karge Setzungen. Der Maelstrom kann mich so berauschen wie ein lyrischer Minimalismus. Hier aber einige Kandidaten als Urheber von «Lieblingsbuch»: Hans Magnus Enzensberger, Friederike Mayröcker, Jeffrey McDaniel, «Matthias» BAADER Holst, Matthea Harvey, Paulus Böhmer, George Calvin Waldrep, Daniel Falb, Tomas Tranströmer, Else Lasker-Schüler, Allen Ginsberg, Bert Papenfuss. Was macht Ihrer Meinung nach ein gutes Gedicht aus? Eine Frappanz, die sich auch dauerhaft erhält. Berückt werden durch plausible Umwege oder umwerfende Abkürzungen hin zu etwas, was im Wort «Erkenntnis» nur unscharf gespiegelt ist. Wenn man spürt, dass eine Balance gefunden ist aus erstem naivischem Staunen und Summe langer Erwägung, Irritationen inklusive.

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jede Sekunde dient der Präzisierung einer solitären Grammatik. ihre einzige REGEL: (beachte sie) es gibt sie nicht. Aus: vereinzelt Passanten, kookbooks 2007

Wann werden Sie in der Schweiz lesen? Am 30. Januar 2016 in Basel. Wie entstand der Zyklus «Zuwendung in Zeichen – Postkarten»? Die Texte, oft in der Schwebe zwischen prosaischem Rapport und Poesie, basieren auf Karten, die ich in den letzten fünfzehn Jahren als Zuwendung an eine Frau geschrieben habe. Die Karten sind quasi Parallelaktionen innerhalb des Œuvres. Sie enthalten alle Elemente meiner Poetik, zielten aber zunächst nicht darauf ab, als lyrische Körper in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich habe mich dann aber zur Veröffentlichung entschieden, weil sie eine Art Echtheitszertifikat für die Funktion «Dichter» ausstellen. Sie zeigen, woher die Reise kommt. Welche Rolle spielten die Ostseegedichte in Ihrer Schreibentwicklung? Wie eine steife Brise hatte ein intensiver Aufenthalt auf dem Darss das bisherige Repertoire gehörig aus den Fugen geblasen. Davor glichen die Gedichte eher intellektuellen Zurichtungen, die das eigene

Wollen zu einem Sollen formten. Plötzlich aber hatte ich Lust, das ganze Ich in den Text hineinspielen zu lassen. Sinnlicher und auf eine natürliche Weise dialogischer. Keck statt moralisch. Augenzwinkernd statt verbissen. Wenngleich ich die frühen Texte ob ihrer Schroffheiten und Insistenz nach wie vor schätze. Wie kam es zur Verbindung mit den Kunstwerken mit Jorinde Voigt und dem Pfeilmantelgedicht? Viele Gedichte sind Ergebnis irgendeiner Dialektik oder Rekursion. Kleine Antwortkassiber auf Anregungen, die man von irgendwoher erfahren hat, sei es ein Wort, eine Person, ein gesellschaftlicher Zusammenhang oder ein Kunstwerk. Wie Jorinde Voigt auf Welt zugreift, ist mir sehr nah. Die mehrfachen Transformationen von Erfahrungsmodulen, das Miteinander von fast wissenschaftlicher Analyse und zugleich dem Ausstülpen des eigenen Weichbilds und das Angebot vieler Bilder und Bildelemente, sowohl etwas Abstraktes als auch etwas Bestimmtes zu sein. Oder: mehreres Bestimmtes. Ich lese da

Grüsse vom Silbertablett des Wiener Himmels. Schneeflocken wie aufgelöste Bücher. Herzchen, hier brennt die Sonne wie der Stummel der letzten Cohiba im Gesicht des letzten Gottes. Die Kakteen im Fenster welken, als wären sie bei Revolutionären in Obhut. Ihr Weg führt sie von der Strukturstämmigkeit ins Diskonstruktionsgestrüpp. Ein Glück, dass ich das Wasser der Quanten bin. Aus: Zuwendungen in Zeichen, SuKuLTur 2014

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Unrichtigkeit der Richtigkeit und begeistere mich für die Elegantisierbarkeit des zunächst Profanen. Das ihr gewidmete Pfeilgedicht geht im Grunde nicht auf eine spezifische Arbeit ein. Die Gefahr des Scheiterns wäre hoch, weil man sich auf kleine monokausale Echos festzulegen hätte. Ich verwirbele

stattdessen Elemente einer gemutmassten Urheberin und ihres Werks zu einem Zwiegespräch mit der eigenen Persona und ihren momentanen Interessen. In einem Raum, der die Physik so aushebelt, wie es vielleicht der Bildraum bei Jorinde Voigt tut. Ein Raum mit viel freier Valenz. Zum Abschluss die Frage: Woran arbeiten

Gedicht RITORNELL für Jorinde Voigt du hattest deinen Pfeilmantel an, der einen Horizont fortsetzte, aus dem ich Wasser schlüpfte, du Stäbe bautest, ich wollte weiter mich ins Meer vertun, doch du erteiltest eine Silhouette, die einem Berg entsprach: dein Haar, von dir zuletzt auf wirr geturnt, nahm etwas Sonne aus dem Spiel, ich nannte ein Aspektpaar uns, du meintest: sag mir das doch in Wunderweiss, dann zog ein Sturm ein bisschen Grusel aus der See, ich fühlte an Entpapstung mich erinnert und trank die Restanlegemilch, die Stimmung kippte, du warfst die See in eine Welle und sahst mich nicht mehr ein, du sahst mich um. Ritornell. Für Jorinde Voigt Aus: Ron Winkler, Prachtvolle Mitternacht. Gedichte © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2013 Bild: http://jorindevoigt.com/blog/?page_id=10

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Sie im Moment? Seit einiger Zeit an einer Serie, die auf die Idee der Postkarte zurückgreift – als Raum für simulierte und diffuse Orte, als Brennpunkt verschiedener Weltzugriffe: ethnologischer Blick, naive Begeisterung und Empathie, Kolonialisationsromantik und Unverständnis, Wechseln der Per­ spektiven und Radien des Wahrgenommenen. Süsslichkeit und Daseinswucht, Cluburlaub und Aleppo. Und wo sich am Ende vielleicht das schlüssige Bild ergibt, dass noch so viele Details kein schlüssiges Gesamtbild bilden. Der jüngste, 2013 erschiene Gedichtband «Prachtvolle Mitternacht» beginnt mit einem Abgesang, einer Totalverweigerung, einem Boykott: «nicht mehr teilnehmen (…) nicht mehr Buchstaben zu etwas Aufgesplissenem ordnen. (…) nicht mehr an sich selbst // schreiben. Oder anderen// jene neunzehnsilbigen Kosenamen ins Ohr flüstern,// die nackt machen, wenn man sie sagt.» Wir danken Ron Winkler für das Gespräch und wünschen ihm nicht mehr aufhören können zu schreiben.

Ron Winkler in seinem Arbeitszimmer 14

Postkarte im Lyrikregal der Wohnung

Ein Wortgemenge aus dem Gespräch mit dem Autor: Nichtstun ist Arbeit/ Unter-Emanzipation seiner Selbst/ Entwicklung aus dem Nichts/ Das Meer wie eine Bühne ohne Worte/ Durchmischung der Sprachen/ Kunstwerk Gedicht/ Sprachsplitterungen/ Handhabbarkeit/ Konvulsivisches Schweigen/ Dahin gehen, wo es beginnen könnte/ Verkettung mit dem Moment/ die Leere vor einem Gedicht steht/ Ordnung der Schlüssigkeit/ Orte-Diffusion Das Verzeichnis der Werke des Autors finden Sie auf seiner Webseite www.ronwinkler.de


ULLA HAHN

Foto: Julia Braun

Ulla Hahn, geboren 1945, aufgewachsen in einem Dorf nahe Köln. Bürolehre, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Studium der Germanistik, Geschichte und Soziologie. Promotion. Lehraufträge. Bis 1989 Redaktorin in der Literaturabteilung bei Radio Bremen. Seither freie Schriftstellerin. Gedichte, Romane, Essays. Lebt in Hamburg.

Liebeslied neueren Datums Leg dein Genom auf mein Genom Komm Liebster lass uns eilen ACTG – GTCA Leg an die alten Meilen Die Stiefel, komm, und gib den Sporn Den neurohormonellen Den Schleifen, die das Molekül In deinen Schaltkreis schnellen Wo Zellkern sich mit Zellkern paart im Maienkleide Mein DNA dein DNA Auf immergrüner Heide Entschlüsseln wir uns Gen für Gen Mit schöpferischem Triebe Mit (r)evolutionärer Kraft und Grossem L@iebe. 15


Hypothetisches Sonett Wenn wir tiefer atmeten langsamer gingen ruhiger führten unserer Augen von einem zum andern nur noch leise sprächen und selten: ewig lebten wir nicht aber ein bisschen ewiger doch wie das Meer vielleicht oder sogar wie Worte und Sätze vom Meer oder dieser eine Nachmittag heute an dem wir einander vergessen machen was anderswo auch geschieht dauerte sagen wir drei bis vier Wochen die wiederum ein paar doppelte dreifache Jahre oder wenigstens: Jetzt.

Mein Gott Ist was? frag ich die Freunde wenn sie ihn sehen über meinem Schreibtisch (neben Schiller und John Donne) den Mann den jeder man kennt den ernsten Mann am Kreuz den noch keiner lächeln sah Wie sie da gucken die Freunde (ein bisschen verlegen) und die Schultern zucken (etwas mitleidig) Ist was? frag ich Dann fragt niemand weiter

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Einzelkind (was den Vater angeht) reichlich Halbgeschwister Machte sich aber nicht viel aus Familie (kleine Verhältnisse Adoptivvater Zimmermann aufm Dorf) Kehrte ihr bald den Rücken (säte nicht erntete nicht und sein himmlischer Vater ernährte ihn doch) schlug sich als Wunderheiler durch mit einem grossen Herzen für die kleinen Leute und einer forschen Lippe gegen die da oben (Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen) Aufsässig furchtlos eigensinnig praktischer Arbeit abhold Den hab ich geliebt wenn ich die Mutter mundtot machte mit Lukas: nicht die hauswirtschaftende Martha vielmehr Maria zuhörend von Jesu gefesselt habe ‹das Bessere› erwählt und mich mit göttlichem Segen in meine Bücher vergrub Hab das gottschlaue Lieben verlernt bei den Weiden am Rhein unter menschlichen Lippen- und anderen Zärtlichkeiten So viele Vaterunser der Reue und Busse Vergebene Liebesmüh Mein Kinderheld fuhr in den Himmel auf Ich blieb unten


Da bin ich noch

Warum ich Gedichte schreibe?

Manchmal aber lese ich wieder in seinen alten Briefen (die von den vier Kurieren überbrachten) oder besuch ihn bei sich zu Haus (Mit Brot und Wein Musik und Kerzenschein) Dann frag ich ihn Wofür das alles? Dein Leben Leiden Sterben

Lust am Spiel, Lust an der Sprache, Lust mich immer wieder selbst zu überraschen.

Für dich sagt er und lächelt befreit von seinem Kreuz nimmt mich in seine Arme flüstert mir ins Ohr: Irgendwann stell ich dich meinem Vater vor. Lass dir Zeit. Ich kann warten.

Mir etwas von der Seele schreiben, mir etwas zuschreiben, abschreiben, unterschreiben, verschreiben, zerschreiben.

Und meine Freunde? Bring sie doch mal mit. Auch Miriam Fatima und Ali. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Und mit fünf Broten und zwei Fischen krieg ich alle satt.

Mich in der Welt zur Sprache bringen, in Wörter verwandeln, mich mir aneignen, vertraut machen und neu (er)finden zugleich.

Nur nichts vorschreiben. Nachschreiben? Besser: überschreiben: all die wunderbaren Werke meiner dichtenden Vorfahren. Und das wünsche ich mir auch von meinen LeserInnen: dass sie meine Gedichte nicht als «Vor-Schriften» betrachten; vielmehr im eigenen Kopf zu Ende schreiben, sich zu eigen machen.

Lukas 11, 38ff Johannes 14,2 Markus 6, 30ff

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MIRKO BONNÉ

Foto: Sabine Bonné

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Neben Übersetzungen von unter anderem Sherwood Anderson, E. E. Cummings, Emily Dickinson, John Keats, Robert Louis Stevenson und William Butler Yeats veröffentlichte er Romane, darunter Wie wir verschwinden (2009) und Nie mehr Nacht (2013), mehrere Gedichtbände, zuletzt Traklpark (2012), sowie Hörspiele und einen Band mit Aufsätzen und Reisejournalen. Im Herbst 2015 erschien der Erzählband Feuerland. Für sein Werk wurde Mirko Bonné unter anderem mit dem Ernst Willner-Preis 2002, dem Prix Relay 2008, dem Marie Luise Kaschnitz-Preis 2010 und dem Rainer Malkowski-Preis 2014 ausgezeichnet.

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An einem grauen Stuttgarter Mittag endlos die Treppen vom Olgaeck hinauf zur Zimmermannstrasse. Bestimmt war das früher mal ein Weinberg, und Weinbergpferde trotteten hier so wie jetzt wir. Es ist Liebe hatte jemand dünn an eine Betonwand gesprüht. Da, ein weisser Engel, der beugte sich über einen Brunnen ohne Wasser. Asia-Imbiss und Nagelstudio. Felder mit wilden Birnbäumen voller Disteln lagen hier mal. Schiller im Gras. Und der junge Hölderlin mit blonder Mähne bis sonstwo. Diese silbernen Sommer. Aber wohl kaum schöner, wie auch. Das Gras war dasselbe. Das Grau oben am Himmel. Die Zärtlichkeit, die fehlt, bis du sie spürst, bis du spürst, du lebst, sie war dieselbe, die Abgestorbenheit ist nur Gerede.

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Elizabeth Street Es ist schwer, wenn die Abschiede beginnen, denn alles sagt es, Verschwindenmüssen, Wiederkehr möglich, doch nie mehr so. Darum dräng ihn zurück, den nächtlichen Himmel, in den du hineinfliegen wirst. Geh, zwischen herbstlichen Wohntürmen, und in Gedanken nimm die Tram zur Bucht. Red dir ruhig ein, dass es gut war, besser, du sagst dir, es ist gut. Behalt keinen Kiesel. Du vergisst bloss, wo er mal lag, auf dem Dach eines dunklen Hotels, die Nacht, wie sie roch, und im Regen die Ufer der Elizabeth Street. Es wird Zeit. Bye bye pride! Es ist gut. Nimm sie mit – jetzt ist es soweit –, das grosse Licht, die Freundlichkeit.

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Symi Überall der Müll des Sommers, auf jeder Böschung eine Plastikpracht. Weggeschmissen, plattgetreten, liegengelassen und vergessen die Verpackungen von mal Dagewesenem, nur nie Zurückgekehrtem, Flaschen in allen Farben, rostzerfressene Dosen, verwaschen eine Tasche oder zerrissen ein Koffer. Seit Jahren am Strassenrand abgestellte Autos, Wracks, halb ausgeschlachtet, halb verfallen, eingekackt, verölt, beschmiert. Du gehst in die Hocke, als dir auf dem Asphalt etwas Helles ins Auge fällt, und blickst ein Götterpüppchen an, das nur einen halben Kopf und keinen Körper mehr hat, dafür aber auf den Lippen Aphrodites Lächeln. Im vertrockneten Gras liegen in Schichten übereinander die Überreste dessen, was nicht hineinzustopfen war in die Felsspalten und Nischen der Mauern und der Wände aus wieder und wieder, wieder und wieder verbauten Brocken. In Bäumen gekappte Leitungen, Kabelgezweig. Am Strand eine Zahnbürstenflut, Schaum aus Verschlüssen und Deckeln, Kappen und Stiften, Senkeln, Knöpfen und verblassten, blinden Stofftieraugen.    Auf dem griechischen Eiland Symi nur ein paar Seemeilen vor der türkischen Küste steht in der Oberstadt des Fischerhafens ein Haus, dessen Dach, Zimmerwände und Fussböden wurden von einem das aufgegebene Gemäuer nach und nach einnehmenden Baum gesprengt. Die schöne, tief dunkelgrüne Feige wächst wild auf Unrat und Müll, der zu den Fensterlöchern hineingeworfen wird – wie in einen Schacht, in dem Verfallen müssen und Leere zusammenfinden und Zeit und Tod vergehen vor lauter Leben.

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100 Jahre Dada? Man müsste meinen, die Dadaisten mit ihrem Hang zur Ungebärdigkeit hätten lieber ihren 101. Geburtstag gefeiert als ein übliches Zentenarfest. Und dann erst noch ein von der Zürcher Offizialität verordnetes. Aber als die überlebenden Dadaisten, denen alles Museale bekanntlich ein Gräuel war, alt und weise geworden, dann doch inständig einen eigenen Dada-Saal im Kunsthaus forderten, da wurde klar, dass der Hang zur Verewigung auch vor der praktizierten Ungebärdigkeit nicht Halt macht. So will denn auch orte sich dem verkündeten Drang der einstigen

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Avantgardisten nicht widersetzen und mitfeiern, was gefeiert sein will. Aber, damit kein Missverständnis entsteht: Das Thema dieser orte Nummer lautet nicht «Dada 2016», sie will nicht aufzählen, wo in Zürich und auf der Welt heute noch Dada praktiziert oder produziert wird, denn in den vergangenen hundert Jahren hat sich die Welt verändert und mit ihr auch ihr Dada. Also: hier wird nicht gefragt, wo und wie Dada überlebt; epigonal verwertbare Vorlagen sind allzu marktfeil zu haben. Vielmehr wollen wir herausfinden, auf welche Weise gegen-


wärtige Künstler und Dichter an Dada weiterarbeiten, es weitertreiben, und dazu helfen auch jene nach Dada geborenen Künstler, die den Weg in diese Gegenwart gepfadet haben, speziell möchten wir in diesem Zusammenhang Fluxus in Erinnerung rufen. Drei der dadaistischen Grundsätze haben wir bei der Auswahl der Texte und Bilder für diese Nummer auf ihre heutige Tragfähigkeit geprüft: Lautpoetische Normen, die in SoundPoetry bis zum Rap weitergeführt worden sind, zudem, dass Text als Bild und Bild als Text und das Gedicht als visuelle Kunst verstanden werden kann, und dies abgestützt auf die vorsätzliche Unterwanderung der Kommunikationskraft normierter Sprache, jener Sprache, die, wie Hugo Ball verkündete, «Krieg und Zerstörung als logische Begleiterscheinung des menschlichen Lebens zu legitimieren versucht». Als wolle uns Marcel Janco, Mitbegründer von Dada 1916, Recht geben, sagte er 1984, angesichts eines hingesprayten Slogans «Dada siegt!» beim Central, Zürich sei für ihn «ein Beweis dafür, dass Dada nicht nur lebe, sondern blühe». Und zu blühen beginnt Zürich, sobald man Dada sehen will, und man muss es sehen wollen, in jeder Geste, in jedem Hupton, in jedem strauchelnden Briefträger. «Dada sehen» müsste man als Wahr-

nehmungsschulung in den Schulunterricht einbauen. Auch da hat Janco Recht: Dada wirft sich dir nicht um den Hals, aber sobald du dich auf es «eingetunt» hast, siehst du es überall. Es ist erfreulich, zu sehen, wie viele Künstler heute noch an Dada weiterarbeiten, und solange sie es tun, kann niemand behaupten, Dada sei tot. Solche Behauptungen zu neutralisieren, hat sich dieses orte-Heft vorgenommen. Am 22. November 1965 hat sich das Bild von Dada (und damit auch das Bild der Dadastadt Zürich) beträchtlich ausgeweitet. An diesem Tag korrigierte nämlich in Locarno Urdadaist Hans Arp den allzu bequemen Satz seines Mitkämpfers Tristan Tzara «Alles ist Dada!» mit der mehrschichtigeren Feststellung: «Alles ist eine Reaktion auf Dada!» So feiert er die Wirkungen, deren Ursache Dada ist! Und wenn wirklich alles eine Reaktion ist auf Dada, dann ist zum Beispiel auch Zürich, so wie es ist, eine Reaktion auf Dada. Auf das Ärgernis Dada, wohlverstanden! So hat Arp Dada die ungebärdige Erneuerungskraft zurückgegeben, die ihm triefnasige Kunsttheoretiker austreiben wollten, – während genau hundert Jahren. Und übrigens: «an Dada weiterarbeiten» ist die produktivste der Reaktionen auf Dada. Anne-Marie Kenessey und Peter K. Wehrli

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Kommt, wir haben die Welt entdeckt!

Peter K. Wehrli

Sechs Fragen an zwei Dadaisten Die Reihe der Gasthäuser war eine Stufenleiter: Select – Odeon – Kronenhalle. Walter Mehring, der «Meldeläufer zwischen Dada Zürich und Dada Berlin», hat sie während seiner Zürcher Jahre durchlaufen. Und immer gab es dort Gespräche, Antwortspiele, veritable Interviews gar, weil der Frager doch mehr wissen wollte, als in der Auskunft steckte, die Hans Arp am 22. November 1965 gegeben hatte als Reaktion auf Tristan Tzaras allzu pauschalen Ausspruch «Alles ist Dada!», nämlich: «Alles ist eine Reaktion auf Dada!» Und als dann der verschollen geglaubte Marcel Janco unverhofft in Zürich auftauchte zu seiner Ausstellung im selben Raum, in dem er mehr als sechs Jahrzehnte früher schon mit seinen Dada-Kollegen ausgestellt hatte – nämlich im Sprüngli-Haus am Paradeplatz, wo Hans Coray 1916 den Dadaisten Obdach bot – regte er das dadaïsierende Spiel an, die gesammelten Antworten von Dadaisten thematisch zusammenzufassen, damit sichtbar werde, dass es nicht einen Dadaismus gab, sondern so viele, wie es Dadaisten gab. Versuchsweise geschieht dies nun mit Antworten von Walter Mehring und Marcel Janco.

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1. Wie kam es zum Dadaismus? Falls

Sie es lieber ganz persönlich beantworten, könn­te ich auch fragen: Wie kamen Sie zum Dadaismus? Walter Mehring Die aufrührerischen Aktivitäten von Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm in Berlin überlappen sich 1916 mit den Aktivitäten der Dadaisten um Hugo Ball in Zürich. Und der Sturm ist der Anfang meiner Lyrik überhaupt. Der Sturm war mein erstes tiefes künstlerisches Erlebnis! Davon gebe ich Zeugnis in meinem Buch Berlin Dada, das in Peter Schifferlis Arche-Verlag erschienen ist. Ich halte Walden immer noch für den entscheidenden Mann damals. Im Politischen war es Pemfert mit seiner famosen Aktion, für die Kunst aber, für das immer Moderne war es Herwarth Walden. Wesentlich sind da meine Gedichte Was ist Dadayama? Zu denen gehört auch meine Publikumslästerung. Stellen Sie sich vor, welche Aufmerksamkeit Peter Handke 1966 seine Publi­kums­beschimpfung eingebracht hat – dabei gab’s doch seit 1919 meine Publikumslästerung, die anhebt mit: «Ihr Bananenrohköstler und Eisbomben-Eskimos! Wetzt Eure Löffel und ölt die Posaunen zum Dreiklang des Jüngsten Gerichts!»


Das Motto im Ketzerbrevier ist eigentlich mein dadaistischer Grundsatz, der weit über den Dadaismus hinaus die gesamte Sprachkunst erfasst: «Glossolalie – A und O aller Poesie!» Marcel Janco  Als wir aus Rumänien hierher kamen zum Studium, wurden wir durch den Krieg vollständig abgeschnitten von denen, die uns unterhielten. Deshalb begannen mein Bruder und ich eine Lauferei in der Altstadt, um Arbeit zu suchen. Da mit Malerei kein Auskommen zu machen war, beschlossen wir Kabarettsänger zu werden. Ich kannte französische Chansons von Rumänien her; mein Bruder war ein guter Pianist und in einigen Kabaretts gelang es uns, einen Aufritt zu ergattern. Eines Tages kamen wir zu einem Kabarett, das uns merkwürdig erschien. Da war Hugo Ball, und er sagte zu mir: «Lieber Freund, du bist doch Maler. Hier hast du die Wände, zeig, was du kannst. Du wirst teilnehmen an unserem literarischen Kabarett ... Bring uns alle deine Freunde!» Und ich hatte gleich darauf mit Arp und Täuber und Tzara und Hülsenbeck ein Treffen, und da sagte ich zu ihnen: «Kommt, wir haben die Welt entdeckt!» Das war 1916 mein erster Kontakt mit der Kunst in Zürich. Die Abende waren lebendig, voller Dichtung, voller Poesie und Tanz. Das Publi-

kum war – sagen wir – beglückt, aber ­keiner hat verstanden, was wir wollten! Es war eine Reaktion auf das sogenannte Moderne im Geiste. Wir wollten uns ja die Jugend zum Partner machen, aber sie wollte das nicht verstehen. Wir haben dann gelernt, dass wir, um etwas Neues zu machen, das Alte zerstören müssen.

2. Dada war ja nicht eine Kunstrichtung,

die einen Stil vertrat oder den Künstlern auferlegte. Es gab so viele Dadaismen, wie es Dadaisten gab. Was war es denn, das diese unterschiedlichen Künstler verbunden hat? Marcel Janco  Unsere Ideologie ist im Manifest zusammengefasst: Kunst wird nicht für die Sammler gemacht und nicht für ihre Banksafes, auch nicht für den Handel. Kunst muss dem Volk gehören, muss allen gehören, das hat uns verbunden. Da hatte jeder seine eigene Sprache. Nur die Ideologie von Dada, die Ablehnung des Krieges, hielt uns beisammen. Jeder hat seinen eigenen Weg gefunden. Und sobald der Krieg zu Ende war, 1918 so ungefähr, haben wir schon angefangen zu packen.

3. Wir haben Sie, Herr Mehring, unter

uns als eine Art «Meldeläufer zwischen den Dadaismen von Berlin und Zürich» bezeichnet. Wie stehen Sie zur Feststellung einiger Germanisten, wonach Dada in Berlin – im Gegensatz zum Zürcher Dada – mehr ein politischer als ein künstlerischer Protest war? Walter Mehring  Der politische Aspekt war für uns in Berlin selbstverständlich. Dada

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