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Myriam Zdini

Alba und die Legende von Schaaf

Illustriert von Katja Nideröst

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Betreff

1. Kapitel

Julie Neff

Katze Lili

Liebe Julie

Du bist die Allerallerbeste! Ich freu mich riesig, dass ich den zweiten Vornamen deiner Lili aussuchen darf. Ich nehme an, dass deine Katze genau wie du mit Nachnamen Neff heisst. Einige Ideen habe ich schon, aber bevor ich mich entscheide, musst du mir ein paar Fragen beantworten. Wie fühlt sich ihr Fell an? Ist es sehr weich und kuschelig? Ist Lili frech und wild oder scheu? Wo schläft sie am liebsten? Und nascht sie gern Schokoladenglace? Ich bin so neidisch auf dich! Du weisst, wie gern ich eine Katze hätte. Nur wegen Papa und seiner dummen Allergie geht das nicht. Ich glaube ja, die Allergie ist nur vorgetäuscht. In Wahrheit will er das Sofa nicht mit noch jemandem teilen. Total unfair. Er benutzt es eh am meisten, weil das Wohnzimmer sein Homeoffice ist. Wenn ich das Sofa zum Auspowern benutzen will, schimpft er: «Auf den Polstermöbeln wird nicht geturnt.» Und sobald ich darauf chille, heisst es: «Mach was. Geh in den Garten aufs Trampolin.» Und wenn ich coole Moves auf dem Trampolin übe, schlüpft garantiert Elino durchs Netz zu mir herein und fängt an zu heulen, weil ich ihn angeblich getreten haben soll.

Seit du weg bist, kann ich mit niemandem mehr richtig reden. Belana hat ständig ihre Zimmertür abgeschlossen. Auch wenn ich vorsichtig und mäuschenstill die Klinke drücke, merkt sie es und schreit mich durch die Tür an.

Aber was erzähle ich dir das alles. Du kennst ja meine Familie. Immerhin bist du meine allerallerallerbeste Freundin und wirst das auch immer bleiben. Egal wie weit weg du wohnst.

Das einzig Gute ist, dass ich jetzt recht easy im Zehnfingersystem tippen kann, weil ich dir so oft am Computer schreibe. Ich werde Journalistinnen-Jenny bei den Typewriter-Lektionen in der Schule locker vom Thron fegen. Hoffentlich heult sie. Seit sie Chefredakteurin der Schulkinderzeitung ist, ist sie noch eingebildeter. Aber ja, ich weiss, ich soll nicht fies sein. Ich geb mir Mühe.

Kuschelumarmung

Deine Alba

Bis vor den Weihnachtsferien war die Welt in Ordnung. Dann zog Julie mit ihrer Familie aus Schaaf weg. In der letzten Schulstunde vor den Ferien sass die ganze Klasse im Kreis, und Frau Kovacic liess uns nette Wünsche zu Julie sagen.

Noam wünschte: «Unendlich Popel zum Rumspicken.»

Frau Kovacic meinte, er solle nochmals überlegen. Danach war ich dran, und mir kamen die Tränen. Ich hätte gern gesagt, wie toll Julie ist und wie sehr ich sie vermissen werde, aber ausser Schluchzen kam nichts aus mir heraus.

Als wir einmal rundherum waren, gab Frau Kovacic Julie das Geschenk, das wir heimlich für sie gestaltet hatten. Es war ein Buch, in dem jedes Kind eine Zeichnung gemalt und eine Erinnerung mit Julie aufgeschrieben hatte. Die Aufgabe war ebenfalls schwierig für mich gewesen, weil ich so viele, grossartige Erinnerungen mit ihr habe. Julie nahm das Buch verlegen in Empfang. Auch sie hatte etwas für uns: fünfzehn farbige, coole Freundschaftsarmbändchen. Und weil bald Weihnachten war, gab es obendrauf für jedes Kind eine Kleinigkeit von Frau Kovacic. Sie schenkte uns Emoji-Radiergummis mit unterschiedlichen fröhlichen Gesichtern. Sofort gingen die Beschwerden und das Tauschen los. Frau Kovacic, ganz Profi, wünschte frohe Weihnachten und schickte uns hinaus.

Julie lief mit ihrer selbstgestalteten Schreibunterlage unter dem Arm und dem Finkensack über der Schulter neben mir nach Hause.

Am nächsten Tag zog ihre Familie um, und mir standen die traurigsten und einsamsten Weihnachtsferien bevor. Und als ich glaubte, blöder kann es nicht werden, geschah das:

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Liebe Julie

Julie Neff

An Neue Nachbarn

Heute ist es passiert! Ich habe in meinem neuen Comic gelesen, da hör ich von draussen etwas. Du weisst, als Mitglied der coolen Katzencrew entgeht mir nichts, was in der Nachbarschaft vor sich geht. Natürlich bin ich gleich zu meinem Fenster gerannt.

Unten auf der Strasse habe ich mehrere dunkelhaarige Männer gesehen, die aus einem riesigen Lastwagen eine Unmenge Möbelstücke geschleppt und in EUER Haus transportiert haben. Das Haus eurer Familie, das schon deiner Oma Linde gehört hat. Ein weiteres Auto ist kurz darauf in eure Einfahrt eingebogen und hat parkiert. Aus dem Auto ist eine Familie ausgestiegen: eine Frau, ein Mann und zwei komische, total unterschiedliche Jungs. Einer in unserem Alter, angezogen wie ein Erwachsener mit Hemd und Gürtel. Der andere lang und schlaksig, ganz in Schwarz gekleidet.

Und dann hat die Frau einen grossen zottigen Hund aus dem Kofferraum gelassen.

Oje, Mama ruft. Sie denkt, ich sitze an den Hausaufgaben. Ich muss Schluss machen. Ich halte dich auf dem Laufenden.

Kuschelumarmung

Deine Alba

Der Januar kam. Die Schule begann wieder. Ich war froh, meine Lehrerin und meine Klasse zu sehen. Frau Kovacic malte mit Kreide etwas an die Wandtafel. Sie war ganz vertieft. Die Tafelbildgestaltung war eine ihrer grossen Leidenschaften. Natürlich hätte sie in Nullkommanichts am Computer eine spitzenmässige Grafik entwerfen und auf dem Smartboard zeigen können. Aber sie stand mehr auf die gute alte Handarbeit. Und das, obwohl sie blutjung war, wie meine Mutter meinte. Zu unserem Leidwesen hatte es sich Frau Kovacic auf die Fahne geschrieben, dass ihre Klasse schön darstellen kann.

Kopien gab es in ihrem Unterricht höchst selten.

Meine Mutter kommentierte zu Hause: «So ein Furz.» Ich zitiere nur.

Als ich das Klassenzimmer betrat, liess ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Jana-Lena, Vlad und Loris sassen in der Leseecke und tauschten Sammelbilder. Mustafa lag auf einer Bank und malte seine Interpretation von «Gregs Tagebuch». Die anderen waren noch nicht da. Die Pulte standen jetzt nach den Weihnachtsferien in Zweiergruppen zusammen. Ich seufzte und suchte meinen Platz.

Wir waren daran gewöhnt, dass Frau Kovacic uns mit ihren Ideen überraschte. Vor ein paar Wochen hatte sie, passend zur besinnlichen Adventszeit, einen Klassensatz Yogamatten bestellt und Karten mit Yogaübungen laminiert. Seither entspannte sich unsere Klasse nach jeder Doppelstunde. Die Balanceboards und das Minitrampolin waren in einem Schrank im Gruppenraum weggesperrt worden. Ich konnte es nicht beschwören, aber es hatte möglicherweise mit den Ninja-Wettkämpfen zu tun, die unsere Klasse anstatt des angeordneten Teamworks im Gruppenraum veranstaltet hatte. Nun war tiefes Ein- und Ausatmen angesagt.

Unsere Schreibunterlagen mit unseren Namen drauf lagen an den neuzugeteilten Plätzen. Na super. Ich hatte das Vergnügen, neben dem Nachwuchsclown Noam zu sitzen. Er besuchte wirklich einen

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J 11 j Clownkurs. Mir gegenüber waren Tatjana und Loris platziert. Tatjana verbrachte einen Grossteil des Unterrichts ausserhalb des Klassenraums bei Frau Bach in einem wandschrankartigen, vollgestopften Zimmer mit Ordnern, Spielen und tausend bunten Karten. Dafür würde an unseren Pulten die Klassenassistentin Frau Ferrari Präsenz markieren, und versuchen, Loris davon abzuhalten, seine Stifte aufzufressen. Loris und Tatjana hatten ganz andere Mathepläne und Lernziele als ich. Und Noam machte sich nicht viel aus der Schule. So hatte ich an meinem neuen Platz niemanden zum Vergleichen meiner Lösungen. Ich seufzte wieder.

Die Schulglocke läutete. Frau Kovacics Begrüssung «Guten Morgen liebe Klasse» blieb aus. Für gewöhnlich schaute sie nach ihrem Gruss in die Runde und fixierte die Kinder, die noch redeten, mit ihrem Blick. Darauf folgte die Aufforderung: «Kommt in den Kreis.» Diese wohlbekannte Formel vermissten wir heute. Stattdessen kam ein heiteres Kichern vom Lehrerinnenpult. Bei Frau Kovacic stand ein blonder Junge mit Brille. Erst kapierte ich nicht, aber kurz darauf erkannte ich ihn. Es war der Bub im Hemd, der mit seiner Familie in Julies Haus gezogen war. Angeregt plauderte er mit Frau Kovacic und lachte mit ihr. Die meisten der Klasse machten grosse Augen. Nur Mustafa zuckte mit den Schultern und begann wieder zu zeichnen.

Schliesslich rief Frau Kovacic uns in den Morgenkreis und stellte uns den Jungen vor.

«Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen. Er ist gerade hierhergezogen. Vielleicht möchtest du dich selbst mit einigen Worten vorstellen, Kai? Ich habe hier einige Karten, die dich dabei unterstützen.»

Frau Kovacic legte farbenfrohe Wortkarten auf den Boden: «Hobbys», «Geschwister», «Lieblingssuperheld», stand beispielsweise darauf. Wir erfuhren über Kai, dass er in der Stadt gewohnt und einen älteren Bruder hatte, dass er gern las und Superman super fand. Alles in allem sehr gewöhnlich, fand ich. Er redete mit Bedacht und in perfektem Hochdeutsch. Danach ging es reihum. Jedes Kind durfte sich ein Wort aussuchen und dazu etwas über sich sagen.

Mustafa sagte: «Ich bin Superman.»

Und Journalistinnen-Jenny prahlte damit, dass sie keine Geschwister, aber einen eigenen Laptop habe.

Danach ging der Unterricht los. Endlich – ich war ganz heiss darauf, etwas zu lernen. Ehrlich.

«Die Medien», sagte Frau Kovacic und zeigte auf die Wandtafel. Und wir schrieben und malten ab.

2.

Kapitel

Für mich machte es keinen Unterschied, aber Mama fand, gekochtes Essen müsse man warm essen. Daher hatte ich auf dem Nachhauseweg neuerdings Stress. Weil Julie als Weggefährtin weggefallen war, lief ich mit Lara von der Schule nach Hause, die ein Stück weiter den Hügel hinauf in einem modernen Einfamilienhaus mit riesigen Fenstern wohnte.

Früher war sie mir auf dem Schulweg gar nie aufgefallen, und ich war überrascht, als ich feststellte, dass wir praktisch Nachbarinnen waren.

Lara war ein kluges Köpfchen. Auch wenn das nicht für alle auf den ersten Blick ersichtlich war. Denn in Lara-Land tickten die Uhren anders. Wenn wir aus dem Schulhaus kamen, waren die Strassen wie leergefegt. Das fiel Lara nicht auf. Mich beunruhigte dies zunächst auch nicht. Lara war eine unterhaltsame Person. Sie kannte tolle Geschichten und konnte diese mitreissend erzählen. Nur leider war

Multitasking, also mehr als eine Sache gleichzeitig machen, nicht ihr Ding. Und so steckten ihre Füsse auch nach der achten Story noch in ihren Finken, während ich in meiner Jacke und unter meiner Dächlikappe langsam zu schwitzen begann. Nicht weiter schlimm, fand ich. Doch als ich eines Mittags so spät nach Hause gekommen war, dass ich nach

einer gehetzten Tasse Früchtetee und einem Käsebrot nur noch kurz meine Zähne putzen konnte, um wieder zum Nachmittagsunterricht aufzubrechen, war mein Seelenfrieden dahin. Meine Geschwister hatten sich meine Portion Lasagne teilen dürfen, als ich zur Essenszeit nicht aufgetaucht war, und grinsten mich hämisch und zufrieden an.

Ich eilte in die Schule. Ohne Lara wohlgemerkt, denn die wurde gefahren. Meine Mutter lehnte Elterntaxi vehement ab. Bewegung sei gesund und so. Da begann ich, Techniken zu entwickeln, damit ich nicht wegen Laras Wesenszügen beim Mittagessen leer ausging.

Die Wochen plätscherten dahin. Ich hatte mich in meinem neuen Alltag ohne Julie eingerichtet, und heute lief es super für mich. Frau Kovacic lobte mich im Schlusskreis für meinen vernünftigen Medienkonsum. Unsere Wochenaufgabe war es gewesen, unsere Bildschirmzeit, also fernsehen, gamen und googeln, eine Woche lang zu dokumentieren. Weil ich noch kein Handy hatte, beschränkte sich diese Bildschirmzeit auf das Angebot des abonnierten Streamingdienstes und den gelegentlichen Gebrauch des Familiencomputers. Die zwanzig Minuten, in denen ich googelte, wie viel Bildschirmzeit mit zehn Jahren angemessen sei, unterschlug ich. Genauso wie die ein oder andere entspannende

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Fernsehstunde am Mittag oder am Abend, und die Wochenendzeiten fasste ich grosszügig zusammen. Mama fand, Medienkonsum sei Privatsache. Und meine Hausaufgabe für Frau Kovacic einwandfrei gelöst. Für den Abend hatte Mama einen Film mit Popcorn vorgeschlagen «off the record», wie sie meinte. Das bedeutet: «Bleibt unter uns.»

Journalistinnen-Jenny hatte bei der Aufgabe echt übel abgeschnitten. Sie war entrüstet. «Ich schaue Nachrichten. Nachrichten. Ich muss mich informieren», versuchte sie unserer Lehrerin begreiflich zu machen. Frau Kovacic liess das kalt, und sie legte denjenigen mit übermässigem Medienkonsum nahe, nochmals zu überlegen, wie viel wirklich sinnvoll sei. Ich erhielt von Frau Kovacic einen Glitzersticker und ein Lächeln. Bald darauf war Schulschluss. Das Wochenende stand vor der Tür.

Fröhlich stimmte mich ausserdem, dass ich eine Lösung für Laras Trödeln gefunden hatte. Während sie redete, wechselte ich ihr die Schuhe und zog den Reisverschluss ihrer Jacke zu. Ich hatte Übung darin, da ich Elino, als er noch kleiner war, manchmal beim Anziehen geholfen hatte. Als wir nun aus dem Schulhaus traten, sah ich unzählige Kinder, die sich plaudernd, diskutierend oder einander jagend ebenfalls auf den Heimweg machten. Ich stand zufrieden auf den Steinstufen des Ausgangs und genoss das Gefühl von Freiheit, das ein

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bevorstehendes Wochenende bietet, da rempelte mich Kai an.

«Sorry», sagte er viel zu laut. Er hatte dicke Kopfhörer übergestülpt, prellte lässig mit seinem Basketball und steuerte auf seine Kumpels zu. Ich schnaubte.

Kai hatte sich grossartig eingelebt. Er hatte zwar einen holprigen Start gehabt. Beinahe wäre er zum Klassenstreber geworden und hätte mit Journalistinnen-Jenny ein süsses Paar bilden können. Es gab so ein Gerücht. Doch dann hatte sich sein Image schlag-

artig geändert. Sein Vater hatte einen Basketballkorb in die Garageneinfahrt gehängt, und Kai hatte seine Brille gegen Kontaktlinsen ausgetauscht und lief in verwaschenen T-Shirts mit Bandnamen drauf rum. Ich beobachtete, wie Vlad und Mustafa regelmässig mit ihm auf dem Vorplatz seines Hauses dribbelten und Körbe warfen. Noam war meist auch dabei, sass am Rand und kommentierte. Ich hatte, seit Julie weggezogen war, mehr Zeit, um aus dem Fenster zu sehen, und fragte mich, wie manche es anstellten, so verdammt beliebt zu werden. Selbst Frau Kovacic blieb, trotz des Wandels, Kais treuster Fan. Ich blieb bei meinem Vorbehalt.

Mit Lara an der Hand, noch so ein Trick gegen das Trödeln, den ich von Mama kannte, war ich auf dem Heimweg. Bei der Backstube des örtlichen Konditors hielten wir wie gewöhnlich, damit Lara die süssen Gerüche schnuppern konnte. Ich hatte die Kirchturmuhr im Blick. Sie zeigte zehn vor zwölf. Alles im grünen Bereich. Auch ich erfreute mich mit einem tiefen Atemzug am Duft von Frischgebackenem. In diesem Moment erblickte ich etwas. War das nicht gerade ein Zipfel von Kais khakigrünem Wintermantel gewesen, der im Keller ein paar Häuser weiter verschwunden war? Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich nachschauen und damit mein sättigendes Mittagessen aufs Spiel setzen? Die Turm -

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uhr begann zu schlagen. Ich näherte mich dem Keller. Sollte ich die Türklinke drücken? Damit hatte ich keine guten Erfahrungen gemacht. Stichwort grosse Schwester. Stattdessen drückte ich mein Ohr auf das alte Holz. Der Verkehr auf der Durchfahrtsstrasse erschwerte das Lauschen. Trotzdem hörte ich eindeutig ein Geräusch. Ein spitzes, eigenartiges Klopfen. War Kai vielleicht eingesperrt? Sollte ich versuchen, die Tür zu öffnen? Meine Hand lag auf der kühlen Metallklinke. Ich horchte. Hörte ich einen Hilferuf? Ein Stöhnen oder Jammern? Es blieb still. Auch das Klopfen war verstummt. Ich ging einmal ums Haus. Vielleicht gab es ein Fenster, in das ich hineinspähen konnte? Nichts. Ein geschlossener Bunker. Wieder stand ich vor der Tür und machte mir Gedanken. Plötzlich heulte etwas auf. Wie ein metallisch brüllender Löwe. Erschrocken sprang ich ein paar Schritte zurück und stiess mit Lara zusammen. Die klopfte ungeduldig mit dem Fuss. «Kommst du endlich?» Ich blickte auf die Kirchturmuhr und nahm hastig ihre Hand.

Zum Essen gab es Rosenkohl. Kalten Rosenkohl. Dazu Mamas kalte Schulter – das heisst, sie war sauer auf mich.

3. Kapitel

Frau Kovacic stand an der Tafel und schrieb: 700 Jahre. «Was denkt ihr, warum habe ich 700 Jahre an die Tafel geschrieben?»

Noam tuschelte über den Tisch mit Loris, und der quiekte belustigt auf. Frau Kovacic, ganz Profi, streckte ihren Arm aus und richtete den beiden die Handfläche entgegen, was «Stopp» bedeutete. Noam senkte schuldbewusst den Blick.

Journalistinnen-Jenny wusste selbstverständlich Bescheid. «Vor 700 Jahren wurde das Dorf Schaaf zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Damals noch unter dem althochdeutschen Namen sca¯f. Der darauf hindeutet …»

«Danke, Jenny», unterbrach sie Frau Kovacic. Jenny hob die Hand. «Ja, Jenny?»

«In der nächsten Schulkinderzeitung werde ich mit einer Serie zum Dorfjubiläum beginnen. Wer etwas Interessantes aus der Dorfgeschichte weiss, darf sich gern an mich wenden. Vielleicht habt ihr ältere Verwandte, die ich interviewen könnte, oder ihr kennt spezielle Plätze, ein spannendes Ereignis aus der Dorfgeschichte oder dergleichen. Kommt direkt auf mich zu oder schreibt mir eine E-Mail …».

«Danke, Jenny. Ich möchte dich bitten, solche Angelegenheiten in der Pause zu besprechen oder

für den Klassenrat am Freitag anzumelden.» Frau

Kovacic wandte sich an die ganze Klasse. «Schaaf feiert Jubiläum», verkündete sie freudig. «Am letzten Wochenende vor den Sommerferien wird im Festzelt auf dem Dorfplatz viel los sein. Und …», sie strahlte noch mehr, «jede Klasse wird etwas zu den Feierlichkeiten beitragen.»

Frau Kovacics Begeisterung prallte an uns ab. Mustafa gähnte. Noam rutschte auf seinem Stuhl herum. Loris drückte die Spitzen seiner Buntstifte auf der Tischplatte ab. Jenny unterhielt sich mit ihren Tischnachbarinnen, den Superfreundinnen Norina und Jana-Lena, und machte sich interessiert Notizen. Anscheinend hatte sie die ersten Storys bereits an Land gezogen. Frau Kovacic erzählte dies und das über das anstehende Jubiläum. Ich schlug das Matheheft auf und notierte schöne zweite Vornamen für Julies Katze Lili Neff.

Am Ende der Stunde erhielten wir von Frau Kovacic einen Flyer für das Dorffest, den wir unseren Eltern abgeben sollten. «Es wäre schön, wenn viele Eltern kommen würden.»

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Liebe Julie

Julie Neff

An Nicht lustig

Ich freue mich sehr, dass dir mein Namensvorschlag gefällt. Lilly Rakete Neff. Klingt fantastisch. Für diesen Einfall muss ich mich echt selbst loben. Und dich muss ich auch loben. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich Kais eigenartiges Verschwinden in den Keller wohl vergessen. Es war gut, dass du mir empfohlen hast, dranzubleiben und dem Herrn Obercool nachzuspionieren. Dein Instinkt war richtig. Mit dem Mister ist was faul. Mir ist aufgefallen, dass er sich regelmässig von seinen Kumpels abseilt und plötzlich unauffindbar ist. Er hat auch immer einen vollgestopften Rucksack, den er stets im Auge behält. Sehr eigenartig. Was könnte dahinterstecken? Ich brauche deine Hilfe!

Bei Frau Kovacic haben wir angefangen, für das 700-Jahr-Jubiläum zu proben. Alle Schulkinder müssen das Dorflied – wir nennen es das Dooflied – im Dialekt singen. Nicht mal Frau Kovacic weiss, wie man all diese seltsamen Wörter ausspricht, geschweige denn, was sie bedeuten.

Und das ist nur das kleinere Übel. Unsere Klasse muss Sketche aufführen!!! Rate mal, wessen Idee das war. Klar. Noams. Journalistinnen-Jenny hat den Vorschlag gebracht, dass wir ein historisches Drama zum Dorfbrand mit Kostümen im Stil des 18. Jahrhunderts inszenieren könnten. Das fand niemand gut. Und

Mustafas Einfall, wir sollten aus dem Dorfbrunnen einen Schokoladenbrunnen für alle machen, hat den strengen Auswahlkriterien von Frau Kovacic nicht standhalten können. Noam hat einen Ein-

Mann-Sketch vorgespielt, grölendes Gelächter geerntet und damit ist die Sache beschlossen gewesen.

Hoffe, bei dir läuft’s besser.

Kuschelumarmung

Deine Alba

Jeden zweiten Mittwoch war Schwimmunterricht.

Mustafa stand bei Frau Konrad, unserer Schwimmlehrerin, und weigerte sich, ins Wasser zu steigen, weil er Angst um seine Klebetattoos hatte. Frau Konrad versuchte es mit Vernunft, Strenge, dann Aufschieben. «Setz dich erstmal, Mustafa. Ich möchte anfangen.»

Mustafa standen die Tränen in den Augen. Er steuerte, statt sich zu setzen, wütend zurück in die Garderobe. Frau Konrad hinterher. «Bleibt sitzen.

Dunja, hast du ein Auge?»

Aber Frau Kovacic war anderweitig beschäftigt.

Sie stand am Beckenrand, gestikulierte und versuchte, Lara auf sich aufmerksam zu machen, die gedan-

kenverloren und zufrieden auf dem Rücken im Pool trieb. Wir anderen sassen am Poolrand auf Stufen und froren. Jana-Lena tuschelte mit Norina, als sich Journalistinnen-Jenny einmischte.

«Norina, der Tipp von dir hat mich echt weitergebracht. Dein Honorar kannst du dir nachher in der Umkleide aussuchen. Ich habe Esspapier mit Erdbeergeschmack oder Karamellbonbons.»

«Hartes oder weiches Karamell?», erkundigte sich Norina.

«Nimm Esspapier, das hab ich lieber», warf Jana-Lena dazwischen. «Wir teilen doch.» «Klar.»

Norina und Jana-Lena machten ihren Freundschaftshandschlag.

Ich seufzte. Meine beste Klassenfreundin wurde gerade von Frau Kovacic, die in den Pool gestiegen war, am Arm gepackt und wie ein Stück Treibholz an den Rand gezogen.

Im Anschluss wurden wir zum Längenschwimmen abkommandiert. Mustafa sass schmollend draussen auf den Stufen. Als wir aber Wasserball spielen durften, war er plötzlich unter uns und pfefferte den Ball ins gegnerische Tor. Zum Abschluss der Lektion durften wir einen FreestyleSprung ins Wasser machen. Noam machte eine Arschbombe, wobei seine Badehose riss. Wir lachten uns alle tot.

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Und ich dachte: «Das muss ich unbedingt Julie schreiben.»

In der Garderobe stand ich unter dem Fön. Nie war Frau Konrad mit meinen Haaren zufrieden.

«Immer noch nass. Wenn du so hinausgehst, gibt das eine Hirnhautentzündung.»

«Ach, die Frau Konrad», dachte ich und wuschelte durch meine Haare. Als ich zum Treffpunkt kam, hüpften mir Norina und Jana-Lena fröhlich kauend entgegen. Ein Hauch süsser Erdbeere umwehte sie. Sie genossen das Honorar.

«Wir wollen Man-darf-nicht-lachen spielen. Spielst du mit? Wer lacht, verliert.»

«Okay.»

Wir hüpften albern herum, schnitten einander Grimassen, versuchten uns zu kitzeln und blieben dabei ganz ernst. Auf einmal kam Jana-Lena ganz nah zu mir ran, streckte mir die Zunge raus und verdrehte die Augen. «Du hast gelacht!», schrie sie mir ins Gesicht.

«Nein, gar nicht.»

«Norina, sie hat gelacht.»

«Ja, du hast gelacht.»

«Wieso sollte ich? War ja gar nicht lustig.»

«Ich hab’s genau gesehen.»

«Ich auch.»

«Ich spiel nicht mehr mit», entschied ich und wandte mich ab.

«Tatjana», hörte ich sie rufen, «spielst du Mandarf-nicht-lachen?»

Ich stellte mich neben Frau Kovacic.

Endlich kam Lara und dahinter die erschöpft wirkende Frau Konrad.

«Wir haben alle.»

Frau Kovacic nickte. «Wir gehen zum Bus. Frau Konrad macht das Schlusslicht.»

Am Nachmittag passte Journalistinnen-Jenny uns im Eingang des Klassenzimmers ab. Vlad neben ihr als Marktschreier. «Die neusten Neuigkeiten. Lest und staunt!»

Jenny händigte jedem von uns ein Exemplar der neusten Ausgabe von «Volltreffer» aus, während Vlad verkündete: «Druckfrisch. Mit einer Doppelseite Rätsel, dem Test ‹Bist du schüchtern?› und mit dem Auftakt der Reportagen-Reihe ‹Unser Dorf›.»

«Wer eins hat, geht weiter», befahl Jenny. «Leserbriefe wie immer willkommen. Einsendeschluss des Malwettbewerbs ist Ende Monat. Vlad, reich mir noch eine Ladung.»

Auch Frau Kovacic, die mit einer Tasse Tee in der Hand das Zimmer betrat, bekam eine Zeitung. «Danke, Jenny. So, jetzt setzt euch bitte alle. Es hat bereits geläutet. Zeitungen in den Thek.»

Es raschelte.

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«Heute machen wir Gruppen und verteilen die Rollen für unsere Sketche», verriet Frau Kovacic und setzte ein Lächeln auf. «Das wird ganz toll.»

Meine Mundwinkel zogen sich nach unten. Schauspielern war nicht mein Ding. Die Sketche hatten wir letzte Woche aus einem alten, abgegriffenen Witzbuch von Frau Kovacic herausgesucht. Als sie klein war, hatte sie lustige Smileys mit Tränen in den Augen neben ihre Lieblingswitze gemalt. Drei davon sollten wir als Sketche proben. Hoffentlich würde wenigstens Frau Kovacic lachen, wenn wir ihre Lieblingswitze vorspielten.

«Wir brauchen drei Gruppen», erklärte unsere Lehrerin. Und schwups, riefen alle durcheinander.

«Ich will mit Mustafa.»

«Ich will mit Jana-Lena.»

«Ich und Noam und Vlad sind zusammen.» So ging es weiter, doch Frau Kovacic, ganz Profi, überhörte alles Bitten und Flehen und teilte uns ein. Es entstanden drei Gruppen mit je fünf Kindern. Ich war mit Lara, Tatjana, Kai und Mustafa zusammen.

«So, ich hoffe, das passt», sagte Frau Kovacic. Die halbe Klasse guckte wütend oder beleidigt.

«Ich verteile die Sketche. Jede Gruppe bekommt einen. Ihr habt nun Zeit, sie anzuschauen und zu überlegen, wie ihr sie aufführen möchtet. Ich komme zwischendurch bei jeder Gruppe vorbei.»

Betrübt sassen wir im Gruppenraum und starrten auf unsere Blätter mit dem Witz. Niemand von uns hatte Lust anzufangen. Lara war unter dem Tisch verschwunden. Aus dem Gang hörten wir angeregtes Stimmengewirr und immer wieder lautes Lachen. Mustafa stupste Kai an.

«Was?», fragte dieser gereizt.

Mustafa zuckte mit den Schultern. Tatjana schob die Blätter auf dem Tisch hin und her, als wir

Frau Kovacic in der Tür bemerkten.

«Wie läuft’s bei euch?»

Tatjana zog schnell ein Blatt zu sich heran. «Gut», log sie. «Wir überlegen gerade.»

«Schön. Ich höre euch gern zu.»

«Wir müssen zuerst lesen», gab Tatjana zu.

«Wer ist euer Teamleader oder eure Teamleaderin?», erkundigte sich Frau Kovacic.

Wir sahen sie fragend an.

«Ihr solltet als Erstes einen Teamleader oder eine Teamleaderin bestimmen.»

Das war wohl an uns vorbeigegangen.

«Ich bin Teamleaderin», kam es von unter dem Tisch.

Frau Kovacic bückte sich überrascht.

«Auf keinen Fall!», schrie Tatjana. «Wir stimmen ab.»

Zur Wahl stellten sich Tatjana und Kai. Lara blieb stumm unter dem Tisch hocken. Ich enthielt mich der Stimme, da ich mich echt nicht entscheiden konnte. So verhalf Mustafa Kai zum Sieg.

«Na, Kai, dann leg mal los», sagte Frau Kovacic aufmunternd.

Kai nahm seine Rolle ernst. Wie an einem Faden hochgezogen richtete er sich auf. Das hatte er vom Schulyoga, dachte ich.

«Okay! Wir machen das so», begann er.

Nach dem Zvieri holte ich die Schulkinderzeitung aus meinem Thek und verzog mich in mein Zimmer. Ich wollte den Test ‹Bist du schüchtern?› ausfüllen.

Die Ereignisse im Gruppenraum von heute Nachmittag gingen mir nach. Eigentlich wäre ich gern Teamleaderin geworden. Aber so wie Tatjana, Kai oder Lara hätte ich mich nie selbst vorschlagen können. Und die anderen hatten keinen Gedanken daran verschwendet, dass ich Führungsqualitäten besitzen könnte. Ich blätterte auf der Suche nach dem Test durch die Seiten und blieb an einem Foto hängen. Es war ein altes Schwarz-Weiss-Bild eines stattlichen Hauses. Darüber stand: «Die Legende von der verrückten Villa». Ich las die ersten Sätze, wobei meine Augen immer grösser und grösser wurden und mir bald der Mund offenstand. Im Artikel hiess es:

Viele von uns gehen auf dem Schulweg an der Dorfbäckerei vorbei und beachten das baufällige Gebäude in der Nähe gar nicht, das im Dorf «Die verrückte Villa» genannt wird. Schon seit Ewigkeiten wohnt dort niemand mehr. An den Fensterläden splittert die Farbe, und der Verputz bröckelt von der Fassade. Es ist ein trauriges, altes Haus, das still vor sich hin rottet. Vielleicht hatte der eine oder die andere als kleines Kind einmal Angst, dass eine Hexe in der verrückten Villa haust. Doch bestimmt hättet ihr nie gedacht, welch grausige Geschichte sich einst dort zugetragen hat!

«Jenny versteht ihr Handwerk», dachte ich und las voller Neugier weiter.

Ich habe Interviews geführt und gründlich recherchiert, und so habe ich erfahren, dass die Villa einst einem reichen Fabrikanten gehörte, der im Dorf viel Land besass. Auch das Land, auf dem unsere Schule steht, gehörte zu seinem Besitz. Der Fabrikant war im Dorf unbeliebt. Er war

streitsüchtig und geizig. Aber niemand traute sich, etwas gegen ihn zu sagen, denn viele im Dorf arbeiteten für ihn. Seine Frau hielt sich für etwas Besseres und stolzierte in schönen Kleidern umher. Nur der Sohn war gern unter den Leuten und oft im Dorf anzutreffen.

An einem Abend geschah es dann. Das Dorf feierte sein 650-Jahr-Jubiläum. Die Leute sassen an Tischen beieinander. Auch der Fabrikantensohn war gekommen. Der Fabrikant selbst und seine Frau waren erwartet worden. Sie waren jedoch nicht erschienen, und es hiess, dass sie sich zu gut für die einfachen Leute fühlten.

An diesem besonderen Abend hatte der Fabrikantensohn reichlich getrunken und über- schwänglich mit der Bäckerstochter getanzt. Es war bekannt, dass er in sie verliebt war. Spät erst ging er nach Hause.

In dieser Nacht drangen laute aufgebrachte Stimmen aus der Fabrikantenvilla. Und am nächsten Tag war ein Familienmit- glied verschwunden.

Mehr zur verrückten Villa in der nächsten Ausgabe von «Volltreffer».

Ich war baff. Diese Geschichte musste ich Julie erzählen. Von unten hörte ich meine Mutter nach mir rufen. Trotzdem klappte ich meinen Laptop auf und hackte auf die Tasten:

3158 KB Senden Betreff An Verrückte Villa

Volltreffer.jpg

Liebe Julie

Heute nur kurz. Mama fährt mich gleich in die Psychomotorik. Ich habe dir einen Artikel aus dem «Volltreffer» abfotografiert und angehängt. Krass, nicht? Und du merkst sicher: Die verrückte Villa ist das Haus, in das Kai heimlich schleicht. Wer kann JournalistinnenJenny die Informationen geliefert haben? Wer ist verschwunden? Was ist wohl Grausiges passiert? Wärst du da, wir würden als coole Katzencrew das Geheimnis lüften und Jenny zuvorkommen.

Kuschelumarmung

Deine Alba

4. Kapitel

Am nächsten Morgen, als ich in die Schule kam, stand eine Gruppe um Journalistinnen-Jenny und bestürmte sie, damit rauszurücken, was genau in der Villa passiert sei.

Jenny wehrte ab. «Ihr erfahrt alles in der nächsten Ausgabe.»

«Von wem hast du die Geschichte?», versuchte es Tatjana.

«Das darf ich nicht sagen. Ich muss meine Quellen schützen.»

«So ein Unsinn!» Tatjana stapfte wütend davon. Auch die anderen zogen enttäuscht ab.

Der Unterricht begann heute auf dem Pausenplatz. Alle Klassen versammelten sich und probten gemeinsam das Dorflied. Frau Heierli, die Fünftklasslehrerin, begleitete uns am E-Piano. Es war sonnig, und ein Hauch Frühling lag in der Luft. Wir mussten das Lied immer wieder singen. Frau Heierli bestand auf der korrekten Aussprache des Dialekts. Ich bemerkte, dass Vlad und Mustafa irgendwann nur noch die Lippen bewegten. Leider nützte auch das nichts. Nach unzähligen Wiederholungen schickte uns Frau Heierli sichtlich unzufrieden mit unserer Leistung in die Schulzimmer.

Wir hatten Medienbildung. Nachdem wir unseren Medienkonsum dokumentiert hatten, ging es um die Verwendung des Internets. Frau Kovacic gab uns Aufträge, zu denen wir im Internet recherchieren sollten. Meiner lautete: Was fressen Siebenschläfer? Recherchiere im Internet. Notiere in dein Heft, auf welchen Seiten du die besten Informationen findest. Ich tippte in die Suchmaschine ein Was, aber anstatt fressen schrieb ich passierte in der verrückten Villa. Ich blickte auf. Frau Kovacic sass an ihrem Pult und schnitt laminierte Kärtchen aus.

Meine Suche brachte keine nützlichen Resultate. Also probierte ich es mit anderen Stichwörtern. Legende von Schaaf oder Streit in Fabrikantenfamilie. Fieberhaft kombinierte ich Begriffe, die zur Legende der verrückten Villa passten. Plötzlich stiess ich auf etwas. Hastig klickte ich auf den Link zu einem alten Zeitungsbericht. Darin ging es um die Familie Steingruber. Eine reiche Fabrikantenfamilie, die von einem grossen Unglück heimgesucht worden war. Ich lass gerade die ersten Zeilen, als Frau Kovacic verkündete: «Ihr habt noch fünf Minuten, dann treffen wir uns im Kreis.»

Mist. Ich hatte mit meinem Auftrag gar nicht angefangen. Blitzschnell googelte ich nach Siebenschläfern.

Im Kreis forderte Frau Kovacic uns auf, unsere Hefte aufgeschlagen in die Mitte zu legen. «Geht

einmal herum und schaut euch an, was die anderen notiert haben. Was fällt euch auf?»

Als wir wieder an unseren Plätzen im Kreis sassen, hob Jana-Lena die Hand.

«Ja, Jana-Lena?», nahm Frau Kovacic sie dran.

«Alba hat fast nichts im Heft.»

Ich fühlte mich ertappt und musste etwas sagen: «Ich … ich … ich hab gegoogelt, und da kamen so viele Sachen, und da hab ich gelesen und die Zeit vergessen und vergessen aufzuschreiben.» War ja irgendwie wahr.

«Das ist interessant», meinte Frau Kovacic. «Aus dem, was Alba passiert ist, können wir etwas lernen. Wisst ihr was?»

Wir sahen uns ratlos an.

Frau Kovacic erklärte: «Das Internet bietet eine Flut von Informationen.» Sie ging an die Wandtafel und malte farbige Blasen, die sie mit Pfeilen verband. «Wir starten, sagen wir, hier, und ein spannender Inhalt führt uns zum nächsten. Wir lesen dies und das, klicken weiter und kommen nicht zu dem, was wir ursprünglich suchen wollten. So ist das mit dem Internet.»

Ich nickte eifrig.

«Danke, Alba. Du hast uns auf ein wichtiges Thema gebracht.»

Ich warf Jana-Lena einen spöttischen Blick zu.

Nach der Pause mussten wir an unseren Sketchen arbeiten und sassen im Gruppenraum zusammen. Wir kamen nicht voran. Kai versuchte, uns anzutreiben, wollte, wie es unser Auftrag war, die Rollen verteilen. Niemand beachtete seine Bemühungen. Die verrückte Villa war das Thema Nummer eins in der Klasse, und auch in unserer Gruppe wurde die Geschichte diskutiert.

Tatjana ärgerte sich über Journalistinnen-Jenny, die partout nicht rausrücken wollte, welche haarsträubende Tat sich in der Villa ereignet hatte. «Ich glaube, der Vater und der Sohn hatten einen Streit. Der Vater hat in seiner Wut den Sohn abgemurkst», fabulierte sie. «So muss es gewesen sein. Meint ihr nicht?»

Lara war ebenfalls für einmal voll bei der Sache.

Diese unheimliche Geschichte war genau nach ihrem Geschmack. «Sicher spukt der tote Sohn in dem Haus. Oder der tote Vater. Oder die tote Mutter. Oder … die ganze tote Familie. Und wer dort reingeht, verschwindet auch.»

«Oder er wird zu einem Vampir», warf Mustafa ein.

«Quatsch», meinte Tatjana.

Lara schüttelte ungläubig den Kopf über Mustafas Fantastereien.

«Ich glaube, wir haben es hier mit einer Ente zu tun», meinte Kai und zerstörte damit den Gruselmoment vollends.

«Eine Ente? Dann wohl eher ein Vampir», verteidigte Mustafa seinen Einfall.

«Ich glaube nicht an die Geschichte, wollte ich damit sagen. Man sagt Ente, wenn eine Nachricht in der Zeitung steht, die nicht stimmt. Jenny wollte, dass alle ihre Zeitung interessant finden. Darum schreibt sie solches Zeugs. Proben wir endlich.»

«Die Geschichte ist wahr. Das weiss ich», sagte ich selbstsicher.

«Woher willst denn du das wissen», fuhr mich Kai forsch an.

«Ich hab im Internet recherchiert», sagte ich möglichst cool. «Und einen Zeitungsartikel von vor vielen Jahren gefunden. Da steht’s drin.»

«Erzähl, Alba!», drängte Mustafa. Alle Augen waren auf mich gerichtet. «Ich hab herausgefunden, dass die Fabrikantenfamilie Steingruber hiess und dass es ein grosses Unglück gab. Seither steht die Villa leer.»

Tatjana stockte der Atem. «Und wer wurde abgemurkst?»

«Naja, ich konnte nicht den ganzen Text lesen. Es war nur ein Ausschnitt davon im Internet.»

Tatjana stöhnte.

Lara flüsterte vor sich hin: «Steingruber, Steingruber.»

Frau Kovacic stand in der Tür. «So, wer spielt den Bauern? Wie habt ihr euch entschieden?»

«Lara spielt die Wäscherin», antwortete Kai flink und fügte hinzu: «Tatjana ist die Bäuerin, Alba die Wirtin und Mustafa der Gast. Ich mache die Regie.»

Niemand muckste auf.

«Gut. Ich freue mich, dass ihr euch einigen konntet. Kommt zurück ins Klassenzimmer. Kai, dich möchte ich nach der Schule kurz sprechen.»

Senden Betreff

An Buh

Julie Neff

Liebe Julie

Ich vermisse dich sehr. Du schreibst mir in letzter Zeit so selten. Musst du viel für die Schule lernen? Oder spielst du immer mit deiner Lili Rakete Neff? Ich würde mich freuen, wenn du mir erzählst, was du machst.

Und was hältst du von der Geschichte mit der verrückten Villa? Zusammen würden wir uns sicher in das Haus hineintrauen und Nachforschungen anstellen. Mit Lara will ich nicht hin. Die sucht nur nach Geistern. Das ist mir zu gruselig.

Kai scheint ständiger Gast in der Bruchbude zu sein. Ich habe ihn weiter beobachtet. Immer wieder setzt er sich von seinen Kumpels ab. Mal tut er so, als hätte er etwas in der Schule vergessen, mal gibt er vor, einen Termin zu haben. Ich hab meine sensiblen Katzenöhrchen aufgesperrt und bin um ihn und seine Kumpels herumgestreunt. Kai guckt mich immer böse an, wenn er mich in seiner Nähe entdeckt. Aber der kann mir keine Angst einjagen. Ich hab Belana und ihre Clique in der Hinterhand. Weisst du noch? Die haben schon im Kindergarten die gemeinen Jungs für uns vertrieben. Mit meiner Schwester legt man sich bekanntlich lieber nicht an.

Kai hat gestern nach der Schule bei Frau Kovacic antraben müssen. Ich hab mich gefreut, dass er einen Anschiss wegen irgendwas kriegt. Das habe ich mir nicht entgehen lassen wollen. Darum bin ich nach dem Unterricht im Schulzimmer herumgebummelt. Sie hat ihm aber nur ein Blatt gegeben und ihm etwas erklärt. Was, weiss ich nicht. Frau Kovacic hat mich beim Anpirschen leider bemerkt und rausgeschickt. Lara war schon weg. Sie hat sich mit Tatjana angefreundet. Die reden ständig über die verrückte Villa. Tatjana hat den Dreh mit Lara voll raus. Sie verwickelt Lara in ein spannendes Gespräch und tada: Lara hält mit ihr Schritt.

Vergiss mich nicht und schreib mir bald.

Kuschelumarmung

Deine Alba

5.

Kapitel

Ich wartete wie jeden Dienstagabend vor der Psychomotorikpraxis auf meine Mutter, die mich mit dem Auto abholen sollte. Mama nannte die Psychomotorik mein Personal Training. Das ist, wenn man Sport macht und einen Coach für sich ganz allein hat. So etwas leisten sich sonst nur die Stars, sagt meine Mama. Ich liebte die Psychomotorik. Eine halbe Stunde klettern, balancieren und herumturnen. Hinterher war ich immer gut gelaunt oder, wie Mama es formulierte, ausgeglichen. Ich stand also vor dem Ausgang. Es nieselte leicht, und langsam verspürte ich Hunger. Da hörte ich, wie sich hinter mir die Tür öffnete, und gleich darauf ein kurzes, unerfreutes «Oh».

Als ich mich umdrehte, stand da Kai.

«Was machst du hier?», fragten wir gleichzeitig und musterten uns misstrauisch.

Das Auto meiner Mutter fuhr vor. Sie liess die Scheibe auf der Fahrerseite runter und rief: «Kai, du fährst bei uns mit. Dein Vater hat mich angerufen. Euer Hund hat Durchfall. Er kann ihn nicht allein zu Hause lassen.»

Kai sass stumm im Auto, seinen vollen Rucksack auf den Knien. Ich holte mir ein Bonbon aus dem Klappfach zwischen den Vordersitzen.

«Biete Kai auch eins an, Alba.»

Kai schüttelte den Kopf. «Nein danke, Frau van Dijk.»

Mann, war der höflich.

«So», plauderte meine Mutter, «hat es euch beiden gefallen? Kai, du warst heute zum ersten Mal in der Begabtenförderung, nicht? Gut, dass es bei uns auf dem Land ein solches Angebot gibt. Es muss dir doch langweilig sein im normalen Unterricht.»

«Nein, Frau van Dijk. Der Unterricht ist in Ordnung», wich Kai aus.

«Du warst an eurem alten Wohnort an einer Schule für Hochbegabte, hat mir dein Vater erzählt.»

«Vielleicht nehm ich doch ein Bonbon», meinte Kai.

Ich langte schnell in das Klappfach und gab ihm ein extra scharfes Pfefferminz.

«Und du, Alba, hat das Balancieren besser geklappt?», befragte meine Mama nun mich.

Am nächsten Vormittag sassen wir im Gruppenraum und brüteten über unserem Sketch. Kai wirkte nervös. Er warf mir immer wieder Blicke zu. Ich wusste, er wollte geheim halten, dass er ein Genie war. Nur warum?

Mustafa rezitierte lauthals seine Zeilen. Ihn hatte das Schauspielfieber gepackt.

«Ich hab viel zu wenig Text», jammerte Tatjana.

Lara faltete eine Ziehharmonika aus ihrem Blatt.

«Kai, du solltest mal für Ordnung sorgen und uns sagen, was wir tun sollen», forderte ich ihn auf. «Es geht alles durcheinander, und du bist schliesslich unser Regisseur.»

Kai sah mich unsicher an, raffte sich dann aber auf und wies uns allen entschieden eine Startposition zu. Mustafa sass als Gast am Tisch, den wir in die Mitte des Raums gerückt hatten. Ich servierte ihm auf einem unsichtbaren Tablett ein unsichtbares Heilwässerchen. Tatjana kam herangepoltert und fragte den Gast, ob sie sich zu ihm setzen dürfe.

«Lara, dein Einsatz», flüsterte Kai. Aber Lara hatte andere Pläne.

«Der Sketch gefällt mir nicht. Ich mach ihn besser», meinte sie und riss ein Stück von ihrem Blatt ab.

«Spinnst du?», schrie Kai entgeistert.

Tatjana witterte ihre Chance. «Schreib mehr

Text für mich.»

«Und ich will, dass die Wirtin mir ein Bier bringt», erkannte Mustafa seine Chance.

Kai sackte auf einen Stuhl.

Ich musste über das Chaos lachen. So sehr, dass ich über einen gar nicht unsichtbaren handfesten

Stuhl fiel und vor den Füssen von Frau Kovacic landete, die unbemerkt in den Gruppenraum gekommen war.

Frau Kovacic war enttäuscht von uns. Sie verbot Lara, den Sketch zu ändern, und verdonnerte uns alle zu Strafaufgaben. Wir würden uns an einem freien Nachmittag treffen müssen, um den Sketch in seiner ursprünglichen Version endlich zu proben.

Nach meiner nächsten Psychomotoriklektion wartete ich wieder darauf, dass ich abgeholt werden würde. Bald stand Kai neben mir.

«Hi.»

«Hi.»

Diesmal fuhr das schwarze Auto seiner Familie vor. Kais Vater und meine Mutter hatten abgemacht, dass sie uns im Turnus abholen würden. Meine Mama zumindest war darüber erfreut. «So nette Nachbarn. Das erleichtert einem vieles.»

«Alles klar?», fragte Kais Vater, als wir einstiegen, und manövrierte den Wagen in die Gegenrichtung. Er hatte einen lässigen Fahrstil, und es lief Musik aus dem Radio. Kais Vater wippte im Takt mit dem Kopf. «Wir machen einen kurzen Abstecher.

Dauert nicht lang. Ich hab im Proberaum etwas vergessen, das ich für die nächste Show brauche.»

Kais Vater war also Musiker, dachte ich. Das ist cool.

Ich sah zu Kai hinüber. Der war bleich geworden. «Nein, Papa. Das geht nicht.»

«Dauert wirklich nur ein paar Minuten. Ich

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schnapp mir schnell die Sachen. Ihr könnt kurz mit reinkommen. Vielleicht mag sich Alba umsehen?»

Welches Instrument er wohl spielte? Schlagzeug oder E-Gitarre?, überlegte ich.

«Papa, bring uns einfach heim.» Kai war richtig laut geworden.

Sein Vater sah ihn im Rückspiegel stirnrunzelnd an.

«Also gut, dann mach ich es eben morgen früh.»

Ich war enttäuscht. Ich liebte Musik, und Teil einer Band zu sein, war mein absoluter Traum. Leider spielte ich kein Instrument. Mama fand, Schule und Psychomotorik waren für den Moment genug.

Nicht einmal einen MP3-Player mit Kopfhörern gestand sie mir zu. Sie meinte, dass ich mit einem solchen Gerät nur noch in meinem Zimmer herumliegen und Musik hören würde, anstatt etwas Anständiges zu machen wie lesen oder mich bewegen.

Wahrscheinlich war Belana, die ständig mit ihren

Kopfhörern herumlief und bei der Mama nichts mehr zu melden hatte, schuld an dem Verbot.

6. Kapitel

Julie Neff

Senden Betreff An Spionieren

Liebe Julie

Ohne dich macht alles keinen Spass. Heute muss ich an meinem freien Mittwochnachmittag zu Kai rüber. Die anderen aus meiner Sketchgruppe kommen auch. Frau Kovacic hat uns eine Extraprobe auferlegt. Ich glaube, sie wird langsam nervös und befürchtet, dass wir den Sketch bis zum Fest nicht drauf haben werden. Wenn ich zu Kai gehe, spioniere ich ein bisschen. Okay? Was hat seine Familie wohl in eurem Haus angerichtet?

Ich werde dir Bericht erstatten. Meld auch du dich bei mir. Bitte!

Kuschelumarmung

Deine Alba

Ich klappte den Laptop zu, setzte mich ans Fenster und wartete. Da Kai unser Regisseur war, hatten wir abgemacht, uns bei ihm zu Hause für die Probe zu treffen. Ich beobachtete den Vorplatz, denn ich woll-

te auf keinen Fall als Erste ankommen und womöglich mit Kai allein sein. Bald müssten die anderen eintreffen. Also harrte ich am Fenster aus. Gerade machte ich eine riesige Kaugummiblase, als ich sah, wie sich am Fenster gegenüber etwas bewegte. Kais Kopf guckte zwischen den Gardinen hindurch. Er blickte die Strasse runter. Ich wollte gerade einen Schritt zurücktreten, damit er mich nicht bemerkte, doch zu spät: Er hatte mich gesehen. Einen Augenblick lang guckten wir uns regungslos an. Dann hob Kai kurz die Hand und verschwand im Dunkel hinter den Gardinen.

Im nächsten Moment kamen Tatjana und Mustafa die Strasse herauf. Ich packte mein Hausaufgabenmäppchen mit dem Sketchblatt und spurtete die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Die beiden hatten bereits geklingelt, als ich mich zu ihnen stellte. Kais Vater öffnete. «Hallo zusammen.»

Kai stand verlegen hinter ihm. «Kommt, wir gehen in mein Zimmer.»

Wir folgten Kai nach oben. Tatjana und Mustafa redeten miteinander. Ich schwieg, registrierte alles, was sich in dem Haus, das mir durch Julie so bekannt war, verändert hatte. Im ersten Stock befanden sich drei Zimmer. Im einen erspähte ich einen grossen Schreibtisch, auf dem sich Papiere stapelten und ein Laptop lag. Durch den Spalt einer anderen Tür konnte ich aufgetürmte Plastikkisten und glit-

Aus dem Fenster sah man zu meinem Fenster mit den hellblauen Vorhängen. Und wie ich jetzt erschrocken feststellte, erkannte man auch gut, was sich in meinem Zimmer befand. Ich erkannte ein paar Comics, mein Etui, aus dem diverse Malstifte gekullert waren, und mein Katzenkuscheltier. Ich nahm mir vor, für mehr Ordnung in meinem Zimmer zu sorgen oder die Vorhänge zugezogen zu lassen.

Kais Zimmer war makellos aufgeräumt. Es glich dem von Julie kein bisschen mehr. Da waren keine Katzenposter an den Wänden und keine Regale voll lustiger Spielfiguren, keine Kiste mit Verkleidungssachen, auch keine gemütliche Kuschelecke, in der

J 49 j zernde Umhänge erkennen. Ob die Kais Mutter gehörten? Mir fiel auf, dass ich seine Mutter kaum je gesehen hatte. Ihr Kleidergeschmack erschien mir ziemlich kurios. Die dritte Tür war geschlossen, und an ihr prangte ein Schild mit der Aufschrift Danger! Keep out. Ganz klar, da war das Zimmer von Kais älterem Bruder, den ich beim Einzug in schwarzen Klamotten und mit fettigen langen Haaren hatte ins Haus schlurfen sehen. Kurz ging mir durch den Kopf, dass Kai vielleicht Ähnliches durchmachen musste, wie ich mit meiner Schwester. Wir folgten Kai eine weitere Etage nach oben in den ausgebauten Dachstock. Kai hatte sich in Julies früherem Zimmer eingenistet. Als wir eintraten, sass Lara bereits auf einem orangen Sitzsack in einer Ecke.

sich samtig weiche Kissen stapelten, und kein CDPlayer. Wie oft waren wir zu cooler Musik durchs Zimmer gewirbelt oder hatten auf den Kissen gefläzt und uns Hörspiele angehört.

Kais Einrichtung fand ich langweilig. Sie bestand aus dem Nötigsten: Bett, Schrank, Schreibtisch, dazu ein hässlicher oranger Sitzsack und ein volles, säuberlich eingeräumtes Bücherregal. Ein Titel stach mir ins Auge. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Mythologie interessierte mich, aber fragen, ob ich das Buch ausleihen durfte, wollte ich nicht.

An der Wand hingen zwei grosse Poster, eines mit einem Basketballspieler und ein anderes mit einem alten weisshaarigen Kauz, der die Zunge herausstreckte. Das Poster mit dem skurrilen Alten regte Mustafa zur Nachahmung an.

«Bäääh», machte er zu Tatjana. Diese schubste ihn kräftig, sodass er aufs Bett plumpste. Wir mussten lachen. Dann setzten wir uns alle auf den Zimmerboden und packten unsere Blätter aus.

«Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht», begann Kai. Seine paar Gedanken waren eigentlich ein gut durchdachtes Konzept. Unsere Probe lief plötzlich wie am Schnürchen. Erst sprachen wir den Sketch mit verteilten Rollen. Ich spielte die Wirtin mit einem harschen Tonfall, was Kai gefiel. Er meinte, ich hätte ein Gespür für die Rolle und ermutigte

J 50 j

die anderen, sich ebenfalls in ihre Charaktere einzufühlen.

Wir rückten Kais Schreibtisch in die Mitte des Raums und legten die Requisiten bereit. Anschliessend markierten wir mit Klebeband, wo wir stehen und bis wohin wir gehen mussten.

Kai setzte sich mit Block und Stift auf seinen

Drehstuhl und rief: «Action!»

Es machte total Spass. Mustafa wurde in seiner Rolle als Gast richtig sauer und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass mir das Tablett vor Schreck beinahe aus der Hand fiel. Tatjana polterte mit gebeugtem Rücken über die Bühne, und Lara schnaubte, als sie mit einer Ladung Wäsche in die Gaststube stolperte. Mit grosser Geste wischte sie sich imaginären Schweiss von der Stirn. Zum Schluss verbeugten wir uns überschwänglich.

Doch anstatt zu klatschen, sagte Kai: «Danke. Ich gebe euch beim Zvieri meine Rückmeldung.»

Kais Vater hatte in der Küche Früchte, Kekse und Sirup aufgetischt. Kai zückte seine Notizen und sprach mich als Erste an. «Alba.»

Kais Vater klapperte mit Geschirr an der Spüle.

«Papa, du störst», sagte Kai schroff.

Kais Vater liess sich nicht beirren: «Wollt ihr nicht nach draussen gehen?»

«Papa, wir haben zu tun.»

«Ich meine nur, ihr könntet auf den Fussball -

platz. Falls die Mädchen überhaupt Fussball spielen.»

«Hey», rief Tatjana sauer. «Ich bin die krasseste Stürmerin.»

«Das stimmt», bestätigte Mustafa. «Sie ist die beste.»

Fussballspielen war genau das Richtige. Die Probe hatte super geklappt, und wir waren ausgelassen. Nur Kai blieb zurückhaltend. Tatjana und Mustafa nahmen ihn in die Mitte und zogen ihn mit nach draussen.

Als wir beim Fussballplatz ankamen, war da schon Vlad, der allein kickte. Jubelnd holten wir ihn zu uns und spielten Mädchen gegen Jungs. Lara stand im Tor und hüpfte flink von einem Bein aufs andere. So hielt sie sogar ein paar Schüsse. Tatjana spielte mir geschickt zu, und ich pfefferte den Ball ins Tor. Die Jungs hatten keine Chance. Zum Schluss stand es 5 zu 2.

«War ja logisch», lamentierte Mustafa. «Ich muss nach Hause.»

Wir anderen machten uns mit ihm auf den Weg.

Bei der Bäckerei hielt Lara an und schnupperte. «Mmh, frische Berliner», seufzte sie.

«Ich hab Geld», meinte Vlad. «Ich musste für meine Mutter Milch kaufen. Da.» Er zog ein Portemonnaie aus seinem Rucksack.

Wir entschieden uns für drei Berliner, die wir teilen wollten. Ich hatte Bedenken, ob Vlads Mutter wirklich so spendabel war. Oder ob wir ihr das Geld zurückgeben mussten. Ich jedenfalls sparte mein Taschengeld für das Dorffest, an dem es bestimmt leckere Sachen zu kaufen geben würde, und war zu keinen Extraausgaben bereit. Vlad versuchte, meine Sorge zu beschwichtigen: «Kein Problem. Meine Mutter merkt das nicht. Die vertraut mir.»

Wir beobachteten durch die Scheibe, wie Vlad an der Theke bestellte und die Verkäuferin die frischen Berliner in eine Tüte packte. Ungeduldig warteten wir.

Wieder bei uns, langte Vlad in die Papiertüte und fischte einen Berliner heraus. «Mmh. Mit viel Puderzucker. Der ist für mich und Mustafa», stellte er klar.

Tatjana krallte sich Lara zum Teilen. So blieben ich und Kai übrig.

Wir setzten uns auf das Steinmäuerchen bei der Kirche, das den Kirchenhof einzäunte. «Du kannst zuerst abbeissen», sagte Kai.

«Ich nehme drei Bisse und dann du drei. Okay?», schlug ich vor und stellte klar: «Es dürfen aber höchstens mittelgrosse Bisse sein.» Durch meine Erfahrung mit Elino und Belana waren mir jegliche Geschwistertricks bekannt.

Die Konfi tropfte über meine Finger. «Schleck ab», erlaubte Kai.

«Das ist fast die ganze Konfi.» Ich war unsicher.

«Schon gut. Macht mir nichts.»

«Okay. Danke.» Kai hatte cool reagiert, fand ich.

«Was meint ihr?», fing Tatjana kauend an. «Ob der tote Sohn da auf dem Friedhof liegt?»

Wir wussten alle gleich, wen sie meinte. Vielleicht war es, weil wir alle aufgeputscht waren von unserer erfolgreichen Probe, dem Fussballspiel und dem zuckrigen Berliner. Auf jeden Fall fühlten wir uns abenteuerlustig.

Ich wischte meine klebrigen Finger an meiner Jeans ab und hüpfte wie auch die anderen von der Steinmauer. «Kommt», drängte Tatjana. «Wir suchen ihn.»

Schweigend betraten wir den Friedhof. Wir vereinbarten, dass wir einzeln die Reihen durchkämmen und den anderen ein Zeichen geben würde, wenn wir das richtige Grab gefunden hätten. Ich schaute auf die Grabsteine, las Namen, Geburts- und Todesdatum. Kies knirschte beim Gehen unter meinen Füssen. Ich versuchte, leise aufzutreten. Ich fühlte mich beobachtet. Mir war ein wenig unheimlich zumute.

Plötzlich winkte uns Mustafa hektisch zu. Wir eilten zu ihm.

«Da», sagte er und deutete auf ein Grab, «liegt meine Grossmutter.»

«Die ist erst letztes Jahr gestorben», stellte Tatjana fest.

Mustafa nickte betrübt. «Sie hat bei uns gewohnt und auf mich aufgepasst, wenn Mama und Papa gearbeitet haben. Aber dann ist sie krank geworden.»

«Echt traurig.» Vlad tätschelte Mustafas Schulter.

«Wirklich traurig», bestätigte Tatjana. «Aber jetzt bitte keine Verwandten mehr. Konzentriert euch.

Wir suchen den Sohn. Los.»

«Hey, wartet.» Ich hielt die anderen zurück. «Wo ist Lara?»

Alle sahen wir uns um.

«Lara!», rief Vlad.

«Pst», machten wir anderen.

Lara war verschwunden. Hatte sie der Geist des Fabrikantensohns geholt? Mir lief ein Schauer über den Rücken.

«Wir suchen Lara. Aber diesmal bleiben wir alle zusammen», entschied Tatjana.

Gemeinsam schlichen wir über den Friedhof und um die Kirche. Wir öffneten die schwere Kirchentür und spähten ins Innere. Ein muffiger Geruch kam uns entgegen. Von Lara keine Spur. Ratlos sahen wir uns an.

«Wo ist die bloss?», rätselte Tatjana.

«Vielleicht ist sie nach Hause gegangen», überlegte ich.

Das wäre typisch Lara: ohne ein Wort einfach ihres Weges gehen.

«Lasst uns auch heimgehen», meinte Mustafa.

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Müde gingen wir nebeneinander her, als Vlad plötzlich stehen blieb.

«Seht ihr das?» Er starrte auf die verrückte Villa.

Die Tür stand offen. Es war nicht die Kellertür, in die ich Kai hatte verschwinden sehen und zu der man einige Stufen nach unten steigen musste. Dies war der Haupteingang, der in die Räume der verrückten Villa führte.

Tatjana war als Erste dort. «Da summt jemand», flüsterte sie halblaut.

Wir folgten ihr und standen bald alle lauschend vor der offenen Tür.

«Das ist das Dooflied. Äh, ich meine die Melodie vom Dorflied», korrigierte ich mich.

«Lara muss da drin sein», stellte Mustafa fest.

«Na dann.» Tatjana nickte uns kurz zu und gleich darauf betrat sie das Haus. Wir folgten ihr. Kai kam zögernd als Letzter. Mein Herz klopfte so laut, dass ich dachte, alle müssten es hören. Aber vielleicht waren die anderen mit ihren eigenen Herzen beschäftigt. Niemand sagte ein Wort. Bei jedem Schritt ächzten die Dielen unter unseren Füssen. Grüne Farbe war von den Kassettenwänden geblättert. Von den Decken baumelten üppige, verstaubte Kronleuchter. Eigenartig, ging es mir durch den Kopf. Ich hatte erwartet, dass das Haus leer sein würde. Stattdessen standen Kommoden und Schränke in den Zimmern. Bilder hingen an den Wänden. Tatja-

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na, die uns noch immer anführte, drückte eine schlaffe Klinke und öffnete die Tür zum nächsten Raum.

Da lag Lara auf dem Boden und blickte an die Decke. «Schön, findet ihr nicht?», fragte sie, überhaupt nicht erstaunt, dass wir vor ihr standen.

Wir anderen folgten ihrem Blick.

«Wow.»

Die Zimmerdecke war mit Stuckatur umrahmt und mit gemalten Blumen und Ornamenten beschmückt. Die Farbe war verblasst, und an manchen Stellen waren kleine Stücke aus dem Verputz gebröckelt. Dennoch war es ein prächtiger Anblick.

«Das muss eine herrliche Villa gewesen sein.»

Selbst Kai konnte seine Bewunderung nicht verhehlen und streifte mit seiner Hand zärtlich über die Kacheln eines altrosa Ofens, der in einer Zimmerecke stand.

Tatjana hatte sich neben Lara gelegt. Vlad setzte sich dazu. Sie erfanden Geschichten über die Villa und die Menschen, die hier einmal gelebt hatten.

Mustafa war inzwischen in einem angrenzenden Raum verschwunden. «Da führt eine Treppe nach oben!», rief er, und schon hörten wir seine Schritte auf den knarzenden Treppenstufen. Wir anderen blieben im verzierten Raum zurück.

«Das war bestimmt einmal das Wohnzimmer», meinte Kai.

Mein Magen war flau. Ich hatte Sorge, dass wir die Geister, die hier wahrscheinlich hausten, stören und mit unseren Schnüffeleien verärgern könnten.

Das schien im Moment aber niemanden von den anderen zu kümmern. Die fanden unser Abenteuer aufregend. Nicht einmal Kai, der sich lange im Hintergrund gehalten hatte und nur widerwillig in die Villa mitgekommen war, hielt sich zurück. Er sah sich alles haargenau an, schritt den Raum ab und musterte die Menschen auf den fast vergilbten Bildern. Sein Geniehirn arbeitete auf Hochtouren.

Von oben rief Mustafa: «Ich hab was gefunden!»

Schon polterte es wieder auf der Treppe, und kurz darauf stürzte er in den Raum. In der Hand hielt er triumphierend einen Briefumschlag. «Schaut mal.»

Ausser Atem wedelte er mit dem Brief. «Im ersten Stock sind die Schlafzimmer», berichtete er. «Da steht eine alte Kommode, und ich hab ein paar der Schubladen aufgemacht. Erst wollten sie nicht aufgehen. Aber ich hab gerüttelt und gerüttelt. Und tada: In einer lag dieser Brief.»

Tatjana wollte Mustafa den Brief aus der Hand reissen. Aber er war schneller und hielt ihn hoch über seinen Kopf.

«Wir machen einen Kreis auf dem Boden», befahl Tatjana. «Und dann lese ich den Brief vor.»

«Sicher nicht. Ich hab ihn gefunden. Ich lese vor.»

«Du liest so undeutlich, das weiss ich vom Lesetraining in der Schule. Alba soll lesen.»

Ich schluckte. Vor Aufregung begann ich zu schwitzen und legte meine Dächlikappe ab.

Mustafa streckte mir den Brief entgegen. «Und was, wenn die Geister es gar nicht toll finden, dass wir Schubladen aufmachen und ihre Briefe lesen?», versuchte ich, mich meiner Aufgabe zu entziehen.

Der Brief lag schwer in meiner Hand.

«Oder vielleicht finden die Geister es gut und sie haben den Brief extra für uns dagelassen, weil wir das Geheimnis um die verrückte Villa lüften sollen», besiegelte Lara mein Schicksal. Denn Vlad, Mustafa und Tatjana stimmten ihr enthusiastisch zu, und selbst Kai meinte: «Hier muss etwas Interessantes vorgefallen sein. Es scheint, als ob die Villa Hals über Kopf verlassen worden ist.»

Ich seufzte und nahm den Brief mit zittrigen Händen aus dem Umschlag. In feiner, kunstvoller

Handschrift stand da:

Mein Liebster

Der Tag rückt näher, an dem es auch deine

Eltern erfahren werden. Wir arrangieren, dass sich unsere Familien am Abend des Dorffests unter dem alten Lindenbaum am grossen Platz treffen. Sie werden guter Laune sein, und wir können sie mit der Neuigkeit unserer Verlobung überraschen. Ich bin so glücklich, dass mein Vater zugestimmt hat. Ich kann es kaum erwarten, es nun deinen Eltern zu erzählen.

Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, blieb es stumm. Der Abend des Dorffests? Wir wussten alle aus dem Artikel im «Volltreffer», dass dies der Abend des grossen Streits war, nach dem jemand aus der Fabrikantenfamilie für immer verschwunden war.

Hatte die Neuigkeit der Verlobung für den Streit gesorgt? Ich konnte sehen, dass es auch bei den anderen im Kopf ratterte.

Plötzlich: ein Knall, ein Rumpeln und lautes Stöhnen von unten.

Wir sprangen auf, und als wäre der Teufel hinter uns her, rannten wir durch die Räume, hinaus aus der verrückten Villa und, ohne uns umzusehen, direkt nach Hause.

7.

Kapitel

In der Nacht träumte ich.

Ich wandelte durch die verrückte Villa. Sie sah ganz anders aus, als ich sie heute erlebt hatte. Sie wirkte freundlich und hell. Die Holzmöbel sahen frisch und sauber aus. Im Kamin flackerte ein Feuer. Ich befand mich wieder im verzierten Wohnzimmer, als ich Schritte auf den Treppenstufen hörte und helle Stimmen, die sie begleiteten.

Gleich würde ich entdeckt werden. Doch noch bevor ich mich nach einem Versteck umsehen konnte, öffnete sich die Tür. Zwei Frauen in langen Röcken traten ein. Ich war wie erstarrt, suchte nach einer Ausrede oder Entschuldigung, warum ich in ihrem Haus war. Zu meiner grossen Verwunderung gingen die beiden Frauen munter miteinander plaudernd an mir vorbei und verliessen den Raum durch die gegenüberliegende Tür. Sie hatten mich nicht bemerkt. Wie konnte das sein? Ich verharrte.

Lauschte. Doch es war nichts mehr zu hören. Eilig machte ich mich auf den Weg zum Ausgang. Da begann es unter mir zu poltern. Und augenblicklich begann auch mein Herz zu hämmern. Die Haustür stand offen. Ich sah die Sonne auf das Trottoir scheinen, wollte durch die Tür ins Freie gelangen. Aber eine unsichtbare Kraft hielt mich zurück. Ich

versuchte es wieder und wieder. Aber ich konnte nicht hinaus, und immer noch war da dieses Rumpeln und Dröhnen unter mir.

Ich schlug um mich, versuchte, mich dieser seltsamen Kraft zu entreissen. Doch sie hielt mich fest in ihren unsichtbaren Klauen.

Am Morgen war ich krank. Ich hatte Fieber und musste zu Hause bleiben. Mama meldete sich bei der Arbeit ab und blieb bei mir. Sie machte mir Tee, las mir lange vor, und ich durfte fernsehen. Zum Mittagessen gab es Pfannkuchen mit Apfelmus und Zimtzucker. Es ging mir schon wieder gut, als Kai am Nachmittag vor der Tür stand, um mir die Hausaufgaben zu bringen. Für mich wäre das nicht nötig gewesen. Trotzdem fand ich es irgendwie nett. Kai setzte sich auf mein Bett, und ich bot ihm Gummibärchen an, die ich meiner Mutter abgeschwatzt hatte.

«Haben sie es dir schon gesagt?», fragte Kai kauend. «Unsere Eltern wollen uns nicht mehr abholen.» «Hä?»

«Weil wir zu zweit sind, sollen wir nach Hause laufen von … Du weisst schon.»

«Du meinst von deiner hochbegabten Förderung und meiner Bewegungstherapie. Du bist superschlau und ich kann nicht richtig balancieren und hüpfen.»

Ich nannte die Dinge lieber beim Namen. «Warum stört es dich, dass du ein so helles Köpfchen bist?»

«Das stört mich nicht. Nur …» Er verstummte.

«Du willst nicht, dass es die anderen wissen.»

Er schwieg eine Weile nachdenklich. Schliesslich erzählte er: «Meine alte Schule, die war für Hochbegabte. Zuerst gefiel es mir dort gut. Was wir lernten, war interessant. Wir hatten viele Möglichkeiten und konnten Sachen machen, die in der normalen Schule nicht angeboten werden. Programmieren zum Beispiel. Und wir hatten ein Labor. Es war schön, mit anderen Kindern zusammen zu sein, die sich für ähnliche Dinge interessieren wie ich. Nur … nur irgendwie mochte mich dort niemand. Einige machten sich lustig über mich, und die anderen hielten sich von mir fern.»

Ich war sprachlos. Dass Kai gehänselt worden war, hätte ich nicht gedacht. «Worüber machten sie sich denn lustig?», wunderte ich mich.

«Ach, wegen was Blödem», wich Kai aus.

«Wir zogen irgendwann um und ich kam hier in die Schule. Ich dachte, ich halte mich in der Klasse zurück, falle nicht auf. Ich hatte das Gefühl, dass es ziemlich gut lief. Aber dann kam das Gerücht auf, dass Jenny und ich ein tolles Paar abgeben würden, weil wir beide so furchtbar klug seien. Da hab ich Angst bekommen, dass es wieder anfängt.»

Mich packte das schlechte Gewissen. Ich erinnerte mich vage daran, möglicherweise etwas in diese Richtung gegenüber ein paar aus der Klasse an-

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gedeutet zu haben. Und mir wurde klar: «Da hast du angefangen, immer cooler zu werden mit Basketball und Kopfhörern und so?»

«Ja», meinte Kai verlegen, «ich hab mitbekommen, dass Mustafa und Vlad gern Basketball spielen. Darum hab ich meinen Vater gebeten, einen Korb bei uns aufzuhängen.»

«Dein Plan hat prima funktioniert. Ich sehe euch Jungs von meinem Fenster aus oft spielen. Aber ehrlich gesagt, Vlad und Mustafa würden ohnehin mit dir abhängen. Die sind mit allen voll easy. Vlad geht sogar jeden Freitag zu JournalistinnenJenny zum Mittagessen und bleibt bis zum Abend, weil seine Mutter an dem Tag arbeitet.»

«Hmm, jetzt ist’s zu spät.» Kai grinste. «Der Basketballkorb hängt und ich hab mein ganzes Taschengeld für die Kopfhörer ausgegeben. War ein Tipp von meinem Bruder, der meint, alles mit Musik kommt garantiert lässig rüber.»

Ich musste lächeln. Dass Kai noch mehr Geheimnisse hatte, war mir klar. Aber ich fragte nicht nach, weshalb er immer wieder in den Keller der verrückten Villa hinunterstieg. Denn zum einen wollte ich nicht mehr an die Villa denken, zum anderen hatte ich Kai übel mitgespielt, indem ich das Gerücht mit ihm und Jenny in der Klasse gestreut hatte. Und ich war gerade einfach froh, dass er mir seine Geschichte anvertraut hatte.

8. Kapitel

In drei Wochen fand das grosse Dorffest statt, und wir mussten fast täglich proben. Das Dooflied sangen wir nach wie vor nicht zur Zufriedenheit von Frau Heierli, was unzählige Wiederholungen zur Folge hatte. Die anderen Lehrerinnen standen ungeduldig am Pausenplatzrand. Immerhin gab es neben den Vorbereitungen für die Feierlichkeiten Schulstoff zu vermitteln. Ich warf Frau Kovacic gerade in dem Moment einen Blick zu, als Frau Heierli wieder unsere Harmonien kritisierte. Frau Kovacic verdrehte die Augen und sprach mir damit aus der Seele. Es war schlimm: Wir hatten im Unterricht kaum mehr Zeit für Frau Kovacics mit Hingabe gemalte Tafelbilder.

Viel lieber hätte ich diese in mein Heft übertragen, anstatt mir die Beine in den Bauch zu stehen und den Jodel, mit dem das Dooflied endete, anzustimmen.

Glücklicherweise reichte es an diesem Morgen noch für eine Wissenssendung zur Entwicklung der Medien.

«Bitte verdunkelt den Raum», bat uns Frau Kovacic.

Jana-Lena und Tatjana lieferten sich einen Wettstreit im Rollläden Runterkurbeln. Wir anderen nahmen auf unseren bequemen Sitzkissen Platz. Der Film begann mit Informationen zu neueren Medien

wie Internet, E-Mail und Fernsehen. Dann machte er einen Sprung zurück in die Vergangenheit zu den Rauchzeichen und Lichtsignalen, dem Morsealphabet und dem Beruf des Ausrufers, den Vlad sofort nachahmte.

«Ruhe!», gebot Frau Kovacic.

Als der Film zum Briefeschreiben kam, spürte ich, wie mich jemand anstupste.

«Alba», flüsterte es. «Alba.» Tatjanas spitzer Ellbogen stiess sich in meine Seite.

«Was?», flüsterte ich zurück.

«Der Brief. Der Brief liegt noch in der Villa.»

«Na und?»

«Wir müssen ihn holen.»

«Ich hole ihn auf keinen Fall.»

«Ruhe!» Frau Kovacic war aufgestanden und spähte nach den Störenfrieden.

Als sie sich wieder gesetzt hatte, fing Lara an:

«Wir haben den Auftrag, den Fall zu lösen. Darum haben die Geister uns den Brief gezeigt.»

«Unsinn», zischte ich.

«Alba.» Diesmal war es Frau Kovacic. Bedrohlich stand sie im Halbdunkeln über unseren Köpfen. «Ruhe jetzt.»

Als es wieder hell im Schulzimmer war, verteilte Frau Kovacic uns das Programmheft für das anstehende Dorffest.

«Cool, es gibt einen Hüpfburgenpark.»

«Und einen Softeis- und Zuckerwattestand.»

«Die Landfrauen machen ein Kuchenbuffet.»

«Die Blasmusik spielt. Da ist meine Tante dabei.»

«Guckt mal, es tritt sogar ein Zauberer auf.»

Die Begeisterung unter uns Kindern war gross.

«Die Schulklassen haben ihre Aufführungen am späten Vormittag. Habt ihr das gesehen?», warf Frau Kovacic ein. «Danach gibt es für alle eine Wurst.»

Wir waren zufrieden.

Auf dem Nachhauseweg überlegten wir, wie viel Softeis wir mit unserem Taschengeld kaufen konnten und malten uns aus, welche leckeren Kuchen die Landfrauen backen und wie gross die Hüpfburgen sein würden.

Lara war ganz aus dem Häuschen vor Vorfreude auf den Zauberer. «Ich liebe Magie. Magie. Magie. Magie», trällerte sie und tänzelte den Weg entlang.

Ich bin nicht sicher, ob sie begriffen hatte, dass ein Zauberer Zaubertricks vorführt und es sich nicht um echte Magie handeln würde. Vielleicht war das aber auch egal. Wir alle waren auf die eine oder andere Art dem Bann des bevorstehenden Dorffests erlegen und konnten es kaum erwarten. Gerade kamen Vlad, Mustafa, Tatjana, Lara, Kai und ich gut gelaunt an der verrückten Villa vorbei. Da fiel es mir auf, und ich blieb abrupt stehen: «Meine Dächlikappe liegt noch im Haus.»

«Wenn du deine Kappe holst, nimm den Brief mit», meinte Lara und trällerte fröhlich weiter.

Leider hatten Tatjana und Mustafa Laras Idee gehört und hielten es für absolut logisch, dass ich hineingehen und den Brief holen sollte.

«Mach schon», drängte Tatjana.

Mir kamen die Tränen. Ich liess die anderen stehen und rannte allein nach Hause.

Als ich in meinem Zimmer hockte und die ganze Welt draussen vergessen wollte, lugte meine Schwester zur Tür rein. «Was ist los, Alba?», wollte sie wissen.

«Mist», dachte ich, «warum hab ich nicht abgeschlossen.»

Einen weiteren Gedanken konnte ich nicht fassen, denn meine Schwester hatte sich zu mir aufs Bett gesetzt und den Arm um mich gelegt. Da musste ich losheulen.

«Die Welt ist manchmal echt scheisse. Das ist so, Alba.»

Ich musste noch mehr heulen.

«Aber es gibt auch viel Gutes.»

«Nichts ist gut, seit Julie weg ist.»

«Ach Quatsch. Mit Julie hast du dich auch oft gestritten, und du fandest sie manchmal blöd und gemein. Weisst du noch, als sie mit Jenny in den Reitstunden war und die beiden ständig über Pferde gesprochen und dich links liegen gelassen haben?»

«Geh weg», schluchzte ich.

J 71 j

«Na gut.» Meine Schwester erhob sich. «Weisst du», sie stand an der Tür mit der Klinke in der Hand, «wenn ich voll schlecht drauf bin oder Angst habe, dann hilft es mir, meine Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören.» Sie schloss die Tür hinter sich. Die blöde Nuss, ärgerte ich mich. Sie wusste ganz genau, dass ich keinen MP3-Player hatte.

Als meine Mama zum Abendessen rief, schlurfte ich schliesslich aus meinem Zimmer. Mein Magen knurrte schon seit einer Weile. Kaum war ich aus der Tür getreten, verhedderte ich mich und stürzte. Fast wollte ich wieder weinen. Da sah ich auf dem Boden den alten MP3- Player meiner Schwester mitsamt Kopfhörern. Sie hatte ihn für mich hingelegt. Und schon wieder war mir zum Heulen zumute, aber diesmal aus einem anderen Grund.

Am Abend in meinem Zimmer schrieb ich an Julie.

Senden

Liebe Julie

Betreff An

Julie Neff

700 Jahre Schaaf

In drei Wochen ist das Dorffest. Magst du kommen? Frag doch mal deine Eltern. Ich weiss, es wäre eine weite Reise für euch, aber ich würde mich sehr freuen. Oder schreib mir einfach mal wieder. Ich vermisse dich.

Deine beste Freundin

Alba

9. Kapitel

Ich sass auf der Treppe vor der Psychomotorikpraxis und wartete auf Kai. Endlich ging die Tür hinter mir auf.

«Sorry», sagte er knapp.

«Kein Problem.»

Schweigend gingen wir nebeneinander her. Wir hatten einen Plan. Das heisst, Kai hatte den Vorschlag gemacht. Er fand, allein in die verrückte Villa zu gehen, sei gruselig. Daher würden wir auf dem Heimweg gemeinsam meine Dächlikappe und den Brief holen. Erstaunlicherweise wirkte Kai nervöser als ich. Es war fast Sommer, und die Tage waren lang und hell. Die Villa aber wirkte nach wie vor gespenstisch. Ihre Umrisse hoben sich deutlich von dem freundlichen, milden Abendlicht ab. Als wir vor der Villa standen, steuerte ich auf den Eingang zu, doch

Kai hielt mich zurück.

«Ich will dir zuerst etwas zeigen. Komm mit.»

Kai führte mich um die Hausecke und vor die Kellertür der Villa.

«Hier ist der Proberaum von meinem Vater.»

«Oh.» Ich war überrascht.

Kai zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Er schloss die Kellertür auf und tastete nach dem Lichtschalter an der Wand. Mir blieb fast die Spu-

cke weg. Wie ein Proberaum für Musiker sah das zwar nicht aus. Ich hatte angenommen, Kais Vater sei ein cooler Gitarrist oder so, aber was ich sah, war noch viel besser. Der Kellerraum war voller mattschwarzer Kisten, und überall lagen bunte Tücher und allerlei Krimskrams herum. Über einem Stuhl hing ein dunkler Umhang, auf dem unzählige goldene Sterne blitzten. Und auf einem kleinen Tisch lag ein Zylinder und ein, ich konnte es kaum glauben, Zauberstab. Bevor ich Worte finden konnte, klärte mich Kai auf: «Mein Vater ist Zauberer.»

«Ist er der Zauberer, der am Dorffest auftritt?», vermutete ich gleich.

«Ja», gab Kai resigniert zu. «Er tritt als Magier Miraculus an allen möglichen Anlässen auf.»

Ich verstand nicht, wo das Problem lag. Mein Vater war Architekt und sass meistens in Trainerhosen auf dem Sofa vor seinem Computer. Er hatte definitiv keinen funkelnden Umhang.

«Die ganze Schule wird über mich lachen. Spätestens am Dorffest finden es alle heraus.»

«Davor hast du also Angst?» Ich begriff: Kai schämte sich dafür, dass sein Vater von Beruf Zauberer war, und ich vermutete auch, warum. «Haben die Kinder in deiner alten Schule dich wegen dem Beruf von deinem Vater gehänselt?»

Kai nickte. «In der anderen Schule hatten die Eltern alle tolle Berufe und verdienten viel Geld.»

Ich klopfte ihm auf die Schulter. «Zum Glück bist du jetzt bei uns. Hier finden wir Zauberer obercool.»

«Du findest das ganze Hokuspokuszeugs nicht doof?»

Ich schüttelte vehement den Kopf. Kai war nicht überzeugt, aber er versuchte ein Lächeln.

«Und du besuchst deinen Vater hier im Keller, wenn er probt? Ich hab öfter gesehen, wie du am Mittag hierher gekommen bist.»

«Meine Mama arbeitet in der Stadt und sie kann

nicht über Mittag nach Hause kommen. Papa und ich essen hier zusammen. Er findet’s praktisch. Ich kann ihm so ein bisschen assistieren.»

«Ah. Okay.» Jetzt kannte ich Kais Geheimnisse. Eine Frage brannte mir aber noch auf der Zunge: «Darf ich den Sternenmantel anprobieren?»

Ich durfte und Kai zeigte mir einen Trick mit schwebendem Zauberstab, den er von seinem Vater gelernt hatte. Verraten, wie er funktioniert, wollte er nicht. Aber ich hatte eh gemerkt, wie er es angestellt hatte, wollte den Trick aber noch ein paar Mal sehen, um sicher zu sein und vor allem um Kai eine Freude zu machen. Er war stolz auf sein Können.

«Lass uns jetzt die Kappe und den Brief holen», meinte Kai, als er genug vom Vorzaubern hatte.

«Okay», stimmte ich zu. «Ausrüstung anziehen.»

Wir holten beide unsere MP3-Player aus den Rucksäcken, setzten die Kopfhörer auf, drückten auf Play und machten uns auf den Weg nach oben.

Eingehüllt in die fröhlichen Klänge meiner Lieblingsmusik, machte mir die unheimliche Atmosphäre der Villa kaum etwas aus. Kai schien es genauso zu gehen. Er grinste mich an. Im Wohnzimmer entdeckte ich meine Dächlikappe auf dem Boden. Ich eilte hin, um sie aufzuheben und im selben Moment merkte ich: Der Brief war weg.

J 77 j

10. Kapitel

Julie Neff

Senden Betreff An Coole Katzencrew

Liebe Julie

Ich habe lange nichts mehr von dir gehört. Geht es dir gut? Bist du böse auf mich? Findest du es nicht gut, dass ich mit anderen Kindern und auch mit Kai abmache? Er ist eigentlich ganz nett. Er kann ja nichts dafür, dass er in deinem Haus wohnt. Natürlich wird er dich nie ersetzen. Du bist immer noch meine allerallerbeste Freundin. Und Kai mag Hunde lieber als Katzen. Also kann er nie in die coole Katzencrew aufgenommen werden. Das sind nur wir zwei!

Hast du deine Eltern gefragt, ob du zum Dorffest kommen kannst? Bitte schreib mir!

Deine beste Freundin

Alba

Der nächste Schultag begann mit einem Schock. Ich war früh dran, denn wir hatten vor Schulbeginn abgemacht, um unseren Sketch nochmals durchzugehen. Heute mussten wir vor Frau Kovacic und anderen Lehrerinnen vorspielen. Doch kaum war ich auf dem Pausenplatz, stürmte mir Tatjana, dicht gefolgt von Lara, entgegen. Tatjana wedelte aufgeregt mit einer Zeitung über ihrem Kopf. Ich erkannte sofort, dass es der «Volltreffer» war. Atemlos hielt sie mir die Zeitung vors Gesicht. Auf der Titelseite war der Brief von Rösli abgedruckt.

«Jenny, diese hinterhältige Ziege», schimpfte Tatjana, nach Luft schnappend. «Wie ist sie an den Brief gekommen? Hast du ihn nicht geholt?»

Ich hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, den anderen vom Verschwinden des Briefs aus der verrückten Villa zu erzählen, und holte das schleunigst nach. Als ich meinen Bericht beendet hatte, sass Lara niedergeschlagen auf dem Boden, und Tatjana schnaubte vor Wut. «So ein Mist. Wie hat sie nur von dem Brief erfahren?»

«Ich hab ihr nichts davon erzählt. Ich rede nie mit Journalistinnen-Jenny», stellte ich klar. «Und Kai war es auch nicht, der war genauso überrascht wie ich, als der Brief nicht mehr in der Villa lag.»

«Es war Mustafa», meinte Lara beiläufig, «der steht doch auf Jenny.»

«Was?», riefen Tatjana und ich gleichzeitig.

J 79 j

«Wusstet ihr das nicht?» Lara war erstaunt.

«Den knöpfen wir uns vor», meinte Tatjana.

Als Mustafa auf den Pausenplatz kam, umzingelten wir ihn.

«Was ist los?», fragte er verdutzt.

«Du hast Jenny unseren Brief aus der Villa gegeben, weil du auf sie stehst. Gib’s zu», warf Tatjana ihm vor.

«Nö, daran hab ich gar nicht gedacht. Wär aber eine gute Idee gewesen. Dann hätt ich auch mal ein leckeres Honorar von ihr bekommen. Ich hab nur zu Vlad gesagt, dass der Brief sicher alle aus der Klasse interessieren würde.»

«Du stehst also wirklich auf die?», wollte ich wissen.

«Ja, und? Die ist gescheit und kann tolle Storys schreiben. Und reiten kann sie auch super, hat mir

Vlad erzählt. Ihr Zimmer soll vollgepflastert sein mit Pferdepostern. Vielleicht mal ich ein Bild von einem Pferd für sie», überlegte er.

«Wenn du es nicht warst, wer war es dann?», grübelte Tatjana.

«Er hat’s uns doch gerade gesagt», meinte Lara.

«Vlad. Er kennt Jenny und ihre Familie, isst bei ihr zu Hause zu Mittag und hängt mit ihr rum.»

«Der Glückliche», seufzte Mustafa.

Wir suchten also Vlad. Der gab ohne Umschweife zu, dass er Jenny von dem Brief erzählt hatte.

«War das ein Geheimnis? Sorry», meinte er, und die Sache war für ihn erledigt.

Seine Reaktion nahm uns vollends den Wind aus den Segeln. Ich war insgeheim erleichtert, dass der Brief nicht in meinem Besitz war, und schlug vor, uns den Artikel anzuschauen. Lara, Tatjana, Mustafa und ich setzen uns an den Rand des Pausenplatzes in den Schatten einer Buche und teilten uns die Zeitung zum Lesen.

Aus dem Brief von Rösli, den ihr auf der Titelseite des «Volltreffers» seht, erfahrt ihr, dass sie und der Fabrikantensohn Ernst Steingruber ein Geheimnis hatten: ihre Verlobung. Sie wollten ihren Familien davon erzählen. Und zwar an dem Tag, an dem sich der grosse Streit zutragen würde. Wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, war die Verlobung der Grund für den grossen Streit, der zwischen dem Sohn und dem Vater entfachte. Der Sohn verkündete dem Vater, dass er Rösli heiraten wolle. Dieser war jedoch dagegen, weil Rösli aus einer einfachen Bäckerfamilie stammte, die nur ein kleines Dorfgeschäft betrieb. Was genau bei dem Streit vorgefallen war, konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Sicher ist nur, dass der Vater am nächsten Morgen verschwunden war. Der Sohn

und die Mutter schwiegen über den Verbleib des Vaters. Er wurde nie mehr von jemandem aus dem Dorf gesehen. Und als wäre dies nicht schon genug, ging die Geschichte noch auf unglaubliche Weise weiter. Der fulminante letzte Teil der geheimnisvollen Ereignisse um die verrückte Villa erscheint in der nächsten Ausgabe des «Volltreffers».

«Okay», meinte Tatjana missmutig, «falsch geraten. Der Vater war weg. Nicht der Sohn.»

«Gibt’s auf der Rätselseite ein Sudoku?», woll te Mustafa wissen. «Die mach ich am liebsten.»

Selbst Laras Interesse war geschwunden. Sie entlockte einem Grashalm, den sie zwischen ihre Daumen geklemmt hatte, pfeifende Laute.

Journalistinnen-Jenny kam mit einem Stapel «Volltreffer» unter dem Arm vorbei. «Mustafa, Vlad sagt, du hattest die Idee, mir von dem Brief zu erzäh len. Kannst in der Pause zu mir kommen und ein Stück vom Honorar abbeissen. Ich hab eine Gum mischlange.»

«Okay, cool», gab Mustafa heiser zur Antwort. Uns andere grinste Jenny triumphierend an. «Nichts für ungut Leute. Journalistinnen wie ich sind an der Wahrheit interessiert. Informationen zu

rückhalten, die für die Öffentlichkeit wichtig sind, ist nicht cool. Nicht cool», betonte sie und schüttelte den Kopf. «Es war das einzig Richtige den Brief abzudrucken. Das versteht ihr hoffentlich.» Ihre Mundwinkel reichten jetzt fast bis zu ihren Ohren.

Tatjana war stinksauer, sah aber keine Möglichkeit, Jenny etwas zu entgegnen, ausser:

«Die Geschichte von der Villa ist voll öde.»

«Ach ja?», meinte Jenny selbstsicher. «Ihr seid nur neidisch, weil ich alles herausgefunden habe

Mir war die verrückte Villa inzwischen tatsächlich egal. Es gab Wichtigeres zu tun. Es läutete, und mein Lampenfieber stieg. Jede Gruppe musste vor einem kritischen Publikum, nämlich Frau Kovacic, Frau Bach, Frau Ferrari und dem Rest der Klasse zur Generalprobe antreten und ihren Sketch präsentieren.

Frau Kovacic, auch in Sachen Theater war sie ein Profi, sass aufmerksam und kerzengerade auf ihrem Stuhl. Wir waren als Letzte mit Vorspielen dran und ernteten am meisten Beifall und Gelächter. Selbst Frau Kovacic musste laut auflachen, und zwar als ich als Wirtin der Wäscherin Lara das Getränk aus Versehen über ihre frische Wäsche kippte.

Ich war stolz auf uns. Sogar Noam, selbsternannter Fachmann in Sachen Spass und Unterhaltung, fand anerkennende Worte. Ein paar kleine Anmerkungen hatte Frau Kovacic zwar. Aber vor allem lobte sie uns, und es gab für unsere Gruppe einen Glitzersticker auf jedes Sketchblatt.

Nach der Aufführung waren wir hochmotiviert und vereinbarten, uns kommenden Mittwochnachmittag bei Kai zu treffen, um unseren Sketch zu perfektionieren. Natürlich auch, um zu quatschen. So-

J 84 j und ihr nichts.» Sie schwang lässig ihre Haare über die Schulter, was Mustafa einen Seufzer entlockte. «Bis dann», flötete sie und machte sich auf zu einer anderen Kindergruppe, der sie den «Volltreffer» hinstreckte.

wieso verbrachte ich jetzt öfter Zeit mit Kai und den anderen. Selbst wenn Kai mit den Jungs Basketball spielte und ich am Fenster sass, winkten sie mich dazu. Manchmal warf ich ein paar Körbe. Wenn ich genug hatte, setzte ich mich zu Noam, und wir machten uns einen Spass daraus, das Spiel der anderen zu kommentieren.

Auch liefen wir alle gemeinsam von der Schule nach Hause. Allerdings nur bis zur verrückten Villa. Da verabschiedete sich Kai, nach wie vor mit einer Ausrede. Nur ich wusste, dass er zu seinem Vater in den Proberaum ging, um mit ihm zu essen. Lara blieb beim Bäcker stehen, um zu schnuppern, und Tatjana, Mustafa und Vlad bogen bei der kleinen Brücke Richtung Schaafberg ab. Ich zottelte allein weiter und hing meinen Gedanken nach.

Ich diskutierte mit mir selbst und überlegte mir lustige Dinge. Beim nächsten Basketballspiel würde ich Kai zurufen: «Hey Jordan, hau den Ball rein.»

Michael Jordan war ein ehemaliger Basketballstar, wusste ich von den Jungs. Ich stellte mir vor, wie es in Lara-Land aussah, und hoffte, dass Frau Kovacic mir einen Katzenglitzersticker auf eines meiner nächsten Blätter kleben würde. Es lief gerade richtig gut. Nur eines bereitete mir Bauchschmerzen. Julie meldete sich nicht.

Julie Neff

Senden Betreff An Meld dich bitte

Liebe Julie

Ich habe versucht, dich anzurufen. Deine Mama sagt, dass du im Geräteturnen bist und erst am Abend heimkommst. Du gehst ins Turnen? Das wusste ich nicht. Ruf mich doch danach an oder schreib mir.

Deine Alba

11. Kapitel

Wir hingen lustlos in Kais Zimmer rum. Nach der gelungenen Aufführung vor unserer Klasse war unser Ehrgeiz doch nicht mehr ganz so gross. Lara war erst gar nicht für die Probe aufgetaucht. Da wir sie alle inzwischen kannten, verloren wir darüber kein Wort. Auf dem Weg zu Kais Haus gab es viele mögliche Ablenkungen.

Ich sass auf Kais Bett und betrachtete sein sorgfältig eingeräumtes Bücherregal. Aus dem Zimmer von Kais Bruder drang Musik. Tatjana lag mit angewinkelten Beinen auf dem Bauch. Ihr Fuss wippte im Takt des Songs. Mustafa stand vor dem Plakat mit dem weisshaarigen Mann mit herausgestreckter Zunge und verstrubelte seine Haare nach dessen Vorbild.

Niemand von uns machte Anstalten, mit der Probe loszulegen. Selbst Kai drängte uns nicht wie üblich. Er sass an seinem Pult und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Ohne sich zu uns umzudrehen, murmelte er: «Etwas passt nicht.» Wir horchten auf. Von Kai kam nichts weiter.

Dafür wurde Mustafa munter: «Bin ganz deiner Meinung. Irgendwas an der Geschichte stimmt nicht. Ich habe es schon die ganze Zeit gedacht.»

Tatjana fing erneut Feuer: «Das Geheimnis der verrückten Villa. Jenny macht sich so wichtig mit ihrem Journalismus. Dabei haben wir genauso das Recht, das Rätsel zu lösen.»

«Was ist das?», fragte ich und wies auf Kais Bücherregal.

«Was meinst du?» Endlich drehte er sich um und folgte mit seinem Blick meinem Zeigefinger.

«Na das Buch da.»

Ich war aufgestanden und zu Kais Bücherregal gegangen. Ich zog einen dicken Wälzer heraus. Mustafa und Tatjana standen neben mir und zu dritt begutachteten wir das Buch.

«Ach das. Das haben wir bekommen, als wir hierher gezogen sind. So eine Art Willkommensgeschenk. Ein Buch über Schaaf. Geschrieben von einem Historiker aus dem Ort. Meine Eltern haben es mir gegeben, weil ich mich für Geschichte interessiere. Aber ich hab es noch nicht gelesen.»

Kai wollte sich gerade wieder wegdrehen, da begann ich: «Es könnte doch sein, …».

Er beendete meinen Satz: «… dass etwas über die verrückte Villa, und was damals passiert ist, drinsteht.»

Tatjana riss die Augen auf. «Zeig her.» Sie nahm mir eifrig das Buch aus der Hand und blätterte. Mustafa drängte. «Mach schon. Mach schon. Hast du was? Hast du was?»

«Da.» Tatjana zeigte auf das Foto, das Journalistinnen-Jenny zum ersten Teil ihres Artikels abgedruckt hatte. Darunter stand ein Text. «Hier», Tatjana gab mir das Buch zurück, «lies du.»

Ich setzte mich auf Kais orangen Sitzsack und begann vorzulesen.

Der Text war kompliziert, und wir verstanden erst nicht alles. Es war die Rede von den goldenen Zeiten des Ortes Schaaf, als hier gewebt und mit der Stadt und sogar mit dem Ausland gehandelt wurde. Von Familie Steingruber hiess es, dass sie eine der reichsten Familien in Schaaf gewesen war und einen grossen Handel mit Textilien geführt hatte. Dann wandte sich das Blatt, und ihr ganzer Besitz fiel der Gemeinde zu. Seither stand die Villa leer.

«Okay», meinte Tatjana, die nicht mehr lockerlassen wollte. «Jetzt wissen wir, dass die ganze Familie Steingruber Schaaf verlassen hat. Und nun?»

Kai meinte: «Also, wenn wir den Fall endgültig aufklären wollen, dann suchen wir den Historiker auf. Hier hinten steht», Kai drehte das Buch um, «Die Geschichte unserer Gemeinde, spannend erzählt von dem in Schaaf geborenen und wohnhaften Werner Ziegler.»

«Googeln», befahl Tatjana.

Mustafa war vor Kai am Computer und schon rief er: «Gefunden. Ich weiss, wo er wohnt. Los!»

Diesmal war ich die Schnellste. Ich riss die Zimmertür auf und prallte beinahe mit Lara zusammen.

«Hallo.» Sie winkte mir vergnügt ins Gesicht. «Wo wollt ihr hin?»

«Wo warst du?», entgegnete ich.

«Ich bin auf der Parkbank beim Dorfbrunnen gesessen und da hat sich eine alte Frau zu mir gesetzt und so nett aus ihrem Leben geplaudert.»

«Wir haben keine Zeit für Plaudereien», stellte Tatjana klar, die mit einem Satz an mir vorbei war, dabei Laras Hand packte und sie hinter sich herzog. Wir spurteten die Treppen hinunter und rannten, jetzt angeführt von Mustafa, durchs Dorf zum Haus von Werner Ziegler.

Dort angekommen, blieben wir vor dem Haus stehen. Niemand drängte sich vor. Einfach so bei einer fremden Person zu klingeln, machte uns schüchtern.

«Wer guckt, ob er wirklich noch hier wohnt?», fragte ich, um es nicht selbst tun zu müssen.

Tatjana trat vor und schaute auf das Klingelschild. «Ja, er wohnt hier», bestätigte sie und reihte sich wieder in den Halbkreis ein, den wir um die Eingangstür gebildet hatten.

«Und wer klingelt?», fragte Mustafa nach einer Weile. Wir blickten vom einen zur anderen.

«Na gut.» Jetzt trat Kai vor und drückte den Klingelknopf. Das scheppernde Läuten war deutlich zu hören. Wir standen steif da und warteten. Nichts regte sich im Haus. Beinahe waren wir erleichtert. Schon war ich bereit umzukehren. Da öffnete sich ein Fenster im ersten Stock.

J 91 j

«Gopffriedstutz. Ich kaufe keine Schoggitaler.

Ade, merci.»

«Wir haben eine Frage», rief Kai schnell.

«Bin keine Auskunft.» Schon war das Fenster wieder geschlossen.

«Wie unhöflich», ärgerte sich Tatjana und drückte erneut auf den Klingelknopf und nochmal und nochmal und nochmal.

«Hör auf», flehte ich sie an. «Lasst uns gehen.»

Die Tür wurde aufgerissen und der Alte stand mit erhobenem Besenstiel im Rahmen. Kai, der am nächsten stand, hielt schützend das dicke Buch über seinen Kopf.

«Mein Buch», rief Werner Ziegler überrascht. «Das ist mein Buch. Ihr habt mein Buch gelesen?»

Wir widersprachen nicht.

«Ja, so was.» Er schüttelte gerührt den Kopf. «So jung und an der Dorfgeschichte interessiert. Das freut mich. Schön. Schön. Kommt rein. Was steht ihr hier draussen herum. Kommt.»

Wir sahen einander an. Lara nahm Tatjanas und meine Hand und schritt über die Türschwelle. Kai und Mustafa folgten.

Es war uns unbehaglich zumute. Wir sassen dicht aneinander gedrängt auf einem muffigen Sofa in einem vollgestopften Raum. Werner Ziegler hatte sich in einem Plüschsessel niedergelassen und sich einen Stumpen angezündet. Mir tränten die Augen.

«Ihr habt also eine Frage. Nur heraus damit.»

Ich war ziemlich eingeschüchtert und dankbar, als Kai das Wort ergriff. «Herr Ziegler, wir haben in Ihrem Buch eine Geschichte entdeckt, die uns neugierig gemacht hat.»

«Jaja. In meinem Buch wimmelt es von spannenden Geschichten aus dem Dorf. Welche ist es denn?»

«Uns interessiert im Speziellen die alte Textilvilla der Steingrubers.»

«Ach herrje. Die alte Villa der Steingrubers. Ja, das war was mit denen. Ihr wollt wissen, was mit der Familie passiert ist?»

Wir nickten.

«Soso.» Der alte Mann musterte uns. «Also gut», sagte er schliesslich. «Dann hört zu.» Herr Ziegler zog an seinem Stumpen und lehnte sich zurück. «Die Familie Steingruber war sehr reich und machte über viele Jahre gute Geschäfte. Sie liessen feine Stoffe herstellen und verkauften diese in die ganze Welt. Das brachte ihnen viel Geld ein. Einige Leute im Dorf bewunderten sie, andere waren neidisch. Viele wollten etwas abhaben von ihrem Reichtum und versuchten, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Aber vor allem waren viele Menschen im Dorf abhängig von der Arbeit und dem Lohn, den die Steingrubers ihnen gaben. Der alte Steingruber galt als herrisch und misstrauisch, geizig und verschlossen. Sein

Sohn, der gleich nach der Schule in das Geschäft des Vaters eingestiegen war, hingegen war ein Lebemann, der Gesellschaft genoss und in der Welt herumreiste. Im Dorf war er bei jedem Fest dabei und gab einen aus. So scharten sich die Leute um ihn. Er wurde vom Trinken gesprächig und übermütig und versprach Aufträge, plauderte Geschäftsgeheimnisse aus und zog so den Ärger des Vaters auf sich.

Hinzu kam, dass der junge Steingruber sich in ein Mädchen verguckt hatte: in die Dorfschönheit und Tochter des Bäckers. Sie hiess Rösli. Er wolle sie heiraten, wurde unter den Dorfleuten gemunkelt. Viele meinten, Vater Steingruber würde dagegen sein. Aber so war es nicht. Er hatte davon Wind bekommen, dass sein Sohn die Absicht hatte, Rösli zu heiraten, und es war ihm sehr recht. Denn er hoffte, dass er seinen Sohn durch die Heirat an das Dorf und sein Geschäft binden konnte. Doch dann passierte etwas, was niemand vorausgesehen hatte. Der Vater verschwand. Die Polizei kam ins Haus und untersuchte den Fall. Frau und Sohn schwiegen. Bald wurden die Dinge im Haus beschlagnahmt und abtransportiert. Das Haus sollte versteigert werden. Die Leute aus dem Dorf, die für die Steingrubers tätig gewesen waren, verloren ihre Arbeit und hatten kein Auskommen mehr. Was niemand geahnt hatte, war, dass Steingrubers all ihr Geld verloren hatten. Schlimmer noch: Sie hatten hohe Schulden. Wieso, ist unklar.

Hatte sich der Vater mit den falschen Leuten eingelassen? Hatte er krumme Geschäfte gemacht? War der Sohn schuld am Verlust des Vermögens? Auf jeden Fall hatten sie keinen Rappen mehr.

Der Vater war vermutlich abgetaucht, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Vor der Versteigerung des Hauses verschwanden auch der Sohn und die Frau. Man munkelte, sie seien nach Amerika ausgewandert. Seither steht die Villa leer. Niemand wollte sie kaufen, niemand wollte mehr etwas mit den Steingrubers zu tun haben.»

«Und Rösli?», fragte ich. «Was ist mit ihr passiert?»

«Rösli? Ja, was hätte sie machen sollen? Sie ist im Dorf geblieben und hat den Witwer Neff geheiratet. Aber sie ist nie darüber hinweggekommen, dass der junge Steingruber sie einfach hat sitzen lassen. Sie war halt in ihn verliebt.»

«Noch eine letzte Frage, Herr Ziegler», sagte Tatjana, als wir aufgestanden waren, «ist schon jemand bei Ihnen vorbeigekommen und hat nach der verrückten Villa gefragt?»

«Was?», meinte Herr Ziegler verwirrt. «Nein. Ihr seid die Ersten.»

Wir standen wieder auf der Strasse vor dem Haus von Werner Ziegler und waren sprachlos. Nun kannten wir die ganze Geschichte und wussten nicht mehr weiter.

«Okay, ich muss los», meinte irgendwann Mustafa.

«Ja, ich auch,» sagte Tatjana. Kai, Lara und ich nickten.

Auf dem Heimweg mit Kai überschlugen sich meine Gedanken. Lebte Rösli noch, und wenn ja, wo war sie? Was sollten wir mit der wahren Geschichte anfangen? Sie Jenny unter die Nase reiben? Würde sie ihren Posten als Chefredakteurin verlieren, wenn herauskäme, dass ihre Story nicht gut und richtig recherchiert gewesen war? Ich überlegte und wägte die Vor- und Nachteile einer Konfrontation mit Jenny ab. Während ich die Brücke über den Blaubach überquerte, Kai zum Abschied winkte und in unseren Garten einbog, sortierte ich in Gedanken alles, was ich wusste und neu erfahren hatte. Ich konnte nicht fassen, dass wir das Geheimnis um Rösli, Ernst und die verrückte Villa tatsächlich gelüftet hatten.

Meine Mutter empfing mich mit ernster Miene und verschränkten Armen an der Eingangstür. Und ich wusste gleich, das bedeutete nichts Gutes. Ich war viel zu lang weggeblieben. Mama war bei Kais Eltern vorbeigegangen und hatte erfahren, dass wir aus dem Haus gestürmt waren. Als ich ihr beichtete, wo wir hingegangen waren, war sie stinksauer.

«Alba, geht’s noch? Zu einem wildfremden Mann in die Wohnung?»

Ich bekam Hausarrest für die nächsten zwei Wochen. Das hiess, ausser Schule und Therapie lief für mich bis zum Dorffest nichts. Ich durfte nicht einmal den Computer benutzen.

Meine Mutter holte mich mit dem Auto direkt von der Schule ab. Die gesunde Bewegung war ihr diesmal egal.

Besonders auf Kais Vater war meine Mama wütend, da dieser unsere Abwesenheit gar nicht bemerkt hatte. «Verletzung der Aufsichtspflicht», schimpfte sie. Die anderen hatten keinen Hausarrest bekommen.

12. Kapitel

Ich sass nach der Schule wieder allein in meinem Zimmer und blickte aus dem Fenster. Kai, Mustafa und Vlad spielten Basketball. Einmal winkten sie mir mitleidig zu. Da verzog ich mich und legte mich aufs Bett, von wo aus ich aber immer noch ihr Lachen hören konnte. Ich setzte meine Kopfhörer auf, hörte Musik und schloss die Augen.

Ich war eingedöst, als mich ein seltsames Klopfen in meinem Traum zu stören begann. Ich murrte und drehte mich auf die Seite. Die Kopfhörer rutschten von meinen Ohren. Ich zog sie im Halbschlaf vom Kopf, und da war es wieder. Klack, klack, klackeriklack. Ich schlug die Augen auf. Kleine Steinchen prasselten gegen meine Fensterscheibe.

Ich raffte mich auf und ging nachschauen. Kai winkte mir von seinem Zimmer aus zu und bedeutete mir, mein Fenster zu öffnen.

«Hallo.»

«Hallo.»

«Wie geht es dir?»

«Super», antwortete ich schnippisch.

«Tut mir echt leid, dass du Hausarrest hast.»

«Mir auch.»

Ich hatte keine Lust, von Kai bemitleidet zu wer-

den und ausserdem war ich schlecht gelaunt, weil mich seine blöden Steinchen aus dem Schlaf gerissen hatten. «Also dann», ich wollte das Fenster wieder schliessen.

«Warte, Alba.»

«Was?»

«Ich hab nachgedacht.»

«Na, gratuliere. Du kannst denken.»

Jetzt war Kai still. Und sofort tat es mir leid, dass ich so patzig war.

«Worüber hast du nachgedacht?», fragte ich versöhnlich.

«Über Rösli. Rösli lebt vielleicht noch, hier in Schaaf.»

«Kann sein.»

«Und Rösli ist vielleicht die Oma von einem Kind hier. Möglicherweise von einem Kind aus unserer Klasse.»

Jetzt wurde ich hellhörig. Natürlich, so musste es sein. Rösli selbst war die Informantin von Jenny.

«Du meinst …?»

«Ja, ich meine …»

«Jenny hat Norina ein Honorar gegeben, weil sie von ihr einen Hinweis bekommen hat.»

«Es muss Norinas Oma sein», folgerte Kai triumphierend.

«Aber Norinas Oma lebt nicht mehr. Das weiss ich genau. Ihr hat der Pferdehof gehört, und sie hat

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ihn geführt, bis sie gestorben ist. Norinas Eltern haben den Hof übernommen. Norina hat die ganze Klasse eingeladen. Und Norinas Mutter hat Flyer für Reitlektionen verteilt. Ich durfte nicht in die Stunden gehen. Meine Mama hat Angst vor Pferden und findet Reiten zu gefährlich. Aber Jenny und Julie sind zusammen reiten gegangen und mit Norina auf dem Reiterhof rumgehangen. Fast hätte mir Jenny Julie als beste Freundin ausgespannt», erinnerte ich mich düster. «Jenny war oft bei Julie zu Hause. Die haben sich prächtig verstanden. Ich hab vom Fenster aus beobachten können, wie sie zusammen gespielt haben. Da in dem Haus, wo du jetzt wohnst.»

Und auf einmal machte es bei mir Klick. Rösli war nicht Norinas Oma. Sie war Julies Oma. Oma

Linde war Rösli. Rösli war Oma Linde. Rosalind. Natürlich. Ich hatte Julie von ihrer Oma mit diesem vollen Namen sprechen gehört. Rösli hatte den Witwer Neff geheiratet und wurde zu Rosalind Neff. Julie hiess mit Nachnamen Neff. Es passte alles.

«Heureka!», rief ich.

Kai war verdutzt.

«Äh, ich meine, ich hab’s.»

«Ich weiss schon, was Heureka bedeutet», grinste er.

Ich grinste zurück. Dann erzählte ich Kai von meiner Vermutung.

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Kai folgerte: «Norina hat Julies Oma gekannt und vermutlich schon von der Geschichte gehört. Ist ja gut möglich, wenn ihre beiden Omas im Dorf aufgewachsen sind. Sie hat Jenny davon erzählt, und die hat Julie kontaktiert, und Julie hat wiederum ihre Oma angerufen oder so.»

Mir wurde schwer ums Herz. So musste es gewesen sein. Warum hatte mir Julie das nicht erzählt?

Die ganze Zeit hatte ich ihr von der verrückten Villa geschrieben, und was wir alles unternahmen, um hinter das Geheimnis zu kommen. Und sie hatte es nie für nötig gehalten zu erwähnen, dass ihre Oma Rösli ist und sie selbst Jenny sogar geholfen hatte?

Kai schien meine Gedanken zu lesen. «Du solltest Julie eine E-Mail schreiben und ihr sagen, dass du es weisst.»

Ich fürchtete mich. Wie würde Julie reagieren?

Würde sie nie mehr mit mir sprechen? War sie längst wieder Jennys Freundin und die beiden kicherten am Telefon über die dumme Alba, die versuchte, das Geheimnis um die Villa zu lüften, das sie längst kannten? Aber sie kannten es gar nicht wirklich.

«Alba, schreib ihr», drängte Kai.

«Ich weiss nicht», wich ich aus. «Was soll ich schreiben? Sie will mir ja nicht sagen, dass sie ihre Finger im Spiel hat.»

«Sie muss sich entschuldigen», meinte Kai empört, «so was macht man als Freundin nicht.» Aber

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genau das war das Problem. Ich hatte Angst, dass Julie gar nicht mehr meine Freundin war. «Ich kann ihr nicht schreiben», fiel mir ein, «ich hab Computerverbot.»

Kai liess nicht locker. «Dann schreibe ich. Gib mir ihre E-Mail-Adresse.»

Ich weigerte mich. Doch Kai beharrte darauf herauszufinden, warum Julie die Wahrheit verschwiegen hatte. So energisch hatte ich ihn noch nie erlebt. Irgendwann hatte er die Adresse aus mir herausgepresst. Er war voll in Fahrt. Ich konnte gerade noch «Bitte nichts Fieses schreiben» rufen und schon hatte er das Fenster geschlossen und war in seinem Zimmer verschwunden. Mir war das alles gar nicht recht. Ich konnte nicht mehr in meinem Zimmer bleiben. Nach unten ins Wohnzimmer wollte ich auch nicht. Ich hörte, wie Papa mit Elino in der Stube herumbalgte. Mama wollte ich erst recht nicht sehen. Ich war immer noch böse über ihre übertriebene Strafe. So schlich ich mich zum Zimmer meiner Schwester. Ich klopfte vorsichtig. Ich wusste, dass Belana da war. Aber sie reagierte nicht. Ich klopfte noch einmal ohne jede Hoffnung, dass sie öffnen würde, und wollte in mein Zimmer zurückkehren, als die Tür aufging.

13. Kapitel

Endlich fand das Dorffest statt. Es war ein frühsommerlicher Samstag. Die Sonne schien hell in mein Zimmer und kitzelte mich beim Erwachen an der Nasenspitze. Ich fühlte mich gut, trotz der Aufregung wegen unserer Aufführung, und konnte es kaum erwarten, die anderen aus meiner Klasse und Frau Kovacic zu sehen. Die war in den letzten Tagen furchtbar nervös gewesen und hatte uns immer wieder ermahnt, vor unserem Auftritt alle beieinander zu bleiben, damit sie uns nicht aus den Augen verlieren würde. Frau Heierli hatte sich irgendwann damit abgefunden, dass wir das Dooflied nie gemäss ihren Erwartungen würden singen können, und meinte: «Nächstes Mal singen wir einen englischen Popsong.»

Wir mussten uns um zehn Uhr auf dem Dorfplatz neben der Bühne versammeln. Ich war bereits beim Frühstück putzmunter und hibbelig. Meine Mama war wieder ganz freundlich zu mir und hob zeremoniell meine Strafe auf. «So, Alba, dein Hausarrest ist beendet, und hier ist der Computer.» Sie überreichte mir den Laptop. «Ich weiss, den hast du sehr vermisst.»

Plötzlich fiel mir die E-Mail wieder ein, die Kai an Julie geschickt hatte. Sie hatte ihm nicht geant-

«Ich bring den Laptop in mein Zimmer», informierte ich Mama und steuerte blitzschnell die Treppe hinauf.

«Und zieh dich an», rief mir meine Mutter hinterher. «Wir gehen bald los.»

Das Aufstarten dauerte ewig, und als der Computer endlich bereit war, zögerte ich. Ich atmete tief ein und öffnete mit einem Klick das Mailprogramm. Und da war sie, die Nachricht von Julie. Und ganz oben stand: Sorry!

An Alba van Dijk wortet, und ich war insgeheim froh darüber gewesen, dass ich nicht in mein Postfach gucken konnte. Nun hatte ich den Computer wieder und damit die Möglichkeit nachzuschauen.

Senden Betreff Sorry!

Liebe Alba

Dein Freund Kai hat mir eine echt saftige E-Mail geschickt. Aber ehrlich gesagt, bin ich froh darüber. Ich bin froh, dass du die Wahrheit rausbekommen hast. Von selbst hätte ich es nicht geschafft, sie dir zu schreiben. Ich weiss, dass du und Jenny überhaupt nicht gut miteinander auskommt und dass du denkst, dass Jenny mich

dir als Freundin wegnehmen will. Daher war es so schwer für mich, dir zu erzählen, dass mich Jenny angerufen und mich nach meiner Oma gefragt hatte. Ich hatte mir auch nichts dabei gedacht, als ich meine Oma fragte, ob sie Jenny ihre Geschichte erzählen mag. Sie war einverstanden, wollte aber nicht, dass jeder weiss, dass sie Rösli ist. Sie hatte damals, nachdem die Steingrubers verschwunden waren und im Dorf nur noch schlecht über die Familie geredet worden war, ihren Rufnamen geändert und sich nur noch Linde nennen lassen, damit für alle klar sein sollte, dass sie nicht mehr das Rösli des jungen Steingrubers war. Als du dann anfingst, über die verrückte Villa zu schreiben und davon, wie du Jenny zuvorkommen wolltest, und mich um Rat fragtest, da sass ich in der Patsche. Ich hatte Angst, dir zu sagen, dass ich Jenny geholfen hatte. Ich war mir sicher, dass du wütend werden und denken würdest, dass ich Jenny lieber hab als dich.

Ich hab dich immer noch ganz, ganz fest lieb, und du bist immer noch meine allerallerbeste Freundin. Aber vielleicht willst du, jetzt, da du alles weisst, das gar nicht mehr sein? Du hast Kai. Der scheint ein guter Freund zu sein, so wie der mich angemotzt hat, weil ich dich unfair behandelt habe. Es tut mir leid. Ich ruf dich bald an und wir reden. Versprochen. Ich wünsche dir viel Spass beim Dorffest. Leider kann ich nicht kommen. Ich habe dieses Wochenende einen Wettkampf vom Geräteturnen.

Ich hab dich lieb.

Deine Julie

Ich wischte mir mit dem Pyjama-Ärmel über die Augen.

«Alba», rief es von unten. «Komm endlich.»

Ich tippte drei Buchstaben in die Tastatur «BFF», und dann klickte ich auf Senden.

Wir standen zusammengepfercht am Bühnenrand und warteten auf unseren ersten Auftritt. Ein Zelt voller Festbänke und Tische war für das Dorfjubiläum aufgebaut worden. An verschiedenen Essensständen konnte man Würste, Raclette, Suppe, Kuchen oder Softeis und Zuckerwatte holen. Drehorgelmusik mischte sich unter die vielen Stimmen der freudig zusammensitzenden Menschen.

Frau Kovacic war aufgeregt. Sie spähte ständig zu Frau Heierli, die gelassen den Überblick behielt.

Immer wieder knuffte mich eines der anderen Kinder in die Seite, so eng standen wir beieinander. Von meinem Platz aus konnte ich einen Teil der Bühne sehen. Darauf stand ein Mann mit einem Mikrofon in der Hand. Die Stimmen der Anwesenden wurden leiser, die Drehorgelmusik verstummte nach ein paar letzten Takten.

Wir hörten, wie der Mann auf der Bühne alle herzlich willkommen hiess, wie er seine Freude ausdrückte über diesen wunderbaren Anlass und wie er ausführlich über unser prächtiges Dorf sprach. Das lange Stehen in der Gruppe machte uns alle unruhig.

«Psst», zischte Frau Heierli. «Hört zu, was der Amman zu sagen hat.»

Der redete munter über die Schönheit unserer Landschaft. Einem Mädchen aus der Parallelklasse wurde vom langen Stehen schlecht, und Frau Kovacic bahnte ihr einen Weg durch die Menge und setzte sich mit ihr auf eine Bank etwas abseits. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde endlich der erste Programmpunkt angesagt. Unter Applaus traten die Kindergartenkinder brav geordnet von der linken Bühnenseite her ins Scheinwerferlicht. Sie führten einen Tanz auf. Ich sah Elino mit einer lustigen Tiermaske vor dem Gesicht. Die Kinder formten einen Kreis, drehten sich, kamen zusammen und gingen auseinander, wackelten lustig mit ihren Hinterteilen und winkten. Am Ende ihrer Vorführung blieben sie vom Applaus überwältigt und planlos stehen, bis ihre Lehrerin sie von der Bühne trieb.

«Macht euch bereit. Als Nächstes seid ihr dran», informierte uns Frau Heierli. Nun stand der Schulleiter mit Mikrofon auf der Bühne. «Freuen Sie sich auf unsere Schülerinnen und Schüler. Sie singen unser Dorflied im Schaafer Dialekt.»

Die Ersten setzten sich in Bewegung.

«Noch nicht», fauchte Frau Heierli.

Aber schon gab der Schulleiter die Bühne für uns frei. «Darf ich bitten.»

«Jetzt», bedeutete uns Frau Heierli. Sie schritt

J 107 j

Das Scheinwerferlicht blendete. Die Leute im Publikum sahen aus wie dunkle Schatten. Jetzt vor dem versammelten Dorf gab ich mir beim Singen richtig Mühe. Wir alle taten das. Frau Heierlis Augen leuchteten, als sie uns so hörte. Ich sang und lauschte, und es war ein urchiger, stimmungsvoller Moment. Der Applaus drang dumpf an meine Ohren, als wir die Bühne verliessen.

«Setzt euch hier hinten hin», wies uns Frau Heierli an. «Dunja, verteilst du bitte die Müsliriegel. Und hier sind Becher und Getränke. Wer muss aufs Klo?» Ungefähr die Hälfte der Schüler streckte auf. «Okay, wir gehen später», meinte Frau Heierli und lächelte. «Das habt ihr gut gemacht.»

Wir assen unsere Riegel, während auf der Bühne die Oberstufe ihren Auftritt absolvierte. «Klasse von Frau Kovacic, hört zu.» Frau Heierli und ihr Befehlston wieder. «Ihr kennt den Ablauf. Die erste Sketchgruppe stellt sich bereit.»

Mir war elend zumute. Beim Singen war ich aufgeregt gewesen, aber weil ich im Chor in der zweitletzten Reihe stand, konnte das Publikum gerade mal einen Teil von meinem Kopf sehen. Jetzt musste ich da raus und vor allen Leuten auf der Bühne herumlaufen und sprechen. Mir war richtig schlecht, und ich sah mich nach Frau Kovacic um. Da legte jemand seinen Arm um meine Schulter. Es war Kai. Mustafa

J 108 j voran, und wir stellten uns auf unsere Positionen.

«Wir haben super geprobt. Ihr könnt das», ermutigte uns Kai.

«Los jetzt, raus mit euch», scheuchte Frau Heierli.

Abrupt blieb Tatjana auf den Treppenstufen, die zur Bühne führten, stehen. «Lara ist nicht da!» Tatsächlich. Wir blickten uns alle um. Lara fehlte.

«Hopp.» Frau Heierli, die das nicht mitbekommen hatte, schubste uns ein wenig und wir stolperten die Stufen hinauf. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Wir standen wie versteinert auf der Bühne, während Kai am Bühnenrand verzweifelt den Kopf schüttelte.

Da sah ich, wie Jenny entschlossen zu ihm ging. Sie flüsterte ihm etwas zu. Er flüsterte zurück, dann nochmals sie, dann zog er ein zusammengefaltetes

Blatt aus seiner Hosentasche. Und was passierte?

Jenny trat auf die Bühne. Sie entfaltete ruhig das Papier und begann mit Laras erstem Satz.

Unsere Darbietung war mittelmässig. Ich war ziemlich steif und sprach zu leise. Mustafa drehte dem Publikum meist den Rücken zu. Tatjana blendete das Scheinwerferlicht, sodass sie komische Grimassen schnitt. Jenny las ihren beziehungsweise Laras Part etwas holprig ab und verhaspelte sich ein paar Mal. Trotz allem, das Publikum lachte am Ende und nach einer kurzen Verbeugung konnten wir von der Bühne.

J 109 j kam dazu. Tatjana legte ihre Arme um Mustafa und Kai und so bildeten wir einen Kreis.

Endlich aus dem Scheinwerferlicht, grinsten wir uns an und umarmten uns. Kai kamen die Tränen. Ich drückte ihn fest. Und dann stand da Jenny, genau vor mir.

«Gut gemacht, Alba.» Ich wollte etwas sagen, aber Mustafa kam mir zuvor.

«Wow, du hast uns echt gerettet.»

«Ach, kein Problem», grinste sie, «ihr könnt mir nachher ein Softeis spendieren.» Sie zwinkerte uns zu und ging zu ihrer Gruppe.

Als alles überstanden war, verteilten Frau Kovacic, Frau Heierli und Frau Ferrari Würste und Brot.

«Wer seine Wurst hat, kann sich von uns verabschieden und sich zu seiner Familie setzen», informierte uns Frau Heierli.

Unsere Eltern standen bereit, um uns mit zu ihren Plätzen zu nehmen.

«Tschüss, Frau Kovacic.» Ich winkte ihr mit der Wurst in der Hand zu. Dann lief ich meiner Mama in die Arme.

Gemeinsam zwängten wir uns durch die vielen Menschen. An einem Tisch in der Menge erspähte ich Lara, die in ihren Händen ebenfalls Wurst und Brot hielt, herzhaft abbiss und sich angeregt mit einer alten Frau unterhielt, mit der sie zusammensass.

«Lara?»

Ich war ihr nicht böse, weil sie uns hatte hängen lassen.

«Hallo. Gute Wurst, nicht wahr?» Sie biss ab, obwohl ihr Mund noch voll war.

«Alba, wir sitzen gleich dort hinten.» Mama zeigte auf eine Festbank, von der aus mir Papa zuwinkte. Dann packte er Elino am T-Shirt, der auf der Bank stand und rumhampelte. Belana sass mit aufgestütztem Kopf gelangweilt daneben.

«Okay», entschied ich, «ich bleib noch einen Moment hier.»

Lara stellte vor: «Das ist die nette Frau, die ich auf der Bank am Dorfbrunnen getroffen habe und von der ich euch erzählt hab. Weisst du noch, als ich zu spät zur Probe gekommen bin? Sie kann so schöne Geschichten erzählen.»

Ich erinnerte mich lebhaft an diesen Tag. Es war der Tag, als wir alle zu Herrn Ziegler, dem Historiker, aufgebrochen waren und ich mir Hausarrest eingehandelt hatte. Ich setzte mich, und da tauchten Mustafa, Tatjana und Kai bestens gelaunt auf. Sie suchten sich ebenfalls einen Platz am Tisch. Es schien, unsere Gruppe wollte noch ein wenig zusammen sein.

«Das ist ja schön», meinte die alte Frau, die von uns umringt war. «So viele Kinder.» Und zu mir sagte sie: «Dich kenne ich.» Und fuhr fort: «Und natürlich dich.» Sie zeigte auf Lara. «Und da ist ja auch

Jenny.» Sie hob ihre faltige Hand und winkte Jenny zu. «Komm, setz dich zu uns», forderte sie Jenny auf, die an den Tisch getreten war. «Guten Tag, Frau Neff», grüsste diese höflich und etwas verlegen. «Und wer seid ihr?», wollte die Frau von den anderen wissen. Sie nannten ihre Namen.

Ich beäugte die alte Frau genau. Sie war mir gleich bekannt vorgekommen. Aber erst jetzt war ich mir sicher. Es war Julies Oma. Oma Linde, Rösli Neff. Ich hatte sie lange nicht gesehen.

«Ach», seufzte Oma Linde, «heute ist so ein trauriger Tag für mich, wisst ihr. Heute vor fünfzig Jahren hab ich meinen Schatz, den Ernst, verloren. Die ganze Geschichte war fürchterlich. Er hat seinen Vater umgebracht. Der Vater wollte nicht, dass der Ernst mich heiratet, weil ich nur ein armes Bäckermädchen gewesen bin. Da hat er seinen Vater im Streit ermordet und ist geflohen. Er hat mich hier zurückgelassen. Erst bin ich wütend gewesen, aber dann habe ich verstanden, dass er versucht hat, mich zu beschützen. Der liebe Ernst.»

Ich schaute zu Kai, zu Mustafa, zu Tatjana, und wir verstanden. Rösli hatte sich über die Jahre eingeredet, dass ihr Ernst ihrer Liebe wegen ein Verbrechen begangen hatte. Sie hatte sich nicht eingestehen können, dass er mit seiner Familie abgehauen war, weil sie kein Geld mehr hatten und ihnen Ärger drohte. Vielleicht hatte sie die Wahrheit auch nie

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erfahren. Wir sahen uns an und stillschweigend beschlossen wir, nichts zu sagen. Frau Neff ihre Geschichte zu lassen. Und auch Jenny. Es war immerhin eine ziemlich gute Geschichte.

«Freuen Sie sich nun auf Miraculus, den grossen Zauberer», kündigte der Moderator auf der Bühne den nächsten Auftritt an.

«Oh nein», stöhnte Kai. Laute, rhythmische Musik ertönte. Kai stützte den Kopf in die Hände. Er wollte gar nicht hinsehen.

«Magst du keine Zauberer?», fragte Mustafa verwundert.

«Muss dir doch nicht peinlich sein, Kain-Stein», meldete sich lachend ein schlaksiger Junge, den ich als Kais Bruder erkannte und der sich von der Bank hinter Kai umgedreht hatte. «Unser Vater ist Zauberer. Na und?»

«Waaaas?», riefen Tatjana und Mustafa gleichzeitig. «Wie cool ist das denn?» Die beiden kriegten sich fast nicht mehr ein. Sie bettelten Kai an, das Zauberzeug von seinem Vater einmal aus der Nähe anschauen zu dürfen. Und Mustafa wollte ihn gleich für seine Geburtstagsfeier engagieren, mit Freundschaftsrabatt.

«Ich red mit meinem Vater», meinte Kai. Er sah schon etwas entspannter aus.

Miraculus war ein beeindruckender Zauberer.

Er zog nicht nur Münzen aus den Ohren des Ammans und machte coole Kartentricks, er verknotete auch einen Löffel mit seiner Zunge und liess unsere Frau Kovacic schweben! Dann forderte er jemanden aus dem Publikum auf, auf die Bühne zu kommen.

Ein älterer Herr mühte sich die Stufen hoch. Miraculus bat ihn, ihm seinen Ausweis auszuhändigen.

Zögerlich wühlte der Mann in der Innentasche seines Jacketts und überreichte dem Magier schliesslich das Dokument.

«Vielen Dank», sagte Miraculus und las auf dem Ausweis «Ernesto. Ich darf sie doch beim Vornamen nennen? Ich werde jetzt …»

Da sprang Frau Neff auf und rief über die Köpfe der übrigen Anwesenden hinweg: «Das ist mein

Ernst! Mein Ernst.» Alle Köpfe wandten sich zu Frau Neff und dann wieder zu Ernst, also Ernesto.

Miraculus schien einen Moment verwirrt, führte seinen Trick aber weiter vor, was gut war, denn so war der Ausruf der alten Frau schnell vergessen.

Tatsächlich stellte sich der alte Mann als Ernst Steingruber heraus, der verschollene Liebste von Rösli Neff. Er war nach fünfzig Jahren zurückgekehrt, um seine alte Heimat zu besuchen, und prompt von Rösli entlarvt worden. Er hatte sich, nachdem er von der Bühne entlassen worden war, zu uns und Frau

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Neff an den Tisch gesetzt. Und er schwor, dass er sie niemals freiwillig verlassen hätte.

«Kommt, wir holen uns jetzt ein Softeis», schlug Kai vor. Wir waren sofort einverstanden. Frau Neff und Herr Steingruber bemerkten gar nicht, wie wir weggingen. Sie sahen sich in die Augen und hielten sich bei den Händen.

Mustafa drängte sich in die Reihe am Softeisstand. «Zwei grosse Softeis bitte», bestellte er und leerte dafür sein Portemonnaie. Eins reichte er Jenny. «Oh, danke», freute sie sich.

Wir standen beieinander und unterhielten uns.

Über den geretteten Sketch und die verrückte Villa, über Rösli und ihren Ernst und über Kais Vater, der ein toller Zauberer war. Und Lara meinte: «Das war echte Magie, wie Miraculus den Ernst Steingruber hat erscheinen lassen.»

Dieses Buch wurde verdankenswerterweise unterstützt durch:

Kulturkommission der Gemeinde Gais

TISCA Tischhauser Stiftung

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Gestaltung: Daniela Saravo Herstellung: Appenzeller Verlag AG

ISBN 978-3-85882-911-5 appenzellerverlag.ch

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