Und er nennt es Liebe

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Und

Und er nennt es Liebe

Kurzgeschichten

orte Verlag

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ISBN 978-3-85830-345-5 orteverlag.ch

Für meinen Sohn und für meine Tochter – nicht nichts ohne euch, aber viel weniger.

«Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander – wir sind sehr einsam.»

Georg Büchner: «Dantons Tod»

Akt I, Szene 1

«Jeder Mensch ist ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.»

Georg Büchner: «Woyzeck»

Akt IV, Szene 5

Vorwort

Ein Vater, der Vater sein möchte, aber nicht kann. Eine Ehefrau, die nicht ahnt, dass der Mann zu allem bereit ist, um sie für immer an sich zu binden. Ein krimineller Immigrant, in dem einst nicht nur Hoffnung, sondern auch Potenzial steckte. Eine Frau, die den Vater ihrer Kinder töten lassen will. Eine Kindheit, die für Aussenstehende unerträglich scheint, aber dennoch Momente des Glücks enthält.

Viele Jahre lang war ich als Rechtsanwältin im Familienrecht, im Strafrecht und im Migrationsrecht tätig, ich habe Erwachsene, Kinder und Jugendliche vertreten. Durch meine Arbeit habe ich tiefe Einblicke in das menschliche Handeln gewonnen und ich habe feststellen müssen, dass Menschen – gerade auch Menschen, die einander zu lieben glauben – einander oft fremd sind, sich unbekannte Wesen. Wir wissen nicht, wer unser Gegenüber ist, wen wir eigentlich lieben oder begehren oder zu kennen glauben. Wir sehen nie den ganzen Menschen, nur immer einen Teil von ihm, den Teil, den er uns zeigt oder den wir sehen wollen. Und wir wissen nie, wozu unser Gegenüber fähig ist. Auch wer noch so fürsorglich oder liebenswert scheint, kann eine düstere Seite haben.

Auch wer noch so sanftmütig und zuverlässig wirkt, kann ausser Kontrolle geraten, wenn er enttäuscht und verletzt wird.

«Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander – wir sind sehr einsam.» Das sagt Danton im Stück «Dantons Tod» von Georg Büchner zu seiner Frau Julie.

Die Frau ahnt nicht, dass der Mann sie nicht gehen lassen wird. Der Sohn weiss nicht, dass seine Eltern ihm eine Familie vorenthalten. Die Mutter versteht nicht, weshalb ihr Kind voller unbe-

zähmbarer Wut ist. Der Mann hat keine Ahnung, dass seine Frau ihn abgrundtief hasst.

Vorliegende Kurzgeschichten handeln von Menschen, die lieben und begehren und enttäuscht werden, von Menschen, die Grausames tun und Unerträgliches erleben. Diese Geschichten basieren auf Fällen aus meiner Tätigkeit als Anwältin, die Figuren – manchmal die Hauptfigur, manchmal eine Nebenfigur, die Mutter, der Vater oder das Kind, das Opfer oder der Täter – sind inspiriert von Personen, die ich vertreten habe. In diesen Geschichten lasse ich die Anwältin aber nicht zu Wort kommen. Ich lege den Fokus auf die Menschen und ihr Handeln. Diese Menschen, die zutiefst menschlich und zugleich unmenschlich sind, die lieben und begehren, hassen und verletzen und töten.

«Jeder Mensch ist ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.» Auch dieser Satz ist von Georg Büchner, aus seinem Drama «Woyzeck». Als Anwältin habe ich in unzählige Abgründe geblickt. Vielleicht in zu viele.

Der Vater

Gabriel sieht Carla im selben Augenblick, in dem er das Podium betritt. Sie sitzt prominent in der Mitte der ersten Reihe. Die Haare trägt sie anders, nicht mehr in dieser Löwenmähne, die ihr über die Schultern fällt. Nun sind die Locken am Oberkopf etwas länger und an den Seiten kurz geschnitten. Carla sieht, dass er sie anschaut. Sie lächelt und hebt die Hand zum Gruss. Gabriel setzt sich in den schwarzen Ledersessel und schlägt sein Buch auf. Der Moderator beginnt mit seiner Ansprache.

Es verunsichert Gabriel, dass Carla hier ist, ihm zuhören wird.

Gabriel hat sein Leben in den letzten Jahren in ruhigere Bahnen gelenkt. Die Sturm-und-Drang-Zeit ist vorüber, er hat eine gefestigte Beziehung, eine gute Beziehung zu einer schönen, klugen Frau, die ihm wichtig ist. Carla ist verführerisch. Und temperamentvoll. Intensiv. Mit ihr war alles extrem. Die Gespräche, der Sex, die Auseinandersetzungen. Sich von Carla zu lösen, hat Gabriel viel Kraft gekostet, aber mit ihr zusammen zu sein, noch viel mehr. Er muss darauf achten, Distanz zu halten. Carla ist wie ein Schwarzes Loch, dem er damals zu nahe gekommen ist, er ist hineingezogen und beinahe auseinandergerissen worden. Er will nicht ein zweites Mal in etwas Vergleichbares hineingeraten, in etwas Ungesunde, Fiebriges, alles Verschlingendes.

Die Ansprache ist zu Ende. Das Publikum applaudiert. Es applaudiert ihm, Gabriel, der aus seinem neuen Buch lesen wird. Und während Gabriel liest, schaut er ab und zu ins Publikum, er schaut zu Carla, und Carla schaut zu ihm. Sie wirft den Kopf in den Nacken, bietet ihm ihren Hals dar. Sie lacht, er liebt dieses Lachen, diese Lippen. Er erinnert sich, wie er diesen Hals geküsst hat und die empfindliche Stelle hinter ihren Ohrläppchen und ihren Mund, diesen sinnlichen Mund. Sie trinkt Bier direkt aus der Flasche, auch das liebt er – dass sie nicht eine dieser Prosecco trinkenden, blondierten, zurückhaltenden Frauen ist, sondern wild und ungestüm und, vielleicht, manchmal, nicht ganz normal. Aber was

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