Und
Eva Ashinze
er nennt es Liebe
Eva Ashinze
Und er nennt es Liebe
Kurzgeschichten
orte Verlag
© 2025 by orte Verlag
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Verlagshaus Schwellbrunn, Appenzeller Verlag AG Im Rank 83, 9103 Schwellbrunn, verlag@orteverlag.ch
Verlagsauslieferung in die EU: HEROLD Fulfillment GmbH, Daimlerstrasse 14, DE-85748 Garching service@herold-fulfillment.de
Umschlaggestaltung: Mike Müller
Umschlagbild: Adobe Stock Gesetzt in Arno Pro Regular Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn
ISBN 978-3-85830-345-5 orteverlag.ch
Für meinen Sohn und für meine Tochter – nicht nichts ohne euch, aber viel weniger.
«Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander – wir sind sehr einsam.»
Georg Büchner: «Dantons Tod»
Akt I, Szene 1
«Jeder Mensch ist ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.»
Georg Büchner: «Woyzeck»
Akt IV, Szene 5
Vorwort
Ein Vater, der Vater sein möchte, aber nicht kann. Eine Ehefrau, die nicht ahnt, dass der Mann zu allem bereit ist, um sie für immer an sich zu binden. Ein krimineller Immigrant, in dem einst nicht nur Hoffnung, sondern auch Potenzial steckte. Eine Frau, die den Vater ihrer Kinder töten lassen will. Eine Kindheit, die für Aussenstehende unerträglich scheint, aber dennoch Momente des Glücks enthält.
Viele Jahre lang war ich als Rechtsanwältin im Familienrecht, im Strafrecht und im Migrationsrecht tätig, ich habe Erwachsene, Kinder und Jugendliche vertreten. Durch meine Arbeit habe ich tiefe Einblicke in das menschliche Handeln gewonnen und ich habe feststellen müssen, dass Menschen – gerade auch Menschen, die einander zu lieben glauben – einander oft fremd sind, sich unbekannte Wesen. Wir wissen nicht, wer unser Gegenüber ist, wen wir eigentlich lieben oder begehren oder zu kennen glauben. Wir sehen nie den ganzen Menschen, nur immer einen Teil von ihm, den Teil, den er uns zeigt oder den wir sehen wollen. Und wir wissen nie, wozu unser Gegenüber fähig ist. Auch wer noch so fürsorglich oder liebenswert scheint, kann eine düstere Seite haben.
Auch wer noch so sanftmütig und zuverlässig wirkt, kann ausser Kontrolle geraten, wenn er enttäuscht und verletzt wird.
«Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander – wir sind sehr einsam.» Das sagt Danton im Stück «Dantons Tod» von Georg Büchner zu seiner Frau Julie.
Die Frau ahnt nicht, dass der Mann sie nicht gehen lassen wird. Der Sohn weiss nicht, dass seine Eltern ihm eine Familie vorenthalten. Die Mutter versteht nicht, weshalb ihr Kind voller unbe-
zähmbarer Wut ist. Der Mann hat keine Ahnung, dass seine Frau ihn abgrundtief hasst.
Vorliegende Kurzgeschichten handeln von Menschen, die lieben und begehren und enttäuscht werden, von Menschen, die Grausames tun und Unerträgliches erleben. Diese Geschichten basieren auf Fällen aus meiner Tätigkeit als Anwältin, die Figuren – manchmal die Hauptfigur, manchmal eine Nebenfigur, die Mutter, der Vater oder das Kind, das Opfer oder der Täter – sind inspiriert von Personen, die ich vertreten habe. In diesen Geschichten lasse ich die Anwältin aber nicht zu Wort kommen. Ich lege den Fokus auf die Menschen und ihr Handeln. Diese Menschen, die zutiefst menschlich und zugleich unmenschlich sind, die lieben und begehren, hassen und verletzen und töten.
«Jeder Mensch ist ein Abgrund, und es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.» Auch dieser Satz ist von Georg Büchner, aus seinem Drama «Woyzeck». Als Anwältin habe ich in unzählige Abgründe geblickt. Vielleicht in zu viele.