Werdenberger Jahrbuch 2024
WERDENBERGER JAHRBUCH
2024
Musik
Beiträge zur Geschichte der Gemeinden Wartau, Sevelen, Buchs, Grabs, Gams und Sennwald
Historischer Verein der Region Werdenberg 37. Jahrgang
© 2024 by Verlag FormatOst, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Herausgeber: Historischer Verein der Region Werdenberg HVW
Projektbegleitung: Ursula Dürr
Redaktion: Manuela Mezzetta (Leitung), René Oehler, Daniela Ulrich, Hanna Rauber (Bildredaktion)
Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich.
Umschlagbild: Foto Heini Schwendener
Gestaltung: Brigitte Knöpfel
Gesetzt in ITC Stone Serif Std und ITC Stone Sans Std
Druckvorstufe: Verlagshaus Schwellbrunn
Druck: Appenzeller Druckerei, Herisau
Bindung: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach BL
ISBN 978-3-03895-068-4 www.formatost.ch
Inhalt
6 Dank
8 An die Leserinnen und Leser
10 FOKUS
12 Stimmung im musikalischen Gehirn Jürg Kesselring
20 Die Werdenberger Nachtigallen und Johannes Heeb aus Sax: zwei volksmusikalische Porträts aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Yannick Wey
28 Klassische Orchester im Werdenberg Florian Heeb
38 Seit 105 Jahren Freude am Frauengesang in Buchs Hansruedi Rohrer
46 Vinyl – Joe Alpiger besitzt über 3000 Schallplatten Manuela Mezzetta
56 Trommeln, Gitarren und Geigen Heini Schwendener
66 Die Musikschule Werdenberg im Lauf der Zeit Dennis Mungo
76 «Das bespielte Schloss» – wie Schloss Werdenberg zur Musik kam Thomas Gnägi
88 Automatenmusik gestern und heute Bruno Candreia
98 Als Rockbands noch Exoten waren René Mehrmann
104 PANORAMA
106 Das Späni-Mandat von 1736 Michael Berger
114 Objekt des Jahres: Ein Druckstock aus dem 19. Jahrhundert Hanna Rauber
122 Jakob Vetsch: Utopist mit Werdenberger Wurzeln Martin Heeb und Fabian Hümer
136 Ein Haus geht auf Reisen Timothy Allen und Ronan Crippa
146 Legendäre Linde in Gretschins Michel Brunner
156 Nicht nur für Leseratten: 50 Jahre Bibliothek Buchs Corina Dettwiler
164 Buchbesprechungen
174 Werdenberger Kulturschaffen: Womöglich ist der Tod ganz klein René Oehler
182 CHRONIK
184 Vereinstätigkeit des HVW von Juli 2023 bis Juni 2024 Susanne Keller-Giger, Daniel Gut, Hanna Rauber, Stephani Schmidt
190 Schloss Werdenberg – Jahresrückblick Sommer 2023 bis Sommer 2024 Thomas Gnägi
196 Jahresrückblick der Werdenberger Gemeinden Hanna Rauber, Stephani Schmidt
221 Werdenberger Bevölkerungsstatistik 2022 und 2023
222 Kommunale Abstimmungen/Wahlen der Werdenberger Gemeinden
224 Unsere Verstorbenen
236 Abbildungs- und Audionachweis
239 Werdenberger Jahrbuch: bisher erschienene Publikationen
Beilage
Druck Holzschnitt – Die Appenzeller und Graf Rudolf von Werdenberg
DANK

Folgende Gemeinden, Firmen und Personen unterstützten die Herausgabe des Werdenberger Jahrbuchs 2024:
– Politische Gemeinde Wartau
– Politische Gemeinde Sevelen
– Stadt Buchs
– Politische Gemeinde Grabs
– Politische Gemeinde Gams
– Politische Gemeinde Sennwald

ACV Treuhand AG, Buchs, acv.ch
Alpiger AG Holzbau, Sennwald, alpiger-holzbau.ch
Berufs- und Weiterbildungszentrum Buchs Sargans, Buchs, bzbs.ch
booksinbuchs GmbH, Buchs, booksinbuchs.ch
Brusa Josef, Gams
Chemberg GmbH Schweiz, Salez
Dr. med. Thomas Buchalla-Stüdli, Sevelen, praxisdrbuchalla.ch
Delta Möbel AG, Haag, delta-moebel.ch
Elektrizitätswerk Buchs, Buchs, ewbuchs.ch
Elektrizitätswerk Sennwald, Sennwald, ewsennwald.ch
Graf Malerei AG, Buchs, grafmalerei.ch
Heizplan AG, Gams, heizplan.ch
Hotel Buchserhof, Buchs, buchserhof.ch
K + R Malerei AG, Sevelen, kundr.ch
Kolb Elektro SBW AG, Haag, kolbelektro.ch
Kühnis Optik Buchs AG, Buchs, kuehnis.ch/optik/buchs
Kuhn Felix, dipl. Architekt ETH SIA, Buchs, felixkuhn.ch
Labor Dr. Risch Ostschweiz AG, Buchs, risch.ch
LANDI Werdenberg AG, Buchs, landiwerdenberg.ch
L. Spreiter AG Baugeschäft, Sevelen, l-spreiter.ch
Meier-Joos Annamarie und Willi, Zürich
Merck, Buchs, sigmaaldrich.com
Offizin Parnassia, Vättis, parnassia.org
Raiffeisenbank Werdenberg, Buchs, raiffeisen.ch
Restaurant Bahnhöfli, Haag, bahnhoefli-haag.ch
SLB MEDIA AG, Buchs, slbmedia.ch
St. Galler Kantonalbank, Buchs, sgkb.ch
titz GmbH, Schaanwald, titz-gmbh.li
Ungenannte Freunde, Freundinnen, Gönner und Gönnerinnen
An die Leserinnen und Leser
Die Musik gehört wohl zum Menschen, seit es ihn gibt. Die deutsche Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte Hildegard von Bingen (1098 – 1179) kam zu dem Schluss, dass Gott den Menschen in der Musik die Erinnerung an das verlorene Paradies hinterlassen habe. Nicht weit von hier, auf der Schwäbischen Alb, wurden Knochenflöten gefunden, die mindestens 35 000 Jahre alt sind. Auch wenn sich die Welt seither gewaltig verändert hat, ist der Stellenwert der Musik in unserem Leben und in unserer Gesellschaft dabei bestimmt nicht kleiner geworden. Nach wie vor bewegt und berührt uns Musik, bisweilen bis ins Innerste, und sie verbindet Menschen an Feiern, Festen und Konzerten, in Chören, Orchestern, Kapellen und Bands.
Die Fähigkeit des Menschen, als Musik intendierte Schallereignisse von anderen akustischen Reizen unterscheiden zu können, gilt als eine der komplexesten Leistungen des menschlichen Gehirns. Jürg Kesselring, Neurologe, Präsident der Schweizerischen Hirnliga und leidenschaftlicher Cellist, befasst sich im Auftaktartikel des diesjährigen Jahrbuchs mit Fragen des musikalischen Gehirns. Er zeigt auf, was Musik im Menschen auslösen kann, zum einen mit naturwissenschaftlichmedizinischem, zum anderen aber auch mit linguistischem und mythologischem Ansatz.
In den weiteren Fokusbeiträgen geht es dann um ausgesuchte Themen der musikalischen Geschichte und Kultur Werdenbergs. Der Musikwissenschaftler Yannick Wey beschäftigt sich anhand von zwei Beispielen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Werdenberger Volksmusiktradition und deren Eigenheiten. Porträtiert werden der Geiger Johannes Heeb aus Sax und seine Familienkapelle sowie die Werdenberger Nachtigallen, die mit ihren Gesangs- und Jodelaufführungen weitherum für Aufsehen sorgten. Der frühere Direktor der Musikschule Werdenberg, Florian Heeb, stellt in seinem Beitrag einstige und heutige klassische Orchester unserer Region vor, beginnend mit dem legendären Orchesterverein Buchs bis hin zum erst vor wenigen Jahren entstandenen Orchester Rheinklang. Auch die einst so zahlreichen Chöre spielen im kulturellen und gesellschaftlichen Leben Werdenbergs nach wie vor eine wichtige Rolle. Beispielhaft dafür steht der Frauenchor Buchs mit seiner wechselvollen Geschichte, auf die Hansruedi Rohrer in seinem Artikel eingeht. Erstaunlich vielfältig ist auch Werdenbergs Rockbandszene der vergangenen Jahrzehnte, wie René Mehrmanns Bei-
trag deutlich macht. Thomas Gnägi schliesslich schildert in seinem Artikel, wie das Schloss Werdenberg zur Musik kam.
Um Musik zu spielen, braucht es Instrumente, und solche werden auch in drei Werdenberger Kleinbetrieben hergestellt und repariert, und das in hoher Qualität. Heini Schwendener stellt die Betriebe und die Männer, die dahinterstecken, in seinem Artikel vor: das Guitar Repairs von Urs Winkler in Gams, die Trommelmanufaktur von Dominic Hanselmann in Frümsen und das Geigenbauatelier von Christopher Lüthi in Sevelen. Instrumente, die gespielt werden, gibt es auf den Fotos von Christiane Oehler zu sehen, die vier Musikschülerinnen und -schüler ganz unterschiedlichen Alters während des Unterrichts an der Musikschule Werdenberg besucht hat. Diese wiederum erklären in kurzen Selbstporträts, was ihnen ihr Instrument und die Musik bedeuten.
Um Musik ab Tonträger geht es in zwei weiteren Beiträgen. Bruno Candreia befasst sich mit den Musikboxen, die zwischen 1950 und 1980 in zahlreichen Werdenberger Gaststätten standen. Ältere Leserinnen und Leser werden da wohl in Erinnerungen schwelgen. Und Manuela Mezzetta stellt den Buchser Plattensammler Joe Alpiger und dessen Sammlung vor, die über 3000 Langspielplatten umfasst. Heute wird Musik ja vornehmlich digital gespeichert und abgerufen. Einen solchen Zugriff auf musikalische Perlen ermöglichen auch QR-Codes, die einigen Artikeln des Jahrbuchs beigefügt sind.
Der Panoramateil beginnt wie üblich mit der Urkunde des Jahres: Michael Berger stellt das Späni-Mandat von 1736 aus dem Kirchgemeindearchiv Salez-Haag vor und stellt es in den Zusammenhang einer ganzen Reihe ähnlicher Sittenmandate, mit denen die Obrigkeit mit mehr oder weniger Erfolg versuchte, die Menschen von unsittlichem und gesetzeswidrigem Verhalten abzuhalten. Hanna Rauber präsentiert das Objekt des Jahres, einen Druckstock von Martin Disteli aus dem Jahr 1834 mit einer Abbildung von Graf Rudolf von Werdenberg im Kreis der Appenzeller. In der Rubrik Werdenberger Kulturschaffen bespricht René Oehler den neu auf Hochdeutsch erschienenen und von Ulrich Zeitler neu vertonten Gedichtzyklus novembrig der bekannten Buchser Lyrikerin Elsbeth Maag und vergleicht ihn mit der seinerzeitigen Mundartfassung und der Vertonung von Peter Roth.
In den weiteren Panoramabeiträgen geht es um den Abbau, die Restaurierung und den Wiederaufbau des über 350 Jahre alten Gässlihauses in Grabs, um die noch etwas ältere Pestlinde bei der Kirche Gretschins, um den Schriftsteller und Utopisten Jakob Vetsch, der vor rund 100 Jahren mit seinem Roman «Die Sonnenstadt» die Welt revolutionieren wollte, sowie um die Bibliothek Buchs, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiern kann.
Der abschliessende Chronikteil bietet nebst Bevölkerungs- und Abstimmungsstatistiken wie immer einen ausführlichen Jahresrückblick auf das Geschehen in den Werdenberger Gemeinden.
Viel Vergnügen beim Lesen und beim Hören!
Vorstand HVW und die Redaktion


FOKUS

Musik
12 Stimmung im musikalischen Gehirn
20 Die Werdenberger Nach ti gallen und Johannes Heeb aus Sax: zwei volksmusi kalische Portraits aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
28 Klassische Orchester im Werdenberg
38 Seit 105 Jahren Freude am Frauengesang in Buchs
46 Vinyl – Joe Alpiger besitzt über 3000 Schallplatten
56 Trommeln, Gitarren und Geigen
66 Die Musikschule Werdenberg im Lauf der Zeit
76 «Das bespielte Schloss» –wie Schloss Werdenberg zur Musik kam
88 Automatenmusik gestern und heute
98 Als Rockbands noch Exoten waren
Jürg Kesselring
Stimmung im musikalischen Gehirn
Jede Musikerin und jeder Musiker weiss, wie wichtig es ist, das Instrument zu stimmen, bevor das Spiel beginnt. Diese Stimmung ist vorgegeben durch Naturgesetze. In Bezug auf die Frequenz führt interessanterweise auf der ganzen Welt die Verdoppelung oder Halbierung zur Empfindung einer sehr nahen Verwandtschaft der Töne, als ob das Gehirn für eine «Oktavkonstanz» eingerichtet wäre.
Die abendländische Musik beginnt mit einem Wettstreit.1 Der Flöte spielende Satyr Marsyas lieferte sich einen musikalischen Wettstreit mit dem Gott Apollo, der berühmt war für seine musikalischen Darbietungen mit der Leier, die er vervollkommnet hatte, indem er dem dreisaitigen Instrument, das sein Halbbruder Hermes erfunden hatte, vier Saiten hinzufügte und so noch nie dagewesene harmonische Klänge schuf. Die erste lange Flöte wurde von Athene, der Göttin der Weisheit und der Erfindung, aus den Knochen von Hirschen oder durch das Durchbohren von Buchsbaum mit weit auseinanderliegenden Löchern hergestellt. Stolz auf ihre Erfindung, kam Athene zum Festmahl der Götter, um zu spielen. Doch Aphrodite und Hera, die Athenas aufgeblasene Wangen sahen, spotteten über ihr Spiel und nannten sie hässlich. Athene ging zu einer Quelle auf dem Berg Ida, um sich selbst im Wasser zu betrachten, wo sie verstand, warum sie verspottet wurde und warf die
Flöte weg, wobei sie schwor, dass derjenige, der sie aufheben würde, schwer bestraft werden würde:
«Der Klang war angenehm; aber in dem Wasser, das mein Gesicht spiegelte, sah ich meine jungfräulichen Wangen aufgeplustert. Ich schätze die Kunst nicht so hoch; lebe wohl, meine Flöte!»2
Marsyas war schon seit einiger Zeit ein geübter Flötenspieler, bevor er die Flöte fand, die Athene weggeworfen hatte. Er hatte durch Kunst und Übung gelernt, immer süssere Töne zu erzeugen. Dann begegnete er zufällig Apollo mit seiner Leier. So forderte er den Gott zu einem musikalischen Wettstreit heraus, bei dem die Musen als Richter bestimmt wurden. Sie einigten sich darauf, dass der Sieger das Schicksal des Besiegten bestimmen sollte, das er wünschte. Zunächst ging Marsyas als Sieger hervor, doch dann spielte Apollo, indem er seine Leier auf den Kopf stellte, dieselbe Melo-
die – ein Kunststück, das Marsyas mit seinem Di-Aulos nicht gelingen konnte, weil die beiden Rohre zu weit auseinander standen. Apollo fügte dem Klang der Leier seine Stimme hinzu – manchmal müssen Götter Tricks anwenden, um die Leistungen von Halbgöttern oder einfachen Menschen zu überwinden. Marsyas protestierte und argumentierte, dass die Fertigkeit mit dem Instrument, nicht der Gesang, bestritten werden sollte. Nach einem erneuten Vergleich ihrer Fähigkeiten unterlag Marsyas jedoch. Nachdem nun Apollo den Wettbewerb gewonnen hatte, häutete er Marsyas bei lebendigem Leib, während der unglückliche Musiker kopfüber an einer hohen Kiefer hing. Und als seine Haut von der Oberfläche seines Körpers abgestreift war, und er keine weitere Wunde mehr erleiden konnte, schrie Marsyas:
«Warum reisst du mich von mir selbst? Oh, ich bereue es! Oh, eine Flöte ist einen solchen Preis nicht wert!»3
Nun herrschte Verwirrung. Apollo bereute schnell seine schreckliche Tat und zerriss aus Verzweiflung die vier Saiten der Leier, die er gefertigt hatte. Der Fluss Marsyas in Kleinasien, der in den Mäander mündet und nach dem besiegten Musiker benannt ist, wurde durch die Tränen derer, die um den gefallenen Helden trauerten – Satyrn, Nymphen, Landbewohner und viele andere – gespeist und durch das Blut des Marsyas rot gefärbt (was in modernen Begriffen auf das Vorhandensein von Eisendioxid zurückgeführt wird). Marsyas komponierte das «Lied der Mutter», ein Lied für die Flöte, mit dem viele Jahre später die eindringenden Barbaren
zurückgeschlagen wurden. Er kann als Vorbild für die Schöpfer und Komponisten von Musik gesehen werden. Umgekehrt ist Apollos Sohn Orpheus durch die Präsentation von Klängen derjenige, der alles Musikalische ordnet und regiert. Komposition ist nichts für ihn, vielmehr interpretiert und singt er. Er ist das Gefäss, aus dem die Musik fliesst. Und auch Odysseus lauscht den Sirenen, indem er sich von seinen Gefährten an den Mast des Schiffes fesseln lässt; nur die Ohren sind mit Wachs verstopft. Odysseus will es wissen und berichtet von dem Erlebnis. Doch was hört er? Ist es seine eigene Stimme? Ist es alles Mögliche, was gehört werden kann? Vielleicht wird er durch das Beharren auf dem Hören mit einer aus ihm selbst stammenden Muse konfrontiert, die schwingt (dies ist eine Interpretation der Mythologie, die der Komponist Wolfgang Rihm anbietet). Die Legende von Marsyas und Apollo lenkt unsere Aufmerksamkeit metaphorisch auf zwei verschiedene Arten der menschlichen Natur, die sich auch auf die Musik übertragen lassen; manchmal, in Anlehnung an Friedrich Nietzsches Dissertation «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» – die Dionysische und die Apollinische. Apollo ist logisch und vernünftig, steht für den Wunsch, Ordnung, Schönheit und Klarheit zu schaffen durch Grenzziehung und Bewahrung der Individualität, Selbstbeherrschung, Vollkommenheit und Ausschöpfung aller Möglichkeiten. Umgekehrt ist Dionysos der Repräsentant des Chaos und des Rausches; er feiert die Natur, den Instinkt, die Intuition, die Lust, die Individualität, die Leidenschaft, die Grenzenlosigkeit und den Exzess.
Stimmen des Gehirns
Jede Musikerin und jeder Musiker weiss, wie wichtig es ist, das Instrument vor dem Spielen oder – je nach den Umständen –vor Beginn der Arbeit zu stimmen. Wenn das Instrument nicht richtig gestimmt ist, ist es selbst mit dem grössten Talent und der besten Technik fast unmöglich, «richtig» zu spielen.4 Aber kein Musiker würde dem Komponisten oder den Mitspielern schlechte Vorbereitung oder schlechte Zusammenarbeit vorwerfen, wenn es falsch klingt, sondern zuerst sein eigenes Instrument in die richtige Stimmung bringen. Diese ist durch die Naturgesetze, durch mathematisch beschreibbare Bedingungen, gegeben.5 Die Halbierung der Schwingungslänge auf einer einzelnen Saite führt zur Bildung einer Oktave (das heisst Verdoppelung der Frequenz). Interessanterweise führt die Verdopplung beziehungsweise Halbierung frequenzmässig zu der Empfindung einer sehr engen Beziehung zwischen den Tönen, so als ob das Gehirn auf eine «Oktavkonstanz» eingestellt ist. Teilt man die Saite durch drei – von beiden Enden her – entsteht eine Quinte. Auch wenn ich zwei oder mehrere Saiten oder mehrere Instrumente aufeinander abstimmen will oder soll, muss ich die Längen der jeweiligen Saiten so wählen, dass ihre Proportionen den Naturgesetzen entsprechen; nur dann kann richtig ausgeübt werden, was vom Komponisten vorgegeben ist und was die Interpreten anstreben. Die Naturgesetze müssen also immer – bewusst oder intuitiv – erkannt und beachtet werden, bevor kulturelle Leistungen wirksam werden können.
In der deutschen Sprache taucht das Wort «Stimme», dessen weiterer Ursprung unbekannt ist, seit dem 14. Jahrhundert in der Bedeutung von «abgegebenes Urteil,
Votum» oder als Verb «stimmen» für «festsetzen, benennen, gleichlautend machen» auf, wie wir es auch heute noch in den Zusammensetzungen «abstimmen, beistimmen, zustimmen» verwenden. In beiden Bedeutungen bezeichnet das Wort «Stimme» also einen sehr persönlichen Ausdruck des Ich, so wie wir im praktischen Umgang mit Mitmenschen erkennen, dass deren Stimme ein besonders individualtypisches Ausdrucksmittel ist. Die Stimme ist in unserer Sprache das Instrument, das am unmittelbarsten die Stimmung des Individuums und seine Urteilsfähigkeit zum Ausdruck bringt.6
Hier interessiert uns aber besonders eine andere Bedeutung aus dieser Wortfamilie: «stimmen» wird bei Musikinstrumenten seit dem 16. Jahrhundert verwendet, bei menschlichen Tätigkeiten erst seit dem 18. Jahrhundert mit Begriffen wie «umstimmen, verstimmen, auf etwas einstimmen», aber auch im intransitiven Sinn von «im Einklang sein, passen, richtig sein, übereinstimmen». In diesem Sinne verstehe ich übrigens auch Darwins Diktum vom «survival of the fittest», das so unglücklich und tendenziös mit «Überleben des Stärksten» übersetzt wurde, wenn es doch eigentlich bedeutet, dass diejenigen am besten überleben, die sich am besten an ihre Umwelt anpassen, die ihre eigenen Erwartungen und Möglichkeiten am besten mit den Anforderungen der Umwelt in Einklang zu bringen vermögen.
In anderen Sprachen finden wir diese Entsprechung von Begriffen im musikalischen und emotionalen Bereich nicht: In Sprachen, die sich aus dem Lateinischen entwickelt haben, bezieht sich die Stimmung von Instrumenten auf die Saiten: chorda («accorder», «accordare»), auch wenn sie, wie Blas- oder Schlaginstrumen-
te, gar keine Saiten haben. Ausdrücke wie «d’accord» im Französischen oder «d’accordo» im Italienischen bedeuten aber auch hier, was wir mit «Übereinstimmung» übersetzen würden. Im Englischen bezieht sich «attune» wahrscheinlich auf eine Beziehung zu «tone, tonus» (Klang), aber eine Wortverwandtschaft mit Begriffen, die Affekte oder Emotionen bezeichnen, ist nicht zu erkennen, höchstens darin, dass wir mit jemandem «im Einklang» sind, wenn wir mit ihm oder ihr übereinstimmen.
Musik und Emotionen
Im Zusammenhang mit Musik sind zwei Situationen von Interesse, in denen die Stimmung eine entscheidende Rolle für das Verhalten spielt: Die eine ist das sogenannte Lampenfieber, von dem alle, die schon einmal öffentlich aufgetreten sind ein Liedchen singen können – das heisst natürlich nur dann, wenn das Lampenfieber das Singen nicht unmöglich macht. Es ist dieser die Leistungsfähigkeit mindernde Erregungs- und Angstzustand, der eintritt, bevor oder wenn die Person sich schauspielerisch, verbal, stimmlich oder instrumental einem Publikum präsentiert, eine Leistung erbringen will oder muss, die bewertet werden kann oder soll, wobei die Frage des Selbstwertgefühls angesprochen wird, das heisst, die Stimmung dieser Person stark angeregt werden kann. Angst und Erregung sind immer von physiologischen Reaktionen im körperlichen, kognitiven, emotionalen und Verhaltensbereich begleitet. Diese einmal gemachte Erfahrung führt unweigerlich zu einer zweiten Angst, nämlich der Angst vor Lampenfieber, der Angst vor Zittern, vor Schwitzen, vor einer Erinnerungslücke.7
Inspiration und Kreativität
Die andere Situation, in der die Stimmung eine besondere und entscheidende Rolle spielt, ist die kreative Phase oder die Inspiration beim Komponieren, die sich anhand von Aussagen von Betroffenen andeuten lassen.8
Tschaikowsky beispielsweise schreibt an seine gute Freundin, Frau von Meck:
«Die Inspiration ist einfach ein Gast, der nicht immer auf den ersten Ruf erscheint. Aber arbeiten muss man trotzdem, und ein wirklich ehrlicher Künstler kann nicht mit den Händen im Schoss sitzen unter dem Vorwand, er habe keine Lust zu arbeiten. Wenn man auf die ‹Stimmung› wartet und nicht versucht, ihr zu begegnen, verfällt man leicht in Apathie und einfache Faulheit. Man muss Geduld und Vertrauen haben, und die Inspiration kommt unweigerlich zu der Person, die es versteht, sich dagegen zu wehren, nicht aufzugeben und nachzulassen.»9
Wo beginnt die Aktivität des Individuums, wo wird es von seinen Stimmungen und Ideen getrieben? Gibt es im kreativen Prozess spontane Aktivitäten in bestimmten Hirnarealen, die denen ähnlich sind, die wir im motorischen oder emotionalen Bereich bei Epilepsie kennen? Es gibt auch Beschreibungen, nach denen die schöpferische Phase nicht nur friedlich verläuft, sondern von heftigen motorischen Phänomenen eingeleitet oder begleitet wird, etwa wenn Max Kahlbeck über Brahms schreibt:
«Aber in welchem Zustand war er und wie sah er aus! Barhäuptig und hemdsärmelig, ohne Weste und Kragen, fuchtelte er mit dem Hut in der einen Hand, zerrte mit der
anderen seinen unbekleideten Rock im Grase nach und rannte so schnell vorwärts, als ob er von einem unsichtbaren Verfolger gejagt würde. Ich hörte ihn schon von weitem keuchen und stöhnen. Als ich näher kam, sah ich, wie ihm der Schweiss über die erhitzten Wangen rann und die Haare in sein Gesicht hingen. Seine Augen starrten geradeaus ins Leere, glühend wie die eines Raubtiers – er machte den Eindruck, besessen zu sein».10
Man hat gelegentlich den Eindruck, dass jeder gerne Arzt werden möchte. Aber wenn man diese fragt, oder zumindest die besten von ihnen, dann möchten diese anscheinend eigentlich Künstler sein. Man spürt förmlich die beiden Seelen in Billroths Brust, wenn er an Brahms schreibt:
«Heute morgen erhielt ich Deinen Brief mit dem Manuskript, musste aber leider in die Klinik gehen und konnte kaum einen Blick in die Noten werfen. Die Freude über Neuigkeiten von Dir und dass Du an mich dachtest, hielt mich den ganzen Tag in fröhlicher Stimmung; ich glaube, ich war freundlicher als sonst zu allen Menschen, mit denen ich zu tun hatte.»11
Auch Billroths Liebe zur Musik spiegelt sich wider, wenn er schreibt:
«Ich hatte eigentlich vor, diesen Winter nichts anderes zu tun als zu musizieren und zu spazieren! Aber anscheinend haben die Götter anders entschieden. Ich bin wieder in schrecklichen Schwierigkeiten!»12
Das bezieht sich auf seine grosse Arbeit über Coccobakterien und vor allem auf sein heute noch lesenswertes Buch «Über
das Lehren und Lernen der medizinischen Wissenschaften». Auch Brahms las es mit Interesse und schrieb:
«Ich danke Dir sehr für Dein Buch. Aber das ist eine gefährliche Art von Buch für einen leidenschaftlichen Leser. Man liest einfach zu lange und aufmerksam weiter, auch wenn es einen nicht mehr betrifft.»13
Anselm Hüttenbrenner beschreibt seinen Freund Schubert:
«Wer ihn nur einmal an einem Vormittag eifrig komponierend gesehen hat, mit leuchtenden und glänzenden Augen, auch mit einer anderen Sprache, öfter mit der Zunge schnalzend – wie ein Somnambuler – wird den Eindruck nicht vergessen. Am Nachmittag war er natürlich wieder anders, er war zart und tief empfindend, aber er liebte es, seine Gefühle nicht zu zeigen, sondern sie in sich zu verschliessen.»14
An anderer Stelle beschreibt er die Übertragung der Stimmung auf die Umgebung:
«Schubert war um einige Zeit dunkler geworden. Er sang nun die ganze ‹Winterreise› mit bewegter Stimme durch. Wir waren ganz erstaunt über die düstere Stimmung in diesen Liedern.»15
Wir wissen nicht genau, worauf Inspiration beruht und wie weit sie trainiert werden kann, aber wir verstehen diese wenigen Ausdrücke so, dass kreative Menschen aktiv in der Lage sind, in sich eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich kreative Gedanken bilden. In einem mühsamen Prozess finden diese Gedanken dann ihre verschlungenen Wege – Strindberg hat die