Das St.Galler Volkshaus

Page 1

Ralph Hug

Das St. Galler Volkshaus

Das Volkshaus St.Galler

Wie es entstand und warum es geblieben ist

Ralph Hug

Unter Mitarbeit von Marcel Mayer

Herausgegeben von der Volkshausgenossenschaft St. Gallen

Dieses Buch wurde verdankenswerterweise unterstützt durch:

Stättischer und Kantonaler Gewerkschaftsbund St. Gallen

Historischer Verein des Kantons St. Gallen

Gewerkschaft Unia

Sozialdemokratische Partei Stadt und Kanton St. Gallen

Bildungsgemeinschaft St. Gallen

© 2024 by Verlag FormatOst, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.

Herausgeber: Volkshausgenossenschaft St. Gallen

Autor: Ralph Hug, unter Mitarbeit von Marcel Mayer

Umschlagbild: Ausschnitt aus kolorierter Postkarte

Gestaltung: Mike Müller

Gesetzt in Arno Pro und Futura Std

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für einige Bilder ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

ISBN 978-3-03895-064-6 www.formatost.ch

INHALT

Geleitwort von Robert Schwarzer Prolog

Das Volkshaus – eines unter Vielen

Vom Gesellenverein zum Klassenbewusstsein

Turner, Sänger und begehrte Köchinnen

Die Speisegenossenschaft wird zum kleinen Volkshaus

Gutes Geld mit blauem Dunst

Wie das Vereinshaus an der Lämmlisbrunnenstrasse entstand Von Marcel Mayer «Unser ist der Morgen»

Die Arbeiter-Union und der 1. Mai

Angelica Balabanoff: Das Vereinshaus schreibt Weltgeschichte

War Benito Mussolini im Volkshaus?

Das Vereinshaus als Streikzentrale

Auf dem Weg zum Volkshaus

Grosse Pläne, grosse Träume

Die antifaschistischen Netze in St. Gallen

Kein

Haus des Erfolgs: Der SP-Wahlsieg von 1954

1968 – die Neue Linke zieht ein Raus aus dem Renovationsstau: Die Modernisierung von 1977

Ein Beizenkollektiv verwandelt das Volkshaus

Der grosse Streit

Ein kollektives Werk

Renovation mit Ach und Krach
Glück mit manchen Wirtsleuten
Epilog Quellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Dank 7 8 12 18 28 30 36 38 50 52 58 64 69 72 96 104 111 118 120 126 134 139 144 150 154 157 159 160

GELEITWORT

Das St. Galler Volkshaus blickt auf eine äusserst bewegte Geschichte zurück. Doch diese ist wenig bekannt. Licht ins Dunkel bringt die vorliegende, vom St. Galler Autor und Journalisten Ralph Hug verfasste Schrift. Sie wurde aus Anlass des 125-jährigen Bestehens der Institution im Jahr 2024 verfasst. Die Lektüre offenbart viel Erstaunliches. Oder wussten Sie, dass ab 1903 hier die Revolutionärin Angelica Balabanoff wirkte? Die aus einer ukrainischen Familie stammende Intellektuelle kämpfte für die Durchsetzung der Rechte der italienischen Arbeiterinnen bei den Textilfirmen Arnold B. Heine in Arbon, Rittmeyer im St. Galler Sittertobel oder bei der Feldmühle in Rorschach. 1914 stritt sie an der Seite des Arbeiterführers Robert Grimm für die Bildung einer revolutionären Internationale. Und 1917 an der Seite Lenins für den Sturz des Zarentums in Russland. Später arbeitete sie als Sekretärin der Kommunistischen Internationale.

Oder: Wussten Sie, dass im Juni 1972 im Volkshaus-Saal die berühmte Agit-Rockband «Ton Steine Scherben» aus Berlin spielte? Dass es ab 1990 ein sehr erfolgreiches Beizenkollektiv gab und das Volkshaus zum Treffpunkt der jungen Polit- und Kulturszene der Stadt St. Gallen und der weiteren Region wurde? Dass es 1994 dann aber wegen politisch motivierter Differenzen mit der Leitung gehen musste?

Dass vorher noch eine hochkarätige Delegation mit Gewerkschaftsbundpräsident Walter Renschler, SMUV-Präsidentin Christiane Brunner und GBI-Präsident Vasco Pedrina einen Schlichtungsversuch unternahm und dass der Einlass zur tumultartigen Generalversammlung der Volkshausgenossenschaft von Sicherheitskräften überwacht wurde?

Ums Volkshaus ist es in den letzten Jahren ruhiger geworden. Politik ist vor allem noch mit der Arbeit der Gewerkschaft Unia verbunden. Ansonsten ist das Haus beziehungsweise das Restaurant Toscana vor allem für eine ausgezeichnete italienische Küche bekannt. Eigentlich schade, angesichts der reichen Tradition dieses Hauses.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Robert Schwarzer, bis 2023 Präsident der Volkshausgenossenschaft

7
8

Ein Konvolut von 161 historischen Akten, 2019 aufgefunden, bringt erstmals Licht in die Entstehungsgeschichte des St. Galler Volkshauses.

PROLOG

Es wurde dort errichtet, wo es heute noch steht: das Volkshaus an der Lämmlisbrunnenstrasse 41 in St. Gallen. Ein stolzes, steinernes Zeugnis der st. gallischen Arbeiterbewegung. In den 125 Jahren seines Bestehens hat es sich – wenigstens äusserlich – nur wenig verändert: im Parterre ein Restaurant, in den mittleren Etagen Gewerkschaftsbüros, oben Wohnungen. Doch das Äussere täuscht. Die Liegenschaft birgt eine wechselvolle Geschichte, von der aber nicht allzu viel bekannt ist. Die Entstehung des Volkshauses blieb bis jetzt ebenso im Dunkeln wie seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Das lag hauptsächlich an den fehlenden Quellen. Zwar existieren Berichte aus der zeitgenössischen Presse, doch die interessanten Primärquellen blieben während Jahren unauffindbar.

Das änderte sich 2019. Dank intensiver Suche gelang im Estrich des Volkshauses, zuhinterst in einem unscheinbaren Schrank, ein bedeutsamer Fund: Ans Licht kamen die Protokollbücher des Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins – der Bauherr und erster Träger des Gebäudes war, bevor es zu einem eigentlichen Volkshaus wurde – sowie weitere Dokumente. Diese Originalquellen ermöglichen es nun, die Entstehungsgeschichte des Hauses nachzuzeichnen und damit jenes Ortes, der in St. Gallen während Jahrzehnten als gewerkschaftliche, politische und kulturelle Zentrale diente. Der Fund dieser Quellen gab denn auch den Anstoss zur Herausgabe dieser Publikation.

Die Geschichte der st. gallischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert ist noch weitgehend ungeschrieben. Louis Speckers bisher umfassendste Darstellung der Ostschweizer Arbeitergeschichte «Links aufmarschieren!» von 2010 reicht nur bis zum Ersten Weltkrieg. Der Jubiläumsband «50 Jahre Volksstimme», 1954 erschienen, wirft erstmals ein Schlaglicht auf die Entwicklung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie im Kanton St. Gallen nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Zeit des Kalten Kriegs. Das Werk ist aber wenig bekannt, weshalb es sich aufdrängte, mit der Aufarbeitung der Entwicklung des Volkshauses nun einen weiteren Markstein zu setzen. Damit ist aber lediglich ein Anfang gemacht. Weder ist diese Volkshausgeschichte erschöpfend noch kann sie einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es ging darum, wichtige Stationen im Schicksal eines Hauses, das stets mehr als nur ein Ge-

9

werkschaftshaus war, im zeitgenössischen Kontext zu beleuchten und so den politischen und gesellschaftlichen Wandel zu dokumentieren. Vertiefte Studien zur Geschichte der St. Galler Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und der mit ihnen verbundenen politischen Parteien und Organisationen im 20. Jahrhundert müssen erst noch folgen.

Auf jeden Fall legt das Volkshaus Zeugnis ab vom Engagement von Menschen, die zeit ihres Lebens soziale Gerechtigkeit und den fundamentalen Wert von Solidarität für die Gesellschaft hochhielten und es nicht für ein Naturgesetz hielten, in einer kapitalistischen Klassengesellschaft mit ungleich verteiltem Reichtum leben zu müssen. Sie konnten sich noch eine gesellschaftliche Alternative vorstellen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Es ist das Verdienst der heutigen Trägerin des Volkshauses, der Volkshausgenossenschaft, sich angesichts des Aktenfunds der historischen Aufgabe gestellt und die Herausgabe dieser Publikation ermöglicht zu haben. Damit kann die Geschichte einer bedeutenden Bewegung für St. Gallen neu erzählt und vor dem Vergessen bewahrt werden. Im Zentrum stehen die Lohnabhängigen, die durch ihrer Hände Arbeit der Textilstadt St. Gallen zu einem Reichtum und Glanz verholfen haben, der in die weite Welt ausstrahlte. Es geht um jene Menschen, die auch am stärksten unter dem fatalen Niedergang der Textilindustrie litten und damit Opfer einer der grössten Wirtschaftskatastrophen wurden, welche die Schweiz je erlebt hat.

Im Volkshaus spiegeln sich die Kämpfe, Konflikte und Ambitionen einer Klasse, die sich ihre politische und soziale Anerkennung über Jahrzehnte hinweg gegen grosse Widerstände erkämpfen musste. Von den Anfängen als Vereinshaus eines Arbeiterbildungsverbands zum eigentlichen Volkshaus und zur Gewerkschaftszentrale, vom politischen Dreh- und Angelpunkt zur kulturell angesagten und später auch kulinarisch beliebten Adresse – das sind die Stationen eines Hauses, das seit 125 Jahren fest zur sozialen Infrastruktur der Stadt gehört. St. Gallen reiht sich mit dem Volkshaus in die zahlreichen Orte in der Schweiz ein, in denen es eine solche Institution gab. Landesweit zählt die historische Forschung an die vierzig Volkshäuser. Ein Grossteil davon entstand in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Ob St. Gallen nun tatsächlich das erste Volkshaus der Schweiz ist, als das es aufgrund seines frühen Baus im Jahr 1899 immer wieder apostrophiert wird, ist im Grunde eine müssige Frage. Sie ist wohl eher einem gewissen st. gallischen Lokalpatriotismus als wirklicher historischer Relevanz geschuldet.

Denn das Gebäude, das an der Lämmlisbrunnenstrasse 41 errichtet wurde, war zu Beginn noch kein Volkshaus im eigentlichen

10

Sinne. Es diente vielmehr als Vereinshaus den Bedürfnissen des Arbeiterbildungsvereins mit einem Restaurant sowie Versammlungs-, Sitzungs- und Veranstaltungsräumen für die verschiedenen Ableger des Vereins: von der Speisegenossenschaft über den Theaterklub bis zum Sängerverein. Eine organisierte Sozialdemokratie, wie wir sie kennen, gab es damals noch nicht, ebenso wenig gefestigte Gewerkschaften. Diese entstanden erst später durch Fusionen der verschiedenen Berufsgruppen. Auch verkehrte keineswegs bereits die gesamte Arbeiterschaft im Vereinshaus. Deren Treffpunkte verteilten sich auf zahlreiche Gaststätten in der ganzen Stadt. Kommt hinzu, dass die Arbeiter-Union, der Zusammenschluss der lokalen Gewerkschaften, zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch längere Zeit Pläne für ein eigenes Volkshaus wälzte, die aber nie umgesetzt werden konnten. Schliesslich übernahmen die Gewerkschaften das Vereinshaus 1929 eher widerwillig, als sich das Ende des überalterten Arbeiterbildungsvereins abzeichnete und klar geworden war, dass kaum mehr Chancen bestanden, selbst ein Volkshaus zu errichten.

Diese Entstehungsgeschichte unterscheidet das St. Galler Volkshaus von anderen Volkshäusern, die direkt aus der Arbeiterbewegung hervorgingen oder, wie etwa in Zürich, gar nicht von dieser, sondern vom aufgeklärten Bürgertum initiiert wurden – einem Bürgertum, das sich genötigt sah, eine sich radikalisierende Opposition durch politisches Entgegenkommen zu neutralisieren. In St. Gallen war die Gründungsgeneration stolz auf das aus eigener Kraft, mit eigenen Handwerkern und Facharbeitern erschaffene Vereinshaus. Das mehrstöckige imposante Gebäude wirft ein Schlaglicht auf die Potenz des Arbeiterbildungsvereins, die heute noch staunenswert erscheint. Die Pioniere wollten zeigen, was sie konnten, und gingen dann mit vereinten Kräften ans Werk. Das Vereinshaus entstand in Rekordzeit, in Eigenregie und ohne finanzielle Hilfe vom Staat. Bis Mitte der 1980erJahre diente es den Gewerkschaften und der mit ihnen verbundenen Sozialdemokratie als gemeinsame Zentrale. In der Stadt galt es als das Haus der Roten. Der Bruch zwischen Gewerkschaften und SP aufgrund politischer Differenzen beendete diese Tradition, nicht aber die Existenz als Gewerkschaftszentrale. Heute, 125 Jahre nach seiner Errichtung, steht das Volkshaus immer noch da, beherbergt mit der Unia die grösste Gewerkschaft des Landes und wird von einer bald hundert Jahre alten Genossenschaft getragen. Das Volkshaus hat sich in dieser Zeit gewandelt – ein in Sandstein gehauenes Symbol der Solidarität ist es geblieben.

11
12

Das St. Galler Vereinshaus an der Lämmlisbrunnenstrasse kurz nach der Fertigstellung im Jahr 1899.

DAS VOLKSHAUS –EINES UNTER VIELEN

Viele Wege führten in der Schweiz zu einem Volkshaus. Sie wurden von Arbeitervereinen, Gewerkschaften oder Bürgerlichen gegründet, waren Genossenschaften oder Stiftungen, wurden neu gebaut oder in bestehenden Liegenschaften eingerichtet, entstanden mit oder ohne öffentliche Subventionen, kamen ohne Plebiszit oder als Folge einer Volksabstimmung zustande, servierten Alkohol oder waren alkoholfrei. Aber allen Projekten war eines gemeinsam: Sie waren «im Kampf geboren, im Kampf geschaffen und dem Kampf geweiht». So lautete die prägnante Formulierung, die Arbeiterführer Robert Grimm in seiner Rede zur Eröffnung des Berner Volkshauses im Oktober 1914 verwendete. Sie erinnert daran, dass Volkshäuser nicht einfach erbaut wurden wie Privatliegenschaften, sondern meist gegen vielfältige Widerstände durchgesetzt werden mussten. Denn in den Augen der bürgerlichen Elite stellten Volkshäuser als Institutionen der aufstrebenden Arbeiterbewegung eine potenzielle Gefahr dar. Dort trafen sich die gefährlichen Klassen, wie es seit Bismarcks Verdikt gegen die damals noch revolutionär gesinnte Sozialdemokratie hiess. Der Verdacht auf revolutionäre Umtriebe war nicht weit.

Solche Ängste dominierten etwa in der Stadt Zürich. Vor dem Ersten Weltkrieg sah ein besorgtes Bürgertum auch in der Schweiz bürgerkriegsähnliche Zustände heraufziehen. Dies bestärkte sozialreformerische Kreise in der Einschätzung, es sei besser, der Arbeiterschaft ein Zentrum für ihre Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen, als einen proletarischen Aufstand wie im zaristischen Russland zu riskieren. So war ausgerechnet das grosse Volkshaus am Helvetiaplatz nicht die Frucht der Arbeiterbewegung, sondern eines politischen Deals, den aufgeklärte Bürgerliche angestrebt hatten. In einer Volksabstimmung im Mai 1906 sagten die Zürcher Stimmberechtigten gleichzeitig Ja zum Bau eines Volkshauses sowie eines Kunsthauses. Dadurch kamen beide Seiten zum Zug. Erst als das (alkoholfreie) Volkshaus mit Restaurant, Sitzungszimmern, Sälen, Bibliothek und Bädern 1910 fertig gebaut war, nahmen es die Gewerkschaften nach und nach in Beschlag und richteten dort ihre Institutionen ein. Das konservative Bürgertum blickte weiterhin mit Argwohn auf diese Stätte. Nichts

13

brachte dies besser zum Ausdruck als eine Bemerkung von General Ulrich Wille im Jahr 1918 kurz vor dem Landesstreik. Wille glaubte, das Volkshaus sei «der Gouvernementspalast der Bolschewikiregierung», wie er sich in einem Brief an den Zürcher Platzkommandanten ausdrückte. Er riet, das Gebäude vorsorglich als Truppenunterkunft zu requirieren. Anders als Wille wähnte, verschanzten sich damals jedoch keine bewaffneten und umsturzbereiten Arbeitermassen im Volkshaus. Seine Vorstellung war bloss eine politische Fiktion.

Bis heute fehlt eine angemessene deutschsprachige Darstellung der Geschichte der Volkshäuser in der Schweiz. Noch immer ragt aus der Literatur ein über vierzig Jahre alter Aufsatz hervor, den Hans Jörg Rieger 1979 im linken Zürcher «Kulturmagazin» publizierte. Unter dem Titel «Volkshäuser in der Schweiz» beleuchtete der Kulturhistoriker die Entstehung und Entwicklung der wichtigsten Institutionen dieser Art aus der kritischen Perspektive der Neuen Linken. Rieger unterscheidet vier Entwicklungsphasen:

■ In der Zeit von 1890 bis 1914 tauchen erste spezielle Arbeiterlokalitäten aus dem Umkreis der Grütli-Bewegung und der Arbeiterbildungsvereine auf, so in Bern, Biel, Winterthur, St. Gallen, Chur und Neuhausen SH, entweder durch Neubau oder durch den Kauf und die Umwandlung von bestehenden Liegenschaften. Der Aufschwung der Arbeiterbewegung nach der Jahrhundertwende führt dann zum Bau der drei grossen Volkshäuser von Zürich, Luzern und Bern.

■ In einer zweiten Phase von 1918 bis 1922 kaufen Genossenschaften vermehrt Liegenschaften, da Neubauten wegen der gestiegenen Land- und Baupreise fast unerschwinglich geworden waren. Sie richten dort Volkshäuser ein, etwa in Solothurn, Wädenswil, Bellinzona, Brig oder Fribourg. In Basel wird 1925 ein neues Volkshaus gebaut.

■ In der dritten Phase um 1930 sorgen rote Stadtverwaltungen dafür, dass neue Versammlungsmöglichkeiten für die Arbeiterbewegung geschaffen werden. Der grosse Konzertsaalanbau ans Zürcher Volkshaus entsteht, sodann das modernistische Limmathaus im Zürcher Industriequartier, das Volkshaus Biel oder das Volkshaus Winterthur.

14

■ In der vierten Phase werden in den 1950er- und 1960er-Jahren zwei neue Volkshäuser errichtet, in Grenchen und Lausanne. Einen Sonderfall stellt laut Rieger das Casa del Popolo in Lugano dar. Die Trägerin war kein linkes, sondern ein christliches Unternehmen.

■ Darüber hinaus gab es einige Restaurants und Gaststätten, die zwar den Namen Volkshaus trugen, aber mit der Arbeiterbewegung wenig zu tun hatten, etwa in Arbon oder Frauenfeld. Diese Beizen initiierte oft die 1918 gegründete Schweizerische Stiftung zur Förderung von Gemeindestuben und Gemeindehäuser. Sie hatte die Einrichtung alkoholfreier Gaststätten zum Ziel und war aus der Abstinenzbewegung hervorgegangen.

Gemäss einer Liste des Westschweizer Autors Mario Scascighini existierten in der Schweiz insgesamt 39 Stätten, die im weitesten Sinne unter den Begriff Volkshaus fallen. Als erstes listet der Autor Biel im Jahre 1891 auf. Dort kaufte der Grütliverein eine Liegenschaft und betrieb sie unter dem Namen Volkshaus. Es folgen Bern 1894 und Luzern 1897, beide wiederum Vorformen der späteren Volkshäuser. An vierter Stelle kommt St. Gallen. Das Haus an der Lämmlisbrunnenstrasse war 1899 das erste neu errichtete, arbeiternahe Vereinsheim, das mit der Zeit zu einem eigentlichen Volkshaus heranwuchs.

So unterschiedlich sie entstanden, so verschieden sahen die neuen Arbeiterzentren aus. Doch kritische Stimmen bemängelten schon damals, dass sich viele Volkshäuser kaum von der herrschenden bürgerlichen Architektur unterschieden. 1910 schrieb die deutsche Revolutionärin Clara Zetkin im Aufsatz «Kunst und Proletariat», dass das geistige Leben der Arbeiterklasse bis jetzt noch nicht den geringsten Ausdruck in der architektonischen Formensprache gefunden habe: «Unsere Gewerkschafts-, Volks- und Geschäftshäuser unterscheiden sich in nichts von irgendwelchen bürgerlichen Geschäfts- oder Verkehrshäusern.» Eine harsche Kritik. Trifft sie auch auf das St. Galler Volkshaus zu? Hans Jörg Rieger schreibt dazu:

«Die Fassade des St. Galler Volkshauses hebt sich mit seinem schlichten Sichtbackstein zwar deutlich von den angrenzenden Prunkfassaden ab, und die dreiachsige Ecklösung verleiht dem Gebäude eine klare Symmetrie und verhaltene Monumentalität, doch genügen diese Merkmale nicht, um von einem eigenständigen Ausdruck sprechen zu können. Es ist eher die Negation der damals verbreiteten grossbürgerlichen Flitterarchitektur, die sich hier durchsetzte.»

15

Dies entsprach durchaus der Geisteshaltung des Bauherrn, handelte es sich doch um den sozialreformerisch ausgerichteten Arbeiterbildungsverein. Sein Bestreben war, der Arbeiterklasse einen Platz in der kapitalistischen Gesellschaft zu verschaffen. Die Beschäftigung mit revolutionären Gegenentwürfen war ihm fremd. Der Wille, alternative Bauformen zu schaffen, fand sich eher in den Plänen zum modernen Bauen des Architekten Moritz Hauser aus dem Jahr 1933, wie sie im Kapitel «Grosse Pläne, grosse Träume» geschildert werden. Hausers Volkshauspläne wurden aber nie umgesetzt und verschwanden in der Schublade.

Immerhin ist das St. Galler Gebäude architektonisch gesehen frei von Anklängen an den damals weit verbreiteten Jugend- und Heimatstil. So weist es im Vergleich zu vielen anderen ein deutlich unterschiedliches Gepräge auf. Mit Restaurant, Sälen, Versammlungsräumen, Sitzungszimmern, Sekretariaten und Bibliothek bestand es sozusagen aus dem eisernen Kern eines typischen Volkshauses. Nie jedoch beherbergte es Bäder wie in Zürich oder Hotelzimmer, die teils in den oberen Stockwerken eingerichtet wurden. Stattdessen wurden Mietwohnungen eingebaut, die heute noch vorhanden sind. Das St. Galler Volkshaus war immer auch ein Wohnhaus mit günstigen Mieten. Und wohl stand das eine oder andere Zimmer in Notfällen für Übernachtungszwecke zur Verfügung.

Was das St. Galler Volkshaus vor allem von anderen unterscheidet, ist seine lange Lebensdauer. 2024 feiert es sein 125-jähriges Bestehen. Die meisten Volkshäuser gerieten in den 1970er-Jahren in Schwierigkeiten. Wichtige Gründe waren die Hochkonjunktur mit ihrem Trend zur Entideologisierung und zum Konsumismus, die langsame Auflösung des klassischen Arbeitermilieus, das Dogma des Arbeitsfriedens mit seiner Demobilisierung der Arbeitnehmenden, die heraufziehende Wirtschaftskrise ab 1974 und wohl auch so manche Misswirtschaft in den Häusern selbst. All dies bescherte den Volkshäusern schwindende Besuchszahlen und betriebliche Probleme. Das grosse Volkshaussterben setzte ein. Viele verschwanden von der Bildfläche, entweder durch Abbruch, Verkauf oder Umnutzung. «Man schämte sich gar des Namens Volkshaus und suchte nach neuen Bezeichnungen», schreibt Hans Jörg Rieger in seinem Aufsatz. Aus dem Volkshaus Solothurn wurde der «Falken», aus Luzern der «Anker» und aus Grenchen das «Touring». 1950 wurde am Helvetiaplatz in Zürich die ursprünglich rote Farbe durch ein Allerweltsgrau ersetzt. Das Berner Volkshaus wurde zum heutigen Hotel Bern, das Basler Volkshaus stark umfunktioniert. In Brig kam es zur Liquidierung, und in Biel meldete das Pioniervolkshaus 1976 Konkurs an,

16

nachdem die charakteristische Rotonde vor allem durch leere Räume aufgefallen war. Anfang der 1980er-Jahre existierten noch rund zwanzig Volkshäuser. Einige lebten recht gut, andere serbelten eher still dahin.

Ausschlaggebend für einen funktionierenden Betrieb war auch die Offenheit der Trägerschaften gegenüber neuen politischen Bewegungen. Stets gab es ein gewisses Misstrauen gegenüber Kreisen, die nicht aus dem engeren Gewerkschaftsumfeld stammten. So stand die Neue Linke in den 1970er-Jahren oft vor verschlossenen Türen. Schon vorher, im Kalten Krieg, war die moskautreue Partei der Arbeit (PdA) von antikommunistisch gesinnten Gewerkschaftsvorständen aus den Volkshäusern verbannt worden. Ähnlich erging es neuen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen wie etwa der Schwulenbewegung, die auf der Suche nach Versammlungsräumen beim Volkshaus anklopfte. Die Homosexuelle Arbeitsgruppe Bern erhielt 1977 keinen Saal, als sie einen Film über die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus zeigen wollte – aus Furcht, die Stammgäste könnten Anstoss nehmen. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), teils auch autonome Gruppierungen sahen sich in eine ähnliche Lage versetzt. Die St. Galler Volkshausgenossenschaft bekundete zwar ebenfalls Mühe mit Spontis aus dem Umfeld der Post-68er (siehe Kapitel «Die Neue Linke zieht ein»), und die PdA und ebenso die GSoA galten zeitweise als unerwünschte Gäste. Doch insgesamt herrschte ein eher pragmatischer als ideologischer Geist. Das Volkshaus bot vielen Gruppierungen Platz, die nicht zum traditionellen Gewerkschaftsmilieu zählten. Dies trug dazu bei, dass sich das Haus länger als anderswo als Ort des lebendigen politischen Austauschs behaupten konnte.

17
18

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.