Kindheit in der Ostschweiz

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Neujahrsblatt 164 (2024)

Herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St. Gallen in Zusammenarbeit mit dem Kulturmuseum St. Gallen

Kindheit

in der Ostschweiz

• Archäologie

• Denkmalpflege

• Vereine

St.

Gallen 2024

Folgende Institutionen haben die Herausgabe dieser Publikation unterstützt:

– Walter und Verena Spühl-Stiftung, St. Gallen

– Susanne und Martin Knechtli-Kradolfer-Stiftung, St. Gallen

– Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung, St. Gallen

– Steinegg Stiftung, Herisau

– Gesellschaft Pro Vadiana, St. Gallen

– Hans und Wilma Stutz Stiftung, Herisau

Umschlagbilder

Vorderseite: Drei Weieren in St. Gallen (Knabenweiher).

StadtASG, PA Foto Gross, BA 2761.

Rückseite: Klosterplatz in St. Gallen, 1979.

StASG, ZMA 15-2.28.

Impressum

© 2024, Historischer Verein des Kantons St. Gallen und Kulturmuseum St. Gallen

Redaktion: Monika Mähr

Redaktionskommission: Dorothee Guggenheimer, Regula Haltinner-Schillig, Clemens Müller, Marcel Müller, Peter Müller, Arman Weidenmann, Regula Zürcher

Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich.

Satz: Verlag FormatOst, Schwellbrunn

Auslieferung und Bezugsstelle: Verlagshaus Schwellbrunn, Schwellbrunn

formatost.ch

ISBN 978-3-03895-060-8

ISSN 0257-6198

7 Lukas Gschwend und Dorothee Guggenheimer Vorwort

8 Monika Mähr

Einleitung

Die Kinderstube – Familienalltag und Spielwelten

12 Rebecca Nobel

Kindheit: Eine archäologische Spurensuche

18 Monika Mähr

Stationen im Kinderleben

33 Judith Thoma

«Kleine Welt, bunte Welt» – Erinnerungen ans Familienleben

43 Oliver Ittensohn

Die grosse Welt ganz klein. Zur Geschichte des Spielzeugs in der Stadt St. Gallen

59 Jost Kirchgraber

Bäuerliches Spielzeug von einst

Das Kinderheim – Aufwachsen unter besonderen Umständen

70 Noëmi Schöb

Umgang mit Waisen und ungehorsamen Kindern in der Frühen Neuzeit –Kinder im Zucht- und Waisenhaus St. Leonhard im 17. Jahrhundert

81 Susi Noger

Jedem Kind ein verlässliches Zuhause – Pflegekinder in der Ostschweiz

87 Hans-Peter Amann

«Jugendliche auf Um- und Abwegen» – Geschichtliches und Aktuelles zum St. Galler Jugendheim Platanenhof in Oberuzwil

Die Kleiderkammer – Sonntagsgewand und Alltagskleider

98 Monika Mähr

St. Galler Kindermode und Kinderporträts vom Barock bis zur Belle Époque

Die Krankenstation – Gesundheitsfragen und Kinderwohl

127 Arnold Bächler

Kindergesundheit und Erziehungsparadigmen im Wandel der Zeit

Das Schulzimmer – Ausbildung und Architektur

139 Clemens Müller

Die Anfänge der Mädchenbildung in St. Gallen im 16. und 17. Jahrhundert

153 Peter Erhart

Von der Villa am Comersee ins Rorschacher Seminar –Die geraubte Jugend des Luigi Sfondrati

167 Monika Mähr

Bauen für Kinder – Das Volksschulhaus als neue Aufgabe im jungen Kanton St. Gallen

173 Katrin Eberhard

Aufgewachsen in der Hochkonjunktur: Schulbauten der Boomjahre

183 Oliver Ittensohn und Vera Zürcher

Die vergessene Kunst der Klassenfotografie

Inhalt

Das Fantasiereich – Lesekultur

195 Michael Zwicker

«Bilde dich zu dem nützlichsten, geschicktesten und weisesten Weltbürger und Patrioten» oder Eine Lesebibliothek aus der Aufklärungszeit für die Jugend der Stadt St. Gallen

203 Marcel Müller

Vom Schund zum Schulstoff: Comics!

Der Freiraum – Freizeitbeschäftigungen

211 Vera Zürcher

Kinderkörper in Bewegung – Kinder- und Jugendsport in historischer Perspektive

225 Judith Thoma

Arbeitseinsätze und Freizeitverdienst – Alltagserlebnisse von Kindern aus der Stadt St. Gallen

Der Erinnerungsort – Leben und Tod

233 Monika Mähr

Verlust, Trauer, Hoffnung – Kindersterblichkeit und Umgang mit dem Tod

242 Verzeichnis der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

244 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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264

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Martin Peter Schindler

Kantonsarchäologie St. Gallen, Jahresbericht 2023

Moritz-Flury-Rova

Denkmalpflege des Kantons St. Gallen, Jahresbericht 2023

Matthias Fischer

Denkmalpflege der Stadt St. Gallen, Jahresbericht 2023

Jahresberichte 2023 der regionalen Geschichtsvereine

280 Peter Müller | Kulturhistorischer Verein der Region Rorschach

282 Werner Kuster | Verein für die Geschichte des Rheintals

284

287

289

Sonja Arnold | Museumsverein Prestegg

Susanne Keller-Giger | Historischer Verein der Region Werdenberg (HVW)

Mathias Bugg | Historischer Verein Sarganserland

291 Ernst Grob | Fokus Toggenburg – Verein für Heimatkunde

293

296

298

300

302

Alex Dillinger | Kunst- und Museumsfreunde Wil und Umgebung

Patricia Holder | MUSA Museen Kanton St. Gallen

Markus Frick | Genealogisch-Heraldische Gesellschaft Ostschweiz

Judith Grosse | Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz

Dorothee Guggenheimer und Lukas Gschwend | Historischer Verein des Kantons St. Gallen

305 Verzeichnis bisheriger Neujahrsblätter

Vorwort

Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser

Das Neujahrsblatt 2024 des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen ist in Kooperation mit dem Kulturmuseum St.Gallen entstanden. Diese Zusammenarbeit freut uns sehr, zählt die Vernetzung doch zu unseren Kernaufgaben. Besonders gross ist die Freude darüber, dass sie in so produktiver Weise mit dem Kulturmuseum – dem früheren Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen – stattfinden konnte. Die Anfänge dieses Museums bzw. seiner kulturhistorischen Sammlung im Jahr 1862 gehen nämlich auf die Initiative des Historischen Vereins zurück.

Das 164. Neujahrsblatt ist dem Thema «Kindheit in der Ostschweiz» gewidmet. Unter anderem zeigen Historikerinnen und Historiker, Fachpersonen aus den Bereichen Architektur, Pädiatrie und aus sozialen Institutionen in dieser Publikation auf, dass die Lebensphase der Kindheit in historischer Perspektive einem enormen Wandel unterlag. In den Beiträgen werden die verschiedenen Umstände, unter denen Kinder lebten, thematisiert. Die Kindheit war beispielsweise geprägt davon, ob sie im ländlichen oder urbanen Raum stattfand, ob Kinder bei ihren Herkunftsfamilien oder bei Pflegefamilien lebten, ob sie in einem Waisenhaus oder einer Erziehungsanstalt untergebracht waren.

Auch die Vorstellungen von Kindheit unterlagen einem Wandel, wie Beiträge zu Kindermode und -porträts, Spielsachen und Schulhausarchitektur aufzeigen. Ebenfalls wird der Aspekt der schulischen Bildung – nicht nur, aber auch von den diesbezüglich über Jahrhunderte deutlich schlechter gestellten Mädchen – thematisiert.

Für die weit- und umsichtige Redaktionsarbeit danken wir Monika Mähr vom Kulturmuseum St.Gallen herzlich. Den Autorinnen und Autoren sowie den Mitgliedern der Redaktionskommission gebührt ebenfalls unser grosser Dank. Daniela Saravo vom Appenzeller Verlag sei für die Gestaltung und die stets erfreuliche Zusammenarbeit herzlich gedankt.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende Lektüre!

Für den Vorstand des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen Lukas Gschwend und Dorothee Guggenheimer

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Einleitung

Es ist nicht das erste Mal, dass der Historische Verein des Kantons St.Gallen und das Kulturmuseum (früher Historisches und Völkerkundemuseum) auf eine wertvolle und befruchtende Zusammenarbeit blicken können. Die Gründung der kulturhistorischen Sammlung 1862 geht auf die Initiative des Vereins zurück, und die Neujahrsblätter haben im Lauf der Zeit immer wieder Themen aufgenommen, die im Museum in einer Ausstellung gewürdigt wurden. Sich dem Kinderleben in der Ostschweiz zu widmen, ist seit langem ein Desiderat. Das letzte Neujahrsblatt, das sich mit einem Aspekt der Kindheit – nämlich der ostschweizerischen Schulgeschichte – befasste, datiert ins Jahr 2002. Seit 2007 gibt es im Kulturmuseum ein Kindermuseum, das anhand von Spielsachen aus verschiedenen Generationen einen Einblick in vergangene Lebenswelten der Kinder gewährt und den Besucherinnen und Besuchern auf spielerische Weise St.Galler Alltagsgeschichte näherbringt.

Mit dem Erscheinen der 164. Ausgabe des Neujahrsblatts 2024 ist eine grosse Ausstellung verbunden: Kindheit in der Ostschweiz. Das Kulturmuseum hat einen reichen Fundus an Erinnerungsstücken aus der Kindheit, die in drei Beiträgen vorgestellt werden. Auch Spielsachen aus der ländlichen Region mit Beispielen aus dem Toggenburger Museum und dem Museum Ackerhus werden präsentiert. Zusätzlich zu diesen nicht nur haptischen, sondern

auch berührenden Objekten ist es dank der Kooperation mit Historikerinnen und Historikern, einer Archäologin, einer Architektin, einem Heimleiter, einem Kinderarzt und weiteren erfahrenen Fachpersonen möglich geworden, dass neben diesen Ausstellungsstücken interessante schriftliche und gedruckte Quellen, reiches Fotomaterial sowie archäologische Fundberichte ausgewertet werden konnten und zusammen mit erzählten Lebensgeschichten hier zusammenfinden.

Die Ausstellung und dieser Band werfen Streiflichter auf die Ostschweizer Geschichte und decken nicht alle Facetten ab. Dafür sei das Grundlagenwerk «Kind sein in der Schweiz – Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre» empfohlen, herausgegeben von Paul Hugger, ehemaliger Professor für Volkskunde. Die Ausstellung im Kulturmuseum und mit ihr diese Beiträge werfen einen Blick in verschiedene «Räume» der Kindheit. Die «Kinderstube» befasst sich mit dem Familienleben und dem ganzen Kosmos an kindergerechten Gegenständen wie Kindermöbel, Kindergeschirr oder Spielsachen. Diesem Raum gegenüber steht das «Kinderheim», das vom Aufwachsen unter speziellen Bedingungen erzählt, sei es in einem Heim oder in einer Pflegefamilie. In der «Kleiderkammer» wird Kindermode vom Säuglingsalter bis zur Jugend mit Beispielen aus verschiedenen Jahrhunderten vorgestellt. Der «Erinnerungsort» widmet sich der früher hohen Kindersterblichkeit

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Kinder in der Primarschule St. Gallen-Bruggen, um 1930. Privatbesitz

mit vielen berührenden Andenken. Weiter geht es in der «Krankenstation» um das Heilen von Kinderkrankheiten und die Entwicklungen in der Medizin und Erziehung. Das «Fantasiereich» setzt einen Schwerpunkt auf Kinderliteratur, und der «Freiraum» befasst sich mit Freizeit und Sport, wirft aber auch einen Blick auf Nebenverdienste, mit denen Kinder zum Familieneinkommen beitrugen. Ein wichtiger und prägender Raum der Kindheit folgt zuletzt mit dem «Schulzimmer» mit zwei Beiträgen zur Mädchenbildung in St.Gallen und zum Seminar in Rorschach. Ausserdem werden Klassenfotos untersucht und ein Blick auf die Entwicklung der Schulhausarchitektur im Kanton St. Gallen geworfen.

Ein weiterer Impulsgeber für die Realisierung der Ausstellung und des Neujahrsblatts ist ein Oral History-Projekt. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen darin von ihrer Kindheit in Stadt und Region St.Gallen. Ein erster Schritt für die Realisierung dieser Idee war ein durch das Kulturmuseum veröffentlichtes Zeitungsinserat zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühling 2020. Es rief Menschen im Pensionsalter, die zu Hause bleiben sollten, dazu auf, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben und dem Kulturmuseum zu schicken. Daraus entwickelte sich die Idee zu einem digitalen Erinnerungsarchiv mit Filminterviews, das als «Transformationsprojekt» von Bund und Kanton unterstützt wurde. Erzählungen von älteren und mittler-

weile auch ganz jungen Menschen gewähren einzigartige Einblicke in die Kindheit der letzten Jahrzehnte. Sie ergänzen die wissenschaftlichen Beiträge durch ihre lebensnahen Schilderungen. Für die feinfühlig und respektvoll geführten Interviews danke ich der Historikerin Judith Thoma. Weiter danke ich allen Autorinnen und Autoren: vom Staatsarchiv St.Gallen Marcel Müller, vom Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St.Gallen Oliver Ittensohn und Vera Zürcher, vom Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen Noëmi Schöb, von der Kantonsbibliothek (Vadiana) St.Gallen Michael Zwicker und vom Stiftsarchiv St.Gallen Peter Erhart. Als freie Mitarbeitende wirkten Katrin Eberhard, Arnold Bächler, Hans-Peter Amann, Susi Noger, Rebecca Nobel, Jost Kirchgraber und Clemens Müller mit. Ohne sie alle wäre dieses Neujahrsblatt nicht möglich gewesen. Einen weiteren grossen Dank möchte ich dem Historischen Verein und seiner Redaktionskommission aussprechen, insbesondere Co-Präsidentin Dorothee Guggenheimer, sowie dem Lektor Markus Zweifel. Ebenso verdienen alle Gönnerinnen und Gönner, welche die Ausstellung und das Neujahrsblatt grosszügig unterstützt haben, unseren Dank.

Monika Mähr, Kuratorin für Kulturgeschichte Kulturmuseum St.Gallen, im Frühling 2024

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Spielen zuhause, um 1960. StadtASG, PA Foto Gross, TA 31236-3.
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Kindheit: Eine archäologische Spurensuche

Wonach nicht gesucht und nicht gefragt wird, das bleibt oft unsichtbar und unerforscht. So geschah es auch mit der Rolle der Kinder in der Urgeschichte. In der archäologischen Forschung wurde sie lange kaum beachtet. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die archäologische Kindheitsforschung und zeigt archäologische Entdeckungen, die vom Leben und teilweise auch vom frühen Tod der Kinder während der Ur- und Frühgeschichte in der Region des heutigen Kantons St. Gallen zeugen.

Einleitung

Die Archäologie beschäftigt sich mit der gesamten Fülle menschlicher Erfahrungen und Handlungen in der Vergangenheit. Sie geht den Fragen nach, wie die Menschen lebten, überlebten und sich ernährten, wie sich eine Gesellschaft organisierte und die Menschen darin zusammenlebten oder welche Glaubensvorstellungen sie hatten. Für weite Abschnitte der Menschheitsgeschichte gibt es keine Schriftquellen, die zur Beantwortung dieser Fragen beigezogen werden könnten. Was bleibt sind die materiellen Hinterlassenschaften früherer Menschen. Zur Beantwortung archäologischer Fragestellungen stehen der Forschung sowohl geistes- und sozialwissenschaftliche als auch naturwissenschaftliche Methoden zur Verfügung.

Archäologische Kindheitsforschung

Die theoretische archäologische Kindheitsforschung entwickelte sich im Zuge der feministischen Archäologie und der archäologischen Gender Studies.1 Die Rolle der Kinder fand erstmals in den 1970er und 1980er Jahren in archäologischen Artikeln Beachtung.2 Als eigentlicher Auftakt der urgeschichtlichen Kindheitsforschung gilt der Aufsatz von Grete Lillehammer «A Child is Born. The Child’s World in an Archaeological Perspective», der 1989 erschienen ist.3 Lillehammer legte offen, dass Kinder in der archäologischen Forschung bis dahin zu wenig Beachtung fanden und plädierte dafür, dass sowohl die direkten Nachweise als auch die indirekten Nachweise für Kinder untersucht werden sollten.4 Als direkte Nachweise gelten sterbliche Über-

reste aber auch Gegenstände wie beispielsweise Spielsachen. Indirekte Nachweise erschliessen sich durch historische oder ethnografische Vergleiche.

Blick in eine jungsteinzeitliche Seeufersiedlung: Das Lebensbild zeigt Kinder und Jugendliche, die aktiv am Geschehen im Dorf mitwirken.  atelier bunter hund, Zürich, 2018.

Die fehlende Auseinandersetzung mit der Rolle der Kinder in der Urgeschichte zeigte sich auf zahlreichen archäologischen Lebensbildern, Schulwandbildern etc., die Kinder als «Statisten in der Welt der Erwachsenen» darstellten.5 Im Zentrum des Geschehens standen Erwachsene, häufig Männer. Kindern und Jugendlichen wurde eine untergeordnete Rolle beigemessen, wenn es um die Ausführung von Tätigkeiten wie dem Jagen, der Landwirtschaft oder dem Herstellen von Gegenständen, kurz: um das Erbringen von Leistungen, ging. Die Kindheit gilt heute als eine Zeit des Spielens, Beobachtens und Erlernens, und die Integration ins Arbeitsleben erfolgt im Vergleich zu historischen und heutigen traditionalen Gesellschaften spät.6 Dieses moderne Verständnis von Kindheit kann nicht ohne weiteres auf die Vergangenheit übertragen werden. Die archäologische Forschung geht davon aus, dass sich die demografischen Verhältnisse in der Urgeschichte wesentlich von jenen heutiger westlicher Gesellschaften unterschieden. So nimmt man an, dass Kinder und Jugendliche spätestens ab der Jungsteinzeit einen Grossteil der Bevölkerung ausmachten.7 Der Anteil der unter 14jährigen wird auf 40–50 Prozent der Bevölkerung geschätzt.8 Zum Vergleich: In der Stadt St.Gallen waren im Jahr 2022 nur rund 18% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt.9 Der Anteil der unter 14jährigen ist demnach noch geringer. Weiter wird angenommen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung während der Urgeschichte deutlich tiefer lag als in modernen Gesellschaften. Dies liegt u.a. an der hohen Kindersterblichkeit, die auch in historischer Zeit noch belegt ist. Für das frühe Mittelalter wird eine Kindersterblichkeit von etwa einem Drittel angenommen.10 Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Bewältigung der täglichen Arbeiten zur Sicherung der Existenz ohne die Mithilfe von Kindern und Jugendlichen möglich war. Neuere archäologische Lebensbilder zeigen nun nicht nur vermehrt Frauen und ältere Menschen, sondern vor allem auch Kinder und Jugendliche, die sich aktiv am Geschehen beteiligen.

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Spuren von Kindern?

Wenn Kinder und Jugendliche in der Urgeschichte einen grossen Teil der Bevölkerung ausmachten, wie konnten sie so lange übersehen werden? Müssten nicht deutlich mehr Gegenstände auf Kinder hinweisen? Um sich mit diesen Fragen zu befassen, muss geklärt werden, wie die Begriffe «Kind» bzw. «Kindheit» definiert werden. Die Archäologin Brigitte Röder beschrieb es wie folgt: «Wie das Alter, so hat auch Kindheit eine biologische und eine soziale Dimension. Sie ist zum einen eine Zeit des biologischen Wachstums, schneller psychosozialer Reifung und des intensiven Lernens. Zum andern ist Kindheit auch eine soziale Kategorie von großer innerkultureller und kultur übergreifender Variabilität.»11 Der Begriff Kindheit hat folglich mehrere Dimensionen. Das soziale Alter ist ein kulturelles Konstrukt.

Der direkteste Nachweis für Kinder ist sicherlich bei der Untersuchung von Skeletten möglich. In der anthropologischen Altersbestimmung von Skeletten wird u.a. folgende Einteilung verwendet:12

Infans 1 0 – 6 Jahre

Infans 2 7 – 12 Jahre

Juvenis 13 – 20 Jahre

Adultas 20 – 40 Jahre

Maturitas 40 – 60 Jahre

Senilis 60 – ∞ Jahre

Aus heutiger Sicht werden Personen der ersten beiden Kategorien als Kinder und Personen der dritten Kategorie als Jugendliche bezeichnet. Wenn davon ausgegangen wird, dass Kinder spätestens seit der Jungsteinzeit einen grossen Beitrag zur Sicherung der Lebensgrundlagen geleistet haben,13 muss sich dies aber auf ihre soziale Rolle ausgewirkt haben. Wurde also eine junge Person als Kind betrachtet, wenn sie bereits einen Grossteil der Arbeiten erledigte, die auch biologisch erwachsene Personen ausführten? Selbst wenn die anthropologische Bestimmung eines urgeschichtlichen Skeletts ergibt, dass es sich beim verstorbenen Individuum um ein 10jähriges Kind handelte: Welche soziale Rolle es in seiner Gemeinschaft einnahm, ist meist nicht bekannt.

Nebst dem eindeutigen Nachweis von Kindern durch ihre sterblichen Überreste gibt es auch Fundobjekte, die üblicherweise mit Kindern in Verbindung gebracht werden. Dazu zählen beispielsweise Miniaturgegenstände wie sehr kleine Keramikgefässe oder Tierfiguren aus Ton. Sie werden häufig als mögliches Kinderspielzeug angesprochen. Auch sogenannte «Kuriosa» wie Tonrasseln und Sauggefässe oder Schmuck und allgemein Gegenstände in kleinem Format werden oft mit Kindern assoziiert.14 Solche Fundstücke sind vergleichsweise selten. Auch viele Gegenstände des täglichen Gebrauchs müssen von Kindern und Jugendlichen hergestellt und benutzt worden sein, auch wenn sich dies nur in seltensten Fällen nachweisen lässt.15

Archäologische Spuren von Kindern im Kanton St. Gallen

Archäologische Spuren von Kindern zu untersuchen ist anspruchsvoll. Sei es, weil Skelette von Kindern oft schlechter erhalten sind als diejenigen von Erwachsenen oder weil Spuren von Kindern schwierig zu erkennen und zu interpretieren sind. Trotzdem können an dieser Stelle einige archäologische Entdeckungen vorgestellt werden, die Einblicke in und Hinweise auf das Leben der Kinder während der Ur- und Frühgeschichte im Kanton St. Gallen geben.

Ein aussergewöhnlicher Fund eines Kindes stammt aus Kempraten, Rapperswil-Jona. In der für ihre römischen Funde bekannten Ortschaft wurde 1980 ein jungsteinzeitliches Steinkistengrab entdeckt. Darin war eine Frau bestattet, die zum Todeszeitpunkt etwa 35 Jahre alt war. In der Bauchregion des Skelettes lagen die Knochen eines noch ungeborenen Kindes. Die Frau war mit einer Kette aus Tierzähnen und Muscheln sowie mit einer Knochenahle bestattet worden.16

Ebenfalls in Kempraten wurden sterbliche Überreste von Neugeborenen aus römischer Zeit entdeckt. In der

Säuglingsbestattung im römischen Eschenz, Kanton Thurgau. Oben eine Aufnahme der Fundsituation und unten eine Rekonstruktion mit den originalen Holzschindeln. Amt für Archäologie Thurgau, archaeologie.tg.ch.

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sollten.17

römischen Epoche war es üblich, dass verstorbene Neugeborene innerhalb der Siedlung, beispielsweise innerhalb von Wohnhäusern, bestattet wurden. Aus Schriftquellen geht hervor, dass Kinder bis zum Alter von 40 Tagen unter den Traufrinnen von Häusern begraben werden sollten. Bestattungen innerhalb von Gebäuden sind auch in der römischen Kleinstadt am Zürichsee nachgewiesen. Säug lingsbestattungen aus Tasgetium, dem heutigen Eschenz, belegen, dass die verstorbenen Kinder teilweise sorgfältig in Tücher gewickelt und in mit Tannenschindeln ausge kleidete Gruben gelegt wurden.18 Ein solcher Nachweis ist allerdings nur bei sehr guten Erhaltungsbedingungen mög lich. Einen anderen Umgang mit verstorbenen Neugebo renen zeigt ein Fund aus Augusta Raurica, wo mehrere Säuglingsskelette in einem Brunnenschacht entdeckt wur den, der auch Abfall und Tierkadaver enthielt.19

SäugausgemögNeugebowurdarstelZu-

Aus dem römischen Kempraten stammen nicht nur Zeugnisse des frühen Todes, sondern auch Objekte aus dem Leben von Kindern. So gibt es Terrakotta-Figürchen aus Pfeifenton, die stillende Muttergottheiten mit Kind im Korbstuhl sitzend oder die Büste eines Knaben darstel len.20 Die Figürchen standen wohl in einem religiösen Zu sammenhang.

Terrakotta-Figürchen aus Pfeifenton aus der römischen Kleinstadt Kempraten. Sie zeigen stillende Muttergottheiten und die Büste eines Knaben. Kantonsarchäologie St. Gallen.

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Fragment eines römischen Dachziegels mit dem Fussabdruck eines Kindes. Kantonsarchäologie St. Gallen.

Inschriftenfragment aus der römischen Villa Wagen, Salet. «Masclus hat dem Sohn erlaubt hinüber zu …». Das Graffito bleibt ein Rätsel. Kantonsarchäologie St. Gallen.

Besonders faszinierend sind Hand- und Fussabdrücke, da diese die früheren Menschen fassbar machen. Auf römischen Dachziegeln, die im noch ungebrannten Zustand zum Trocknen am Boden ausgelegt wurden, finden sich neben allerlei Tierspuren auch Fussabdrücke von Menschen. In Kempraten kam ein Leistenziegel zum Vorschein, auf dem sich die Fussspur eines Kindes befindet. Ob es in der Ziegelei arbeitete, spielend umher rannte oder gar absichtlich auf den feuchten Ton stand, bleibt ungewiss.

Auch das Inschriftenfragment aus der römischen Villa von Wagen-Salet wirkt vertraut. Mit einem spitzen Gegenstand hat jemand in die rote Wandbemalung des Gebäudes folgende Worte eingeritzt: « Masclus permisit nato tran …» übersetzt «Masclus hat dem Sohn erlaubt hinüber zu…». Der Satz ist unfertig, ob er je vollendet wurde, ist nicht nachweisbar.21 Wer Masclus oder der Sohn waren, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob der Sohn selbst oder eine andere Person den Satz in die Wand eingeritzt hat.

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Auch aus dem Frühmittelalter gibt es Spuren von Kindern. Bei Ausgrabungen in der Pfarrkirche St.Peter und Paul in Mels im Jahr 1978 konnten Mauerzüge der ältesten Kirche im Kanton St.Gallen untersucht werden. Die Kirche stammt aus dem 6. Jahrhundert und enthielt mehrere Gräber, die zum Teil mit qualitätvollen Beigaben ausgestattet waren. Nebst einer silbernen Sporengarnitur und einem Silberring mit Monogramm in Gräbern von Männern oder silbernen Rosetten für eine Haube und einer Glasperlenkette im Grab einer Frau fanden sich auch aufwendig gefertigte Kämme aus Bein in Gräbern von Männern und Frauen, die auf die Bedeutung der Haartracht hinweisen. Die Lage innerhalb der Kirche sowie die edlen Beigaben belegen, dass es sich bei den Verstorbenen um Mitglieder der romanischen Oberschicht handelte.

Unter den Gräbern fanden sich drei Kinderbestattungen, wovon zwei ebenfalls mit Beigaben ausgestattet wa-

ren. Im Grab eines ca. vierjährigen Kindes befand sich ein Beinkamm. Das andere, ebenfalls etwa vierjährige Kind war mit einer römischen Bronzemünze und zwei Fragmenten eines gläsernen Gefässhenkels bestattet. Die Münze sowie eine Scherbe lagen zusammen mit Rötelspuren und nicht näher definierten Pflanzenresten in den Überresten eines Lederbeutels.22 Aufgrund des geringen Alters der Kinder kann davon ausgegangen werden, dass sie den sozialen Status ihrer Eltern geerbt hatten. Grundsätzlich ist es aber auch denkbar, dass ältere Kinder bereits selbst einen gewissen Status in ihrer sozialen Gruppe erreicht oder einen solchen durch Faktoren wie etwa Geburt zu einem bestimmten Zeitpunkt erlangt hatten.

Die archäologische Kindheitsforschung steckte lange in den Kinderschuhen. Nach und nach findet das Thema aber mehr Beachtung, und verbesserte Grabungsmethoden und die moderne Forschung ermöglichen es, ein immer genaueres Bild der Vergangenheit zu zeichnen.

Anmerkungen

1 Röder 2010, S. 10–11.

2 Crawford, Hadley, Shepherd 2018, S. 4.

3 Lillehammer 1989.

4 Crawford, Hadley, Shepherd 2018, S. 4.

5 Röder 2002, S. 103.

6 Röder 2010, S. 9.

7 Röder 2017, S. 26.

8 Nach Röder 2017, S. 26.

9 https://www.stadt.sg.ch/content/dam/dokument_library/ statistik/b01/B01_WBV_05_Alter.pdf

10Schoch 2003, S. 220.

11Röder 2010, S. 15.

12Nach Herrmann et al. 1990, S. 52.

13Röder 2017, S. 28.

14Nach Röder 2017, S. 27.

15Röder 2017, S. 28.

16Steinhauser 2003, S. 82

17Krausse 1998, S. 333.

18Benguerel et al. 2012, S. 85.

19Pfäffli 2013, S. 12–13.

20Hollenstein 2003, S. 130–131.

21Hollenstein 2003, S. 135.

22Grüninger et al. 1988, S. 155–166.

Literatur

Benguerel, Simon / Brem, Hansjörg / Ebneter, Irene / Ferrer, Montserrat / Hartmann, Benjamin / Leuzinger, Urs / Müller, Christoph / Rast-Eicher, Antoinette / Rühling, Susanne / Schweichel, Roswitha / Spangenberg, Jorge. Tasgetium 2, die römischen Holzfunde. Archäologie im Thurgau 18 (Weinfelden 2012).

Crawford, Sally / Hadley, Dawn M. / Shepherd, Gillian. The Archaeology of Childhood: The Birth and Development of a Discipline, in: Sally Crawford (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Archeology of Childhood, Oxford 2018, S. 3–37.

Grüninger, Irmgard / Kaufmann, Bruno / Schoch, Willi / Scheidegger, Siegfried. Ausgrabungen in der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Mels SG, in: Archäologie der Schweiz. Band 11 (4/1988). S 155–166. Herrmann, Bernd / Grupe, Gisela / Hummel, Susanne / Piepenbrink, Hermann / Schutkowski, Holger. Prähistorische Anthropologie, Leitfaden der Feld- und Labormethoden, Berlin, Heidelberg 1990.

Hollenstein, Lorenz. Die Römerzeit: «vicus» – «villa» – «via», in: SanktGaller Geschichte 2003. Frühzeit bis Hochmittelalter, St. Gallen 2003, S. 119–142.

Müller-Karpe, Andreas / Brandt, Helga / Jöns, Hauke / Krausse, Dirk / Wigg, Angelika (Hrsg.).

Krausse, Dirk. Infantizid, Theoriegeleitete Überlegungen zu den ElternKind-Beziehungen in ur- und frühgeschichtlicher und antiker Zeit, in: Müller-Karpe, Andreas / Brandt, Helga / Jöns, Hauke / Krausse, Dirk / Wigg, Angelika (Hrsg.), Studien zur Archäologie der Kelten, Römer und Germanen in Mittel- und Westeuropa, Rahden, Westfalen 1998, S. 313–352.

Lillehammer, Grete. A Child is Born. The Child’s World in an Archaeological Perspective, in: Norwegian Archaeological Review Nummer 22 (2/1989). S. 89–150.

Pfäffli, Barbara. Kinder? Kinder! Auf Spurensuche in Augusta Raurica. Augster Museumshefte 34, Augusta Raurica 2013.

Röder, Brigitte. Die vergessene Mehrheit der Bevölkerung: Kinder, Frauen und alte Menschen, in: Röder, Brigitte / Bolliger Schreyer, Sabine / Schreyer, Stefan (Hrsg.), Archäologie in der Schweiz. Lebensweisen in der Steinzeit, Baden 2017, S. 26–29.

Röder, Brigitte. Perspektiven für eine theoriegeleitete prähistorische Kindheitsforschung. Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. Band 140, 2010, S. 1–22.

Röder, Brigitte. Statisten in der Welt der Erwachsenen: Kinder auf archäologischen Lebensbildern, in: Alt, Kurt W. / Kemkes-Grottenthaler, Ariane (Hrsg.), Kinderwelten, Anthropologie-GeschichteKulturvergleich, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 95–105.

Schoch, Willi. Zeiten der Wanderungen – Blüte des Mönchstums –Vorherrschaft des Adels, in: Sankt-Galler Geschichte 2003. Frühzeit bis Hochmittelalter, St. Gallen 2003, S. 189–261.

Steinhauser, Regula. Von den Neandertalern im Drachenloch bis zu den Alamannen im Thurtal, in: Sankt-Galler Geschichte 2003. Frühzeit bis Hochmittelalter, St. Gallen 2003, S. 15–86.

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Glückwunschteller, Appenzell Ausserrhoden, um 1820. Kulturmuseum St. Gallen, G 8710.

Stationen im Kinderleben

Dieser Beitrag stellt Erinnerungsstücke aus der Ostschweiz vor, die von wichtigen Lebensabschnitten der Kindheit erzählen. Sie spannen exemplarisch einen Bogen von der Geburt bis ins Schulalter. Die meisten dieser Gegenstände stammen aus den mittleren und oberen Bevölkerungsschichten. Von Kindern, die in bescheidenen Verhältnissen aufwuchsen, ist hingegen nur wenig überliefert, denn «ihre Spiele fanden auf der Strasse statt, ihr Spielzeug war selbst gebastelt und ihre Kleider wurden ‹ausgetragen›.»1 Das macht die erhaltenen Stücke jedoch nicht weniger wertvoll, denn sie sind als Zeitzeugen ein Spiegel der Gesellschaft und bieten reizvolle Einblicke in die kindliche Lebenswelt.

‹ausgetragen›.»

Mit den Wünschen an ein Paar für eine glückliche Zukunft war früher ein reicher Kindersegen verbunden. Auf einem Spruchteller aus Appenzell Ausserrhoden – eine Spezialität aus der Biedermeierzeit – ist der Nachwuchs gleich mehrfach vertreten, und acht Säuglinge thronen in einer «Zaine» über den Köpfen des frischvermählten Ehepaars aus der ländlichen Oberschicht. Dazu heisst es: «Euch komme Gott mit neuem Segen, an disem Tag der Freud entgegen, Gesundheit, Lieb’, Zufriedenheit, euch komme solche Tage, und Glück zu euer Lage.» Vom erhofften Kindereichtum erzählen auch Gebäckmodel mit Darstellungen von Wickelkindern oder Wiegen. «Damit wurde Backwerk ausgeformt, das in vielen Regionen eine wichtige Rolle bei den Hochzeitsfeierlichkeiten spielte.

Oft schmückten gebackene Wickelkinder die Brauttorte oder waren an einer hölzernen Storchfigur befestigt. Auch gab es die Sitte, Kuchen in Form von Fatschenkindern zu schenken, wenn man zu einer Hochzeit eingeladen war. Selbst das Gebäck, das während der Feier an die Gäste verteilt wurde, war häufig mit Säuglingsdarstellungen verziert.»2 Straff eingewickelte Säuglinge tauchen auf bildlichen Darstellungen noch bis ins frühe 19. Jahrhundert auf, obschon bereits John Locke (1632–1704) in seiner Schrift «Gedanken über Erziehung» 1693 und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seinem Roman «Emil oder Über die Erziehung» 1762 angemessene Bewegungsfreiheit forderten. «Aus Furcht, die Körper durch freie Bewegung Verkrüppelungen auszusetzen, beeilt man sich, dieselben Verkrüppelungen durch Einschnürung und Zusammenpressung hervorzurufen.»3

Das Thema Geburt ist im Kulturmuseum St. Gallen etwa mit Lehrtafeln aus der ehemaligen Hebammenschule in St.Gallen vertreten, welche auf spezielle Geburtslagen

in St. Gallen

Gebäckmodel, Ostschweiz, 18. Jh., Kulturmuseum St. Gallen, G 13076, G 16981, G2010.326.

Lehrtafeln der ehemaligen Hebammenschule in St. Gallen zur Geburtskunde, Verlag Voigt und Günther, Leipzig

eingehen, aber auch die normale Geburt darstellen. Für die junge Mutter gab es nach der Niederkunft eine nahrhafte Suppe in einer speziellen Wöchnerinnenschüssel mit Deckel – ein solches Zinngeschirr ist etwa aus Rheineck überliefert. Einen Suppenlöffel aus Silber erhielt dann der Säugling zur Taufe – ein beliebtes Patengeschenk in früherer Zeit. Man behielt ihn ein Leben lang, bis man dereinst – symbolisch gesprochen – wieder «den Löffel abgab». Das Silber konnte auch eine kleine Wertanlage für Notzeiten sein. Ein solcher «Sparbatzen» war auch das wohl beliebteste Patengeschenk in der Schweiz im 20. Jahrhundert: Die 20-Franken-Goldmünze mit dem Porträt der Helvetia. Die Hoffnung, dass das eigene «Goldvreneli» mit der Zeit an Wert zunehmen würde, war allseits gross. Meist wurde

man enttäuscht, es sei denn, man hätte eine der seltenen Probeprägungen geschenkt bekommen, wie sie in der Münzsammlung von Werner Burgauer erhalten sind. Für dieses Goldvreneli gäbe es vermutlich heute einen hohen fünfstelligen Betrag.

Das Ritual der Taufe war schon immer eine besonders wichtige Station im Leben der Kinder. Andenken daran wurden sorgfältig aufbewahrt, und viele gelangten später in eine Museumssammlung. Ein sehr schöner Taufschein ist etwa aus Hemberg erhalten. Anna Barbara «Babette» Geiger wurde am 9. Juli 1834 in der reformierten Kirche getauft. Der Pfarrer und die Gotte Anna Barbara Bräker halten das Kind über den Taufstein, die Eltern Gregorius Geiger und Anna Katharina Zübli stehen im Vorder-

20-Franken-Goldvreneli, Entwurf Fritz Ulisse Landry (1842–1927), Neuchâtel, Probeprägung, Münzstätte Bern, 1897. Kulturmuseum St. Gallen,

(D), 1865. Kulturmuseum St. Gallen, G 2011.093. Wöchnerinnenschüssel, Suppenteller mit Deckel, Rheineck, Ende 18. Jh. Kulturmuseum St. Gallen, G 388. Tauflöffel für M. E. Ackermann von Götti Joseph Moser, St. Gallen, 1805. Kulturmuseum St. Gallen, G 7554. G 21317.
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Taufschein von Babette Geiger, Hemberg, 1834. Kulturmuseum St. Gallen, G 15506.

grund.4 Unter den vielen erhaltenen Taufkleidern sticht ein spezielles Taufmäntelchen von 1783 hervor, gefertigt aus dem damals neuartigen, modischen Tüll und eingefasst mit Seidenbändern. Dieses «Unschuldshemdchen» gehörte Karl Beda Müller-Friedberg (1783–1863), dem Erstgeborenen von Karl Müller-Friedberg (1755–1836) und Maria Franziska Josefa Sutter (1764–1811). Im Jahr 1783 wurde der Vater Obervogt, und die Familie lebte neu im Amtssitz auf Schloss Oberberg bei Gossau – alles noch vor der Französischen Revolution. Taufpate war Fürstabt Beda Angehrn (1725–1796), der auch das Taufzeug stiftete und dem Kleinen seinen Namen mitgab.

Aus dem Säuglingsalter der Kinder sei – neben kleinen Milchschoppen oder Erstlings-Wäsche, die an anderer Stelle dieser Publikation erwähnt werden – ein kleiner Kinderlatz von 1912 vorgestellt. Der eingestickte Schriftzug «Wildfang» entbehrt nicht einer gewissen humorvollen Note.

Sobald die kleinen Schützlinge laufen lernten, war es Zeit für die nächsten Massnahmen. Kinderschuhe sind nicht nur deshalb selten erhalten, weil sie ausgetragen wurden, sondern weil Kinder in den Sommermonaten meist barfuss unterwegs waren. Volkskundler Paul Hugger hat dies in seinem Buch «Die Barfüssler» für St.Gallen auch noch für die Zeit um 1940 dokumentiert.5 «Fallhaube» nannte man den gepolsterten Kopfschutz im 18. Jahrhundert, der sich mit einem Sturzhelm von heute vergleichen lässt, sorgfältig verarbeitet und gleichsam dekorativ. Als praktische Übungshilfe zum Gehen lernen dienten Laufgestelle. Wie die Fallhauben stiessen auch diese fürsorglichen Hilfsmittel bei Jean Jacques Rousseau auf Kritik. Er fand sie völlig unnötig, ja unnatürlich. Über seinen Zögling Emil schreibt er: «Emil wird weder Fallhüte noch Laufkörbe noch Kinderwagen noch solche Gängelbänder bekommen; von dem Augenblick an, wo er einen Fuss vor

Taufmäntelchen von Karl Beda Müller-Friedberg, Ostschweiz, 1783.

Kulturmuseum St. Gallen, G 15706.

Kinderschuhe, 1. Hälfte 19. Jh. Kulturmuseum St. Gallen, G 2015.365.

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Kinderlatz «Wildfang», Ostschweiz, 1912. Kulturmuseum St. Gallen, G 2022.228.

den andern setzen kann, wird man ihn nur noch an gepflasterten Stellen halten und ihm schnell darüber hinweghelfen. Anstatt ihn in ungesunder Stubenluft verkümmern zu lassen, wird man ihn täglich mitten auf eine Wiese führen. Dort mag er laufen und sich lustig umhertummeln; meinetwegen mag er alle Tage hundertmal dabei hinfallen, das ist nur desto besser, denn dadurch wird er um so eher wieder aufstehen lernen. Das wohltuende Gefühl der Freiheit wiegt viele Wunden auf.»6

Laufgestelle setzten eine gewisse Grösse der Stube voraus, aber noch nicht zwingend ein eigenes Kinderzimmer. Die räumliche Trennung von Wohnbereich und Kinderzimmer entwickelte sich nach der Französischen Revolution. «In wohlhabenden Familien wandelte sich das Schlafzimmer der Kinder allmählich zu einer ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Kinderstube, in dem ihre Spielgeräte aufbewahrt wurden und in dem die Kinder ungestört spielen konnten.»7 Das hängt nicht nur mit unserem Bild vom Entstehen der bürgerlichen Kleinfamilie und einem biedermeierlichen Familienidyll zusammen. Im Zuge der Industrialisierung, die einer breiteren Schicht zumindest zeitweise einen gewissen Wohlstand und den Kauf erschwinglicher Konsumartikel ermöglichte, konnten diese er

Fallhaube, 18. Jh.

Kulturmuseum St. Gallen, G 2009.039.

Laufgestell, Ostschweiz, 1805. Kulturmuseum St. Gallen, G 8527.

Kachelofen mit Darstellung eines Laufgestells, Hieronymus Zehender, Lichtensteig, 1795. Kulturmuseum St. Gallen, G 10658.

Kindernähmaschine, um 1880. Kulturmuseum St. Gallen, G 21338.

belmalereien an,9 ein Kinderservice aus der St. Galler Töpferei Blumenthal-Schlatter entstand in den 1940er Jahren neben anderen Töpferwaren für den Haushalt, und ein Kaufladen, die «Handlung der Gebrüder Tobler», wurde 1885 von einem Kunstmaler für seine Kinder gefertigt, sozusagen als Nebenprodukt seiner künstlerischen Tätigkeit. Johann Victor Tobler (1846–1915) hatte sein Atelier in München und verbrachte jeweils die Sommermonate mit seiner Familie in seinem Heimatort Trogen. nennen.

«JungMö-

Kinderstuben auch mit entsprechenden Möbeln und Spielsachen gefüllt werden. Die Spielzeugindustrie, die sich aus spezialisierten Handwerksbetrieben, aber auch im Verlagswesen mit Heimarbeit entwickelt hatte, suchte natürlich ihre Abnehmer. Ein wichtiges Zentrum der Herstellung und des Vertriebs war seit dem ausgehenden Mittelalter beispielsweise Nürnberg. Es gab Dockenmacher für Puppen, Holzdrechsler für Holzspielzeug, Zinngiesser für Zinnfiguren, Gürtler für Blechfiguren, Flaschner für Puppenküchen und Zubehör aus Metall für Puppenhäuser, Schreiner für Spielzeugmöbel oder Wachsbossierer für Puppenköpfe aus Wachs, um nur einige zu nennen.8 Manchmal waren Kindersachen auch ein Nebenprodukt einer beruflichen Tätigkeit, die sich sonst an Erwachsene richtete. Ein kleiner Appenzeller Puppenschrank für «Jung fer Theresia Nef 1823» lehnt sich an die bäuerlichen Mö

Kindergeschirr, «Töpferei am Weg», Hermann und Fanny Blumenthal-Schlatter, St. Gallen, 1940er Jahre.

Kulturmuseum St. Gallen, G 2016.697.

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Puppenschrank von Theresia Nef[f], Appenzell Innerrhoden (vermutlich Gontenbad), 1823. Kulturmuseum St. Gallen, G 7668.

Krämerladen der «Gebrüder Tobler», Trogen, um 1885. Kulturmuseum St. Gallen, G 2003.432.

Waren Kramläden ein Betätigungsfeld für Mädchen und Knaben, so wurden auch immer wieder geschlechterspezifische Rollenbilder vermittelt. Mädchen werden mit Puppen abgebildet oder bekommen kleine Nähmaschinen geschenkt. Knaben stellt man sich laut trommelnd vor oder man gibt ihnen Spielzeuggewehre in die Hand. Eigenschaften, die man für das spätere Leben als nützlich erachtete, wurden gefördert. Ein Mustertuch von 1819 zeigt etwa, was man von neun- bis fünfzehnjährigen Mädchen erwartete (Abb. S. 26). Sie konnten sich damit einen Motivschatz aneignen. «Vor allem jedoch wurden mit solchen kleinteiligen und zeitaufwendigen Stickarbeiten bewusst Eigenschaften wie Fleiss, Geduld und Sorgfalt gefördert, die man als ideale Tugenden der Frauen ansah.»10 Der Adressat eines Maschinenbaukastens war hingegen die männliche Jugend (Abb. S. 27).

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Doppelporträt der Geschwister Kaiser, Atelier Otto Rietmann, St. Gallen, Dezember 1891. Kulturmuseum St. Gallen, G 2005.120.
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