Jost Bürgi 1552 – 1632
Schlüssel zum Kosmos
Grussbotschaft
Vorwort und Dank
Der Mensch in Zeit und Raum (Peter Fux)
Kulturhistorischer Kontext – Weltanschauliche Umbrüche (Jost Schmid)
2.1 Europäische Renaissancen
2.1.1 Frühmittelalterliche Renaissancebewegungen
2.1.2 Wege der Überlieferung
2.1.3 Zwischen Wissenschaft und Technik
2.2 Astronomische Revolution unter astrologischem Einfluss
2.2.1 Der Mikrokosmos unter dem Einfluss des Makrokosmos
2.2.2 Genaue Messdaten für die Astrologie
2.2.3 Fürsten als gebildete Künstler
2.2.4 Neuer Stern passt nicht ins Weltbild
2.2.5 Himmlische Revolution
2.2.6 Kassel als Biotop protestantischer Gelehrsamkeit
2.2.7 Jost Bürgi am Puls der Zeitenwende
Technikhistorischer Kontext
3.1 Astronomische Winkelmessgeräte (Günther Oestmann)
3.1.1 Parallaktisches Instrument
3.1.2 Astrolabium
3.1.3 Astrolabon organon / Armillarsphäre
3.1.4 Nocturnal
3.1.5 Torquetum
3.1.6 Quadrant
3.1.7 Jakobsstab
3.1.8 Die beobachtungstechnischen Innovationen Tycho Brahes
3.1.9 Ausblick
3.2 Himmels- und Erdgloben – Eine Geschichte von Notker dem Deutschen bis Jost Bürgi (Jost Schmid)
3.2.1 Ein kosmographischer Globus in St. Gallen um 1015
3.2.2 Verstärkte Himmelsbeobachtungen im Frühmittelalter
3.2.3 Globenkundliche Überlieferungswege aus der Antike
3.2.4 Der kosmographische Globenbau im 16. Jahrhundert
3.2.5 Der kosmographische Globus als Essenz der Kunstkammeridee
3.2.6 Die Weltmaschine am Kasseler Hof
3.2.7 Jost Bürgi als Globenbauer
3.2.8 Ein Modell geht mit dem alten Weltbild unter
3.3 Uhrmacherei und Modellbau (Ludwig Oechslin)
3.3.1 Zeitmesser
3.3.2 Himmelsmodelle
Jost Bürgi aus Lichtensteig im Toggenburg
4.1 Das Toggenburg des 16. Jahrhunderts (Hans Büchler)
4.1.1 Ein Traum geht nicht in Erfüllung
4.1.2 Die Reformation als neues Tor zur Freiheit
4.1.3 Das neue Leben im paritätischen Verhältnis
4.1.4 Die Quellen von Wohlstand und Kultur
4.1.5 Jost Bürgis Geburtsort Lichtensteig
4 6 10 16 17 26 40 48 60 Inhaltsverzeichnis
4.2 Was von Jost Bürgis familiärer Herkunft bekannt ist (Hans Büchler)
4.3 «Unser itziger aurmacher, so ein sinnreicher kopff» – Jost Bürgi am Hof der Landgrafen von Hessen-Kassel (1579 – 1604) (Karsten Gaulke)
4.3.1 Rätselhafte Herkunft und die ersten Jahre in Kassel
4.3.2 Hersteller von Winkelmessinstrumenten: 1584 bis 1586
4.3.3 Der Astronom
4.3.4 Die Bedeutung von mechanischen Modellen als fürstliche Geschenke
4.3.5 Die Himmelsmodelle und die Diskussion um das richtige Weltbild
4.4 Rechenmethoden für die Astronomie bei Bürgi (Peter Ullrich)
4.4.1 Astronomie beobachtet nicht nur
4.4.2 Grundsätzliche Fragestellung
4.4.3 Konstruieren oder Rechnen? Analog oder digital?
4.4.4 Der Stand der Dinge vor Bürgi
4.4.5 Das mathematische Wissen Bürgis und dessen Quellen
4.4.6 Bürgis Artificium oder der Kunstweg
4.4.7 Berechnungen der Sinus-Werte für kleine Winkel
4.4.8 Die Logarithmen
4.5 In kaiserlichem Dienst bei Rudolf II. in Prag (Martina Bečvářová und Jindřich Bečvář)
4.5.1 Die Gründung der Karls-Universität in Prag
4.5.2 Die Rudolfinische Ära
4.5.3 Martin Bacháček
4.5.4 Tadeáš Hájek von Hájek
4.5.5 Tycho Brahe
4.5.6 Johannes Kepler
4.5.7 David Gans
4.5.8 Jost Bürgi
4.5.9 Der Sextant
4.5.10 Die Progress-Tabulen
4.5.11 Das Ende der Rudolfinischen Ära
4.6 Rudolf Wolf und die Wiederentdeckung Jost Bürgis (Günther Oestmann)
Werkverzeichnis und Katalog
Bürgi-Werkverzeichnis
Uhren
Globen und astronomische Modelle Messinstrumente
Katalog
Uhren
Globen und astronomische Modelle
Messinstrumente
Handschriften, Dokumente und Bücher
Glossar
Anhang
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
68 71 90 100 110 112 114 132 146 162 172 190 202 270 278 308 320
Grussbotschaft
Im März 1921 öffnete das Historische Museum mit den Sammlungen für Völkerkunde im Stadtpark von St. Gallen seine Tür. Dem Bau des repräsentativen Hauses waren die Schenkungen der Gründungssammlungen des Historischen Vereins und der Ostschweizerischen Geographisch-Kommerziellen Gesellschaft an die Ortsbürgergemeinde vorausgegangen.
Die Disziplinen Archäologie, Geschichte und Ethnologie haben sich seither weiterentwickelt, definiert und spezialisiert. In deren Zentrum steht aber immer der Mensch als Kulturwesen mit seinen vielfältigen Weisen von Welterzeugung – und das betrifft immer auch uns selbst. Wie sonst, wenn nicht über die Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte von Weltbildern und anderen kulturellen Überzeugungen ist ein Verständnis zwischen Kulturen möglich? Und wie wollen wir unsere eigene kulturelle Realität verstehen lernen, wenn nicht über das Erschliessen des Fremden?
Aufgrund dieser Überlegungen ist aus dem «Historischen und Völkerkundemuseum» in diesem Jahr das «Kulturmuseum St. Gallen» geworden. Die Sonderausstellung «Jost Bürgi (1552 – 1632) – Schlüssel zum Kosmos» und diese Begleitpublikation stehen exemplarisch für die Neubenennung und die damit einhergehende Profilschärfung. Die Ausstellung beleuchtet eine historische Person aus der Region, die heute in der Gesellschaft kaum noch bekannt, aber dennoch von grösster Bedeutung ist. Bürgi war ein Mitinitiator des frühneuzeitlichen Weltbildes. Gemeinsam mit anderen grossen Denkern arbeitete er am Schlüssel zu unserem kosmologischen Verständnis.
Der im sanktgallischen Lichtensteig geborene Jost Bürgi war ein Weltbürger, und seine überlieferten Werke werden von verschiedenen europäischen Museen aufbewahrt und gepflegt. Dass wir in St. Gallen zum ersten Mal einen beträchtlichen Teil seines heute bekannten Werks der Öffentlichkeit zeigen und vermitteln dürfen, empfinden wir als Privileg. Wir danken allen leihgebenden Institutionen. Nur mit vereinten Kräften lässt sich Geschichte aufarbeiten und vermitteln. Fasziniert bin ich auch von der Zusammenarbeit der an diesem Projekt beteiligten internationalen Expertinnen und Experten. Sie werden bei der Lektüre dieses Buchs hoffentlich ebenso von dieser Geschichte ergriffen werden wie ich.
Ein solches Projekt ist nur dank grosszügigen Zuwendungen realisierbar. Die Trägerschaft unseres Museums, bestehend aus Stadt und Ortsbürgergemeinde, entrichtet ein besonderes Dankeschön dem Kanton
und allen Stiftungen, die dieses ambitionierte Ausstellungsprojekt grosszügig unterstützt, sowie allen Menschen, die sich dafür eingesetzt haben.
Ein besonderer Dank geht an Dr. Peter Fux, den Direktor des Kulturmuseums, der Ausstellung und Buch wissenschaftlich fundiert, breit vernetzt und kooperativ mit grosser Leidenschaft vorangetrieben hat.
Die Ausstellung «Jost Bürgi (1552 – 1632) – Schlüssel zum Kosmos» findet 2023/24 im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts «Mensch und Universum» der Stiftsbibliothek, des Natur museums und des Kulturmuseums statt. Dieses kooperative Vorhaben beleuchtet die vielfältigen Verortungen des Menschen in Zeit und Raum – aus den Perspektiven Religion, Wissenschafts- und Kulturgeschichte sowie den gegenwärtigen Naturwissenschaften. Nur in St. Gallen lässt sich dieses grossartige Vorhaben realisieren: Hier gibt es die Stiftsbibliothek, das «Pompeji der Bücher», im sanktgallischen Lichtensteig kam Jost Bürgi zur Welt, und das Naturmuseum beherbergt seit Kurzem eine exquisite Meteoritensammlung. Mich erfüllt es mit Freude, in einer kulturell so reichen Stadt wirken und leben zu dürfen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen auf Ihrer Entdeckungsreise durch die Ausstellung, dieses Buch und unsere Stadt und Region.
Katrin Meier, Bürgerratspräsidentin der Ortsbürgergemeinde St. Gallen und Präsidentin des Stiftungsrats des Kulturmuseums St. Gallen
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Mit freundlicher Unterstützung durch
Walter und Verena Spühl-Stiftung
Hans und Wilma Stutz Stiftung
H. und A. Baumberger-Germann Stiftung
Dr. Fred Styger Stiftung für Kultur, Bildung und Wissenschaft
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Vorwort und Dank
1552 kam Jost Bürgi im sanktgallischen Lichtensteig im Toggenburg zur Welt, in jenem Städtchen, das 2023 für seinen sorgfältigen Umgang mit dem architektonischen Kulturerbe den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes verliehen bekommen hat. Bürgis Familie war in ihrem malerischen Städtchen fest verwurzelt, über Generationen bekleideten die Bürgis hohe Ämter. Doch aus Jost wurde ein Bürger von Welt – im wörtlichen Sinne. Sein Weg führte ihn an den Hof des Landgrafen Wilhelm IV. nach Kassel und später nach Prag zu Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Beide waren grosse Förderer und Treiber der Wissenschaften.
Welche Wege den Toggenburger nach Kassel zum Astronomiefürsten Wilhelm IV. führten, ist noch immer im Dunkel der Geschichte verborgen. Selbst wenn das so bleiben wird: Dem Reiz seiner Geschichte würde dadurch kaum etwas abgehen. Vielleicht werden künftige Forschungen klärendes Licht auf sein frühes Leben werfen können, doch gegenwärtig wird Bürgi erst als 27-Jähriger mit der Kasseler Bestallungsurkunde von 1579 greifbar. Damals war er bereits ein brillanter und begehrter Uhrmacher, er gehörte zu den bestbezahlten Hofangestellten.
Des Lateins, der damaligen Sprache der Wissenschaft, war Bürgi nicht oder nur ansatzweise mächtig. Offenbar war ihm eine höhere universitäre Bildung verwehrt geblieben. Überhaupt scheint der Toggenburger viel mehr Praktiker denn Theoretiker gewesen zu sein. Seine Art der Wissensvermittlung war nicht die Gelehrtenschrift und Publikation, Bürgis Sprache waren in erster Linie die mechanischen Planetenmodelle und Uhren. Sie sollten zeigen, was funktioniert, aufgeht, stimmt.
Bürgi baute nicht nur die genauesten Uhren mit dem Ziel, diese in der astronomischen Beobachtung einzusetzen, sondern konstruierte auch innovative und hochpräzise Winkelmessgeräte und die sorgfältigsten und schönsten mechanischen Himmelsgloben – wahrhaftige Zeitmaschinen. Schon früh wirkte er nicht bloss als Instrumentarius, er beteiligte sich auch an den Sternenvermessungen, zusammen mit Wilhelm und den besten Wissenschaftlern wie Christoph Rothmann, Nicolaus Raimarus Ursus oder später Johannes Kepler, und er entdeckte als begnadeter Mathematiker die Logarithmen.
Der Lichtensteiger fand sich in erlesenstem Kreis wieder – just da, wo einer der dramatischsten Weltbildumbrüche der europäischen Kulturgeschichte herbeigeführt wurde: Die Erde, und damit der Mensch, verliess endgültig das Zentrum der Welt, und am Himmel konnte ein Werden und Vergehen beobachtet werden. Vorbei war es mit dem Kosmos als ewige Ordnung, die
spätestens seit der Antike dem vergänglichen irdischen Geschehen entgegengesetzt war. Himmel und Erde kamen sich näher. Rein geistige Modelle mussten Folgerungen aus akribischen Beobachtungen, Aufzeichnungen, Messungen und Rechnungen weichen. Geboren war die Neuzeit.
Die Ausstellung «Jost Bürgi (1552 – 1632) – Schlüssel zum Kosmos» und dieses Begleitbuch erzählen nicht in erster Linie die Geschichte eines Genies, das eigenständig wissenschaftliche Durchbrüche verantwortet. Beleuchtet wird hier ein einzigartiges Milieu des Austauschs über Grenzen hinweg, ein Milieu der Kommunikation, des Auf- und Umbruchs und der grosszügigen Förderung exzellenter Wissenschaft. Diese Geschichte soll zum Nachdenken anregen. Denn sie bezeugt, was alles möglich ist – für eine einzelne Person wie Jost Bürgi und für die ganze Wissensgemeinschaft –, wenn für das richtige Klima gesorgt wird und grosszügige Förderung vorhanden ist. Gleichzeitig zeigt sich uns in Bürgis Wirken die unerschöpfliche und zeitlose Brillanz der Geisteskraft.
Für das Kulturmuseum St. Gallen ist Jost Bürgi eine Trouvaille: Präsentiert wird die Geschichte einer Person aus dem Kanton, deren enorme historische Bedeutung ins Licht gerückt werden kann, soll und muss. Wir hoffen, dass diese Ausstellung und die Publikation einen wichtigen kulturgeschichtlichen Beitrag leisten –für die Wissenschaft und für das Publikum gleichermassen. Unsere Arbeit ist dann gelungen, wenn neue Erkenntnisse entstehen und das Publikum auch vergnügt, erstaunt und erfüllt ist.
Ohne die enge Zusammenarbeit mit namhaften Häusern und Wissenschaftlern wären die Ausstellung und diese Publikation nicht realisierbar gewesen. Unser Dank gehört den Mitherausgebern dieses Buches, Dr. Jost Schmid, Leiter der Abteilung Karten und Panoramen der Zentralbibliothek Zürich, Prof. Dr. Günther Oestmann, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Technischen Universität Berlin, und Dr. Karsten Gaulke, Leiter des Astronomischen-Physikalischen Kabinetts der Museumslandschaft Hessen Kassel.
Den weiteren Autoren, allesamt ausgewiesene Fachpersonen, gebührt ebenfalls grosser Dank: Prof. Dr. Peter Ullrich, Professor für Mathematik an der Universität Koblenz, Dr. Ludwig Oechslin, vormaliger Direktor des Musée international d’horlogerie in La Chaux-de-Fonds, Dr. Hans Büchler, Historiker und ehemaliger Gymnasiallehrer im Toggenburg, sowie Prof. Dr. Martina Bečvářová und Assoz. Prof. Dr. Jindřich Bečvář, beide von der Tschechischen Technischen Universität in Prag.
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Die Zusammenarbeit mit FormatOst des Verlagshauses Schwellbrunn war professionell, ein besonderes Dankeschön geht an Josef Scheuber (Produktion, Herstellung) und an Susanna Schoch (Lektorat). Die vorzügliche Buchgestaltung stammt aus der Feder von Nathalie Koller mit ihrem Bureau Plus in St. Gallen.
Die Jost Bürgi-Initiative in Lichtensteig und ihre Mitglieder, geleitet von Stadtpräsident Mathias Müller, lieferten nicht nur wertvolle Ratschläge und Anregungen, sondern waren für die Bildung des Netzwerks entscheidend. Der Dank geht an die Initiative wie auch an deren Initiator und Bürgi-Buchautor Fritz Staudacher. Äusserst anregend und hilfreich war für das Gesamtprojekt der Kontakt zum Uhrenmuseum Winterthur und dessen Konservatorin Brigitte Vinzens. René Stäheli von der Jost Bürgi-Gedächtnisstiftung in Lichtensteig und der Uhrenfreund René Müller aus Waldstatt verdienen eine besondere Verdankung. Die Horological Society in New York wurde im Oktober 2022 von Fortunat Mueller-Maerki mit seiner umfangreichen uhrengeschichtlichen Fachbibliothek beschenkt. Ihr Name: Jost Bürgi Research Library. Für die Einladung zur festlichen Eröffnung danken Jost Schmid und ich der Society und dem Spender ebenso wie der Jost BürgiInitiative in Lichtensteig.
Ohne die Grosszügigkeit der leihgebenden Institutionen wäre die Ausstellung nicht möglich: Museumslandschaft Hessen Kassel, Prof. Dr. Martin Eberle, Dr. Karsten Gaulke, Michael Beck und Monika Lesser; Hessisches Staatsarchiv Marburg, Dr. Katrin Marx-Jaskulski; Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Claudia Martin-Konle, Dr. Brigitte Pfeil-Amann; Klassik Stiftung Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Dr. Reinhard Laube, Dr. Arno Barnert; Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Mathematisch-Physikalischer Salon, Dr. Peter Plassmeyer und Johannes Eulitz; Deutscher Orden, Schatzkammer und Museum, Wien, Hochmeister Frank Bayard und Christine Rechberger; Kunsthistorisches Museum Wien, Dr. Sabine Haag, Dr. Paulus Rainer; Universitätsbibliothek Graz, Prof. Dr. Erich Renhart, Ute Bergner; Leiden University Library, Kurt F. K. De Belder, Joke Pronk; Schweizerisches Nationalmuseum Zürich, Denise Tonella; Zentralbibliothek Zürich, Dr. Stefan Wiederkehr, Dr. Jost Schmid, Dr. Ylva Gasser; ETH-Bibliothek Zürich, Alte und Seltene Drucke, Dr. Meda Hotea; Toggenburger Museum Lichtensteig, Christelle Wick; Kantonsbibliothek St. Gallen, Vadianische Sammlung der Ortsbürgergemeinde, Wolfgang Göldi, Dr. Rezia Krauer.
Eine museale Sonderschau dieser Grössenordnung und Komplexität kann nur mit grosszügigen finanzi-
ellen Zuwendungen realisiert werden. Verbindlich gedankt sei: Kulturförderung und Lotteriefonds des Kantons St. Gallen sowie «Kultur Toggenburg»; Metrohm Stiftung, Herisau; Walter und Verena Spühl-Stiftung, St. Gallen; Ernst Göhner Stiftung, Zug; Steinegg Stiftung, Herisau; Ria und Arthur Dietschweiler Stiftung, St. Gallen; Hans und Wilma Stutz Stiftung, Herisau; H. und A. Baumberger-Germann Stiftung, Lichtensteig; Dr. Fred Styger Stiftung für Kultur, Bildung und Wissenschaft, Herisau; Lienhard-Stiftung, Degersheim; Bertold Suhner Stiftung, Herisau. Die Trägerschaft des Kulturmuseums, die Stadt sowie die städtische Ortsbürgergemeinde ermöglichen den hochstehenden Museumsbetrieb im Stadtpark. Der Bürgerrats- und Stiftungspräsidentin Katrin Meier sei, stellvertretend für den ganzen Stiftungsrat, ebenfalls herzlich gedankt. Abschliessend gebührt Monika Mähr, Co-Kuratorin dieser Ausstellung und meine geschätzte stellvertretende Direktorin und Mitarbeiterin, Anerkennung und Dank. Ohne die wunderbare Zusammenarbeit mit ihr wie auch mit dem gesamten Museumsteam wäre die Ausstellung nicht geworden.
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Dr. Peter Fux, Direktor des Kulturmuseums St. Gallen
DER MENSCH IN ZEIT UND RAUM
TECHNIKHISTORISCHER KONTEXT
LICHTENSTEIG IM TOGGENBURG KULTURHISTORISCHER KONTEXT –WELTANSCHAULICHE UMBRÜCHE
JOST BÜRGI AUS
Die Findung in Zeit und Raum ist eine nicht wegzudenkende, definierende Eigenschaft des Menschseins. Einsteigend lässt sich Friedrich Nietzsche heranziehen:
«Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich von Neuem wundert.»1
Beginnen wir im Kern der Sache, und zwar vermittels eines urmenschlichen Vermögens, der Musik, die auch für Nietzsche von zentraler Bedeutung war. Der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski führt mithilfe der Musik anschaulich vor Augen, wie bereits die Wahrnehmung nicht an einen Zeitpunkt, sondern an eine Zeitspanne gebunden ist. Musik können wir Menschen nur erfassen, wenn der verklungene Ton in Erinnerung nachhallt und der kommende schon erahnt wird.2 Bereits der Vorsokratiker Zenon von Elea (circa 490 – 430 v. Chr.) beschreibt die Zeitproblematik anhand des sogenannten Pfeilparadoxons: «Das Bewegte bewegt sich weder in dem Raume, in dem es ist, noch in dem Raume, in dem es nicht ist.»3 Oder anders ausgedrückt: Aus lauter Stillstand in lauter Zeitpunkten kann es keine Bewegung geben. Die Wahrnehmung geht zwingend über einen vielleicht gar nicht existierenden Zeitpunkt hinaus. Sie greift im Nachklang in die Vergangenheit und in der Ahnung in die Zukunft.
DER MENSCH IN ZEIT UND RAUM
Es gibt keinen Grund zur Annahme, die Wahrnehmung funktioniere bei Tieren grundsätzlich anders. Auch bei ihnen ist Nietzsches «Pflock des Augenblicks» nicht ein Punkt auf dem Zeitstrahl, sondern eine die Veränderungen einschliessende Zeitspanne. Des Weiteren sind Tiere, Menschen und Pflanzen von einem inneren Zeitempfinden geleitet, das insbesondere Ruhephase, Nahrungszufuhr und Fortpflanzungstrieb vorgibt. Der Mensch aber hat «eine symbolische Phantasie und eine symbolische Intelligenz als neue Form ausgebildet.» Dabei wird «der Aktionsraum […] zum abstrakten, geometrischen Raum; die Zeit als Vergangenheit verdichtet und konstruiert und als Zukunft nicht nur zu einem Bild, sondern zu einer Idee.»4 – Dieser abstrakte Aktionsraum ist die Voraussetzung sowohl für das Entstehen eines Ichs als auch von Kultur, einschliesslich der Wissenschaft.
Das Wachsen hin zu einer Person, die sich zeitlebens und pausenlos immer wieder verändert, bereichert, neu ausrichtet und einordnet, lässt sich mit dem Selbst als Zentrum erzählerischer Schwerkraft begreifen.5 Für den Menschen gilt, wie Safranski prägnant formuliert: «Existieren bedeutet, eben kein Gegenstand zu sein, sondern ein Wesen, das sein Leben in der Zeit führt.»6 Sich seine Erzählungen und seine Pläne zu machen und sie als persönlichkeitsbildende Grössen zu brauchen, ist keine Option, sondern Bedingung. Der Mensch ist ganz offenkundig ein transzendentes Wesen, das sein Leben in der Zeit führt – mit Erzählungen, Ideen und Plänen, die mitunter weit über seine eigene individuelle Existenz hinausgreifen.
Was für das Individuum gilt, gilt wechselwirkend auch für jede Gesellschaft, denn bekanntlich ist der Mensch als soziales Wesen von Resonanz abhängig. Ohne Gegenüber gibt es kein Individuum. So hat der Mensch in ebendieser Wechselwirkung und in unterschiedlichen Sparten auch gesellschaftlich geteilte Geschichten, Werte und Weltentwürfe geformt und tut dies noch heute. Der Philosoph Ernst Cassirer (1874 –1945) erarbeitete auf der Grundlage des symbolischen Abstraktionsvermögens von Zeit und Raum eine philosophische Anthropologie des «animal symbolicum». Das gesamte Spektrum des Wirkens – Mythos,
1 Nietzsche 1874 (1984): 8.
2 Siehe Safranski 2017: Kap. 8.
3 Siehe zum Beispiel Röd 2021: 145.
4 Cassirer 1910 (2000): 161.
5 Siehe hierzu Bieri 2011, Thomä 1998: 3.
6 Safranski 2017: 72.
Religion, Kunst, Wissenschaft und Geschichte umfassend – ergibt zusammen das Menschsein und die Kultur.7 All den Sparten liegt zugrunde, dass sie Formen des symbolischen Denkens und Ausdrückens sind. Die Wissenschaft mögen wir, Cassirer folgend, als die höchste Abstraktionsform ansehen. Beispielsweise können Astronomen heute problemlos die Geschwindigkeit der Erde gegenüber der Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt berechnen. Sie bedienen sich dabei der ersten Ableitung der Wegfunktion nach der Zeit, lassen also die Zeitdifferenz gegen null streben. Mit der Zeitdifferenz gleich null funktioniert das nicht, denn dann wäre man im Stillstand gefangen. Es braucht eine zu null strebende Differenz, ein Delta. Mathematisch ist das kein Problem, philosophisch hingegen schon, wie Zenon vor Augen führt. Denn ohne Zeit gibt es keine Geschwindigkeit, keine Standortveränderung, keine Relation zwischen Gegenständen, somit keinen Raum – und folglich auch keine Materie. Gottfried Wilhelm Leibniz und Albert Einstein hielten uns dies vor Augen. Zwar lässt sich ein Urknallmodell für die Entstehung des Universums aufstellen und detailliert erklären. Selbst der Zeitpunkt des Beginns der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung kann berechnet werden. Ein vorhergegangenes absolutes Nichtsein können wir uns nicht denken – wie auch? Die Kosmologie muss eine Weise der Welterzeugung bleiben. Sie ist im Kern eine Geburt des unbegreifbar kraftvollen menschlichen Geistes, seines symbolischen Denkens.
Die Sonne, der Mond und die Planeten, welche die Sternbilder durchwandern, spannen mit ihrer zuverlässigen Periodizität seit jeher ein gegenständliches zeitliches und räumliches Orientierungswerk auf, das die Menschen sowohl praktisch zu nutzen lernten als auch deuteten.
In praktischer Hinsicht ermöglichte der Nachthimmel vor allem in der Wüste und auf dem Meer die überlebensnotwendige geographische Orientierung. Daher erstaunt es nicht, dass insbesondere auf dem indischen Subkontinent, im Nahen Osten und in der Mittelmeerregion bereits aus der frühen Geschichte Zeugnisse von komplexen Orientierungsmethoden bekannt sind. Und weil die Lage der Sternbilder wegen der Erddrehung und ihrer Bewegung um die Sonne sowohl zeit- als auch ortsabhängig ist, entwickelten in verschiedenen
Kulturen hoch angesehene Spezialisten – oft handelte es sich um Priester – immer raffiniertere mathematische und kartographische Ansätze. Hierzu nötig waren eine Referenzzeit und ein Referenzort. Sogenannte FixsterneG konnten kartiert werden. Die Assyrer hatten schon um 1200 v. Chr. die Sternbildkatalogisierung in Angriff genommen. Von Hipparchos von Nicäa (circa 160 – 125 v. Chr.) und insbesondere Claudius Ptolemäus (circa 100 – 160 n. Chr.) sind aufwendige Kartierungstätigkeiten bekannt. Die katalogisierten Sterne bildeten den Orientierungsrahmen, in dem sich die periodischen Planetenwanderungen festhalten liessen. War die Zeit bekannt, liess sich über die Gestirnspositionen der geographische Ort ableiten.
Was die Deutung betrifft, so ergibt sich der Tag, die Nacht und das Jahr aus dem Lauf der Sonne durch den Himmel, und der Mond teilt das Jahr in zwölf Zyklen. Über unzählige Generationen hinweg. Im Gegensatz zu dieser zuverlässigen Regelmässigkeit des Himmels fristen Menschen ein endliches Leben zwischen Geburt und Tod. Als transzendente Wesen suchen sie im Himmel nach Antworten, nach einer Selbstverortung. Das griechische Wort Κόσμος heisst «Schmuck», «Ordnung». In der aristotelischen Naturphilosophie verweist dies auf das Ewige, Stetige, Immergleiche, das dem Irdischen mit dem Werden und Vergehen gegenübersteht und seit jeher als Anhaltspunkt und übergeordnete Referenz dient.
Archäologisch lässt sich die Bezugnahme zum Himmel in zahlreichen Regionen weit zurückverfolgen. In Europa stammen die ersten unmissverständlichen Hinweise aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend. Es sind dies etwa die neolithischen Steinstelen des Fundorts Petit-Chasseur in Sion in den Schweizer Alpen oder die sogenannten Sonnenschalen-Keramikgefässe der Schönfelder Kultur im nordöstlichen Deutschland bis Böhmen mit klar erkennbaren Sonnendarstellungen. Die bisher älteste eindeutig kosmographische Darstellung ist die berühmte Himmelsscheibe von Nebra aus der Frühbronzezeit (circa 1800 – 1600 v. Chr.), auf der – wie auf den viel späteren Astrolabien – der Horizont, die Plejaden und der Mond eindeutig zu erkennen sind. Auch der berühmte Sonnenwagen von Trundholm in Dänemark zeigt unmissverständlich eine Bezugnahme zu Himmelskörpern. Das Pferd auf Rädern zieht eine Scheibe hinter sich her, die auf der einen Seite
Peter Fux
7 Siehe Cassirer 1944 (2007).
silbern und auf der anderen golden ist. In Mesoamerika sind die ältesten Hinweise auf das höchst komplexe Kalendersystem und die Kosmographie der Maya rund 2300 Jahre alt (zum Beispiel die Wandmalereien von San Bartolo, Guatemala). Dass hier keine noch früheren Hinweise auf Himmelsbeobachtungen und sinngebende Orientierungen erwähnt sind, liegt an der Entscheidung, nur auf zweifelsfreie Quellen einzugehen. Das aber bedeutet nicht, dass sich Menschen nicht seit jeher mit dem Himmel beschäftigt hätten.
In der Mayaklassik (erstes nachchristliches Jahrtausend) bezogen die Gottkönige, also Könige von vergöttlichtem Status, ihre dynastische Legitimation aus äusserst komplexen astronomischen Berechnungen. Davon zeugen unter anderem mittlerweile gut entzifferte Schriftquellen und das entschlüsselte Zahlensystem. Die auf dem Ursprungsmythos basierende Ordnung des Himmels, die der Adel mithilfe hochangesehener Priester genau beobachtete und aufzeichnete – und daraus ableitend vorhersagte –, musste unter anderem mit Opfern und mächtigen, prunkvollen Bauprojekten gesichert und aufrechterhalten werden. Hierfür zuständig waren die Könige göttlicher Abstammung.8 Ob der Himmelswagen von Trundholm einen Mythos darstellt, lässt sich wegen der bescheidenen archäologischen Quellenlage lediglich vermuten. Die Himmelsscheibe von Nebra hingegen diente mit Sicherheit der zeitlichen Verortung über die Himmelskörper. Der rekonstruierte Fundkontext eines eigentlichen Observatoriums lässt diese Schlussfolgerung zu. Viele Quellen deuten darauf hin, dass auch hier die Beobachtungen der Gestirne einer elitären Gruppe zustanden, etwa einer Priesterschaft. Die Beobachtungen dienten der Festlegung entscheidender Zeitpunkte im Kalenderjahr, beispielsweise des Moments der Aussaat.9
Die von einer Gesellschaft getragene Selbstverortung in Zeit und Raum mögen wir als Weltanschauung bezeichnen. Welche Formen des symbolischen Denkens in einer Weltanschauung wie und wie stark gewichtet und wie sie geordnet werden, ist zu verschiedenen Zeiten und von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Die Geschichte zeigt: Eine Weltanschauung ist ein kulturelles Erzeugnis, das sich in wechselwirkenden expliziten und impliziten Verhandlungen und Beeinflussungen aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Disziplinen und Interessen formt und stetig wandelt. Die Geschichte zeigt auch, dass es selbst innerhalb einer Kultur oder Gesellschaft kaum je harmonische Einigkeit über ein Weltbild gegeben hat. Vielmehr waren und sind Uneinigkeiten, Reibereien, ja gewaltsame Aus-
8 Siehe hierzu zusammenfassend Fux 2014.
9 Für Trundholm und Nebra siehe zusammenfassend Meller 2018.
einandersetzungen vorherrschend. Als Beispiel liesse sich der Untergang der Klassischen Mayakultur heranziehen.
Auch als Nicolaus Copernicus 1543 seine heliozentrische Kosmographie dem geozentrischen Weltbild entgegenstellte, sah die Kirche darin eine Bedrohung. Ihr ging es aber nicht um die Kosmologie an sich, sondern um die zentrale Stellung des Geisteswesens Mensch als Krönung der Schöpfung. Denn damals lief in einer mehrheitlich illiteraten Gesellschaft die Vermittlung weitgehend über Metaphern und Bilder, und aus einem über Jahrhunderte festgeschriebenen Konzept konnte der Mensch nicht kompromisslos aus dem Mittelpunkt des Kosmos katapultiert werden. Rückblickend könnte man der Kirche sogar eine ausgesprochen moderne Haltung zusprechen. Schliesslich gewährte sie Copernicus die Hypothesenformulierung für seine wissenschaftlichen Zwecke. Hingegen wäre sie mit einer Behauptung der neuen Kosmographie als absolute Wahrheit nicht einverstanden gewesen. – Eine Haltung, die den gegenwärtigen Wissenschaftskriterien (ein Modell ist nur so lange gültig, bis es durch ein anderes widerlegt wird) durchaus entspricht. Oder man denke an die Bemerkung des frühmittelalterlichen Kirchenvaters Augustinus, die Zeit sei in der Seele. Sie spielt auf das nur Gott zustehende Vermögen an, ausserhalb der vermittels Veränderungen wahrnehmbaren Zeit zu stehen. Wir dürfen die heutigen Astronomen in diesem Sinn fragen, was vor dem Urknall war, und werden dabei bemerken, wie zeitgemäss Augustinus heute noch ist.
In der Frühen Neuzeit kamen sich unter Jost Bürgis Mitwirken Himmel und Erde näher (Abb. 1). Seine Messinstrumente und Uhren, die von damals unerreichter Präzision waren, sowie seine revolutionären Rechenmethoden führten zu exakteren Aufzeichnungen und erlaubten präzisere Beobachtungen. Nicht etwa astronomisches Interesse steckte anfänglich hinter dem Bestreben nach besseren Messungen, sondern der Wetteifer des Adels nach möglichst genauen astrologischen Entscheidungsgrundlagen. Doch an den Messungen offenbarte sich: Auch im Himmel gibt es ein Werden und Vergehen (Kap. 2). Das stellte die göttliche, immerwährende kosmische Ordnung der aristotelischen Naturphilosophie grundsätzlich infrage.
Die Diskrepanz zwischen dem kreisrunden Planetenbahnmodell und den neuen Messdaten ermöglichte es Johannes Kepler (1571 – 1630), die Theorie der elliptischen Planetenbahnen zu formulieren, die Isaac Newton (1643
1727) mit dem GravitationsgesetzG fünfzig Jahre später zu erklären vermochte. Wiederum wurde das Modell den Messdaten angepasst. Die Planeten verloren ihre göttlich vollkommene kreisrunde und harmoni-
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–
Der Mensch in Zeit und Raum
sche Umlaufbahn, der Kosmos seine sinnvolle und sinngebende Ordnung. Nun hatten nicht nur das ptolemäisch geozentrische, sondern auch die Kreisbewegungen ausgedient, wie sie Copernicus noch angenommen hatte. Selbst die naturphilosophischen Theorien des jungen Kepler, die dem Kosmos noch wie in seiner Schrift Mysterium cosmographicum10 (Abb. 2) als geistiges Konstrukt sinnsuchend Form gegeben hatten, wurden nun sukzessive durch ein von Beobachtungen und Messungen abgeleitetes Modell ersetzt. Entstanden ist der messende Astronom, der aus empirischen Daten und Berechnungen die kosmologischen Folgerungen ableitet, anstatt rein geistige Theorien zu erzeugen. Ebenfalls gestärkt wurden die Ansätze der empirischen Wissenschaft – und des Naturalismus beziehungsweise Positivismus.
Wie steht es denn um das heutige Weltbild? Einem gelehrten Naturbeobachter vor fünfhundert Jahren hätten folgende Aussagen sagenhaft vorkommen müssen, so Wissenschaftsphilosoph und -historiker Hasok Chang:
«Die Erde ist sehr alt, über vier Milliarden Jahre; sie existiert in einem Beinahe-Vakuum und dreht sich um die Sonne, die etwa 150 Millionen Kilometer entfernt ist; in der Sonne wird durch Kernfusion ein grosser Teil der Energie erzeugt, in demselben Prozess wie bei der Explosion einer Wasserstoffbombe; alle materiellen Objekte bestehen aus unsichtbaren Molekülen und Atomen, die wiederum aus Elementarteilchen zusammengesetzt sind, die alle viel zu klein sind, um jemals direkt gesehen oder gefühlt zu werden; in jeder Zelle eines Lebewesens gibt es ein hyperkomplexes Molekül namens DNA, das weitgehend die Form und die Funktionsweise des Organismus bestimmt, und so weiter.»11
Als Ergänzung: Das Universum – und mit ihm Zeit, Raum und Materie – entstand mit dem Urknall vor 13,81 plus/ minus 0,04 Milliarden Jahren. Nachdem es in den ersten Milliarden Jahren mit abnehmender Geschwindigkeit expandierte, setzte eine Zunahme der relativen Ausdehnungsgeschwindigkeit ein. Viele dieser doch sehr aussergewöhnlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse haben sich weitgehend als selbstverständliche Gegebenheiten etabliert. Es könnte so die Meinung aufkommen, historische Ereignisse seien lediglich Schritte zum Verständnis. Oder Irrwege. Doch so einfach ist es nicht.
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10 Kepler 1596: 9.
11 Chang 2004: 3. Übersetzt aus dem Englischen.
Abb. 1
Porträt Jost Bürgi, 1619 gezeichnet von Ägidius Sadeler. Die Umrahmung von Anton Eisenhoit, 1590/92 gestochen, zeigt die vielfältigen Anwendungen des von Bürgi entwickelten Triangularinstruments.
Abb. 2
Tabula III: Orbium planetarum dimensiones, et distantias per quinque regularia corpora geometrica exhibens . Johannes Kepler, 1596
All diese erwähnten Modelle der Weltbeschaffenheit folgen aus Beobachtungen, messbaren Grössen und modellhaften Ableitungen und basieren auf ausformulierten Gesetzmässigkeiten. Diese Modelle sind so lange gültig, bis neue Beobachtungen sie widerlegen. Wie enorm prägend jene Entwicklungen, an denen Jost Bürgi massgeblich mitwirkte, für die heutige westliche Weltanschauung sind, ist bei der Lektüre dieses Buches unschwer zu erkennen.
Dieses Buch und die zugehörende Ausstellung im Kulturmuseum St. Gallen folgen einem interdisziplinären Ansatz. Wissenschaft und Technologie werden in einen historischen und philosophischen Kontext gestellt, nicht zuletzt, um die Auseinandersetzung um jene Fragen, weshalb wir wo stehen und von welcher Weltanschauung wir geprägt sind, weiterzutragen. Diesen Kernfragen des Menschseins nachzugehen, dazu möchte dieses Werk mit seinen Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen einladen – im zukunftsorientierten Heute, in dem die Wichtigkeit der Geschichte als Spiegel für die Selbsterkenntnis verkannt wird, erscheint dies wichtiger denn je.
Es sei daran erinnert: Hinter dem «animal symbolicum» steckt Immanuel Kants «copernicanische Wende in der Philosophie» (1781). Aus dem Postulat, dass eine Erkenntnis nicht durch den Einfluss des Objekts auf das Subjekt entsteht, sondern das Objekt vom Subjekt beeinflusst wird, folgt: Der Mensch ist nicht Rezipient von Zeichen aus der Natur, sondern er erzeugt mit Formen seine Welt. Für diese Welterzeugung – in Anlehnung an Nelson Goodmans Werk Ways of Worldmaking (1978) – bedient sich der Mensch seiner drei inneren Formen Zeit, Raum und Kausalität, die ihm ebenso eigen sind wie das moralische Empfinden und ohne die es kein Denken geben kann.12 Somit hat Kant in der Philosophie den Geist sozusagen in die Moderne hinübergerettet. In Anbetracht eines extremen Naturalismus in Wissenschaft, Kosmographie und Weltanschauung, wie er heute oft vorherrscht, stellt sich die Frage: Ist ein Selbstbewusstsein noch möglich, wenn sämtliche höhere sinngebende Ordnung über Bord geworfen werden könnte?
Mit dieser Rückbesinnung auf die Geisteskraft wird der Wert der grossen und kleinen Kulturleistungen greifbar. Und mit dieser Besinnung erscheinen denn auch die heutige Astronomie und Kosmographie ebenso als Fenster in die Natur, wie sie die unendliche menschliche Geisteskraft spiegeln. Berechtigt ist die Frage, warum wir das Unendlichkeitskonzept in alltäglichen trivialen Rechnungen als selbstverständlich hin-
12 Siehe Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) beziehungsweise Kritik der praktischen Vernunft (1788).
nehmen, beim Begriff des Geistes hingegen stets Mühe bekunden. Hinter den ergreifenden, brandneuen Bildern des James-Webb-Weltraumteleskops stehen unzählige Abstraktionen und Modelle. Für Laien sind all diese Prozesse nicht im Detail nachvollziehbar, und es geht vergessen, wie weit weg die Bilder von einer alltäglichen Wahrnehmung sind. Es sind Erzeugnisse höchst komplexer wissenschaftlicher Abstraktions- und Visualisierungsprozesse in Teamarbeit. An Jost Bürgis Werken, von der Herleitung der Logarithmen in den Progress-Tabulen (Kat. 19) über den sogenannten Kunstweg (Kap. 4.4.6) bis hin zur Mondanomalienuhr (BWV 4), können wir Schritt für Schritt und im historischen Kontext die Abstraktions- und Symbolisierungsprozesse mitverfolgen. Damit werden die Wurzeln der neuzeitlichen Weltanschauung begreifbar. Jost Bürgis Wirken bildet einen entscheidenden Moment in der europäischen Kulturgeschichte, der in heutigen Weltanschauungen und der Wissenschaft nachhallt.
14
Der Mensch in Zeit und Raum
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2.1 Europäische Renaissancen
Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, sich in Zeit und Raum selbst zu verorten (Kap. 1). Das führt unter anderem zu einer Geschichtswissenschaft, die ihrerseits versucht, den Zeitstrahl der Kulturgeschichte in Epochen zu gliedern, um ihn besser fassbar zu machen. Die Grenzen solcher Epochen sind freilich umstritten und folgen unterschiedlichen Kriterien und Brüchen. Seit Jakob Burckhardt (1818 – 1897) wird für die Zeit zwischen 1400 und 1600 ein gesamteuropäisches Phänomen gemeinhin mit dem Begriff der Renaissance zusammengefasst. Er steht für eine Epoche der bedeutendsten Umbrüche – mit Auswirkungen auf die Weltgeschichte: Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern ermöglichte eine noch nie dagewesene Intensität und Beschleunigung des Gesprächs unter den Gelehrten quer durch den lateinischen Westen Europas. Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus erzeugte einen veritablen kosmographischen Schock, als das traditionelle Weltbild aufbrach, um einer komplett neuen Geographie zu weichen. Das copernicanische Modell fand, dank den darin angelegten verbesserten Berechnungsmöglichkeiten und den genaueren Ergebnissen, namhafte und zahlreiche Anhänger, die schliesslich nach 1600 einer neuen heliozentrischen Kosmologie zum Durchbruch verhalfen. Möglich wurden solche revolutionären Entdeckungen durch den vielfältigen Wissensaustausch und durch Informationstransfers über grosse Entfernungen. Dabei handelt es sich nicht nur um grosse räumliche, sondern auch enorme zeitliche Distanzen. Aus vielen Jahrhunderten der Antike melden sich vermehrt geniale Köpfe zu Wort, und ihre «wiedergeborenen» Ideen werden mit Ehrfurcht aufgenommen und diskutiert. Beim Versuch, die Rätsel der Natur zu lösen, wird aber auch unabhängig von den antiken Autoritäten experimentiert. So entstehen technische Innovationen.
2.1.1 Frühmittelalterliche Renaissancebewegungen
Der von Burckhardt einst konkret vermittelte Epochenbegriff der Renaissance wird seit einigen Jahrzehnten zusehends eingeebnet; vor allem durch angelsächsische Historiker. Die Rede ist von verschiedenen «Renaissancen»1, von denen die italienische nur die bedeutendste war. Letztere betraf ausserordentlich viele Men-
1 Burke 2016: passim.
KULTURHISTORISCHER KONTEXT –WELTANSCHAULICHE UMBRÜCHE
schen, dauerte lange und war äusserst einflussreich. Die neuere Forschung findet aber immer mehr kleinere Renaissancen bereits im Frühmittelalter, wo in einzelnen Klöstern Naturforschung betrieben wurde und sich bereits intensive Wiederentdeckungen des Altertums abspielten. Ein bekanntes Beispiel ist Gerbert d’Aurillac (946 – 1003), der in Reims nach Angaben des Aratus von Soloi (um 310 – um 245 v. Chr.) Himmelsgloben baute, um sie im Unterricht einzusetzen. Wenige Jahre später konzipierte Notker der Deutsche (um 950 – 1022) in St. Gallen einen kosmographischen Globus, um seinen Schülern den Zusammenhang zwischen Sonnenhöhe und Breitengrad zu demonstrieren (Kap. 3.2.1). Notkers Instrument war eine Innovation, die von antiken Quellen (und wohl auch von Gerbert) inspiriert war, sich schliesslich aber aus einem experimentellen und schöpferischen Geist heraus materialisierte. Eine diesbezügliche kosmographische Abhandlung bettete Notker in seiner kommentierten Übersetzung zum Trost der Philosophie des antiken Philosophen Boethius (um 483 –um 525) als naturwissenschaftlichen Exkurs ein. Das Übersetzen und Kommentieren der ganzen Vorlage war überhaupt ein wichtiger Kulturtransfer: Damit gab Notker mehr oder weniger direkt auch Modelle und Theorien von antiken Philosophen und Naturgelehrten nicht nur weiter, sondern er machte sie erstmals in der althochdeutschen Volkssprache zugänglich. Im genannten Exkurs werden beispielsweise der griechische Universalgelehrte und Philosoph Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) sowie Ideen aus dessen Werk Kategorien erwähnt.2
2.1.2 Wege der Überlieferung
Der Kulturtransfer aus der Antike bildete eine wichtige Voraussetzung für das Weiterdenken und Umgestalten des Überlieferten zu etwas ganz Neuem und Eigenständigen, was zu weltanschaulichen Umbrüchen führte.3 Nebst der Überlieferung in den Klöstern floss der Wissensstrom auf weiteren Wegen: Wichtig waren die Beziehungen zur arabischen Welt, in der die Schriften der
2 Boethius erwähnt ursprünglich auch Claudius Ptolemäus (um 100–nach 160). Weil eine Vertrautheit mit Ptolemäus’ Werk im Ursprungstext vorausgesetzt wird, der alexandrinische Kosmograph und sein Werk um 1000 in St. Gallen aber nicht bekannt waren, ging die Erwähnung in der St. Galler Überlieferung wohl unter. Vgl. Boethius 2006: 46 und Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 825, f. 95 – 97.
3 Vgl. Roeck 2017: passim.
alten Griechen seit jeher intensiv übersetzt und kommentiert wurden. Mit der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel (722 – 1492) machten sich die christlichen Sieger auch das Wissen der Unterworfenen zu eigen. Einen Austausch gab es gleichzeitig in den iberischen Grenzregionen (zum Teil durch jüdische Vermittlung). Gerbert d’Aurillac zum Beispiel, der sich dort zwischen 967 und 970 mit arabischen Naturwissenschaften und Mathematik beschäftigte, brachte viel neues Know-how nach Norden und führte in Reims den astronomischen Instrumentenbau ein (Kap. 3.2.3).4 Eine weitere Relaisstation für Kulturtransfers war das reiche Sizilien, in dem auch arabische Gelehrte wirkten. Die Insel bildete somit einen Schnittpunkt grosser Kulturkreise, wo Ideen ausgetauscht wurden und Neues entstand. Der in Córdoba ausgebildete Araber al-Idrisi (circa 1100 – 1165) erstellte etwa für König Roger II. eine Weltkarte, die auf der Geographie des alexandrinischen Kosmographen Ptolemäus (um 100–nach 160) basierte. Gegen Ende des Oströmischen Reiches nach 1400 gewann der wissenschaftliche Kontakt zwischen dem lateinischen Europa und Byzanz an Bedeutung. Antike Schriften gelangten über exilierte Gelehrte in den Westen – vor allem nach der osmanischen Eroberung von Konstantinopel 1453 – oder sie wurden zuvor von westlichen Kollegen in der Stadt am Bosporus wiederentdeckt und aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt – wie zum Beispiel Ptolemäus’ Geographie selbst.
2.1.3 Zwischen Wissenschaft und Technik
Das westliche Europa nahm die Errungenschaften aus anderen Epochen und Weltteilen dauerhaft auf und entwickelte sie zukunftsweisend weiter. Der Fortschritt ging aus dem Umkreis der Elite hervor.5 Intellektuelle Kleriker und Adlige wie der Landgraf von Hessen-Kassel förderten oder übten selbst den kreativen Umgang mit dem neuen Wissen und begünstigten beziehungsweise bewirkten gar eine wissenschaftliche Revolution, die die Welt für alle weiter veränderte. Unter dieser Geisteselite befanden sich auch gebildete Bürger sowie der niedere Klerus, wovon ein Winterthurer Beispiel in Kapitel 2.2.5 behandelt wird.
Die eigentlichen «Macher» waren allerdings die Handwerker. Wie das Beispiel Jost Bürgi (1552 – 1632) zeigt, tüftelten sie – des Lateinischen kaum mächtig – mehr oder weniger unabhängig vom Wissensaustausch der Bildungselite, die sich ihrer Erfindungen bediente. Der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler (1571 – 1630) profitierte von den neuartigen mathematischen Methoden des Toggenburgers sowie von dessen präzisen metallenen Instrumenten, die zu einer wesentlich genaueren Datengrundlage führten und somit den Weg für die drei «Keplerschen Gesetze»G bereiteten (BWV 20). Letztere zementierten nicht nur das heliozentrische Weltbild, sondern stellten auch die AstronomieG auf ein neues Fundament.
Während Jost Bürgi an den Höfen in Kassel und Prag wirkte, begegneten sich Wissenschaft und Technik. Die folgenreiche Berührung zwischen der Renaissance als Elitekultur und der Welt des «gemeinen Mannes», nämlich des Handwerkers, führte zu einem astronomischen Durchbruch – ob nun der Uhrmacher Bürgi hochpräzise Messinstrumente für Kepler baute, oder ob der Brillenmacher Hans Lipperhey (1570 – 1619) ein neuartiges Fernrohr zusammensetzte, wovon ein Nachbau Galileo Galileis (1564 – 1642) Entdeckungen ermöglichte. Die Kunsthandwerker erlangten so ein neues Selbstbewusstsein und entwickelten sich zu Künstlern und Ingenieuren, die ihre Werke zu signieren begannen.
2.2 Astronomische Revolution unter astrologischem Einfluss
Mit der Antikenrezeption während der Renaissance erlebte auch die gelehrte AstrologieG im lateinischen Europa eine Wiedergeburt, ja eine Blüte. Sie wurde bis ins späte 17. Jahrhundert vor allem an den Höfen und an den Universitäten gepflegt, wo sie mit der Astronomie und der Medizin verknüpft war. Astronomie und Astrologie werden heute gemeinhin als widersprüchliche Ansätze verstanden: so unvereinbar wie Zukunftsforschung und Wahrsagerei, Chemie und Alchemie, Empirie und Magie. Zur Zeit Jost Bürgis hingegen waren sie mehr denn je austauschbare Begriffe – das Eine wurde als integraler Bestandteil des Anderen verstanden. Bereits hundert Jahre zuvor wirkte in Zürich mit Conrad Türst (um 1450
1503) ein Stadtarzt, der zugleich ein gefragter Astrologe war. Der promovierte Mediziner
–
Jost Schmid
4 Vgl. Darlington, Oscar G. 1947: 461 – 462 und Zuccato 2005: passim.
5 Vgl. Roeck 2017: 18.
18 Kulturhistorischer Kontext – Weltanschauliche Umbrüche
erstellte am Hof der Sforza in Mailand Horoskope. Er schrieb gesundheitliche und astrologische Gutachten für hohe Beamte und Kleriker. In Innsbruck diente er bei dem nachmaligen Kaiser Maximilian I. als «Astromediziner». Nach dem damals vorherrschenden medizinischen Konzept hatten die Gestirne einen wesentlichen Einfluss auf das Schicksal, den Charakter und den Gesundheitszustand der Menschen (Abb. 3, Kat. 36). Die Meinung, dass die unterschiedliche körperliche Beschaffenheit mit jeweils verschiedenen Planetenpositionen während der Geburt zu tun hat, findet sich schon in der astrologischen Schrift Tetrabiblos des bereits genannten alexandrinischen Gelehrten Ptolemäus (Kap. 2.1.2).
Wie Ptolemäus war Türst gleichzeitig messender Astronom, und nach seinem antiken Vorbild nahm er die erste nachgewiesene Breitengradbestimmung für die Stadt Bern vor. Darauf aufbauend zeichnete er 1495 die erste auf geodätischen und vermessungstechnischen Grundlagen basierende Karte der Schweiz.6
2.2.1 Der Mikrokosmos unter dem Einfluss des Makrokosmos
Die Astrologie fand im erweiterten Bodenseeraum mit der Wiederentdeckung antiker Schriften im Spätmittelalter grössere Verbreitung: Nach 1500 nahm sie ihren Weg in die gedruckten Kalender (Almanache) und etablierte sich gleichzeitig an den Universitäten. Die Tetrabiblos erhielten eine genauere Übersetzung. Auf dieser Grundlage wurde das astrologische System ausgebaut. Selbst Heerführern wurde empfohlen, astrologische Kenntnisse zu erwerben. Der Stellenwert von Geburtshoroskopen war so wenig umstritten wie der Einfluss von unerwarteten Himmelserscheinungen und von den nur schwer zu prognostizierenden Planetenkapriolen auf das irdische Geschehen.
Gemäss Aristoteles’ Vorstellung von der Ordnung des Universums beeinflusste das Mächtigere, Höhere (der Makrokosmos) das weniger Mächtige und Niedere (den Mikrokosmos). So hatten die Himmelskörper direkten Einfluss auf die Elemente und entsprechend auf die Geschehnisse innerhalb der irdischen Atmosphäre. Himmelsphänomene verursachten aber nicht nur, sondern sie mahnten auch, sie drohten und machten Verheissungen. Das bekannteste Beispiel hierzulande ist wohl der sogenannte Weihnachtsstern.
Mit exakten Prognosen zu den Himmelsbewegungen hatten Herrschaftsträger folglich einen entscheidenden Informationsvorteil gegenüber der Konkurrenz. Im Sinne der aristotelischen Lehre verhiess die Astrologie eine gewisse Macht über die Zukunft. Daher erstaunt nicht, dass zusätzliche Ressourcen in die astronomische Beobachtung investiert wurden. Als somit nach 1500 die Ansprüche an die Genauigkeit wuchsen, begannen europäische Herrscher, Sternwarten zu gründen. Das erste fürstliche Observatorium der Neuzeit wurde 1560 von Wilhelm IV. auf dem Kasseler Stadtschloss eingerichtet. Diese Institution liess einen neuen Typ Forscher entstehen, der als messender Astronom seine Beobachtungsmethoden und die Berechnungsmodelle verfeinerte. Zugleich waren spezialisierte Handwerker gefragt, die sich auf die Herstellung und Verbesserung von Messinstrumenten verstanden.
2.2.2 Genaue Messdaten für die Astrologie
In der modernen Geschichtsforschung wird vermutet, dass die Suche nach einem schlüssigen Weltmodell durch Nicolaus Copernicus (1473 – 1543) von Anfang an zum Zweck hatte, präzisere beziehungsweise neue Grundlagen nicht nur für die Kalenderberechnung, sondern auch für die astrologische Prognostik zu schaffen.7 Falls sich die Voraussagen als falsch erwiesen, tat dies dem Glauben an die Botschaften und Wirkungen der Sterne keinen Abbruch. Dann waren eben die zugrunde liegenden Daten zu ungenau gewesen. Zum Beispiel plädierte Johannes Regiomontanus (1436 – 1476) dafür, im Fall einer Fehlprognose die Beobachtungsmethoden zu verfeinern – und nicht etwa das aristotelische Denkmodell zu hinterfragen.8 So sammelten sich immer präzisere astronomische Daten und Methoden an, die auch bei der Hochseenavigation hilfreich waren und dadurch einen wesentlichen Faktor bei der europäischen Expansion im Zeitalter der Entdeckungen bildeten. Aber wie Kapitel 2.2.5 zeigt, trugen die neuen Daten auch dazu bei, ein tausendjähriges Weltbild zu zertrümmern.
Die Suche nach neuen Methoden während der Renaissance und die damit zusammenhängende Experimentierfreudigkeit brachten zahlreiche Innovationen hervor. Eine der wichtigsten Erfindungen war 1450 die Entdeckung des modernen Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (um 1400 – 1468). Anfangs noch eine ausgesprochen aufwen-
19
6 Zentralbibliothek Zürich, Ms. Z XI 307a.
7 Roeck 2017: 821.
8 Ebd.
← Abb. 3
Medizinische Zeichnung zum Menschen unter dem Einfluss des Tierkreises, Hausbuch für Erasmus und Dorothea Schürstab, Nürnberg, um 1472 (vgl. Kat. 36).
dige und teure Technik, entwickelte sich das Druckverfahren zu einer schnellen und billigen Transfermöglichkeit von neuem Wissen im 16. Jahrhundert – und damit zum Katalysator der Reformation sowie einer wissenschaftlichen Revolution. Die Verbreitung der Lutherbibel und Copernicus’ Idee eines heliozentrischen Weltmodells wäre in diesem umwälzenden Ausmass sonst nicht denkbar gewesen.
2.2.3 Fürsten als gebildete Künstler
Die neue Drucktechnik und die damit verbundene effiziente Möglichkeit, Ideen zu verbreiten, befeuerte ein grosses wissenschaftliches Gespräch im lateinischen Westen, von dem sich die Herrschaftsträger nicht ausschliessen wollten. Es entstand ein neuer Prototyp des gebildeten Fürsten, der selbst auf dem Feld der Künste und der Wissenschaften zu brillieren wusste. Weniger begabte Herrschaftsträger scharten zahlreiche Künstler und Gelehrte um sich.9 War dies für einen ambitionierten Fürsten nicht möglich, umgab er sich mit Accessoires von Künstlern und liess sich damit abbilden, um den entsprechenden Habitus zu pflegen.10 Besonders anschaulich kann dies am Beispiel des St. Galler Globus von 1576 nachvollzogen werden: Am Korbgestell erscheint im Licht der Radiographie eine übermalte Zeich-
nung, die den mecklenburgischen Herzog Johann VII. (1558
1592) als Ersten unter Seinesgleichen zeigt, das heisst zusammen mit verschiedenen Gelehrten. Gleichzeitig inszeniert er sich beim Malen eines Globuspokals. Dabei handelt es sich – wie beim St. Galler Globus selbst auch – um eine Kombination von Erd- und Himmelsmodellierung. 11 Die Selbstinszenierung zusammen mit geographischen und astronomischen Modellen drückte nicht nur eine Verfügungsgewalt gegenüber kostbaren Artefakten aus, sondern verwies auch auf Macht in Raum und Zeit. Beherrscht wurde also nebst einem Territorium auch ein Spezialwissen über die astrologische Prognostik, sprich: die Zukunft. In Porträts waren solche Attribute deshalb vor allem Herrschaftsträgern vorbehalten, die dadurch auf ihren Rang als Fürsten verweisen konnten.
Ähnlich subtil inszeniert sich der Landgraf Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (1532 – 1592) in einem Doppelgemälde von 1577 als gebildeter Fürst zusammen mit seiner Gattin (Abb. 4). Links von Wilhelm steht ein kupferner Himmelsglobus, rechts von ihm sind verschiedene Messinstrumente zu erkennen, die sich ausserhalb des Raums auf einer Art Terrasse befinden. Bei dieser Plattform handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die sogenannte AltaneG des Kasseler Hofs: die bereits
20
–
9 Roeck 2013: 26. 10 Schmid 2018: passim. 11 Schmid 2019: 152 – 156. Kulturhistorischer Kontext – Weltanschauliche Umbrüche
Abb. 4
Doppelgemälde Wilhelm IV. von Hessen-Kassel und Sabina von Württemberg, Caspar van der Borcht (vor 1550 – 1610) zugeschrieben, Kassel, 1577, Öl auf Leinwand.
erwähnte Sternwarte. 12 Sie entstand unter Wilhelms Bauleitung an der Südwestecke eines neuen Schlossflügels als Balkon für Himmelsbeobachtungen. Damit illustriert das Bild zwei nicht ganz unabhängige Trends um die Mitte des 16. Jahrhunderts: erstens der Bau beziehungsweise Ausbau von Residenzen in einer zunehmend zentralisierten Herrschaft, zweitens der Aufbau von wissenschaftlichen Sammlungen. Dazu gehörten Bibliotheken, exotische und antike Fundstücke sowie wissenschaftliche Instrumente. Während solche Kunstkammern in der Anfangszeit oft ein beliebiges Sammlungsprofil hatten, war Wilhelms Kollektion an astronomischen Messinstrumenten einschlägig. Sie hatte eine erlesene Qualität und suchte ihresgleichen im Heiligen Römischen Reich. Rechts vom porträtierten Landgrafen beziehungsweise links von seiner Frau Sabina von Württemberg (1549 – 1581) finden sich allem Anschein nach ein grosser AzimutalquadrantG, möglicherweise der sogenannte Wilhelmsquadrant, sowie ein TorquetumG. Das Bild zeigt Wilhelm mitten in der von ihm geleiteten wissenschaftlichen Unternehmung zur Vermessung des Himmels. Damit repräsentierte er gewissermassen das humanistische Ideal des gelehrten Fürsten. Zu einem erheblichen Teil schuf sich Wilhelm gerade durch sein wissenschaftliches Image eine geachtete und einflussreiche Position im Heiligen Römischen Reich. Schon während seiner Prinzenzeit war er durch die eigene Konstruktion einer Planetenlaufuhr, der sogenannten Wilhelmsuhr (Abb. 60) als mathematisch höchst gebildet bekannt geworden. Gefördert wurden die astronomischen Interessen des jungen Wilhelms vom Wittenberger Universitätsabsolventen Victorinus Schönfeld (1525 – 1592), der selbst zahlreiche astrologische Vorhersagen veröffentlichte.13
2.2.4 Neuer Stern passt nicht ins Weltbild
Unter diesem Einfluss verfasste Wilhelm IV. astrologische Gutachten, insbesondere Deutungen von Himmelsereignissen für andere Herrschaftsträger, obwohl er selbst, im Gegensatz zu den meisten deutschen Fürsten, der astrologischen Prognostik eher skeptisch gegenüberstand – was vor allem mit seinem Wissen um die Ungenauigkeit der Messdaten zusammenhing. Oft standen diese Herrscher in der politischen Rangordnung über ihm: Kurfürst August von Sachsen (1526 –1586) bat ihn zum Beispiel um eine astrologische Stellungnahme, als im November 1572 mehr oder weniger plötzlich ein heller Lichtpunkt im Sternbild der Cassiopeia aufleuchtete. Erste astrologische Deutungsschriften interpretierten das Phänomen als einen KometenG
ohne Schweif, der nahendes Unheil verkünde. Gemäss der damaligen aristotelischen Vorstellung entstanden solche Erscheinungen in der Luft- oder Feuerzone zwischen der Erdoberfläche und der Mondsphäre. Hier bildeten sich die Wolkentypen, alle Niederschlagsformen, die Winde und andere atmosphärische Erscheinungen wie Blitze und Polarlichter. Für die astrologische Vorhersage waren nebst den Kometen auch Sternschnuppen entscheidend. Jenseits der Mondsphäre bewegten sich die Planetensphären gemäss einer programmierten und mehr oder weniger komplizierten Mechanik. Ganz aussen befand sich die Fixsternsphäre, die ebenfalls um den kosmologischen Mittelpunkt, also um die Erde, rotierte. Aber die Sterne an diesem Firmament waren ewig und unverrückbar.
21
12 Gierse/Gaulke 2007: 248. 13 Gaulke 2007: 15 – 17.
Als sich der Lichtpunkt auch nach Wochen nicht bewegte, wurde klar, dass es sich nicht um einen Kometen und ebenso wenig um einen neuen Wandelstern, also einen Planeten, handeln konnte. Mittlerweile wurde er als neuer Stern bezeichnet. Der im süddeutschen Raum herausgegebene Einblattdruck «Newe Zeitung» vom Januar 1573 beschreibt das Phänomen denn auch als «neuwer Stern von der natur Jovis» (Abb. 5). Heute ist bekannt, dass es sich um eine galaktische Supernova handelte: um das Sterben eines massereichen Sterns, das offenbar die Leuchtkraft Jupiters aufwies. Ein gutes Jahr später verblasste sie allmählich. Überreste von der Explosion können heute noch als Lichtecho einer Gaswolke registriert werden. Die Abbildung auf dem Einblattdruck zeigt eine grosse Aufregung bei Dämmerung, als der Stern noch oder bereits zu sehen war. Bemerkenswerterweise schliesst der darunterstehende Text bereits einen Kometen oder Planeten aus, und er lässt offen, ob es sich um ein neues Phänomen an der eigentlich als unveränderlich gedachten Fixsternsphäre handelt: «Seiner groesse halben ubertrifft er alle anderen angehefften Firmaments Sternen / […] das es sich ansehen lesst / er uberhoehe der Cometen und Planeten weitstand von der erden / bevorab weil er sein ohrt nicht enderet.»1⁴ Auf diese analytische Beschreibung folgt allerdings eine traditionelle Deutung des Ereignisses als Wunderzeichen, das bevorstehende Strafen Gottes ankündigt, welche nur durch Einsicht und aufrichtige Busse abgewendet werden können.
2.2.5 Himmlische Revolution
Landgraf Wilhelm IV. entging das neue Himmelsphänomen am Himmel nicht, und er tauschte sich mit anderen Astronomen darüber aus, insbesondere mit dem dänischen Edelmann Tycho Brahe (1546 – 1601). Wilhelm wie Brahe konnten mit ihren präzisen Metallinstrumenten keine Verschiebung in der Parallaxe feststellen. Das heisst, dass sich das Objekt in nicht mehr messbarer Entfernung befand; jedenfalls jenseits der Planetensphären. Von der frühen Interpretation ausgehend, es handle sich um einen Kometen ohne Schweif, schloss Wilhelm, dass alle Kometen oberhalb der Mondsphäre entstünden. Daraus ergab sich die logische (und revolutionäre) Folgerung, dass die kosmischen Regionen keinesfalls ewig und unveränderlich sind, sondern dass es auch dort Prozesse des Werdens und Vergehens gibt. Der von Aristoteles beschriebene fundamentale Gegensatz zwischen «ewigem Himmel» und «veränderlicher Erde» begann sich mit dieser Beobachtung aufzulösen. Auf der Altane beziehungsweise im Observatorium wurde Wilhelm von seinem 14 Zentralbibliothek Zürich PAS II 10/2.
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Kulturhistorischer Kontext – Weltanschauliche Umbrüche
Abb. 5 «Newe Zeitung», Süddeutschland, 20. Januar 1573.
Hofastronomen, dem Mathematiker Christoph Rothmann (1555 – 1601), unterstützt. Rothmann seinerseits lehnte daraufhin die antike Vorstellung fester Planetenbeziehungsweise Kristallsphären ab. Gäbe es sie nach der antiken Vorstellung, müssten sie von den Kometen ja durchstossen und zertrümmert werden. Die neue Annahme fehlender Kristallsphären sowie die offensichtliche Veränderlichkeit in den kosmischen Regionen machten Rothmann zu einem der ersten überzeugten Anhänger der Lehre des Copernicus, der mit einer lange zurückgehaltenen Publikation die Sonne ins Zentrum rückte und die Erde in Bewegung setzte (De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543; Kat. 32).1⁵
Tycho Brahe seinerseits entwickelte derweil ein eigenes kosmisches Modell, das zwischen dem traditionellen Weltbild nach Ptolemäus und Copernicus vermitteln sollte. Hingegen brach er kühn mit den antiken Autoritäten Aristoteles und Ptolemäus, indem er den «neuen Stern» von 1572 als eine frische Erscheinung an der bisher als «ewig» geltenden Fixsternsphäre interpretierte. Dies hielt Brahe in seiner Schrift De nova […] Stella fest, und ihre Publikation 1573 erregte in Europa höchstes Aufsehen. Das beschriebene Phänomen ist seither entsprechend als NovaG bekannt. In der Einleitung schreibt Brahe, der lange als Erstentdecker (oder mindestens als Erstbeschreibender) des Sterns galt, ihm sei der neue Stern am Abend des 11. Novembers 1572 erstmals aufgefallen. Mindestens ein Beobachter ist ihm jedoch zuvorgekommen: In der Zentralbibliothek Zürich befinden sich die handschriftlichen Annalen des Winterthurer Pfarrers Bernhard Lindauer (1520 – 1581), dem die erste nachweisbare Entdeckung des Phänomens zugeschrieben werden kann (Kat. 31). Denn Lindauer notierte bereits für den 7. November, als der neue Stern wohl noch nicht die volle Leuchtkraft erlangt hatte, folgende Beobachtung: «Aº 1572 Den 7. Nov: ist am Himmel ein neüwer grosser heiterer stern gesehen, zů Winterthur, gleich ob dem haubt [Cassiopeia] sin anfang und aufgang, von mitternacht gegen nidergang. Zů Augsburg auch gesähen».1⁶
Ob Pfarrer Lindauer die Entdeckung selbst machte oder erst infolge einer Mitteilung aus Augsburg, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Die entsprechende Information hätte sich allerdings in Windeseile verbreiten müssen, weshalb davon auszugehen ist, dass Lindauer die Bemerkung betreffend Augsburg erst später ergänzte. Lindauers Stil, der die Erscheinung am Nachthimmel nüchtern wie in einer Chronik beschreibt, ist charakteristisch für den Autor. Lindauer
vermeidet in seiner Sachlichkeit eine astrologische Interpretation ebenso wie eine kosmologische Schlussfolgerung. Sein Bericht verdeutlicht exemplarisch, dass sich die Himmelsbeobachtung im 16. Jahrhundert nicht nur auf die Fürstenhöfe und andere gelehrte Zentren beschränkte: Sie beschäftigte zu einem gewissen Grad auch den niederen Klerus und gebildete Bürger.
2.2.6 Kassel als Biotop protestantischer Gelehrsamkeit
Nebst Christoph Rothmann holte Wilhelm IV. weitere Wissenschaftler und Instrumentenbauer an seinen Hof. Dass verschiedene Mitarbeiter bei Wilhelms astronomischen Unternehmungen eine wichtige Rolle spielten, wird im erwähnten Doppelgemälde von 1577 angedeutet: Rechts von Wilhelm sind zwei Männer dargestellt, die sich mit den Beobachtungsinstrumenten auf der Altane beschäftigen. Die Entwicklung von Fürstenhöfen nördlich der Alpen zu wissenschaftlichen Kristallisationskernen war Mitte des 16. Jahrhunderts ein neues Phänomen, das sich von Italien nach Norden verbreitete.
Viele Herrscher lockten Gelehrte und Kunstschaffende an ihre Residenzen – darunter Kunsthandwerker. Umgekehrt wurden Gelehrte und Kunstschaffende von den frühneuzeitlichen Höfen angezogen, weil dort nicht nur ein Auskommen, sondern auch ein intellektuell inspirierendes und innovatives Klima lockte. So fanden sich auch bei Wilhelm IV. in Kassel die bereits genannten Gelehrten Schönfeld, Rothmann und – besuchsweise – Brahe ein. Es ist kein Zufall, dass Schönfeld wie Rothmann an der Universität Wittenberg ausgebildet wurden. Dort hatte sich um den Reformator Philipp Melanchthon (1497 – 1560) ein Zentrum für kosmographische Forschungen herausgebildet, woraus zahlreiche namhafte deutsche Geographen und Astronomen des 16. Jahrhunderts hervorgingen. Melanchthon forderte, die Kosmographie – die auch die Astronomie miteinschloss – müsse Gottes Wirken in der Natur veranschaulichen und beweisen. Der Reformator sorgte entsprechend dafür, dass in Wittenberg regelmässig eine Vorlesung über das zweite Buch der Historia naturalis von Plinius dem Älteren gehalten wurde.1⁸
Das «Buch der Natur» und die Bibel in Volkssprache waren wie parallele Texte zur Schöpfung. Beide galt es gleichermassen zu verstehen. Dazu mussten immer mehr Daten gesammelt, verglichen, interpretiert und ausgetauscht werden. Der Buchdruck wirkte auch hier als Reaktionsbeschleuniger. Die Reformation beziehungsweise der schwindende Einfluss der katholischen
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1⁷
15 Hamel 2007: 37.
16 Zit. Zentralbibliothek Zürich Ms B. 13, f. 24r; dazu bereits Griesser 1975: passim.
17 Roeck 2013: passim. 18 Lindgren 1998: 240.
Kirche als konservative Macht begünstigte zudem die Bildung und den Unterricht von neuen kosmologischen Ideen und Modellen.
Einer der wesentlichen Inhalte der von Melanchthon geprägten protestantischen Kosmographie war die sogenannte Providentialehre: Insbesondere die göttliche Vorsehung könne aus der Beobachtung von Natur und Umwelt abgeleitet werden. Der Lauf der Sterne zum Beispiel biete eine Möglichkeit, Gottes Willen zu erkennen. Eng mit der Wiederherstellung des «wahren Evangeliums» durch die protestantische Bewegung war deshalb die Wiederbelebung der antiken Astrologie verbunden. Beide bildeten in Melanchthons Augen komplementäre Aspekte einer allgemeinen Aufklärung. Richtig verstanden und praktiziert sei die Astrologie ein göttliches Geschenk für die Ordnung eines christlichen Lebens, aber auch ein Mittel der prophetischen Warnung. So avancierte die Astrologie zu einem zentralen Unterrichtsstoff in Wittenberg, und sie wurde von bedeutenden Astronomen wie Erasmus Reinhold (1511 –1553) und Joachim Rheticus (1514 – 1574) gelehrt. Beide Professoren waren zugleich unter den ersten, die bereit waren, die Ideen des Copernicus nicht nur als nützliches mathematisches Modell, sondern auch als kosmologische Realität anzuerkennen. Durch ihren Unterricht und ihre Publikationen hatten sie einen wesentlichen Anteil an der Verbreitung dieses neuen Weltbilds und am weltanschaulichen Umbruch, der folgte. 1 ⁹ Hunderte von Studenten verliessen Wittenberg mit Melanchthons Lehre im Gepäck. Sie waren einerseits empfänglicher für Copernicus’ Kosmologie, sorgten andererseits seit den 1560er-Jahren in den protestantischen Städten für eine Flutwelle von astrologischen Werken.
2.2.7 Jost Bürgi am Puls der Zeitenwende
Ausser den bereits genannten Wittenberger Absolventen Rothmann und Schönfeld umfasste Wilhelms wissenschaftliche Entourage in Kassel auch den Mathematiker und Astronomen Andreas Schöner (1528 – 1590) sowie den Präzisionsinstrumentenbauer und Uhrmacher Eberhard Baldewein (um 1525 – 1593). Sein Nachfolger Jost Bürgi wurde 1579 eingestellt (Kap. 4.3, Kat. 15). Das wichtigste wissenschaftliche Ergebnis am Hof Wilhelms IV. war die Aufstellung eines der ersten von Grund auf neu vermessenen Fixsternkataloge seit Claudius Ptolemäus – den damals etwa 150 Jahre alten ungenaueren Katalog von Ulugh Beg aus Samarkand ausser Acht lassend.21 Exakt vermessene Sternörter waren
wichtig, weil sie als Referenzpunkte für die Vermessung der Planetenbewegungen dienten. Und wer die Planetenbahnen korrekt berechnen konnte, der sollte auch bessere astrologische Prognosen stellen können. Hinsichtlich solcher Prognosen gab es im lateinischen Westen allerdings auch Bedenken theologischer Art: Der St. Galler Reformator Joachim Vadian (1483 – 1551) zum Beispiel sah damit die Willensfreiheit des Menschen in Zweifel gezogen. Andere befürchteten, dass der Glaube an den Einfluss der Gestirne Gottes Allmacht infrage stellen könnte. Die Befürworter des astrologischen Wegs wiederum führten zur Verteidigung ins Feld, die Sterne würden wohl die Menschen regieren, doch sei es Gott, der die Sterne lenke. Eine vermittelnde Position bestand schliesslich in der Annahme, dass sie «geneigt» machen, aber nicht zwingen können: Die (Winkel-)Neigung der Sterne, bezogen auf deren Position zum Beispiel während der Geburt, bilde die Neigung von Menschen für bestimmte Handlungsweisen ab. Auch Kepler sah es so.22
Der 1587 von Rothmann fertiggestellte Kasseler Sternkatalog war wegen der stetigen Verbesserung der Messtechnik wesentlich genauer als die bisher verwendeten antiken Daten und in etwa vergleichbar mit den zeitgenössischen Messungen von Tycho Brahe. Allerdings blieb der Kasseler Sternkatalog im 16. Jahrhundert unveröffentlicht, und er lag deshalb in der entscheidenden Phase des kosmologischen Umbruchs nicht gedruckt vor. Jost Bürgis zentraler Beitrag zu diesem Sternkatalog beziehungsweise zur Vermessung der sich bewegenden Himmelsobjekte war eine Uhr, die erstmals die Sekunden anzeigte und so eine bisher unerreichte Genauigkeit der Zeitmessung erzielte (Kap. 3.3). Das innovative Schaffen des Toggenburgers war stets pragmatisch und lösungsorientiert. Zwecks Erleichterung von Planetenbahnberechnungen fand Bürgi einen einfachen und schnellen Weg zur Ermittlung von Sinuswerten und Logarithmen (Kap. 4.4) –unabhängig von dem gemeinhin als Logarithmenerfinder geltenden John Napier (1550 – 1617), der seine Tafelwerke nach Aussage von Zeitgenossen erst später entwickelte, aber vor Bürgi publizierte. Bei Bürgis mathematischen Überlegungen hätte wenig gefehlt, um der Mit- und Nachwelt weitere hilfreiche Meilensteine zur Verfügung zu stellen wie etwa den Rechenschieber. Bürgi verzichtete aber darauf, seine Entdeckungen weiterzuentwickeln, und er war in Sachen Publizieren zurückhaltend.
24
20
19 Meurer 1992: 205.
20 Barnes 2018: 39 – 40.
21 Etwa gleichzeitig mit dem Kasseler Katalog entstand der ebenfalls neu verfasste Fixsternkatalog von Tycho Brahe. Kulturhistorischer Kontext – Weltanschauliche Umbrüche
22 Roeck 2017: 820
– 821.
Weshalb Bürgi mit seinem Genie nicht die letzten Schritte seiner mathematischen Theorie ging und den Buchdruck kaum für seine neuen Ideen nutzte, lässt sich damit erklären, dass die für ihn wichtigen Fragestellungen praktischer Natur waren. Eine formale Grundausbildung im Rahmen der Sieben Freien Künste, «septem artes liberales»G, und damit das Gebot der Theoriebildung, blieben ihm vorenthalten. Darin lag aber möglicherweise seine grosse Chance – indem er gezwungen war, ausserhalb der herkömmlichen Kategorien zu denken (Kap. 4.4). Weil sich Bürgi in seinem Gesamtwerk kaum einordnen liess, war es für die etablierte Geschichtsschreibung entsprechend lange schwierig, den vielseitigen technischen und mathematischen Begabungen Bürgis durch eine Gesamtwürdigung gerecht zu werden. Dabei kann Jost Bürgi als einer der zentralen Akteure in einer Zeit gesehen werden, als die theorielastige aristotelische Naturphilosophie immer mehr zugunsten einer an der EmpirieG orientierten Naturwissenschaft aufgegeben wurde.
Ende 1604 trat Bürgi in kaiserliche Dienste (Kat. 16), und er erhielt auf der Prager Burg eine Werkstatt mit zwei Gehilfen (Kap. 4.5). In Prag arbeitete er mit Kepler zusammen. Ein ähnliches, noch wirkmächtigeres Beispiel für ein solches Zusammenspiel zwischen Kunstfertigkeit und Wissenschaft findet sich noch im gleichen Jahrzehnt bei der astronomischen Verwendung des neuartigen Fernrohrs in Italien. Es war diese Symbiose von genialem Präzisionshandwerk und theoretischem Modellbau, die zu einem kosmologischen Umbruch führte, der schliesslich dem heliozentrischen Weltbild Bahn brach.
25
TECHNIKHISTORISCHER KONTEXT
3.1 Astronomische Winkelmessgeräte
• Günther Oestmann
Die Ermittlung der Positionen von Planeten und Fixsternen – in jüngerer Zeit als Astrometrie bezeichnet –bildete über lange Zeiträume hinweg die Hauptaufgabe der AstronomieG. Astrometrische Beobachtungen liefern das Material für Modelle und Theorien der Himmelsbewegungen, beginnend mit den babylonischen algebraischen Ansätzen und den geometrischen Modellen der Griechen. Als Beobachtungswissenschaft ist die Astrometrie eng mit der Himmelsmechanik verbunden.1 Winkelmessungen sind dabei von essenzieller Bedeutung, und in der Lebensspanne Jost Bürgis gab es eine Vielzahl von hierfür bestimmten Instrumententypen, die mit wenigen Ausnahmen auf das Altertum zurückgehen. Im 16. Jahrhundert steigerte sich die Teilungs- und Ablesegenauigkeit erheblich, und es gelangen Messungen bis hinunter auf eine BogenminuteG. Das ist eine äusserst kleine Grösse, die man sich durch Ausstrecken eines Arms und Ballen der Faust anschaulich vorstellen kann: Ballt man die Hand zur Faust, entspricht deren Breite ungefähr 10 Grad. Spreizt man den kleinen Finger und Daumen möglichst weit ab, beträgt die Distanz zwischen den Fingerspitzen etwa 25 Grad (Abb. 6). Die Breite von Ring-, Mittel- und Zeigefinger ergibt zusammen circa 5 Grad, die Breite des kleinen Fingers allein circa 1 Grad, also 60 Bogenminuten. Der Durchmesser von Sonne und Mond beträgt etwa 30 Bogenminuten, wobei der Durchmesser des Monds je nach seiner Entfernung zur Erde geringfügig schwankt.
Die Teilung des Kreises in Grade ist die Voraussetzung für Winkelmessungen. Die Kreisteilung haben die Griechen wahrscheinlich aus der älteren orientalischen Kultur, von den Babyloniern, übernommen.2 Die erste Erwähnung der Teilung des Kreises beziehungsweise der EkliptikG in 360 Grad findet sich beim griechischen Astronomen und Mathematiker Hypsikles (um 175 v. Chr.).3 Um 100 n. Chr. erwähnte Heron von Alexandria die 360-Grad-Teilung in einer Beschreibung seiner Dioptra – eines Feldmessgeräts, das sich auch für astronomische Zwecke einsetzen liess.4
1 Einen vorzüglichen geschichtlichen Überblick bietet Dick 2020 (1997); für die instrumentellen Aspekte vgl. Chapman 1983b; 1995.
2 Szabó 1992: 322 – 328.
3 Manitius 1888.
4 Schöne 1899: 97f.
Abb. 6 Winkelmessungen in Peter Apians Instrument Buch
Abb. 7 Triquetrum von Oronce Finé.
Günther Oestmann
Jost Schmid
Ludwig
Oechslin
3.1.1 Parallaktisches Instrument
Das im Almagest5 des Ptolemäus beschriebene parallaktische Instrument (Abb. 7) wurde im Mittelalter als Regula Ptolemaei oder Triquetrum (Dreistab) bezeichnet. Es diente der Messung der Zenitdistanz von FixsternenG und insbesondere des Mondes zum Zeitpunkt der Kulmination.6 Das Triquetrum mit seiner Teilung in gleichlange Abschnitte auf gerader Linie hatte den Vorzug, einfach herstellbar zu sein. Noch Nicolaus Copernicus benutzte ein derartiges, von ihm selbst aus Fichtenholz gefertigtes Instrument für seine Beobachtungen. Tycho Brahe (1546 – 1601) erhielt dieses 1584 von dem Frauenburger Stiftsherrn Johannes Hannov als Geschenk.7
3.1.2 Astrolabium
Das AstrolabiumG planisphaerium (Abb. 8) ist ein Universalinstrument, das sowohl didaktischen Zwecken als auch der Messung dienen konnte. Zugleich fungierte es als eine Art astronomischer Rechenschieber.8 Es eignete sich für vielfältige astronomisch-astrologische, navigatorische, vermessungstechnische und kartographische Anwendungen, die sonst einen nicht unerheblichen Rechenaufwand bedeutet hätten. In der funktional reduzierten Form der drehbaren Sternkarte lebt das Astrolabium bis in die heutige Zeit fort.9
Der Ursprung des Astrolabiums reicht bis in die Spätantike zurück. Ob es der griechische Astronom Hipparchos von Nicäa (circa 160 – 125 v. Chr.) kannte, ist eine umstrittene Frage. Es war aber sehr wahrscheinlich vor Claudius Ptolemäus (circa 100 – 160 v. Chr.) bekannt, der um das Jahr 150 ein Traktat über die dem Instrument zugrundeliegende stereographische Projektion verfasst hatte. Das in seinem astrologischen Werk TetrabiblosG erwähnte «horoskopische Instrument»10 war möglicherweise ein Astrolabium, doch könnte es sich auch um eine Wasseruhr oder die im Almagest beschriebene Beobachtungsarmillarsphäre gehandelt haben (Kap. 3.1.3).
5 V. Buch, 12. Kapitel (Ptolemäus 1963: I, 295 – 299).
6 Dicks 1953/54: 80f.
7 Dreyer 1894: 130f.
8 Aus der Fülle der Literatur seien an dieser Stelle nur die beiden Handbuchartikel Willy Hartners (Hartner 1938/39, 1960), die grundlegenden Bücher von Michel 1947 und Morrison 2009 sowie der kurzgefasste Überblick des Verfassers (Oestmann 2014a) erwähnt.
9 Grimwood 2018.
10 Ptolemäus 1980: 229.
Im 4. Jahrhundert erlangte das Astrolabium seine endgültige Gestalt mit Aufhängevorrichtung, AlhidadeG und Absehen (Dioptern). Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs wurde das antike Wissen im arabisch-islamischen Kulturkreis assimiliert und kreativ weiterentwickelt. Das Potenzial des Astrolabiums wurde voll ausgeschöpft, und zwar sowohl was die Theorie und Konstruktion als auch dessen Anwendungsmöglichkeiten anlangt. Es wurden neue Projektionsvarianten und mannigfaltige Bauformen entwickelt. Um das Jahr 1000 sind erste Ansätze einer Übermittlung arabischen Wissens von der spanischen Halbinsel nach Europa feststellbar, wobei der Weg dieser Transmission von Córdoba nach Barcelona und von dort über die Pyrenäen nach Südfrankreich, Lothringen, Deutschland und England führte. Das Astrolabium faszinierte die frühmittelalterlichen Gelehrten, weil es ihnen mit seinen Liniensystemen und der Möglichkeit der Zeitmessung die rationale Durchdringung der Welt ermöglichte. Die meisten Instrumente wurden zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert aus dem muslimischen Spanien importiert, doch um 1400 begannen sich in Zentraleuropa erste spezialisierte Handwerker mit eigenen Werkstätten zu etablieren. Fürsten, Könige und Kaiser sammelten Astrolabien in zunehmendem Masse, und im 16. Jahrhundert erreichte die Verbreitung des Instruments ihren Höhepunkt. Neben Kunstkammerobjekten, die kaum jemals in praktischem Gebrauch waren, kamen Papierinstrumente auf. Dazu wurden Vordrucke auf Holz oder Pappe aufgezogen.
Wichtige Zentren der Produktion von Astrolabien waren Nürnberg und Augsburg, doch verlagerte sich das Zentrum der Herstellung in den 1530er-Jahren in die Niederlande (ins heutige Belgien). In Löwen standen die Instrumentenmacher in engen Beziehungen zur dortigen Universität, und der Einfluss der «Löwener Schule», die hohe Präzision mit anspruchsvoller ästhetischer Gestaltung verband, zeigt sich auch im Werk von Erasmus Habermel († 1606), der am Hof Kaiser Rudolfs II. tätig und ein Zeitgenosse Bürgis war. Habermel zählt zu den produktivsten und bedeutendsten Instrumentenmachern der Renaissance. Neben Astrolabien hat er auch Armillarsphären, Sonnenuhren, Torquetra, Quadranten, Vermessungs- und Zeicheninstrumente, Geschützaufsätze und astronomische Kompendien in höchster Vollendung hergestellt.
Abb. 9
Beobachtungsarmillarsphäre (Astrolabon organon):
In den Werkstätten der American University of Beirut im Auftrag von Frans Bruin (1922 – 2001) angefertigtes Modell.
Die erreichbare Messgenauigkeit von Astrolabien hielt sich jedoch in Grenzen. Ablesungen unter einem halben Grad waren kaum möglich, auch war – je nach den handwerklichen Fähigkeiten des Verfertigers – mit Teilungsfehlern zu rechnen, die etwa denselben Betrag ausmachen konnten.11
3.1.3 Astrolabon organon / Armillarsphäre
Das von Ptolemäus im fünften Buch des Almagest beschriebene Astrolabon organonG (Abb. 9) diente ausschliesslich der Beobachtung und ist von den späteren Armillarsphären (Ringkugeln) für didaktische Zwecke streng zu unterscheiden.12 Das Astrolabon organon ermöglichte es, die für die Planetentheorie erforderlichen Positionen von Sternen und Planeten direkt in ekliptikalenG Koordinaten zu messen, ohne sich der Mühe unterziehen zu müssen, die Beobachtung von Horizontal- und Höhenwinkeln im Horizontsystem rechnerisch umzuwandeln. Spätere Bauformen gaben die Positionen von Himmelsobjekten auch in äquatorialen Koordinaten an.
Muhammad Nasīr ad-Dīn at-Tūsī (1201 – 1274), Leiter des Observatoriums Marāgha im Nordwesten Persiens, beschrieb die Konstruktion der Ekliptikalarmille eingehend; diese stellte wohl das Hauptinstrument der Sternwarte dar.13 Das Wissen über das Astrolabon organon wurde wahrscheinlich im späten 12. Jahrhundert vom Osten in den Westen übertragen, als Gerard von Cremona den Almagest aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzte. Eine Beschreibung des Instruments wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts in die Libros del Saber aufgenommen, die Alfons X. «der Weise» von Kastilien zusammenstellen liess.1⁴ Im 15. und 16. Jahrhundert verwendeten Bernhard Walther, Nicolaus Copernicus und Tycho Brahe die Ekliptikalarmille bei ihren Beobachtungen. Walther erreichte mit seinem Instrument eine Beobachtungsgenauigkeit von circa zehn Bogenminuten.1⁵
Die Ringkugel für didaktische Zwecke – ein Symbol der Astronomie und der Gelehrsamkeit im Allgemeinen – tauchte in Europa bereits im ausgehenden 10. Jahrhundert auf. Gerbert d’Aurillac (der nachmalige Papst Sylvester II., † 1003) lernte das Instrument in Spanien kennen und verwendete es als visuelles Hilfsmittel im Unterricht.1⁶
11 Chapman 1983a.
12 Ptolemäus 1963: I, 254 – 258; zum Astrolabon organon vgl. Rome 1927, Bruin 1968a, Włodarczyk 1987 und Stückelberger 1998.
13 Nolte 1922: 19 – 26; Seemann 1928: 33 – 53.
14 Nolte 1922: 26 – 35.
15 Kremer 1980.
16 Darlington 1947: 467 – 469.
28
Technikhistorischer Kontext
Abb. 8
Astrolabium: Anfertigung des Verfassers nach Johannes Krabbe, Newes Astrolabium, Sampt dessen Nutz vnd Gebrauch , Wolfenbüttel 1609.
3.1.4 Nocturnal
Das Nocturnal, auch Sternuhr genannt (Abb. 10), benutzt zur Zeitmessung FixsterneG, die sich scheinbar um den in unmittelbarer Nähe zum Himmelspol stehenden Polarstern drehen.1⁷ Dabei handelt es sich um die beiden äusseren Sterne des Grossen Bären (α und ß Ursae maioris; Dubhe und Merak), deren Verlängerung direkt auf den Polarstern weist. Auch der hellste Stern des Kleinen Bären (β Ursae minoris; Kochab) wurde zur Zeitmessung benutzt. Die Himmelskugel dreht sich in 23 Stunden und 56 Minuten einmal um ihre Achse, doch ist das Ablesen der Zeit an der «Himmelsuhr» nicht einfach: Einerseits bewegen sich die Sterne entgegen dem Uhrzeigersinn, andererseits unterscheidet sich die SternzeitG von der mittleren SonnenzeitG. Infolge der Erdbewegung ändert die Sonne ihre Stellung zu den Fixsternen scheinbar täglich etwa um ein Grad und rückt um diese Grösse von West nach Ost in der Ekliptik vor. Aus diesem Grund entspricht der mittlere Sonnentag nicht dem Sterntag, sondern muss um jene Zeit länger sein, welche die Erde benötigt, um bei ihrer Rotation die Lage des jeweiligen Beobachterstandorts um circa ein Grad zu verschieben. Diese Zeitspanne entspricht rund vier Minuten Sternzeit.
Das Nocturnal besteht aus drei konzentrischen, übereinandergelegten Scheiben von unterschiedlicher Grösse, die im Zentrum mittels einer gebohrten Niete fixiert sind, sich aber gegeneinander verdrehen lassen. Durch die Zentralbohrung werden der Polarstern anvisiert und ein drehbares Lineal (Alhidade) mit einem der vorangehend erwähnten Bezugssterne in Deckung gebracht. Sodann lässt sich die Zeit am äusseren Rand des Instruments ablesen, der öfters mit 24 Zacken zum Ertasten bei Nacht versehen ist. Mit einem sorgfältig ausgeführten Nocturnal liess sich die Zeit auf fünf bis zehn Minuten genau bestimmen.
Das Instrument ist mit grosser Wahrscheinlichkeit europäischer Herkunft und besass in der sogenannten Scheibe mit dem Sehrohr oder der Nachtuhr (Horologium nocturnum) einen Vorläufer.1⁸ Die in mehreren illuminierten Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts abgebildete Vorrichtung diente dazu, die Mönche für das nächtliche Chorgebet zu wecken. Zudem steuerte sie –wie die Wasseruhr und später das Astrolabium – den Lebensrhythmus gemäss den Ordensregeln. In der Seefahrt diente das Nocturnal zur Korrektur der Breitenbestimmung und als Zeitmessgerät zur Berechnung des
17 Für einen Überblick vgl. Oestmann 2001 und Baudoux 2014.
18
1954;
29
Michel
Wiesenbach 1991a, 1994. In der älteren Literatur ist die Vorrichtung öfters als Linsenfernrohr fehlinterpretiert worden.
Abb. 10
Nocturnal von Peter Apian.
Abb. 11
Torquetum von Peter Apian.
Zeitpunkts des Hochwassers am jeweiligen Ort (Hafenzeit, englisch establishment of port, das Intervall zwischen dem Meridiandurchgang des Voll- oder Neumonds und dem Zeitpunkt des folgenden Hochwassers).1⁹
Die erste gedruckte Beschreibung des Nocturnals präsentierte Peter Apian (1495 – 1552) in seinem Cosmographicus liber (Landshut 1524). Das Buch wurde vielfach aufgelegt, erschien in mehreren Übersetzungen und trug wesentlich zur Verbreitung dieses Instrumententyps bei. Als Ersatz für die kostspieligen, gravierten Metallgeräte gab es – analog zum Astrolabium – Holzschnitte oder Kupferstiche zum Aufziehen auf Holz oder Pappe.
3.1.5 Torquetum
Beim Torquetum handelt es sich um ein komplexes Instrument, dessen scheibenförmige Bestandteile entsprechend dem Koordinatensystem des Horizonts, dem ekliptikalen und äquatorialen System drehbar sind. Die Position von Himmelskörpern kann in jedem der drei Koordinatensysteme gemessen werden.
Der in deutschsprachigen Quellen zuweilen genannte Begriff Türkengerät (Abb. 11) ist keineswegs ein Hinweis auf einen orientalischen Ursprung des Instruments. Es wurde von Johannes Regiomontanus (1436 – 1476) als Torquetum (vom lateinischen torqueo, verdrehen) bezeichnet20 und diente zur Positionsmessung von Himmelskörpern wie auch als Demonstrationsgerät zur Veranschaulichung der Prinzipien der ptolemäischen Astronomie. Das Torquetum entstand vermutlich in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Zwar werden der spanisch-muslimische Astronom und Mathematiker Abū Muhammad Jābir ibn Aflah alIshbīlī (im Westen unter dem latinisierten Namen Geber bekannt, circa 1100 – 1160) und Muhammad Nasīr ad-Dīn at-Tūsī als Erfinder genannt, doch scheint das Instrument europäischen Ursprungs zu sein.21 Die beiden ältesten bekannten Berichte darüber stammen von dem Franziskaner Bernhard von Verdun und Franco von Polen (Franco de Polonia).22
Wegen der zahlreichen beweglichen Teile in mehreren Ebenen ist die Genauigkeit dieses Instrumententyps nicht gross. So hat Tycho Brahe für seine Sternwarte kein Torquetum bauen lassen, da dessen Bestandteile bei entsprechender Grösse zu schwer ausfallen würden, sich verziehen könnten und das Instrument unbequem zu handhaben sei.23 Aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind gelegentliche Beobachtungen zwar
überliefert. Das Torquetum diente nicht in erster Linie als Beobachtungsinstrument, sondern als Hilfsmittel, um die schwierigen Koordinatentransformationen ohne Berechnungen zu bewältigen, wie auch der Demonstration der Prinzipien der ptolemäischen Astronomie. Torqueta sind sehr selten, nur zwei mittelalterliche Exemplare haben sich erhalten. Aus dem 16. Jahrhundert sind mindestens acht dieser Instrumente bekannt. Richard of Wallingford (1292 – 1336) ersetzte die Scheiben des Torquetum durch Zirkelschenkel und schuf auf diese Weise den Rectangulus: ein dreidimensionales Instrument zur Koordinatentransformation, das wegen seiner komplizierten Scharnierverbindungen allerdings keine Verbreitung fand.2⁴
3.1.6 Quadrant
Die Entwicklung des Quadranten beginnt mit der von Ptolemäus beschriebenen PlintheG: einer quadratischen, senkrecht aufgestellten Platte aus Stein oder Holz mit Schattenstab (Gnomon), die in genauer Nord-Südrichtung ausgerichtet war und zur Messung der Sonnenhöhe im Meridian diente.2⁵
Aus dem ortsfesten Quadranten entwickelte sich im Mittelalter der tragbare Handquadrant, der islamische Vorbilder hatte.2⁶ Hierbei ersetzte ein Senkel (Lot) den Gnomon, und der anvisierte Punkt wurde über zwei an der Kante des Instruments angebrachte Absehen angepeilt. Derartige, später als Quadrans vetus (alter Quadrant) bezeichnete Instrumente werden in zahlreichen Manuskripten erwähnt.2⁷ Johannes de Sacrobosco (circa 1195 – 1256) beschrieb um 1231 einen Sonnenquadranten – später Quadrans horarius (Stundenquadrant) genannt –, der zur Zeitbestimmung diente. Dieser besass kreisförmige Stundenbögen und einen verschiebbaren Läufer (Cursor) zur Voreinstellung der Deklination der Sonne und der geographischen Breite.2⁸ Eine Weiterentwicklung stellte der gegen Ende des 13. Jahrhunderts von Prophatius Judaeus (Jacob ben Mahir ibn Tibbon, 1236 – 1304) beschriebene Quadrant (Quadrans novus) dar, der Konstruktionselemente des Astrolabiums aufnahm. Hierbei wurde die Grund- beziehungsweise Einlegeplatte des Astrolabiums mit ihrem Liniensystem gewissermassen zweimal «gefaltet».2⁹ Die Kenntnis dieses Instruments verbreitete sich dank der lateinischen Übersetzung des hebräischen Originaltexts (Tractatus novi quadrantis) durch den um 1300 lebenden Peter Nightingale, ebenso bekannt als Peter Philo-
24 Michel 1944; North 2005: 60f., 345 – 350.
25 Ptolemäus 1963: I, 43f.
26 Schmalzl 1929; King 2004/05: 71 – 80, 162 – 239.
27 Millàs Vallicrosa 1932.
28 Knorr 1980.
29 King 2004/05: 80, 225 – 229, 401.
30
1968: 40.
Kremer 2019. 21 Lorch 1976: 33.
Thorndike 1945.
1946: 53.
19 Cotter
20
22 Poulle 1964;
23 Ræder/Strömgren/Strömgren
Technikhistorischer Kontext
mena aus Dacia oder Petrus Danus. Quadranten fanden auch in der Seefahrt, im Militärwesen und bei der Landvermessung vielfältige Anwendung.
In der Astronomie blieb jedoch der ortsfest aufgestellte Quadrant von primärer Bedeutung und bis ins 18. Jahrhundert hinein in Gebrauch. Hier liessen sich Bewegung, Abnutzung und Biegung auf ein Minimum reduzieren, was eine weitgehend gleichbleibende Genauigkeit des Instruments garantierte. Zwar waren Beobachtungen auf den Meridian beschränkt, aber die Deklination – der Winkelabstand vom Himmelsäquator – liess sich bequem messen. Dieser Vorzüge waren sich islamische Astronomen bewusst. In der Sternwarte Marāgha gab es neben einem Mauerquadranten30 auch einen Altazimutquadranten, der zur gleichzeitigen Messung von Höhe und AzimutG in jede Richtung gedreht werden konnte.31
3.1.7 Jakobsstab
Der auch als Radius astronomicus oder Kreuzstab bezeichnete Jakobsstab (Abb. 12) wurde bereits von dem in der Provence lebenden Juden Levi ben Gerson (1288 – 1344) beschrieben, der das Instrument möglicherweise auch erfunden hat.32 Johannes Regiomontanus (1436 – 1476) und Bernhard Walther (1430 – 1504) benutzten den Jakobsstab für ihre astronomischen Beobachtungen. Die Teilung war zunächst eine lineare, und um den abgelesenen Wert in einen Winkelbetrag zu verwandeln, bedurfte es einer Hilfstabelle.
Der Jakobsstab scheint erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts allgemein in Gebrauch gekommen zu sein. Die ersten Erwähnungen in gedruckten Werken zur Navigation gehen jedenfalls auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Gegenwärtig sind 129 erhaltene Jakobsstäbe bekannt, doch stammen die weitaus meisten aus dem 18. Jahrhundert. Möglicherweise hat die Bekanntschaft mit dem funktionell verwandten orientalischen Kamāl am Beginn des 16. Jahrhunderts zur Einführung des bis dahin nur in der Astronomie verwendeten Jakobsstabs in der Seefahrt beigetragen. Jenes Instrument wurde von den Portugiesen als Indische Tafeln (Tábuas da Índia) oder einfach Tafeln (Tavoletas) bezeichnet.
30 Seemann 1928: 28 – 33; Schmalzl 1929: 20 – 23.
31 Seemann 1928: 72 – 81.
32 Curtze 1898; Goldstein 1985: 51 – 73, 143 – 158; Goldstein 2011. Ob der Jakobsstab bereits im 9. Jahrhundert in der arabisch-islamischen Welt verbreitet war, wie von Fuat Sezgin postuliert (Sezgin 2000, 2: 231), sei dahingestellt.
12
Jakobsstäbe sind mit ein, zwei oder drei Absehen ausgestattet, besitzen also bis zu drei Messbereiche. Beobachtungen der Sonne waren schwierig und gelangen in der Regel nur, wenn Wolken das Sonnenlicht dämpften oder wenn auf das obere Ende des Querholzes ein geschwärztes Glas gesteckt wurde. Bedingt durch die Skalenteilung liessen sich grössere Winkel nur ungenau ablesen. Darüber hinaus musste das Ende des Stabs in geringer Distanz zum Augapfel gehalten werden, woraus Messfehler resultierten.33 Mit modernen Jakobsstäben ausgeführte Breitenbestimmungen ergaben Fehler von plus/minus zwanzig Bogenminuten.3⁴ Tycho Brahe führte in den Jahren 1564 – 68 seine ersten astronomischen Beobachtungen in Leipzig und Rostock mit dem Jakobsstab durch, der ihm leicht transportabel und daher für Reisen geeignet zu sein schien, aber den Nachteil mangelnder Genauigkeit besass.3⁵
33 Mills 1996.
34 Forty 1983.
35 Brahe 1913/29, 10: 5 – 15; Ræder/Strömgren/Strömgren 1946: 96f.
31
Abb.
Jakobsstab aus dem Jahresbericht der «American Scenic and Historic Preservation Society» in New York, 1901.
3.1.8 Die beobachtungstechnischen Innovationen Tycho Brahes
In die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts fallen markante Weiterentwicklungen der astronomischen Instrumente wie auch der Beobachtungstechnik, die mit dem Namen des dänischen Astronomen Tycho Brahe verknüpft sind (Abb. 13).3⁶ Nachdem er 1576 von König Frederik II. die Insel Hven als Lehen erhalten hatte, liess er die Uraniborg errichten3⁷ (Abb. 14) und ging daran, seine Sternwarte mit einer Reihe von eigens angefertigten Instrumenten auszustatten. Dabei suchte er stets nach geeigneten Materialien sowie der optimalen Konstruktion und Auslegung für die jeweilige Art der Beobachtung. Zur Beobachtung wichtiger Konstanten (etwa der Sonnenhöhe und der Äquinoktien) fuhr er ein ganzes Arsenal an Instrumenten mit unterschiedlicher Geometrie auf. Brahe hatte eine klare Vorstellung
36 Mit seiner Astronomiae instauratae mechanica von 1598 (Brahe 1913/29, 4: 3 – 162) legte Tycho Brahe eine eingehende Beschreibung seiner Instrumente vor (englische Übersetzung: Ræder/Strömgren/ Strömgren 1946; für eine revidierte und kommentierte Version vgl. Brahe 1996). Zu den seltenen Exemplaren der in Wandsbeck gedruckten Erstausgabe (die 1602 von Levinus Hulsius in Nürnberg publizierte Zweitauflage ist häufiger anzutreffen) vgl. Hasselberg 1904.
37 Christensen/Beckett 1921; Müller 1975: 34 – 38; Jern 1976.
von Instrumentenfehlern und suchte diese nach Möglichkeit zu verringern, wenn nicht ganz auszuschalten. So erwiesen sich die üblicherweise verwendeten Absehen mit Bohrung als problematisch: Waren sie zu klein, erschwerte dies das Anvisieren eines Sterns. Wählte man hingegen bequemerweise eine grössere Öffnung, konnte das Objekt womöglich nicht genau im Zentrum stehen, woraus sich ein nicht unbeträchtlicher Fehler ergab. Bei dem erwähnten Triquetrum von Copernicus, das mit Dioptern versehen war, stellte Brahe einen Betrag von acht oder zehn Bogenminuten fest.3⁸ Er entschloss sich deshalb, eine parallaxenfreie Visiervorrichtung zu konstruieren, bei der durch ein Paar feiner Schlitzabsehen entlang der Kante eines Zylinders beobachtet wurde.
Die Lagerzapfen von Beobachtungsarmillarsphären mussten ein gewisses Spiel haben, was sich bei Messungen als nachteilig erwies. Diese wurden von Brahe durch konische Zapfen ersetzt, die sich unter dem Gewicht des Instruments in ihrem Futter selbst zentrierten. Gleichzeitig wurde die Konstruktion «abgemagert», indem im Fall der zehnfüssigen Beobachtungsarmille nur noch ein diagonal verstrebter Ring übrigblieb, der um die Polarachse innerhalb eines äquatorial montierten Halbkreises drehbar war (Abb. 15).3⁹ Zum Schutz vor Wind und Erschütterungen stellte er dieses Gerät (neben anderen) in der 1584 errichteten Stjerneborg auf (Abb. 16, 17). Hier befanden sich fünf in die Erde eingelassene, gemauerte Krypten mit Dächern, die sich zur Beobachtung öffnen liessen.
Die Sextanten dienten zur Messung horizontaler und vertikaler Winkel; sie wurden von Tycho Brahe laufend perfektioniert (Abb. 18).⁴ 0 1585 erreichte er schliesslich eine Genauigkeit von etwa einer Bogenminute, die durch wiederholte Beobachtungen und Ausmittelung der Ergebnisse auf etwa die Hälfte reduziert werden konnte.⁴1 Brahe berücksichtigte als erster die atmosphärische RefraktionG, hielt diese aber mehr für einen Effekt atmosphärischer Dämpfe und war der irrigen Ansicht, dass diese nur bis zu einer Höhe von 45 Grad auftreten würde.⁴2
38 Ræder/Strömgren/Strömgren 1946: 46.
39 Chapman 1989: 72.
40 Strömgren 1935; Ræder/Strömgren/Strömgren 1946: 72 – 75.
41 Die Beobachtungsgenauigkeit Brahes ist wiederholt untersucht worden; vgl. Tupman 1900 (dazu Dreyer 1900); Wesley 1978a, b, 1979 und Thoren 1973.
42 Bruhns 1861: 12 – 15; Dreyer 1894: 351 – 354; Moesgaard 1988.
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Technikhistorischer Kontext
Abb. 13
Porträt des Tycho Brahe, Tobias Gemperle (Gemperlin) zugeschrieben (gest. 1587), Federzeichnung.