Buch der Brüche

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FormatOst Leseprobe

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Der erste Tag


Flucht Ihr Land findet man in Hochglanzprospekten mit Palmen, Pool und Pfirsichhaut.

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Nach der Flucht ist ihr nur der Name geblieben: Noura, das Licht.


Der Tunnelbauer

Er hat den Tunnel gebaut, durch den jetzt Autos rasen, erinnert sich noch, wie man an einem Wintermorgen Handschuhe anziehen musste, weil einem das kalte Metall die Haut von der Hand riss, erinnert sich an das Rütteln des Presslufthammers, das noch lange in Schultern und Armen blieb, sodass er abends warten musste, bis er endlich den Teller mit Spaghetti hinunterschlingen konnte, erinnert sich an die Kiste Bier, die er nach der Arbeit mit seinen Kumpels trank und sich wieder leicht und licht fühlte. Ja, hier oben ist Licht! Doch jetzt ist sein Rücken kaputt, die Invalidenversicherung zahlt noch nicht und das Sozialamt viel weniger als den Lohn von damals, sodass ihm das Geld fehlt, seine kranke Mutter zu besuchen.

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Plötzlich weint er, als wäre er beim Tunnelbau auf eine Wasserader gestossen: Vor seinem inneren Auge sieht er das Grab seiner Mutter und das seine neben ihr.


Neujahr Er hat schon an verschiedenen Stellen gearbeitet: als Käser, Gärtner, Bauarbeiter. Aber immer wieder holen ihn Depressionen ein. Als Dreijähriger seinen Vater zum letzten Mal gesehen. Vergebens nach ihm geforscht.

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Jetzt wirft ihn seine Mutter aus der Wohnung: Sie hat genug! Es ist Winter. Weihnachten ist vorbei.


Notruf Er spricht mit niemandem, manchmal mit der Uhr seiner verstorbenen Eltern, manchmal mit dem Bleisatz einer Zeitungsausgabe, der in seiner Stube hängt. Er war Drucker gewesen. Man sagt, er trinke. Es kommt vor, dass er in Wutanfällen im Treppenhaus ­herumschreit oder Möbel aus dem Fenster wirft. Der Vermieter stellt ihm ein Ultimatum: Entweder Therapie oder Wohnungskündigung. Er verweigert die Therapie, also wird ihm gekündigt. Er sucht eine Wohnung, doch keine gefällt ihm. Der Termin naht. Wo ihn unterbringen? Gemeinsam Notszenarien erstellen. Kurz danach bricht er zusammen, muss notfallmässig ins Spital.

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Der Vermieter verlängert.


Heimweh Ihr Mann hat die Stelle verloren, der Arzt, den er chauffierte, hat eine Frau gefunden. Sie verdient als Übersetzerin für traumatisierte Flüchtlinge zu wenig für die Klavierstunden des Sohnes,

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schämt sich für die Not, die Depressionen ihres Mannes und für ein Land, wo junge Verliebte noch immer nicht Hand in Hand durch die Stadt gehen dürfen.


Nach innen pfeifen

Die erblindete Frau, die vor einem Jahr ihren Mann verloren hat, erzählt:

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‹Ich bin lieber mit den Vögeln als mit den Menschen. In ihrem Pfeifen höre ich meinen Mann, und ich antworte ihm. Ich habe gelernt, nach innen zu pfeifen.›


Aussetzer Es musste vor ihrer Wohnung passiert sein, nur einen dumpfen Aufprall hat sie gespürt, nicht einmal schmerzhaft, doch jetzt, wie sie in den Spiegel schaut, zerschlagenes, blutüberströmtes Gesicht: Bin ich das? Der Briefkasten quillt über mit Rechnungen und Mahnungen, das Bett seit Monaten nicht frisch angezogen, durch das Fenster trübes Licht, Brandflecken im Teppich. Genug! Sie hört auf zu trinken.

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Im stickigen Grau schleppen sich die Tage dahin: einkaufen gehen, an den Regalen mit Alkohol vorbei weiter zu den Reihen dahinter mit Futter für die Katze.


Wie lang sind Ihre Beine 9

fragte der Mann aus Afrika und schaute unter den Tisch. ‹Sie denken vielleicht knapp einen Meter lang. Aber sie sind viel länger, sie sind Teil eines Stammbaumes, der über Urururururururgrosseltern bis in die Serengeti reicht.›


Geläutert Er war in seiner Jugend oft zu schnell unterwegs gewesen, hatte Arme, Beine, einmal sogar einen Halswirbel gebrochen, musste wochenlang im Spital liegen bleiben. Er hatte die Lehre als Detailhändler und als Hochbauzeichner abgebrochen und sich ohne Erfolg an der Handelsschule versucht, jobbte als Hilfskoch und im Service, nahm in einer Nacht den falschen Bus, stieg aus zu einer Stunde, da nur die Ruhelosen noch wach sind, kletterte über den Zaun eines Thermalbades, rollte die schützende Plache zurück und nahm ein Bad draussen mitten in Nacht und Winter, sah Flocken aus Wolken fallen und schlief ein. Er hätte ertrinken können, aber ein Mitarbeiter des Bades fand ihn frühmorgens, die Polizei führte ihn ab. Zusammen mit den diversen Bussen, die er absitzen musste, ergaben sich drei Monate Gefängnis.

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Das Gefängnis habe ihn geläutert, erzählt er, er habe regelmässig Sport getrieben, über zwanzig Kilogramm abgenommen und vor allem zwei Dinge gelernt: Demut und Disziplin.


Bildung für alle

Zwischentöne 15

Wenn ein Wirtschaftszweig nicht mehr floriert, kann es eine Region oder ein Dorf be­ sonders hart treffen. Als der Eurokurs sank, konnte die Schweizer Maschinenindus­ trie kaum noch exportieren, weshalb viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entlassen werden mussten. Das Seelsorgeteam Uzwil und Umgebung reagierte ­da­rauf mit einem Projekt: Men­ schen, welche von Erwerbs­ losigkeit betroffen sind, werden alle zwei Wochen eingeladen, in einem gemischten Chor mit­ zusingen. Anschliessend be­ reiten sie gemeinsam ein Essen vor und sitzen gemütlich zu­ sammen. Ein ähnliches Projekt hat der katholische Pfarreirat der ­Pfarrei Buchs-Grabs ins Leben ­gerufen mit dem ‹Treffpunkt ohne Job›, bei dem Arbeitslose sich austauschen können und Tipps sowie Unterstützung bei der Stellensuche erhalten.

Immer mehr Flüchtlinge aus ­Afrika, dem nahen Osten oder dem Balkangebiet kommen in die Schweiz, sodass die ­staatlichen Behörden und Äm­ ter überfordert sind. Um in der Schweiz leben zu können, braucht es nicht nur ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen, sondern auch die Sprache und der Umgang mit einer fremden Kultur sollen ­erlernt werden. Gleichzeitig bringen die Flüchtlinge sehr vie­ le Fähigkeiten und Wissen mit. Das Solidaritätsnetz will Flüchtlinge und Einheimische in Austausch bringen und bie­ tet Kurse an, die kostenlos sind und jeweils ein Semester dau­ ern. Jeder und jede darf zu ei­ nem bestimmten Thema einen Kurs anbieten oder besuchen.


Marcel Cello Schumacher 134

Neugierig auf die kleinen Dinge in dieser grossen Welt fĂźhle ich gerne mit der Kamera den Puls von Geschichten, die unsere Sinne berĂźhren.






Der siebte Tag 131 Der Kontext 147 Otmars-Brunnen 148 Weggefährten 149 Biografien 154 Dank 156 Impressum / Quellennachweis 160

Der sechste Tag 107

Fotografien – Marcel Cello Schumacher 134

Der fünfte Tag 85

Der vierte Tag 63

Der dritte Tag 43

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Der zweite Tag 21

Der erste Tag


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