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dresses

250 Jahre Mode



d r e s s e s

250 Jahre Mode Monika Mähr


© 201 8 Verlag FormatO s t, CH -91 03 S chwellbrunn Alle Re chte der Verbreitung , auch durch Film , Ra dio und Fernseh en , fotom e chanisch e Wie dergab e, Tonträger, ­e lek tronisch e ­D atenträger, auch auszugsweiser N achdruck sind vorb ehalten . Die se P ublikation er sch eint anläs slich der Aus s tellung «dre s se s – 2 5 0 Jahre M ode» vom 28 . April 201 8 – 24 . Februar 201 9 im His torisch en und Völkerkundemuseum St . G allen . Fotos: His torisch e s und Völkerkundemuseum St . G allen St yling: Th e s sy S chönholzer Nichols Fachb eratung: U r sula Karbach er, Th e s sy S chönholzer Nichols G e s taltung: Janin e D urot D ruck vor s tufe: Verlagshaus S chwellbrunn D ruck : galle dia ag , Flawil B indung: B ubu AG , M önchaltor f G e set z t in G otham N arrow und H elvetic a N eue LT Std G e druck t auf Le s seb o Smooth white, 1 5 0 g /m ² IS B N 978 -3 - 03 8 9 5 - 0 01 -1 w w w.verlagshaus-schwellbrunn .ch


Inhalt

Einleitung

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M onika M ähr 9 Mode aus der St. Galler Prominenz – Sammlungsgeschichte

U r sula Karbach er

2 5 Ostschweizer Musselin für die Mode U r sula Karbach er

4 7 Die Stickmaschine kann alles M onika M ähr

6 3 Schweizer Kunstschaffende für die Mode – Eine Initiative in Kriegszeiten M onika M ähr im G e spräch mit Andrea K rie g und Pasc al D üringer

8 5 Inspirationen für morgen – Interview mit der Schweizerischen Textilfachschule 9 3 Verzeichnis der Kleider 9 6 Literatur 9 6 Dank



Einleitung

2018 präsentiert das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen HVM erstmals seine Modesammlung. In einer grossen Ausstellung sind Kleider aus den letzten 250 Jahren zu bestaunen – das meiste Damenmode. Die Anfänge der Sammlung gehen auf den Historischen Verein des Kantons St. Gallen zurück. Im Stickereiboom konnte er die St. Gallerinnen und St. Galler für den Aufbau einer Museumssammlung begeistern. Die meisten Historischen Museen der Schweiz zählen zu ihren Beständen Kleider und Trachten. Je nach Ausrichtung liegt der Schwerpunkt mehr auf den Trachten oder wie im HVM mehr auf Alltagsmode. Mittlerweile sind in der Datenbank des HVM über 2000 Kleider und Accessoires erfasst. Dazu zählen Beispiele aus Ostschweizer Musselin, St. Galler Stickerei, Zürcher Seide und Glarner Druckstoffen. Die meisten Kreationen sind von lokalen Schneiderinnen und Schneidern nach den jeweils aktuellen Modetrends in Paris angefertigt worden. Nur wenige Namen von Ateliers sind überliefert. Es war tragbare, alltagstaugliche Mode. Jedes Kleid hat seine Geschichte, verrät etwas über seine Trägerin, erzählt vom Wandel der Gesellschaft und des Frauenbilds, vom Lebensgefühl einer Zeit. Darüber hinaus sind es einfach schöne Kleider – oder wie es die Textilhistorikerin und Kuratorin Alexandra Kim von den «Museums and Heritage Services, City of Toronto» spontan formulierte: «What a wonderful selection of dresses, there are so many beautiful pieces there!»

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Mode aus der St. Galler Prominenz Sammlungsgeschichte

1 Erste r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins de s Kantons St. G alle n, in: Mit te ilunge n zur Vate r ländische n G e schichte, St. G alle n 1862, S. 157. 1862 sind 34 Mitglie de r ve r ze ichnet; die le ite nde Kommis sion umfas st Präside nt Fr ie dr ich von Tschudi, Kas sie r Bar th. [wohl Bar tholomäus] Bär loche r und A k tuar He r mann War tmann.

Hotel Walhalla-Terminus in St. Gallen, um 19 0 0 (Foto: Kantonsbibliothek Vadiana St. Gallen)

Das Jahr 1862: In den USA tobt der Sezessionskrieg, während in Preussen Otto von Bismarck zum Ministerpräsidenten aufsteigt. In London wird die zweite Weltausstellung eröffnet und in Italien die Lira als Zahlungsmittel eingeführt. In Santiago de Cuba übernimmt Facundo Bacardi eine kleine Rum-Destillerie und gründet die weltweit bekannte Marke Bacardi. Schlosser Adam Opel richtet in Rüsselsheim eine Nähmaschinenmanufaktur ein, aus der sich die Firma Opel entwickelt. In Winterthur wird eine Bank eröffnet, die heutige UBS. In St. Gallen, seit 1856 ans Eisenbahnnetz angeschlossen, bebaut Architekt Bernhard Simon das Bahnhofsquartier mit den Häusern an der Poststrasse, dem ehemaligen Postgebäude und dem Hotel Walhalla-Terminus. St. Gallen steigt zur bedeutenden Stickereistadt mit weltweiten Handelsverbindungen auf. Am 20. März trifft sich der noch junge Historische Verein des Kantons St. Gallen zu einer Sitzung. An diesem Donnerstag werden der Versammlung einige Gegenstände präsentiert. Zu den Mitgliedern zählen damals u.a. Regierungsrat Arnold Otto Aepli, der Präsident des kaufmännischen Direktoriums, der Stiftsbibliothekar, der Stiftsarchivar und der Präsident des katholischen Administrationsrats, ausserdem Nationalräte und einige Gemeindepräsidenten. Mit dabei ist auch der 26-jährige Hermann Wartmann, engagierter Mitgründer des Vereins, der nach Studien in Zürich, Bonn und Göttingen die St. Galler für Geschichte begeistern möchte.1 Die Vereinsmitglieder entschliessen sich, eine Sammlung aufzubauen und legen damit den Grundstein für das heutige Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen. Zu den

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ersten Stücken, die der Verein begutachtet, gehören eine bronzezeitliche Kleiderspange aus Walenstadt und eine kostbare Gürtelschnalle aus Sorntal/Niederbüren aus dem Frühmittelalter. 2 Letztere, ein Geschenk des Malers Emil Rittmeyer aus St. Gallen, zählt heute zu den Highlights der Ausstellung der Kantonsarchäologie im HVM. Im zweiten Jahresbericht des Vereins 1863 tauchen weitere Accessoires auf. Kaufmann Mettler übergibt vergoldete Hemdknöpfe aus dem 18. Jahrhundert und Johann Conrad Labhard-Lutz in Manila sendet chinesische Kämme. 3 Aus diesen bescheidenen Anfängen der Modesammlung lässt sich bereits die heutige Ausrichtung des Museums mit den Bereichen Archäologie, Geschichte und Völkerkunde ablesen. In den folgenden Jahren erhält der Verein weitere Accessoires und Kleidungsstücke, die vom Alltag der Menschen in der Ostschweiz wie auch in aussereuropäischen Kulturen erzählen. Erwähnt wird u.a. ein Paar Reiterstiefel von Kaspar Laurenz Gonzenbach, Wirt im Löchlebad in St. Gallen; Konsul Johann Joachim Wartmann in Amsterdam schickt goldbestickte Pantoffeln aus Japan; Uhrmacher Georg Ulrich Tobler schenkt einen türkischen Tabaksbeutel und Kaufmann Albert Ludwig Rheiner aus Guatemala den «Gürtel eines centralamerikanischen Bandenchefs».4 Besonders vermerkt wird im Jahresbericht 1870 folgender Eingang: «Die ethnografische Abteilung hat die schönste Bereicherung dem Herrn Kaufmann [Johann Caspar] Kürsteiner zu verdanken, welcher ihr eine Auswahl chinesischer Prachtgewänder überschickte.»5 Heinrich Bendel ist 1870 der zweite Kurator der Sammlung des Historischen Vereins. In seine Amtszeit fällt der Bau des ersten

Gewand eines Mandarins (Altbestand HVM) Chinesische Mädchenschuhe (Schenkung 19 0 6)

2 Ebe nda, S. 163f. 3 Zwe ite r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins de s Kantons St. Galle n, in: Mit te ilunge n zur Vate r ländische n G e schichte, St. Galle n 1863, S. 183f. 4 D r it te r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins, 1864 (Re ite rstiefe l und Tabaksbeute l). Fünf te r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins, 1869 ( japanische Pantof fe ln). Se chste r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins, 1870 (Gür te l aus Südame r ika). 5 Se chste r Be r icht de s Histor ische n Ve re ins de s Kantons St. Galle n, in: Mit te ilunge n zur Vate r ländische n G e schichte, St. Galle n 1870. Le ide r las se n sich nicht me hr alle Sche nkunge n die se r f r ühe n Ze it ide ntif izie re n. Es wurde damals noch nicht syste matisch inve ntar isie r t. Einige O bje k te habe n die we chse lvolle Sammlungsge schichte wohl auch nicht übe rdaue r t.


6 He inr ich Be nde l, Aus alte n und neue n Ze ite n. Kulturge schichtliche Sk iz ze n, Neujahrsblat t de s Histor ische n Ve re ins, St. Galle n 1879, S. 12f. 7 Vgl. Be nno Schubige r, Pe r iod Rooms als He rausforde r ung, in: Neue Zürche r Ze itung, 1. Nove mbe r 2014.

Das Barock zimmer im ersten Museum im Stadtpark (heute Kunstmuseum)

Museums in St. Gallen – das heutige Kunstmuseum. Als das Gebäude 1877 eröffnet wird, finden darin die Bestände des Kunstvereins, der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft und des Historischen Vereins ihren Platz. Für die Geschichte ist der Südflügel im Obergeschoss vorgesehen. Vorbild für die Einrichtung sind die ersten kunstgewerblichen Museen, die nach der Weltausstellung in London 1851 entstanden sind, wie das South Kensington Museum 1852 (heute Victoria & Albert Museum) oder das Bayerische Nationalmuseum in München 1867. Heinrich Bendel übernimmt für die Sammlungen des Historischen Vereins die «Doppelform der Ausstellung» aus München. Diese umfasst einerseits eine Raumfolge, die einzelne Werkstoffgruppen präsentiert, um die Entwicklungen handwerklicher Techniken aufzuzeigen und als Mustersammlungen zu dienen, andererseits Rauminszenierungen, die ein Gesamtbild einer Epoche vermitteln sollen.6 In St. Gallen sind drei Säle der Metalltechnik, der Holzverarbeitung, der Keramik- und Glaskunst sowie dem Textilgewerbe gewidmet. Der vierte Raum wird als Erlebniswelt eingerichtet und zeigt ein barockes Wohngemach des 17. Jahrhunderts. Mit dem geschnitzten und intarsierten Täfer aus dem Saal des eben abgerissenen Rathauses am Marktplatz entsteht damit in St. Gallen der erste Period Room.7 Für diese Präsentationsform werden in der Regel Bauteile wie Täfelungen und Decken, Möbel, Tapeten, Vorhänge, Geschirr, Heimtextilien und auch Kleider zusammengestellt. Die Faszination, in inszenierte Wohnwelten – vergangene wie fremde – einzutauchen, ist ein Erbe der Weltausstellungen und prägt die Zeit des Historismus. Es sind artifizielle Interieurs, die in den Period Rooms entstehen; selten haben alle Objekte dieselbe Provenienz. Räume werden ausstaffiert und mit Requi-

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siten bestückt, in jeder Hinsicht «bekleidet». Das Ornament ist der gemeinsame Nenner. Heinrich Bendel ist neben der Museumstätigkeit für den Historischen Verein ab 1878 auch für den Aufbau der Mustersammlungen des neu gegründeten Industrie- und Gewerbemuseums zuständig (heute Textilmuseum), das 1886 an der Vadianstrasse einen Neubau erhält. Die Mustersammlungen umfassen Flachtextilien – Gewebe, Spitzen, Stoffdrucke und Stickereien – aus verschiedenen Jahrhunderten, die den Stoffdesignern als Inspirationsquelle und zur Vermittlung textiler Techniken dienen. 1889 tritt der Historische Verein seine ethnologische Sammlung an die ebenfalls 1878 gegründete Ostschweizerische Geographisch-Commerzielle Gesellschaft ab, die ein Handelsmuseum plant. Damit ziehen auch aussereuropäische Kleider samt Accessoires aus dem Stadtpark aus. Die Modesammlung des Historischen Vereins konzentriert sich fortan auf Kostüme und Trachten Schweizer Provenienz. Auch Uniformen und Kinderkleider zählen dazu. Bei einer Inventur 1891 werden neben anderen Sammlungsgebieten «593 Waffen, Uniformen und bürgerliche Trachten» gezählt. 8 Seit der Eröffnung des Museums im Stadtpark tauchen im Inventarbuch des Historischen Vereins immer mehr Damen auf, die Kleidungsstücke und Zubehör schenken. Ob dies auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass der Verein seit etwa 1875 auch Frauen als Mitglieder aufnimmt, bleibt offen. Einige Beispiele seien genannt: Frau Julie Guldin-Gräflein überlässt dem Museum eine Uniform, die im Russlandfeldzug 1812 getragen wurde, Fräulein Rietmann aus Lipperswil schenkt drei «Ridicules» (Damentäschchen) aus dem 18. Jahrhundert und Frau Zürcher-Stahl übergibt ein mit Blumen besticktes Kinderröckchen und vier Taufhäubchen. Von «Frau Präsident Näf» – Cäcilie Näf, Ehefrau von August, 1860–1882 Präsident des Verwaltungsrats der Ortsbürgergemeinde St. Gallen – stammt ein Halstuch aus Musselin mit «Crochetstickerei» (Kettenstichstickerei), und Frau Altherr, Bürgerspital, überreicht eine schwarze, mit Perlen bestickte Knabenweste.9 Oft sind es kleine Gaben, welche die Modesammlung nach und nach bestücken; leider ist aber nicht alles aus jener Zeit erhalten. Für eine Ausstellung im Jahr 1903 anlässlich der Hundertjahrfeier des Kantons St. Gallen wird die Sammlung an Kostümen mit Beispielen aus dem ganzen Kanton erweitert. Meist sind es Einzel-

Herrenrock, 180 0 –1810 (Altbestand HVM)

8 Emil Hahn, Be r icht übe r die Sammlunge n de s Histor ische n Ve re ins im Jahre 1891, in: St. Galle r Blät te r, No. 7, St. Galle n 1892. 9 Eingangsbüche r de s HV M 1877–19 01.


K inderkleider, um 1910 und 1810 (Altbestand HVM)

teile und keine vollständigen Outfits, die den Weg ins Museum finden. Damals verkauft auch der bekannte Kunsthändler und Antiquar Albert Steiger «einen Posten Kleider» für 403 Franken, darunter Herrenwesten, Jacken, Röcke und Corsagen – Oberteile für Damenkleider aus dem 18. Jahrhundert.10

Damenpantof feln, 2. Hälf te 18. Jahrhunder t (Schenkung 1913)

Herrenröcke und Westen, 1740 –1810 (Altbestand HVM)

10 Infor mation von alte n Kar te ikar te n im HV M. 11 Johanne s Egli, Jahre sbe r icht übe r die Sammlunge n de s Histor ische n Ve re ins de s Kantons St. Galle n 1910/1911, St. Galle n 1911. 12 Johanne s Egli, Be r icht übe r die histor ische Sammlung im Museumsge bäude 19 05/ 19 0 6, St. G alle n 19 0 6, S. 1. 13 Emil Hahn, Be r icht übe r die Sammlung de s Histor ische n Ve re ins im Jahre 1897, in: St. Galle r Blät te r, No. 15, St. G alle n 1898, S. 118.

Als 1911 der Konservator der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft, Emil Bächler, im Haus von Oberst Paul Kirchhofer an der Museumsstrasse ein Heimatmuseum einrichtet, wird im Museum im Stadtpark ein Ausstellungsraum frei. Er wird der Kostümgeschichte gewidmet und zeigt «Modekostüme aus Stadt und Land» von 1750 bis 1850, wie sie sich unter dem «Einfluss der Pariser Mode entwickelt» haben. Darunter befinden sich neben verschiedenen Damenkleidern auch kostbare Justaucorps (Herrenröcke) und Westen mit Seidenstickereien aus dem 18. Jahrhundert. Auch ein «Empirekleidchen» aus weissem Musselin mit Handstickerei wird erwähnt. Kurator Johannes Egli bemerkt dazu: «So atmet alles den Geist jener schönheitsdurstigen Zeit!»11 Johannes Egli ist es auch, der die grosse Aufgabe hat, den Neubau des heutigen Historischen und Völkerkundemuseums im Stadtpark zu begleiten und einzurichten. Bereits 1898, im Jahr der Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich, hat die Ortsbürgerversammlung beschlossen, einen Baufonds für einen weiteren Museumsbau in St. Gallen anzulegen. Hier sollen die Sammlungen des Historischen Vereins und der Geographisch-Commerziellen Gesellschaft zusammengeführt werden. 1906 berichtet Egli einmal mehr von der Raumnot im alten Museum: «Immerhin sind wir insofern an einem Wendepunkte angelangt, als die verfügbaren Ausstellungsräume nunmehr bis auf den letzten Platz angefüllt sind und weitere Erwerbungen magaziniert werden müssen.»12 Schon sein Vorgänger Emil Hahn hat sich beklagt, «dass oft Gegenstände an Orte hingestellt werden müssen, wo sie sich sonderbar präsentieren».13 Im Hinblick auf das neue Museum ändert sich die Sammlungsund Ankaufspolitik des Kurators. Immer häufiger tauchen Bauteile – Decken, Täfer, Türen, Dielen und Fenster mit Butzenscheiben – auf, die für zwölf Period Rooms von der Gotik bis ins

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19. Jahrhundert verwendet werden sollen. Dazu kommen Möbel, Öfen und weiterer Raumschmuck. Egli zählt sie zu den «Hausund Familienaltertümern», «die grosse Abteilung, die in jedem historischen Museum den Mittelpunkt der Sammlung bildet». Sie umfasst zudem Bekleidung und «Gegenstände der persönlichen Ausstattung».14 So finden damals auch weitere Kostüme den Weg ins Museum. 1912 schenkt etwa Frau A. B. Fischbacher aus St. Gallen einen Empire-Mantel (S. 29) der zwischen 1820 und 1830 in Hemberg getragen wurde. Ebenfalls aus Hemberg stammt ein bedrucktes Kleid aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das Zeichner Josef Gebert in Degersheim für 5 Franken verkauft (S. 36).15 1917 beschliessen der Historische Verein und die Geographisch-Commerzielle Gesellschaft, ihre Bestände der Ortsbürgergemeinde St. Gallen für das neue Museum zu überschreiben. Mit der Eröffnung 1921 erfolgt die definitive Übergabe der beiden Sammlungen. Johannes Egli und Robert Vonwiller werden die ersten beiden Museumsvorstände des «Historischen Museums und der Sammlungen für Völkerkunde» (heute HVM). Hans Bessler betreut als Assistent die Archäologie. Diese wird ab 1933 als selbständige Abteilung geführt.

Herrenweste, 1760 –1770 (Schenkung 19 08)

Johannes Egli richtet im «Bayersaal» – einem Period Room mit Raumelementen aus dem Wohnsitz der Familie von Bayer in Rorschach aus dem 18. Jahrhundert – wieder einen Saal mit Mode ein, der mit Porträts aus der Ostschweiz ergänzt wird. Diese sollen ebenfalls einen Einblick in die Kostümgeschichte vermitteln. Unter den Eingängen der nächsten Jahre stechen zwei Namen hervor: 1923 gelangt ein weisses Empirekleid mit Kettenstichstickereien und Spitzengarnituren aus der Familie Krömler ins Museum (S. 24). Othmar Krömler war ein reicher Handelsherr aus St. Gallen-St. Fiden, der bei der Liquidation der Stiftsgüter der Fürstabtei ab 1805 mehrere Liegenschaften erwarb, so den «Hirschen» und den fürstlichen Garten, das Amts- und das Schützenhaus in St. Gallen-St. Fiden sowie Rebberge bei Hagenwil. Auf einer Schützenscheibe, die er stiftete und die sich heute im HVM befindet, heisst es: «Aus Krömler Haus kam diese Gaabe / Aus nichts stieg er zu Glück und Ehr / Nicht jedem ist dies Loos bestimmt.» Auf der Scheibe ist sein Wohnhaus, das bis heute erhaltene Pfrundhaus in St. Gallen-St. Fiden, abgebildet. Eine Frau in weissem Gewand steht am Fenster. Eine weitere Donation aus einer berühmten St. Galler Familie gelangt 1938 ins Museum. Frau Anna von Chrismar überreicht ein weisses «Ballkleid» aus der Biedermeier-Zeit (S. 32). Es stammt 14 Johanne s Egli, X VII. Jahre sbe r icht übe r die histor ische n Sammlunge n im städtische n Museum am Br ühl vom 1. Juli 1916 bis 30. Juni 1917, St. Galle n 1917, S. 2f. und 13f. 15 D ie se und die nachfolge nd e r wähnte n Sche nkunge n sind in de n Eingangsbüche r n de s HV M ve r me r k t.


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Schüt zenscheibe von O thmar K römler für die Schüt zengesellschaf t St.Fiden, 1808

Mathilde Müller-Friedberg, um 1830 (Staatsarchiv St. Gallen) Taufmäntelchen von Karl Beda MüllerFriedberg, 1783

aus der Familie des ersten Landammans des Kantons St. Gallen, Karl Müller-Friedberg. Getragen wurde es von seiner Enkelin Mathilde, die 1835 in Konstanz den angesehenen Kaufmann Carl von Chrismar heiratete. Es heisst, «durch Mathilde fliesst das Blut Müller-Friedbergs nicht nur in der Familie von Chrismar, sondern auch in zahlreichen Adelsfamilien Österreichs und Deutschlands».16 Eine Urenkelin von Mathilde wird sich 1916 mit Ferdinand Graf von Zeppelin vermählen. Mathildes Vater Karl Beda war der älteste Sohn Müller-Friedbergs, geboren 1783 auf Schloss Oberberg in Gossau, als sein Vater dort noch Obervogt war. Als Taufpate amtete Fürstabt Beda Angehrn, «der auch das Taufzeug stiftete, das heute im Museum zu St. Gallen ist».17 Eine grössere Schenkung kann das Historische Museum auch 1982 verzeichnen. Rolf Schiess, Inhaber der Habis Textil AG in Flawil, überreicht aus dem Nachlass seiner Mutter, Julita Schiess-Habisreutinger, eine grosse Anzahl modischer Hüte und einige Kleider (S. 62). Im gleichen Jahr darf das Historische Museum auch eine wertvolle Dauerleihgabe übernehmen. 1981 hat die Schweizerische Textilfachschule (STF) ihr hundertjähriges Bestehen mit einer Ausstellung in St. Gallen gefeiert und aus ihren Beständen die Sammlung der Modejournalistin Grete Trapp aus Zürich vorgestellt. Diese hat im Lauf ihres Lebens – sie verstarb 1950 – einen grossen Fundus an Damenkleidern von 1780 bis 1950 zusammengetragen. Genannt seien beispielsweise ein Empirekleid, das an die Welt der Autorin Jane Austin erinnert (S. 23), ein Promenadenkleid aus Glarner Druckstoff (S. 43) oder ein «Charlestonkleid» aus den 1920er Jahren (S. 59).

16 Kar l Schöne nbe rge r, Kar l Mülle r-Fr ie dbe rg und se ine Familie. Vor fahre n und Nachkomme n, in: Togge nburge r He imat-Jahr buch, Ba ze nhe id 1957, S. 11. 17 Ebe nda, S. 10.


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Da die Stücke bislang «in einem Fabrikgebäude in zwölf Kisten unzweckmässig aufbewahrt»18 worden sind, trifft der damalige Schulleiter Robert Claude mit dem Kurator des Historischen Museums, Louis Specker, eine Vereinbarung, und die Bestände der STF werden als Depositum in die Modesammlung des Museums integriert. Der neue Kulturgüterschutzraum im Stadtpark bietet Platz, und eine Auswahl der Kleider wird im neuen Textilsaal präsentiert. Für die Betreuung der Sammlung ist die St. Gallerin Doris Clavadetscher zuständig, die sich bereits in der Jubiläumsausstellung engagiert hat.19 Selbst Sammlerin, setzt sie sich für den Ausbau der Bestände des Museums ein (S. 38). Dank ihrer Kontakte zu modebewussten Damen aus der St. Galler Gesellschaft sind auch Beispiele aus den 1960er und 1970er Jahren reich vertreten. Zu den besonderen Stücken zählt ein Kleid der Sängerin Paola del Medico mit St. Galler Stickerei, welches sie 1970 an einem Auftritt am Internationalen Songfestival in Rio de Janeiro getragen hat (S. 78).

18 Kostüme aus z we i Jahr hunde r te n. Aus ste llung zum 10 0. G e bur tstag de r Schwe ize r ische n Tex tilfachschule, in: St. Galle r Tagblat t, 23. Juni 1981. 19 Ebe nda.

Modejournalistin und Sammlerin Grete Trapp (1877–1950)

Paola über den Dächern von St. Gallen, 1970 (Foto: Privatbesit z)


20 D ie G allus stadt. A lmanach auf das Jahr 1959, St. G alle n 1959, S. 130 (Foto) und S. 151. 21 G allus-Stadt 19 65. Jahr buch de r Stadt St. G alle n, St. G alle n 19 65, S. 142.

Mit der Geschichte von St. Gallen verknüpft ist eine weitere Schenkung aus dem Jahr 1991: ein Rokoko-Kleid aus der Familie Zollikofer von Schloss Altenklingen (S. 20). Ein anderes Beispiel stammt von Ursula Hausamann (S. 75), Enkelin des Ostschweizer Fotografie-Pioniers Ernst Hausamann und Nichte von Hans Hausamann, der sich im Zweiten Weltkrieg mit seinem «Büro Ha» für den Nachrichtendienst der Schweiz eingesetzt hatte. 1954 gründete er die Internationalen Pferdesporttage in St. Gallen (heute CSIO) und leitete sie bis 1965. Für diesen Anlass organisierte er jeweils auch Modeschauen, die für Aufsehen sorgten. 1959 hiess es: «Die glanzvollen Pferdesporttage sind zu einem schweizerischen Ereignis geworden, wiederum verbunden mit einer grossen Modeschau.»20 1963 zogen allein am Sonntag, dem dritten und letzten Turniertag, 30 000 Besucherinnen und Besucher aufs Breitfeld, und es wurde berichtet: «St. Gallen hat seine Zugkraft als Stadt des Pferdes und der Mode wieder einmal unter Beweis gestellt.»21 Jüngstes Beispiel aus der Sammlung ist eine Schenkung der Familie Kurer aus dem Jahr 2017 (S. 48). Es ist das Hochzeitskleid von Sophie Glinz, Grossmutter von Christoph Kurer und Tochter von Leonhard Glinz, dem Besitzer des berühmten Hotels Schiff an der Multergasse in St. Gallen (heute Ochsner Sport). Sie heiratete 1902 Adolf Kurer von der Bierbrauerei Schützengarten in St. Gallen.

Mannequin an den Internationalen P ferdespor t tagen 1961 (Foto: Karl Künzler, Stadtarchive St. Gallen)

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d r e s s e s

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1775 –1785


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1770 –1780


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1795 –1800


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1795 –1800


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um 1810


Ostschweizer Musselin für die Mode

Modischer Musselin Im 18. Jahrhundert kommen Damenkleider und Accessoires aus Baumwolle in Mode (S. 20). Besonders gefragt ist seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das äusserst feine, beinahe durchsichtige Musselingewebe. Das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen verfügt über exzellente Beispiele dieser Zeit. Anfänglich wird Musselin vorwiegend für Fichus (feine Dreieckstücher, die Hals und Dekolletee bedecken), Manschetten und Hauben verwendet. Erste Impulse für leichte weisse Baumwollkleider kommen in den 1780er Jahren mit der «Robe à l’anglaise» von England in die Modemetropole Paris. Nach der Französischen Revolution vereinfacht sich der Schnitt dieses Kleids zu einem locker fallenden Baumwollgewand. Noch werden darunter die seit Jahrhunderten den Frauenkörper modellierenden Korsagen beibehalten. Von ihnen befreit sich die Frau erst um 1795, als die hauchdünnen Chemisen aus Musselin mit erhöhter Taille Mode werden (S. 22, 23 und Detail S. 93). Während der Empire-Zeit von 1805 bis 1815 fällt das Kleid unterhalb der Brust faltenlos herab. Die Ärmel werden überlang (S. 27). Im Biedermeier, zwischen 1815 und 1848, rutscht die Taille zurück auf ihre natürliche Höhe. Musselinroben bleiben beliebt (S. 31). Um das Ideal einer immer schmaler werdenden Taille zu erreichen, tragen die Damen wieder Korsett. Die Röcke werden kegelförmig und stehen unten kreisförmig weit ab. Puff- und Schinkenärmel sowie bestickte Fichus und Kragen aus Musselin akzentuieren die Schultern. Musselin aus der Ostschweiz Schon früh stellt sich die Ostschweizer Textilindustrie auf die Nachfrage nach Baumwollstoffen ein. Um dem bald boomenden Bedürfnis nach Musselin gerecht zu werden, wird in der ganzen Region gesponnen, gewoben, gestickt, veredelt und ausgerüstet. Die Fabrikation von Baumwolle beginnt im 18. Jahrhundert die jahrhundertealte Tradition der Leinenherstellung abzulösen. Barchent, ein Gewebe aus Baumwollschuss und Leinenkette, wird erstmals 1721 gewoben.1 Baumwollstoffe werden ab 1740 produziert, 2 Musselin ab 1750. Vor allem im Kanton Appenzell Ausserrhoden arbeiten Tausende Weberinnen und Weber in feuchten

1 He r mann War tmann, Industr ie und Hande l de s Kantons St. G alle n auf Ende 1866, St. Galle n 1866, S. 87– 88. 2 War tmann spr icht von «Baue lstücke n» (S. 94).

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Webkellern. Frauen, Kinder und alte Leute sind in der ganzen Ostschweiz und im benachbarten Ausland mit Spinnen beschäftigt. Für ein speziell hauchdünnes Musselingewebe wird ab den 1760er Jahren ein extra feines Garn gesponnen, das sogenannte Lötli-Garn, das nur mit der Spindel gefertigt werden kann. 3 Um 1790 werden maschinengesponnene Baumwollgarne aus England importiert. 1801 startet in St. Gallen der erste Versuch einer mechanischen Spinnerei im ehemaligen Klostergebäude. Stickereien auf Musselin Festere Baumwollgewebe werden vor dem Export zum Teil bedruckt. Eine erste textile Druckerei eröffnet 1737 in Herisau.4 1775 erlebt der Zeugdruck seinen Höhepunkt. 5 Auch Musselin ist ein wichtiges Exportprodukt – mit und ohne Stickereien. Die Kettenstichstickerei wird 1753 in der Ostschweiz eingeführt. Aus dem Jahr 1773 ist die Beschäftigung von 6000 Stickerinnen überliefert.6 1790 sollen es bereits 30–40 000 gewesen sein. Grösster Abnehmer der Stickereien ist Frankreich. Zu Beginn führen die Stickerinnen ihre Arbeiten auch nach französischen Vorlagen aus (S. 24). Der Plattstich kommt 1801 auf (S. 27 und Detail S. 93). Es ist eine Technik, die sich für Flächenstickereien eignet. Aus dicht aneinander gelegten Fäden entsteht eine reliefartige Oberfläche. Der Plattstich entwickelt sich später weiter und wird zur typischen Appenzeller Handstickerei (S. 31 und Detail S. 93). Ab 1850 werden die Muster auch in der Region entworfen. Erste grosse Konkurrenz für die Handstickerei, vor allem für die Kettenstichstickerei, ist die Plattstichweberei – noch bevor die Maschinenstickerei aufkommt. Die vom Ausserrhoder Johann Conrad Altherr 1823 erfundene Plattstichlade kann auf den Webstuhl montiert werden und ermöglicht das Weben von günstigen, der Stickerei ähnlichen Mustern. Ihren grössten Erfolg erreicht die Plattstichweberei zwischen 1845 und 1860 (S. 34 und 38). Ihre wirtschaftliche Blüte erlebt die Textilindustrie durch die Maschinenstickerei, deren ausserordentlicher Aufschwung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnt.

3 Ursula Kar bache r, Bilans de 176 0 à 18 07 d’une e ntre pr ise fêta nt son 250 e a nnive rsaire. Refe rat an de r Tagung de r CIE TA , Br üs se l (De r Vor trag wird 2018 publizie r t). «Lötli- Gar n» wird in de n Bilanze n de r Fir ma Ulr ich G aspard Vonwille r e rstmals 1764 e rwähnt. 4 A nne Wanne r, Le déve loppe me nt de l’indie nnage e n Suis se, in: Le coton et la mode, Par is 20 0 0, S. 76. 5 A lbe r t Tanne r, Das ganze L and e ine Fabr ik. D ie Indus­ tr ialisie r ung im A ppe nze lle rland, in: A ppe nze llische Jahr büche r, Hef t 144, 2017, S. 14 –19. 6 War tmann, S. 164.


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