Paulinas Traum

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edition punktuell. Leseprobe

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Pia Matter-Schmidli

Paulinas Traum


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Pia Matter-Schmidli

Paulinas Traum

edition punktuell

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© 2019 by edition punktuell, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Umschlaggestaltung: Daniela Saravo Umschlagfoto: Pia Matter Lektorat: das Buch – der Text, Irène Kost Gesetzt in Gotham Narrow Book Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-905724-63-9 www.editionpunktuell.ch

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Manchmal geschehen Wunder. Um ein Wunder zu erleben, braucht es einen Traum. Wenn Du dir etwas von ganzem Herzen wünschst und ganz fest daran glaubst, dass Dein Wunsch in Erfüllung geht, dann wird eines Tages dieses Wunder geschehen.

Für meine Kinder und Grosskinder, die ich über alles liebe … meinen Eltern zum Dank für die schöne, unbeschwerte Kindheit … meinem Mann für die schönen gemeinsamen Jahre

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Inhalt

Ferienanfang 9 Der Wunschzettel 15 Eine Gestalt im Nachbarhaus 16 Auf Spurensuche 20 Onkel Harry kommt zu Besuch 24 Onkel Harry bleibt 31 Mohnblumen 33 Ein Ausflug 35 Das Geheimfach 45 Das Quietschen des Eisentors 48 Der Eingang zum Keller 50 Der Dorfpolizist 56 Freiheit 60 Umzug ins Gästezimmer 62 Luna 72 Ein schöner Traum 78 Gefahr auf der Strasse 80 Gewissensbisse 88 Christina ist zurück 94 Der Plan 98 Buddy ist zurück 108 Die geheimnisvolle Nachricht 110 Das Versprechen 113 Keine Spur von Paulina 116 Das erste Verhör 130 Hallo hierher! 131 Das zweite Verhör 134


Was hat er ihr bloss angetan? 135 Das dritte Verhör 137 Auf dem Weg zur Besserung 138 Die Überraschung 140 Das alles entscheidende Verhör 142 Die Einladung 144 Die Verwandlung über Nacht 150 Noch immer keine Nachricht 151 Das Fest 152 Der Gedankenblitz 153 Die Welt der Sterne 157 Ein Geschenk der Natur 160 Die vornehme Dame 163 Die Verabredung 167 Ein gutes Ende 168

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Ferienanfang Die Sommerferien haben begonnen. Es ist herrlich warm, und der Duft von frischem Heu liegt in der Luft. Lautes Kinderlachen hallt weit über das Dorf. Das Lachen stammt von dem Mädchen mit dem Hund. Es geniesst die wilden Spiele auf der hügeligen Wiese. Mit kreisenden Armen saust es den steilen Hang hinunter. Dabei gewinnt es immer mehr an Geschwindigkeit. Die Unebenheiten des Bodens lassen das Mädchen straucheln, sodass es die Kontrolle über seine Füsse verliert. Hoppla! Der zierliche Körper verschwindet in einem farbenprächtigen Meer von Blumen und Gräsern. Das Lachen verstummt. Plötzlich rennt der energisch bellende Hund auf das Kind zu und scharrt mit seinen kräftigen Pfoten eine Mulde, direkt neben dem reglos am Boden liegenden Kopf. Die trockene Erde wirft eine dichte Staubwolke auf und bedeckt die roten Wangen des Mädchens mit einem sanft braunen Schleier. Schmatzend fährt der Hund mit seiner feuchten Zunge über das staubige Kindergesicht. Das Mädchen spürt ein leichtes Kitzeln. Es versucht, das Lachen zu unterdrücken, kann es aber bald nicht mehr zurückhalten. Laut kichernd schlingt es die Arme um den Hals des Hundes, hält ihn eine Weile fest umklammert und setzt sich dann ruckartig auf. Die trockenen Grashalme rascheln, und ein zerzauster blonder Lockenkopf mit staubverschmierten Wangen und einem zauberhaften Lachen kommt zum Vorschein. Das ist Paulina. Paulina Schmidt mit ihrem Hund. Das glücklichste Kind der Welt. «Paulina! Pauliiinaaa! Aufstehen!» Oh nein! Aus der Traum! Ausgerechnet jetzt. Paulina reibt sich die Augen. Sie spürt die federleichte Daunen-

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decke, die bleischwer ihren Körper umhüllt. Mit heftigen Strampelbewegungen schleudert sie die Decke zu Boden. Die Landung auf dem Boden der Tatsachen ist hart für Paulina, denn die Realität sieht ein bisschen anders aus. In ihrem wirklichen Leben gibt es keinen Hund. Ihr innigster Wunsch ist immer noch unerfüllt. Seit vielen Jahren trägt sie diese Sehnsucht ganz tief in ihrem Herzen. Die Erwachsenen, dazu gehören Paulinas Eltern und Oma Theresa, versuchen ihr einzureden, dass ein Hund viel zu viel Arbeit gäbe. Na und? Sie sagen, dass ein Hund eine grosse Verantwortung bedeute. Okay, das stimmt, aber sie würde diese Verantwortung liebend gerne übernehmen. Sie würde sich ganz alleine um ihren Hund kümmern, ihn füttern, pflegen, spazieren gehen und sogar die Hundehäufchen aufheben. Zudem hat sie angeboten, beim Putzen zu helfen. Aber anstatt Freude über dieses Angebot zu ernten, wird sie mit Vorträgen überschüttet, was ein Hund im Haushalt auslösen würde, weil, und das ist das schwerwiegendste aller Argumente, Oma Theresa scheinbar allergisch auf Hundehaare reagiert. Das Krankheitsbild soll mehrere Reaktionen gleichzeitig zeigen wie tränende Augen, Juckreiz, gerötetes Gesicht und Atemnot. Ein Argument, das vergleichbar mit der Standfestigkeit einer Mauer ist, die jedes Erdbeben überstehen würde. Unvorstellbar und ebenso unvernünftig, sich in diesem Fall einen Hund anzuschaffen. Paulinas Eltern, Jürgen und Susan Schmidt, wären im Grunde genommen nicht abgeneigt, wenn Oma Theresa nicht ständig von dieser blöden Allergie sprechen würde. Da aber der gemeinsame Haushalt von ihr alleine geführt wird, während Paulinas Eltern arbeiten, muss ihr Einwand respektiert werden. Paulina liebt Oma Theresa, und sie möchte deren Gesundheit auf keinen Fall gefährden. Dennoch ist es unmöglich für sie, ihren Traum aufzugeben, denn ihr Wunsch entspringt nicht dem Vernunftdenken. Nein, er sitzt ganz tief verankert in ihrem Herzen und wartet darauf, endlich in Erfüllung zu gehen. Es muss einen Weg geben.

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«Pauliiinaaa! Frühstück ist fertig.» Paulina stösst einen verzweifelten Seufzer aus. «Ich komm ja schon», brummt sie, während sie ihre Kleider vom Fussboden aufsammelt. Soeben steckt sie das zweite Bein in die Jeanshose, da hört sie das stürmische Läuten der Hausglocke. Oma Theresa öffnet die Tür, und Paulina erkennt die aufgeregte Stimme ihrer Freundin. Sie eilt die Treppe hinunter in den Flur. «Christina, was ist los?» Christina überreicht ihr eine mit Luftlöchern übersäte Kartonschachtel, während sie im Schnellverfahren erklärt, was sie soeben erlebt hat. Sie hat es sehr eilig. Ihre Eltern warten bereits. Sie fahren heute für vier Wochen in die Ferien. Die Freundinnen schliessen sich zum Abschied fest in die Arme, und Paulina verspricht, sich gut um das Lebewesen, das ihr soeben anvertraut wurde, zu kümmern. Vier Wochen! Vier lange Wochen. Dieser Gedanke passt Paulina überhaupt nicht. Den grössten Teil der Sommerferien wird sie also hier alleine mit Oma Theresa verbringen müssen. Genau genommen mit Oma Theresa und dem Inhalt dieser durchlöcherten Kartonschachtel. Vorsichtig hebt sie deren Deckel hoch, und ihr kommt der weit geöffnete Schnabel eines jungen, noch wenig befiederten Vogels entgegen. Der Anblick dieses hilflosen Geschöpfes lässt Paulinas Herz höher schlagen. Nach Christinas Aussage wäre der Vogel beinahe einer Katze zum Opfer gefallen. Sie hat ihn zum Glück retten können. Und Paulina hat damit eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe übernommen. Sie überlegt. Was ist zu tun? Der Vogel wird rund um die Uhr betreut werden müssen. Das heisst, dass die geplanten Tagesausflüge mit Oma Theresa vorerst gestrichen sind. Paulina hat Wichtigeres zu tun. Als Erstes muss sie sich um eine geeignete Behausung kümmern. Da der Vogel noch nicht fliegen kann, dürfte sich dies als nicht so schwierig erweisen. Und so sitzt der Winzling bereits kurze Zeit später in einem, mit unterschiedlichen Materialien ausgepolsterten, Weidenkörbchen. Neugierig begutachtet er seine Umgebung. Er scheint über-

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haupt keine Angst zu haben. Sobald Paulina sich ihm nähert, öffnet er den Schnabel und bettelt gierig nach Futter. Dies könnte bedeuten, dass auch die Sache mit der Fütterung relativ unkompliziert sein dürfte. Das einzige Problem könnte die Futterbeschaffung darstellen, denn Paulina, mit ihrem riesig grossen Herz für alle Lebewesen, würde niemals auch nur ein einziges, lebendes Insekt in diesen Schnabel stopfen und schon gar nicht einen Regenwurm. Glücklicherweise hat sie bereits Erfahrung, was die Aufzucht eines Wildvogels betrifft. Es liegt zwar schon einige Jahre zurück, aber sie kann sich noch sehr gut daran erinnern, wie sie damals der Nachbarin, Frau Becker, bei der Fütterung einer jungen Amsel behilflich sein durfte. Da steckte ganz schön viel Arbeit dahinter, aber es war ein einmalig schönes Erlebnis. Die Amsel gedieh prächtig und zwar mit Aufzuchtfutter aus dem Zoofachhandel. Abgesehen davon mochte Paulina die Nachbarin sehr gut. Sie war stets gut gelaunt und freute sich immer über Paulinas Besuch. Leider zog sie dann kurz darauf weg. Paulina greift zum Telefonhörer, um ihren Vater anzurufen. Bestimmt wird er ihr das Futter besorgen. Da er ohnehin in der Nähe des Zoofachgeschäftes zu tun hat, willigt er auch ein. Während sie auf das Futter wartet, holt sie das Buch über die einheimische Vogelwelt aus dem Regal. Es ist ein dickes, schweres Fachbuch, das ursprünglich dieser Nachbarin gehörte. Sie hat Paulina das Buch zum Abschied geschenkt und hat es sogar mit einer persönlichen Widmung versehen. Es ist wirklich schade, dass sie weggezogen ist, denkt Paulina, während sie die Bilder der unterschiedlichen Vogelarten vergleicht. Sie versucht herauszufinden, welcher Gattung ihr Schützling zuzuordnen ist. Dem zierlichen, länglichen Schnabel nach zu urteilen, gehört er wohl am ehesten zur Familie der Singvögel. Da er aber erst über ein paar wenige flaumige Federn verfügt, ist es schwierig, ihn näher zu bestimmen. Paulina blättert das Buch bis zur letzten Seite durch. Auf der Umschlaginnenseite stösst sie auf die Widmung

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mit den Abschiedsworten von Frau Becker. Nachdenklich streicht sie mit der Hand über das Geschriebene, bis sie zuunterst in der rechten Buchecke die ebenfalls von Hand gekritzelten Buchstaben entdeckt. Merkwürdig, denen hat sie bisher gar keine Beachtung geschenkt. «GB», liest sie laut und fragt sich, was dies wohl bedeuten könnte. Mit diesen nichtssagenden Grossbuchstaben und dem Gekritzel daneben kann sie aber nichts anfangen. Wird wohl nichts Wichtiges sein, denkt sie, klappt das Buch zu und stellt es ins Regal zurück. Das Motorengeräusch eines Autos lässt Paulina aufhorchen. Bestimmt ist es der Vater mit dem Vogelfutter. Sie eilt zum offen stehenden Fenster. Vorbeigefahren. Ach, wie lange dauert das denn noch? Mit aufgestützten Ellbogen wartet sie ungeduldig, bis das Auto ihres Vaters endlich in die Hauseinfahrt einbiegt. Zufällig fällt ihr Blick auf das Nachbarhaus, und ihre Gedanken schweifen in die Vergangenheit zurück. Paulina kann sich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem die nette Nachbarin weggezogen ist. Es war ein regnerischer Tag, und die grauen Wolken am Himmel passten zu der allgemein gedrückten Stimmung. Inzwischen müssen mindestens vier Jahre vergangen sein, und das alte, mächtig gross erscheinende Haus ist noch immer unbewohnt; in eine seltsame, geheimnisvolle Stille gehüllt. «Paulina, ich bin dahaaa.» Oh, sie war dermassen in Gedanken versunken, dass sie ihren Vater gar nicht hat kommen hören. Dankend nimmt sie ihm das Päckchen mit dem Futter ab und bereitet die breiähnliche Vogelmahlzeit zu. Gleichzeitig meldet sich die erstaunlich laute Stimme des Vogels. Mit ihren feingliedrigen, geschickten Fingern gelingt es Paulina mühelos, ihm den Futterbrei in den weit geöffneten Schnabel zu stopfen. Diesen Vorgang wiederholt sie so lange, bis sein Hunger gestillt ist. Anschliessend hebt sie ihn vorsichtig aus dem Nest, um die ersten Kothäufchen zu beseitigen. Dabei schmiegt sich das warme, pralle Vogelbäuchlein vertrauensvoll in ihre Hand. Paulina kann ganz deutlich seinen kräfti-

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gen Puls fühlen. Behutsam hebt sie den Arm bis auf Augenhöhe hoch und flüstert ihm zu: «Ich verspreche dir, dass ich gut auf dich aufpasse, bis du gross bist. Und wenn du dann fliegen kannst, werde ich dich frei lassen, damit du deine Familie wieder finden kannst.» Der kleine Vogel schüttelt seine beinahe nackten Flügel aus und nistet sich wieder in die schützende, warme Hand ein. Paulina fühlt eine angenehme Wärme in ihrem Inneren. Das kleine Wesen hat ihr Herz bereits erobert. Mit seinem zierlichen Schnabel zwickt der Vogel ihr in die Lippen. «Pass bitte auf, dass er nicht auf den Teppich kleckert», unterbricht Oma Theresa diese traute Zweisamkeit. Wie immer, wenn es um Ordnung und Sauberkeit geht, hat sie diesen speziell strengen Blick aufgesetzt. Die Liebe zu ihrer Enkelin, steht ihr aber ebenso ins Gesicht geschrieben. Sie bewundert Paulina, besonders für deren natürliche Gabe, was den Umgang mit Tieren betrifft. Allgemein betrachtet, ist Oma Theresa eine wirklich supertolle Grossmutter. In Sachen Flecken und Unordnung ist aber nicht zu spassen mit ihr. Zudem ist sie auch nicht mehr die Jüngste, und seit dem Tag, an dem Paulinas Grossvater verstarb, ist sie immer ein bisschen traurig. Obwohl nun schon viele Jahre dazwischen liegen, ist oft ganz deutlich zu spüren, dass sie ihn vermisst. Paulina kann sich nicht an ihn erinnern. Sie war damals erst zwei Jahre alt. Jetzt wird sie bald neun. Ach ja, in zwei Wochen hat sie Geburtstag, und der Wunschzettel, den ihre Mutter zum Ausfüllen bereitgelegt hat, liegt noch immer unberührt auf der Kommode. Paulina hat keine Ahnung, was sie auf den Zettel schreiben soll, denn ihren grössten und einzigen Wunsch, den wagt sie nicht nochmals aufzuschreiben. Sie hat Angst vor der Enttäuschung wie letztes und vorletztes Jahr und die Jahre zuvor, und sie hat Angst vor der Moralpredigt, die sie endlich zur Vernunft bringen soll. Ihre Eltern versuchen sie zu überzeugen, dass es so viele nützliche Dinge gäbe, die sie sich wünschen könnte. Es dürfte ausnahmswei-

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se auch einmal etwas Grösseres sein. Aber von ihrem Herzenswunsch spricht kein Mensch. Davon will niemand etwas hören, und deshalb hat Paulina diesen innigen Wunsch in ihre Traumwelt verbannt. Aber die Hoffnung, die gibt sie nicht auf. Niemals! Denn eines Tages, da wird ein Wunder geschehen und Paulinas Wunsch wird in Erfüllung gehen. Ja, ganz bestimmt, eines Tages wird ihr Traum Wirklichkeit werden. Davon ist sie felsenfest überzeugt.

Der Wunschzettel Der leere Wunschzettel, der noch immer unberührt auf der Kommode im Flur liegt, hat eine rege Diskussion der Eltern in Gang gesetzt. «Das ist doch nicht normal, oder?», hört Paulina die besorgte Stimme der Mutter. «Meine Tochter hat es eben nicht nötig, jedem dieser modernen Hirngespinste nachzurennen», interpretiert der Vater den leeren Zettel. Sobald Paulina die Küche betritt, verstummt das Gespräch, aber die ratlosen Blicke, die sich die Eltern zuwerfen, bleiben von ihr nicht unbemerkt. Eine unangenehme Stille erfüllt den Raum. «Wie wär’s denn mit einem neuen Velo?», unterbricht der Vater die Stille. Ausschweifend schildert er die vielen Möglichkeiten, die Paulina hätte, wenn sie sich für dieses Geschenk entscheiden würde. Die Begeisterung über seine grandiose Idee ist nicht zu überhören. Paulina weiss, dass ein Velo, ein äusserst grosszügiges Geschenk ist. Trotzdem hält sich ihre Begeisterung in Grenzen, denn es entspricht nicht im Entferntesten ihrem Herzenswunsch. Sie fühlt eine tiefe, grenzenlose Enttäuschung. Ihre Tränen lassen sich nicht mehr zurückhalten. Deshalb verlässt sie mit schnellen Schritten die Küche. Am späten Abend schleicht sie dann in den Flur zurück, um den Wunschzettel zu holen. Sie will niemandem begegnen, aber die Idee

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mit dem Velo passt ihr irgendwie doch. Zurück in ihrem Zimmer klebt sie ein Bild mit einem blauen Velo auf den leeren Zettel und nimmt sich vor, ihn später dann auf die Kommode zurückzulegen. Jetzt muss sie sich erst einmal um die Bedürfnisse ihres Schützlings kümmern.

Eine Gestalt im Nachbarhaus Oma Theresa fühlt sich angespannt. Genervt streicht sie die Knitterfalten ihres Nachthemdes glatt. Am liebsten würde sie das unordentlich erscheinende Wäschestück in den Abfalleimer stopfen. Heute Morgen war die Welt noch völlig in Ordnung, aber sie weiss genau, woher diese Übellaunigkeit auf einmal kommt. Es gibt da eine Angelegenheit, die sie sehr beschäftigt, und zwar handelt es sich um Paulinas Geburtstag. Genauer genommen um Paulinas Herzenswunsch. Sie hat die Tränen gesehen, die sie zu unterdrücken versuchte, und dies hat ihr beinahe das Herz gebrochen. Sie weiss, dass Paulina das glücklichste Kind der Welt wäre, wenn ihr Traum endlich Wirklichkeit würde. Paulinas Wunsch kann aber nicht in Erfüllung gehen, weil sie ihr im Weg steht. Sie, Oma Theresa, mit ihrer krankhaften Reaktion, sobald ein Hund in ihre Nähe kommt. Sie fühlt sich schuldig, und obwohl sie Paulina über alles liebt, beabsichtigt sie nicht, deren Wunsch nachzugeben. Ein tragisches Erlebnis aus ihrer eigenen Kindheit hat tiefe Spuren hinterlassen, und sollte Paulinas Wunsch je in Erfüllung gehen, würde sie täglich mit ihrem Schmerz konfrontiert. Das wäre zu viel für sie. Sie könnte es nicht ertragen, und sie will nicht darüber reden, mit niemandem. Ein lauwarmer Luftzug dringt durch das offene Fenster in ihr Schlafzimmer. Oma Theresa verharrt einige Minuten reglos im Fensterrahmen und starrt in die Dunkelheit. Während sie dem Zirpen der Grillen lauscht, atmet sie tief den feinen Sommerduft ein, bis sie abrupt aus ihren sorgenreichen Gedanken gerissen wird.

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Was war das, woher kam das? Hat sie da nicht eben das Aufflackern eines Lichtes gesehen? Es handelte sich nicht um ein starkes Licht, wie etwa das eines Scheinwerfers, eher ein schwaches Leuchten, ein Lichtschimmer sozusagen. Woher kam das? Während sie den Oberkörper gefährlich weit über den Fenstersims hinauslehnt, fragt sie sich, ob sie sich vielleicht getäuscht hat. Ihr Schlafzimmer liegt im zweiten Obergeschoss, genau über dem von Paulina. Gegenüber liegt das Nachbarhaus, welches seit Jahren unbewohnt ist und somit als Quelle des Lichtscheins überhaupt nicht infrage kommt. Oder vielleicht doch? Ihre Augen gleiten suchend der dunklen Hauswand entlang, von Fenster zu Fenster. Ein mulmiges Gefühl durchströmt sie von Kopf bis Fuss, obwohl ihr überhaupt nichts Aussergewöhnliches auffällt. Im Gegenteil, alles ist stockdunkel und mucksmäuschenstill. Selbst das Zirpen der Grillen ist nicht mehr zu hören. Kurze Zeit später gibt sie das Suchen auf. Vermutlich hat sie sich ja wirklich nur getäuscht. Ausserdem geht ihr diese unheimliche Stille auf die Nerven. Kaum hat sie sich mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr die Sinneswahrnehmung eventuell einen Streich gespielt haben könnte, entdeckt sie erneut das Aufflackern dieses Lichtes. Also doch! Und es kommt tatsächlich aus dem Parterre des unbewohnten Nachbarhauses. Ein schwacher, kaum zu deutender Lichtpunkt direkt hinter der Fensterscheibe. Sie kann ihn jetzt ganz deutlich erkennen. Kerzenlicht. Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken hinunter. Gebannt starrt sie auf das Fenster. Der Lichtkegel setzt sich in Bewegung, so als ob die Kerze durch die Dunkelheit schweben würde. Eine dunkle Gestalt wird erkennbar, die das Zimmer verlässt und das turmartige Treppenhaus betritt. Sie steigt die Stufen hoch, Schritt für Schritt, bis zum Estrich. Die Dachluke öffnet sich und fast gleichzeitig zeigen sich undefinierbare, gespenstische Lichtkegel am Nachthimmel. Unheimlich! Vor lauter Anspannung getraut sich Oma Theresa kaum mehr zu atmen. Panikartig schlägt sie das Fenster

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zu und lässt laut ratternd den Rollladen hinuntersausen. Fluchtartig stürmt sie aus ihrem Schlafzimmer und begibt sich in die Küche, wo sich noch immer Paulinas Eltern aufhalten. Auf leisen Sohlen schleicht sich Paulina durch den Flur, um ihren Wunschzettel auf die Kommode zurückzulegen. Sie staunt über die Stille im ganzen Haus. Schnell legt sie den Zettel hin und macht gleichzeitig auf dem Absatz kehrt, um wieder nach oben in ihr Zimmer zu verschwinden. Da hört sie diese merkwürdig leisen, aber dennoch aufgeregten Stimmen in der Küche. Von diesem Flüsterton wird in ihrer Familie eigentlich fast nie Gebrauch gemacht, aber Paulina weiss aus Erfahrung, dass genau diese Gespräche die spannendsten sind. Vielleicht geht es ja um ihren Geburtstag, um das Geschenk, um ihren Herzenswunsch!? Von der Neugier gepackt, schleicht sie auf den Zehenspitzen zurück zur Küchentür. Die rechte Ohrmuschel platziert sie direkt am Schlüsselloch. Sie muss sich sehr anstrengen, um diesem Stimmengewirr etwas Logisches zu entnehmen. Oma Theresa scheint sehr aufgeregt zu sein, und ihr Vater läuft wie immer, wenn er nervös ist, in der Küche auf und ab. Plötzlich bleibt er genau hinter der Tür stehen. «Wir müssen aufpassen, dass Paulina nichts davon mitbekommt», hört sie ihn deutlich sagen. Aha, eine Überraschung, interpretiert Paulina seine Worte. Natürlich wäre jetzt der Moment gekommen, die Neugier zu zügeln und den Lauschposten zu verlassen. Zu spät! Die Stimmen werden lauter und umso verständlicher. «Ja, genau, Paulina soll besser nichts erfahren. Ich möchte nicht, dass sie es mit der Angst zu tun bekommt», hört sie die besorgte Stimme ihrer Mutter. Angst? Nun wird es aber ganz spannend. Wovor sollte sie denn Angst haben? Schnell wechselt sie das Ohr. Die Geheimnistuerei hat

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also nichts mit ihrem Geburtstag zu tun, so viel steht fest, und wenn hier einer Angst hat, dann ist es wohl am ehesten Oma Theresa. Die scheint ein ernsthaftes Problem zu haben. «Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Es ist jemand im Nachbarhaus, ganz sicher. Da war dieses Kerzenlicht im Treppenhaus. Es sah aus, als ob eine dunkle Gestalt die Stufen hinaufgewandelt wäre bis ganz nach oben zur Dachluke, die sich öffnete, und auf einmal waren da diese merkwürdigen Lichtkegel am Himmel zu sehen. Ihr müsst es mir glauben. Da ist jemand in dem Haus.» «Wow!», entfährt es Paulina. Das klingt ja sehr abenteuerlich. «Ich verspreche dir, dass ich mich gleich morgen darum kümmern werde», sagt der Vater. Paulina hat genug gehört. Mit schnellen Schritten geht sie hinauf in ihr Zimmer zurück. Sie muss überprüfen, ob Oma Theresas Aussage stimmt. Was würde es bedeuten, wenn sie recht hätte? Tausend Fragen schwirren Paulina durch den Kopf. Gibt es neue Nachbarn? Aber warum haben die sich bei ihnen nicht vorgestellt? Was soll das mit dem Kerzenlicht? Wie lange hausen die schon dort drüben? Oder handelt es sich vielleicht um einen Einbrecher? Genauso wie zuvor Oma Theresa lehnt Paulina ihren Oberkörper gefährlich weit über den Fenstersims hinaus. Es ist beinahe stockdunkel draussen. Die Strassenlaternen bieten nur wenig Licht, sodass sie nur grob die Umrisse des Hauses erkennen kann. Die Dunkelheit lässt das riesige Haus noch mächtiger erscheinen, als es tatsächlich ist, aber nichts deutet darauf hin, dass es bewohnt sein könnte. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Systematisch lässt Paulina ihren detektivischen Scharfblick über das Haus und das grosse Grundstück gleiten. Jeden Winkel sucht sie ab, aber es gibt nichts Auffälliges zu entdecken. Kein Lichtschimmer, kein Geräusch, nichts, was die Anwesenheit eines Fremden bestätigen würde. Hat Oma The-

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resa sich doch getäuscht? Paulina hofft es, denn der Gedanke, dass jemand heimlich in das Haus eingezogen wäre, fühlt sich definitiv nicht vertrauenerweckend an. Und dass ihre Familie dieses Erlebnis vor ihr geheim halten will, passt ihr auch überhaupt nicht. Sie fühlt sich auf einmal allein. Ausgeschlossen und allein. Es dauert lange, bis Paulina endlich einschlafen kann. Wirre Träume, die von alten Häusern und mumienartigen Gestalten handeln, begleiten sie durch den Schlaf. Gegen Morgengrauen verschwinden diese düsteren Monster dann endlich und weichen einem sanften, angenehmen Traum, in dem sie sich in einer paradiesisch schönen Umgebung wiederfindet. Unzählige farbige Schmetterlinge tänzeln über einer reich blühenden Wiese. Inmitten der Blumen führt sie ein schmaler Pfad zu einer Waldlichtung, wo ein mächtiges Lagerfeuer brennt. Paulina ist fasziniert von den wild lodernden Flammen. Wie hypnotisiert starrt sie in die heisse Glut, die sie magisch in ihren Bann zieht. Auf einmal spürt sie eine unglaubliche Wärme, eine Kraft und Zuversicht, die ihren gesamten Körper zu durchdringen vermag. Die Zuversicht, die sie an die Erfüllung ihres Herzenswunsches glauben lässt und die Kraft des Feuers, das niemals erlischt.

Auf Spurensuche Es ist noch ganz früh am Morgen, die ersten Sonnenstrahlen zeigen sich. Die lauten Bettelgeräusche des kleinen Vogels zwingen Paulina aus dem Bett. Sie bereitet den Futterbrei zu. Anschliessend füttert sie den Vogel, entfernt die Kothäufchen und kontrolliert seine Krallen auf eventuelle Verschmutzungen. Seine Augen glänzen, er wirkt sehr lebhaft, und es scheint ihm rundum wohl zu sein. Paulina freut sich, dass er sich so prächtig entwickelt. Nach einer Weile setzt sie den Vogel behutsam in das Weidenkörbchen zurück. Schnell fährt sie sich mit

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