Ein Alpsommer auf Kleinbetten

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marcel steiner Ein Alpsommer auf Kleinbetten



Marcel Steiner

Ein Alpsommer auf Kleinbetten

Appenzeller Verlag



Vorwort Als Verleger, Journalist und Fotograf hatte ich in meinem Berufsleben zahlreiche Kontakte mit der Alpwirtschaft in den beiden Appenzell. Nun wollte ich es genauer wissen: Was treibt Menschen an, das entbehrungsreiche, anstrengende Leben auf der Alp auf sich zu nehmen? Wie sieht der Alltag auf der Alp abseits der von den Tourismusorganisationen gepflegten Klischeevorstellungen aus? Welches sind die grössten Herausforderungen der Älplerinnen und Älpler, welches ihre glücklichen Momente? Walter und Vroni Zellweger gewährten mir Ein­ blicke in 85 Alptage auf den Alpen Kleinbetten, Dorwees, Nisser, Grossbetten und Grossbalmen auf der Südwestseite des Kronbergs. Die zellwegersche Alpwirtschaft ist kantonsübergreifend: Erstere drei Alpen, auf die ich den Fokus lenkte, liegen in Inner­ rhoden, die beiden anderen in Ausserrhoden. Neun Mal nahm ich den Weg auf Kleinbetten un­ ter die Füsse und war mir dabei stets des Privilegs bewusst, mit journalistischer Neugierde in das Le­ ben anderer Menschen blicken zu dürfen. Dass mir dieses Privileg zuteilwurde, dafür danke ich Walter und Vroni Zellweger herzlich. Marcel Steiner September 2023

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Walter und Vroni Zellweger-Frick sind mit dem Älpler-Gen zur Welt gekommen. Das war bei Walter Zellweger 1963 der Fall, hineingeboren in eine Urnäscher Bauernfamilie. Ebenfalls in Urnäsch er­ blickte ein Jahr später Vroni das Licht der Welt, als siebtes Kind der Bauernfamilie Frick. Beide Fami­lien fuhren im Sommer z Alp, beide Kinder wuchsen ins sennische Brauchtum des Appenzeller Hinterlands hinein, noch im Vorschulalter übernahmen sie Ver­ antwortung, Walter als Geissbueb, Vroni als Geiss­ määtli. Walter und Vroni kennen sich seit der Schulzeit. In den unteren Klassen teilten sie Schulzimmer und Lehrer. Bei der Berufswahl entschied sich Walter für eine landwirtschaftliche Lehre und besuchte die Landwirtschaftliche Schule Flawil, während Vroni die Bäuerinnenschule Custerhof in Rheineck absol­ vierte. Die Schulfreundschaft hatte Bestand, 1985 führte Walter Vroni in der Kirche Urnäsch vor den Trau­ altar. Auf die Hochzeit folgte die Familiengründung: 1986 kam Walter auf die Welt, gefolgt von Christian, Brigitte, Daniela, Martin und Simon. Walter und Vroni Zellweger bewirtschafteten während 34 Jahren den Heimbetrieb im Schlatt, einen knappen Kilometer über dem Dorfplatz von Urnäsch an der Strasse zum Tüfenberg gelegen. 2001 konnten sie die Alp Kleinbetten kaufen, 2009 kam

Alp Dorwees mit Blick auf den Alpstein mit dem Säntisgipfel.

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die Alp Nisser dazu und 2012 die landwirtschaftliche Liegenschaft Rossfall. Im Zuge der Nachfolgeregelung überschrieb Wal­ ter Zellweger im Jahr 2020 seinem Sohn Chris­tian das gesamte Grundeigentum; seither ist er als Land­ wirt bei seinem Sohn angestellt. Walter und Vroni Zellweger sind vom Schlatt in den Rossfall umge­ zogen, wo Vroni das benachbarte Ferienhaus Ross­ fall als Hüttenwirtin betreut. Die Kinder von Walter und Vroni Zellweger sind längst alle erwachsen und haben eigene Familien ge­ gründet. Die Zahl der Grosskinder ist auf 15 gestie­ gen. Der Zusammenhalt in der Familie ist Zellwegers wichtig. Das grosse Mass der im Alpsommer zu er­ ledigenden Arbeit braucht den Verbund der Kräfte. Walter Zellweger ist für das Wohl der Tiere, die Milchgewinnung und die Pflege der Alpen verant­ wortlich. Vroni Zellweger ist die Meisterin der Senn­ hütte und für die Herstellung von Käse zuständig. Christian Zellweger-Zuberbühler ist der Bauer. Ihm obliegt die Administration des gesamten Betriebs, unterstützt von seiner Frau Vreni. Zusammen be­ wirtschaften sie die gepachteten Alpen Grossbalmen und Grossbetten, beides Nachbaralpen von Kleinbetten, und haben zudem immer auch noch im Heimbetrieb zu tun. Vroni Zellweger klinkt sich zu Beginn des Alp­ sommers für einige Wochen als Hüttenwirtin im Ferienhaus Rossfall aus. Da auch das Ferienhaus in Walter Zellweger.

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dieser Zeit Saison hat und gut gebucht ist, überneh­ men die beiden Töchter Daniela Nessensohn-Zell­ weger und Brigitte Fuster-Zellweger die Stellvertre­ tung, tatkräftig unterstützt von ihren Ehemännern Sandro und Adrian. Während den drei Alpmonaten im Jahr ist Klein­ betten das Zentrum der Zellweger-Familien. Die Söhne und Töchter sind ebenso willkommen wie die Schwiegertöchter und Schwiegersöhne. Für alle gibt’s etwas zu tun. Das Leben auf der Alp ist nicht nur für Grosskinder attraktiv, sondern ebenso für Grossnichten und -neffen. Übernachtungsgäste sind zahlreich, bis zu 15 Personen können in der First­ kammer der Hütte übernachten. Es ist ein Kommen und Gehen, Vroni Zellweger als Gastgeberin freut’s. An den Tisch im Stübli muss oft noch ein zweiter herangeschoben werden, wenn entferntere Ver­ wandte und Bekannte von nah und fern einen Be­ such in Kleinbetten machen.

Vroni Zellweger.

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Die Ziegen überqueren als Erste den Weissbach kurz vor der Alp Kleinbetten.

Auftakt zum Alpsommer ist die Alpauffahrt. Doch von Alpauffahrt spricht im Appenzellerland nie­ mand. Obschon der Begriff präzise ist: Er meint das Verschieben des Viehs vom Heimbetrieb auf die Alp, also «auf die Alp fahren». Verkürzt heisst das auch «Alpfahrt», aber zumeist ist vom «Öberefahre» die Rede. Obschon öberefahre ursprünglich etwas anderes meinte: nämlich den Wechsel der Kühe vom Bauernhof des Sennen in den Stall eines Heubauern, der im Sommer Heu erntete, selbst aber kein Vieh hielt. So oder so, der Tag des Öberefahre ist auch bei Familie Zellweger ein Festtag. Wie jedes Jahr söm­ mern auch einige Kühe befreundeter Landwirte auf

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Bauer Christian Zellweger hat das Ziel der Alpfahrt im Blick.

den zellwegerschen Alpen. Diese Tiere wurden be­ reits am Vorabend auf die Weiden unmittelbar beim Bauernhof im Schlatt gebracht. Für Bauer Christian Zellweger, Vater Walter Zellweger, Bruder Martin Zellweger und Schwager Adrian Fuster beginnt der 3. Juni 2023 um zwei Uhr in der Früh. Zu viert werden die Kühe im Stall gemolken und geputzt. Anschlies­ send wird gewechselt: Die Kühe im Stall kommen auf die Weide, jene auf der Weide in den Stall, um gemolken zu werden. Um fünf Uhr sind auch die übrigen Helfer und Helferinnen eingetroffen, und nach dem stärkenden Frühstück geht’s los. Zellwegers fahren sennisch auf die Alp. Das heisst, sie gliedern Menschen, Tiere und Gerätschaften –

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Schellenträger Simon Zellweger und Adrian Fuster im Aufstieg zur Alp Kleinbetten.

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das Senntum – nach der traditionellen Choreografie. Den Zug führt der Geissbueb an, gefolgt von den Geissen und dem Geissmäätli – dieser Part wird an diesem Tag von fünf Grosskindern besetzt. Vor den drei Schellenkühen marschiert der Vorsenn, dahin­ ter vier Sennen. Darauf folgt das Vieh. Den Schluss machen der Bauer als Besitzer des grössten Teils des Viehs und die beiden Saumpferde, auf deren Rücken die Ledi, das für den Alpsommer notwendige Gerät, gebunden ist. Um sechs Uhr macht sich das Senntum auf den Weg. Über die Tüfenbergstrasse ist der Dorfplatz Urnäsch schnell erreicht. Auf der Autostrasse geht’s weiter Richtung Jakobsbad. Nach der Talstation der Kronbergbahn wird rechts auf die Laufteggstrasse abgebogen. Im Kalchofen beginnt die Steigung Richtung Eugst. Vor der Alp Gross Eugst werden die Schellenkühe von den Schellen befreit. Nun wird es richtig steil, und Simon Zellweger trägt die grosse und mittlere Schelle (zusammen 17 Kilogramm) und Adrian Fuster die kleine Schelle (7 Kilogramm) bergwärts. Erste Station ist Alp Grossbalmen, hier wird ein Teil der Tiere aussortiert und eingestallt. Zweite Station ist Alp Kleinbetten, wieder wird ein weiterer Teil der Tiere aussortiert und eingestallt. Die restli­ chen Tiere ziehen weiter auf die Dorwees, wo auch sie ihr Ziel erreicht haben. Die Strecke vom Bauernhof Schlatt in Urnäsch bis auf die Alp Kleinbetten misst elf Kilometer. Dabei sind 650 Höhenmeter Aufstieg und 150 Höhen­

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Das Ziel ist erreicht: Vroni Zellweger, Simon Zellweger und Adrian Fuster auf Kleinbetten.

meter Abstieg zu bewältigen. Trägt man die Strecke ins Onlinetool von SchweizMobil ein, so wird eine Wanderzeit von dreieinhalb Stunden errechnet. Das zellwegersche Senntum benötigte an diesem Sams­ tag für die Strecke nur knapp drei Stunden. Die Kühe hätten eben Dampf abgelassen, meint dazu Walter Zellweger und verweist auf das Wetter der Tage vor dem Öberefahre. Viel Regen und schwerer Boden hätten keinen Weidgang erlaubt, und nach langen Tagen im Stall hätten sich die Tiere auf den Freilauf auf der Alp gefreut.

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