Der Appenzeller Kalender

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David Aragai | Marcel Prohaska Der Appenzeller Kalender



David Aragai Marcel Prohaska

Appenzeller Kalender Der

Zeitmesser Ratgeber Kulturgut


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© 2024 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Gestaltung: Brigitte Knöpfel Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-85882-881-1 www.appenzellerverlag.ch


7 Vorwort | David Aragai 9 Der Appenzeller Kalender: Eine Medien- und Kulturgeschichte | David Aragai 10 Definitionen und Ursprünge 15 Johannes Tobler und der erste Appenzeller Kalender 24 Gabriel Walser und der vorausberechnete Kalender 28 Der Almanach aus Amerika 34 Jahrhundert der Sturzenegger 43 Das Kalendarium zwischen Volksglauben und Aufklärung 51 Merkwürdige Begebenheiten 64 Sicheres Mittel zur Entfernung des Bandwurms 69 Zur Erhaltung und Vertiefung vaterländischer Gesinnung 76 Die anderen Kalender aus dem Appenzellerland 81 Schlussbetrachtungen 85 Das Kalendarium und seine Bedeutung | Marcel Prohaska 85 Die alte Art 87 Die neue Art 89 Der Appenzeller Kalender im Kalenderstreit 89 Der Inhalt des heutigen Kalendariums 90 Linke Seite des Kalendariums 100 Rechte Seite des Kalendariums 103 Anhang 103 Abkürzungsverzeichnis 104 Literaturverzeichnis 114 Abbildungsverzeichnis 118 Anmerkungen 122 Register 127 Dank



Vorwort

Das Bild einer Appenzeller Wirtsstube, gemalt 1971 von Alfred Fischli (1921 – 2007), ist Ihnen vielleicht auch schon über den Weg gelaufen: Es prangt auf dem Werbe-Tischset einer bekannten Appenzeller Biermarke. Das Bild im Stil der naiven Bauernmalerei zeigt eine typische Appenzeller Wirtshausszene mit vier Sennen beim Jassen, der Wirtstochter in der Tracht sowie einem grünen Kachelofen. Und: Links an der Wand hängt ein Appenzeller Kalender in einem dekorativen, hölzernen Rahmen. Seine Anwesenheit ist nicht zufällig: Aufgehängt an der Stubenwand hat es der Appenzeller Kalender in den über 300 Jahren seines Bestehens geschafft, zu einem jener Gegenstände zu werden, die typisch für das Appenzellerland stehen. Er ist sowohl in Appenzell Ausser- wie auch Innerrhoden Teil des kulturellen Inventars und hebt sich deshalb markant von anderen Presseerzeugnissen ab. Viel dazu trägt sein Äusseres bei, das sich über die Jahrhunderte wenig verändert hat. Auch weil sich der Appenzeller Kalender als ein Gegenstand der Heimatverbundenheit und Tradition etabliert hat, ist er erfolgreich. Aktuell werden jährlich rund 15 000 Exemplare verkauft. Die Publikation, die seit ihrer ersten Ausgabe auf das Jahr 1722 ununterbrochen erscheint, besitzt ausserdem ein reiches, kulturgeschichtliches Erbe. Ein vertiefter Blick zeigt eine wechselvolle Publikationsgeschichte, gibt wichtige Hinweise auf das Phänomen der Volksaufklärung in der Region im 18. und 19. Jahrhundert, beleuchtet die frühneuzeitliche Himmelsbeobachtung im Spannungsfeld zwischen As­ tronomie und Volksglauben und ist ein Spiegelbild der Medienentwicklung über eine lange Zeit. 2021 feierte der Appenzeller Kalender sein dreihundertjähriges Bestehen. Er ist damit das mit Abstand älteste Periodikum aus dem Appenzellerland und sogar im europäischen Vergleich ein mediengeschichtlicher Dinosaurier. Die Tatsache, dass er noch heute erscheint, ist bemerkenswert. Im Jubiläumsjahr wurde die Bedeutung des Kalenders für die Kulturgeschichte des Appenzellerlands hervorge­ hoben und ebenso festgestellt, dass der Appenzeller Kalender durch 7

Die von Alfred Fischli gemalte, typische Inner­ rhoder Wirtshausszene zeigt als wichtigen Be­ standteil einen Appenzel­ ler Kalender an der Wand.


Eingeschoben in einen hölzernen Kalenderrah­ men gehört der Appenzel­ ler Kalender zum Inventar eines traditionellen Appenzeller Haushalts.

seine Langlebigkeit, Verbreitung und seine Beispielhaftigkeit als länd­ liches Medium in der Frühen Neuzeit im Vergleich mit anderen Volkskalendern herausragt. Die vorliegende Publikation nimmt diesen Faden auf und erzählt erstmals in Buchlänge die Geschichte des Appenzeller Kalenders.1 Der von David Aragai (*1986) verfasste Buchteil rollt die Geschichte des Appenzeller Kalenders aus medien- und kulturhistorischer Perspektive auf, vom Rehetobler Kalenderpionier Johannes Tobler (1696 –1765) über die Kalenderdynastie Sturzenegger, die den Kalender ab 1746 für rund hundert Jahre herausgab und massgeblich prägte, bis in die Gegenwart. Der Gebrauch des Appenzeller Kalenders im Spannungsfeld zwischen Astronomie und Volksglauben kommt dabei ebenso zur Sprache wie die Entwicklung der redaktionellen Beiträge im hinteren Kalenderteil. Der langjährige und aktuelle Verfasser des Kalendariums im Appenzeller Kalender, der Berner Astronom Marcel Prohaska (*1960), hat den zweiten Beitrag geschrieben. In ihm erklärt er die Bestandteile des Kalendariums und verortet diese. Wer selbst in den älteren Ausgaben des Appenzeller Kalenders stöbern möchte, kann dies heute ganz einfach tun: auf der Internetseite www.e-periodica.ch finden sich sämtliche Appenzeller Kalender als Digitalisate. Oberegg, im Januar 2024 David Aragai 8


Der Appenzeller Kalender: Eine Medienund Kulturgeschichte David Aragai

Die Geschichte des Appenzeller Kalenders begann 1721 in einer Stube in Rehetobel mit Mathematicus Johannes Tobler (1696 – 1765) und wird in der Gegenwart fortgeschrieben im Verlagshaus Schwellbrunn bei der aktuellen Herausgeberin Christine König (*1981). Die ähnliche Erscheinungsform über 300 Jahre darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wandel und Erneuerung ebenso zum Appenzeller Kalender gehören wie das Fortsetzen der mittlerweile langen Heftreihe oder das Zählen der stets wiederkehrenden Tage, Wochen und Monate. In seiner langen Geschichte hat sich der Appenzeller Kalender immer wieder neu erfunden. Im Folgenden soll seiner sich wandelnden Gestalt nachgespürt werden. Ein Schwerpunkt liegt auf der medienhistorischen Entwicklungsgeschichte, welche den Appenzeller Kalender in seiner Zeit verortet, sowie auf kulturgeschichtlichen Schlaglichtern, die ihn auf Themen wie Volksaufklärung oder das Motiv der «Vaterländischen Gesinnung» hin beleuchten. Das erste Kapitel «Definitionen und Ursprünge» beleuchtet die Herkunft des Genres Heftkalender, bevor es den Appenzeller Kalender gab, und enthüllt, dass er nur einer von vielen ähnlichen Publikationen seiner Zeit war. Die Gründung und Entwicklung des Appenzeller Kalenders in den ersten dreissig Jahren, verknüpft mit den turbulenten Lebensgeschichten der ersten Kalendermacher Johannes Tobler und Gabriel Walser (1695 – 1776), sind Themen in den nächsten drei Kapiteln. Das folgende beschreibt die Zeit zwischen etwa 1750 und 1850 unter der Herausgeberschaft der Familie Sturzenegger, die eine eigentliche Blütezeit des Appenzeller Kalenders war. Anschliessend rückt das Kalendarium in den Fokus: Was bedeuten die Angaben da­ r­in im historischen Kontext? Wo steht das Kalendarium im Spannungsverhältnis zwischen Volksglauben und Aufklärung? Das Kapitel «Merkwürdige Begebenheiten» widmet sich dem hinteren Kalenderteil mit den Nachrichten, Anekdoten, Erzählungen, Witzen und Bildern. Die Entwicklungsgeschichte des Appenzeller Kalenders von 1850 bis in die Gegenwart wird in den Kapiteln «Sicheres Mittel zur Entfernung des Bandwurms» und «Zur Erhaltung und Vertiefung 9


vaterländischer Gesinnung» aufgerollt. Das letzte Kapitel schliesslich erzählt die Geschichte der zahlreichen anderen Heftkalender, die in Appenzell Inner- und Ausserrhoden seit dem 18. Jahrhundert publiziert wurden. Ein Fazit mit den wichtigsten Themen und Thesen aus 300 Jahren Kalendergeschichte rundet den Text ab.

Definitionen und Ursprünge Als der Appenzeller Kalender 1721 zum ersten Mal erschien, war er nur einer von vielen sich in der Region im Umlauf befindlichen Heftkalendern. Die typischerweise im Quartformat gedruckten Presseerzeugnisse waren sehr beliebt und in der Bevölkerung weit verbreitet. Da der Wiedererkennungsfaktor für die Leserschaft wichtig war, ähnelten sich die frühneuzeitlichen Kalender alle in Erscheinung und Aufbau. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für diese Art von Mediengenre, mit je nachdem unterschiedlichen Bedeutungsschattierungen: Heftkalender, Volkskalender, Schreibkalender, Almanach oder auch Bauernkalender. Im Volksmund wurde der Kalender auch Brattig genannt, eine Abwandlung des lateinischen Wortes Practica, was so viel wie Handreichung meint. Dieses Wort ist aus der Umgangssprache heute so gut wie verschwunden.2 Inhaltlich waren die Kalender ursprünglich zweigeteilt in ein Kalendarium und eben eine Practica. Das Kalendarium war eine Mischung aus kirchlichem Festkalender, astronomischen Beobachtungen und astrologischen Vorhersagen. Die Practica beinhaltete typischerweise Informationen zu Handreichungen in Haus und Stall, eine Witterungsvorhersage, einen Gesundheitsratgeber, der sich vor allem ums Thema Aderlass drehte, ein Marktverzeichnis sowie ein Behördenverzeichnis. Teilweise waren das Kalendarium und die Practica auch miteinander verschränkt. Als dritter Kalenderbestandteil kamen im 17. Jahrhundert Nachrichten und Anekdoten hinzu. Der Kalender diente ausserdem als Schreibagenda und als Wanddekoration, aufgehängt in einem Kalenderhalter. Dieser hiess umgangssprachlich Brattigtäfeli oder Brattigfueter.3 Die Blütezeit der Volkskalender war das 18. und 19. Jahrhundert. Jedoch gab es bereits seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gedruckte Heftkalender. Die Geschichte des Buchdrucks ist eng verknüpft mit der Entwicklung des Kalenders, bereits Johannes Gutenberg (etwa 1400 –1468) hatte in Mainz unter anderem Kalender gedruckt. In der Anfangszeit handelte es sich dabei vor allem um Einblattdrucke in der Form sogenannter Ewiger Kalender. Diese konnten wiederholt gebraucht werden, weil Wochentag und Datum nicht verknüpft waren. 10


Im 16. Jahrhundert wurden sie zusehends abgelöst von Jahreskalendern. Der erste Schweizer Heftkalender erschien 1497 in Genf unter dem Titel «Compost et Kalendrier des Bergiers».4 Die Offizin (Druckerei) Froschauer in Zürich produzierte ab 1544 den ersten deutschsprachigen Heftkalender der Eidgenossenschaft. Und in der Ostschweiz druckte Leonhard Straub (1550 –1601) in St. Gallen und Rorschach zunächst Einblattkalender und später Heftkalender. Straubs 1579 erschienener Wandkalender bildet sozusagen den Auftakt zu einer Appenzeller Kalendergeschichte. Das Blatt enthielt neben einer Karte des Bodensees und dem Kalendarium die Wappen der 13 eidgenössischen Orte, darunter auch dasjenige des noch vereinigten Standes Appenzell.5 Dem Bären fehlte jedoch die heraldisch wichtige Rute, das Symbol für die Männlichkeit und Kraft des ganzen Landes Appenzell. Ein weiterer Bär hielt das Appenzeller Standeszeichen umfasst. Einige Betrachter interpretierten das Bild nun folgendermassen: (…) auf der andern seiten hatt er [Leonhard Straub] ein bärin, die dem bären den ruckhen kehrt und sich von ihm will springen lassen, für der Appenzeller Wappen dargesetzt, darmit zu bedeuten, dz dz landt Appenzell der stadt St. Gallen müesste underthänig werden.6

Diese Bildinterpretation, wonach der männliche St. Galler Bär die weibliche Appenzeller Bärin dominieren wollte, machte schnell die Runde. Die wegen eines Streits über die Leinwandproduktion aufgeheizte Stimmung zwischen St. Gallen und Appenzell wurde weiter verschärft. Die empörten Appenzeller schickten eine Abordnung nach St. Gallen und verlangten die Beschlagnahmung der Kalender. Leonhard Straub erklärte, er habe die Druckstöcke für die Wappen an seinem früheren Arbeitsort Basel eingekauft und keine politische Aussage damit machen wollen. Unter Vermittlung des Fürstabts wurde die Angelegenheit geregelt: Die noch nicht verkauften Kalender wurden eingestampft, und der Kalendermacher musste schwören, keinen bösen Zweck mit seinem Kalenderdruck verfolgt zu haben. Die Appenzeller Delegation zog beschwichtigt ab, obwohl bereits zahlreiche Kalender ausgeliefert worden waren.7 Leonhard Straubs Heftkalender von 1593 enthielt neben dem Kalendarium eine Practica mit Hinweisen zur Witterung und ein Marktverzeichnis. Der Kalender konnte ausserdem als Schreibagenda gebraucht werden, da er über leere Flächen verfügte. Es ist erstaunlich, wie sehr er dem rund 130 Jahre später erschienenen ersten Appenzeller Kalender ähnelt. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschienen in der Schweiz langjährige Heftkalenderreihen. Die 11


beiden bekanntesten sind der in Basel erschienene «Hinkende Bote» ab 1676 und der Berner Schreib-Kalender ab 1678. Der Berner Kalender erscheint unter dem Titel «Der hinkende Bot» wie der Appenzeller Kalender noch heute.8 Im Laufe der Zeit öffnete sich das Medium Heftkalender immer breiteren Bevölkerungsschichten. Ursprünglich im Milieu der städtischen Oberschicht angesiedelt, gelangten die Heftkalender in der Frü­hen Neuzeit auch aufs Land. Ein Grund dafür lag in ihrer Erschwinglichkeit: Im 18. und 19. Jahrhundert waren die Heftkalender ausgesprochen billig, häufig nicht teurer als ein paar Kreuzer. Ein weiterer Grund erklärt sich durch die Art des Vertriebs: Die Heftkalender wurden von Kolporteuren verkauft, die als fahrende Händler

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auch entlegene Gebiete erreichten. Beim Hinkenden Boten, der Titelfigur zahlreicher Heftkalender, handelte es sich um einen solchen Kolporteur mit Holzbein, der sich seine Beinverletzung wohl im Soldoder Kriegsdienst zugezogen hatte.9 Die Benutzung des Heftkalenders war an eine gewisse Lesefähigkeit gebunden. Im Appenzellerland gab es zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Netz von über die Landschaft verstreuten, freiwilligen Leseschulen. Durch sie ergab sich eine Leserschaft des Appenzeller Kalenders in der breiten Bevölkerung. Ausserdem waren bis ins 19. Jahrhundert hinein Heftkalender, und speziell auch der Appenzeller Kalender, weit verbreitete Lehrmittel. In den vormodernen Primarschulen gab es noch keinen Klassenunterricht, sondern jeder

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Das vom St. Galler Drucker Leonhard Straub auf­ wendig gestaltete Kalen­ derblatt von 1579 führte zu einem Streit mit Appenzell. Kalendereinblattdrucke waren Vorgänger der Heftkalender.


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Schüler und jede Schülerin lernte für sich allein. Der Lehrer kontrollierte den Lernfortschritt und stellte neue Aufgaben. Stoff zum Lesen und Abschreiben musste von zu Hause mitgenommen werden. Durch die weite Verbreitung der Heftkalender in der Bevölkerung fanden auch viele Verwendung als schulische Schreibvorlage.10 Historiker Harald Tersch (*1965) hielt fest: «Das Medium [Heftkalender] gilt als Schlüssel zu Fragen der Volksbildung, Alphabetisierung und Literarisierung vom 16. bis in 19. Jahrhundert.»11 Als der erste Appenzeller Kalender 1721 erschien, war er nur einer von vielen Heftkalendern, die Anfang des 18. Jahrhunderts auch in der Ostschweiz den populärsten und – neben religiöser Erbauungsliteratur – häufig den einzigen Volkslesestoff bildeten. Kalendergründer Johannes Tobler (1696 – 1765) spricht diese Vielfalt in der Einleitung des ersten Appenzeller Kalenders explizit an, indem er bekräftigt, dass «man in unserem liebwerthen Vatterland noch keinen Mangel nie an Calendern gehabt».12 Gleichzeitig steht der Appenzeller Kalender als erste in Appenzell Ausserrhoden herausgegebene Zeitschrift am Beginn der Appenzeller Pressegeschichte.13

Johannes Tobler und der erste Appenzeller Kalender Dass Johannes Tobler Kalendermacher werden würde, war durch seine Herkunft nicht vorherbestimmt. Er wurde am 3. September 1696 in eine Bürgerfamilie geboren, die in der Cholenrüti, einem Weiler von Rehetobel bei der Lobenschwendi, lebte. Die Familie betrieb eine Landwirtschaft und war, wie damals gang und gäbe, in der Heimweberei tätig. Als einzige Ausbildung besuchte Johannes Tobler die nahegelegene Leseschule «im Hof». Mit 22 Jahren vermählte er sich mit Anna Zellweger (1699 – 1768) aus Gais, die mit der einflussreichen Kaufmannsfamilie aus Trogen verwandt war. Der Verbindung entsprossen zehn Kinder. Wie bereits die Eltern ernährte sich die junge Familie in Rehetobel von einem Bauernbetrieb und der Heimweberei.14 Aus Interesse begann Johannes Tobler, Sonnenuhren zu bauen und, davon ausgehend, sich im Selbststudium mit Mathematik und Astronomie zu beschäftigen. Er kaufte dazu Bücher und beschäftige sich mit den astronomischen und mathematischen Angaben in Kalendern sowie mit Rechenbüchlein, die in der Frühen Neuzeit auch auf dem Land als Rechenhilfe verbreitet waren und Berechnungstabellen enthielten. Aus Rehetobel selbst ist von 1681 ein «Vermehrtes und zum theil selbst-lehrendes Rechenbuechlein» des Kaufmanns Johannes Zürcher überliefert.15 Tobler erklärt in seinem ersten Kalender die Motivation zu seiner aussergewöhnlichen wissenschaftlichen Betätigung: 15

Titelbild des von Leonhard Straub in Rorschach auf das Jahr 1593 heraus­ gegebenen Heftkalenders. Von Aufmachung und Inhalt her gleicht er stark dem 130 Jahre später erschienenen Appenzeller Kalender.


Also ist auch unter uns Menschen ein grosser Unterscheid: denn mancher

In der Cholenrüti in Rehetobel ist Johannes Tobler aufgewachsen.

hat Lust zum studiren / und mancherley Kuensten: Mancher zum Acker / Feldbau und anderer haeußlicher Arbeit. Mancher zum Krieg und Streit / nachdem es einem jeden Gott eingepflantzet und gegeben hat; so soll und muss derowegen ein jeder in seinem Stand und Amt nach dem Befehl Gottes nicht müssig seyn, sondern das seinige verrichten / und sein von Gott aufferlegtes Joch mit Gedult ertragen. In solcher Betrachtung / freundlicher lieber Leser / hab ich mich anfangen eine kleine Zeit etwas weniges auf die Astronomia zu üben / und kan ich mich nicht ruehmen / daß ich es etwan auf Schulen / oder aber bey einem guten Meister etwas gelernet hab: Dann in den Schulen hab ich mehr nicht gelernet / als ein wenig schreiben und lesen / in der Rechnung aber hab ich kuemmerlich die 4. Species mit einfachen Zahlen gelernet / welches ich aber darnach voellig wider vergessen hab. Vor kurzer Zeit hab ich mich wider etwas angefangen zu ueben / und aus mir selbst / Lehrmeister hab ich keinen gehabt: Durch Gott / und eignen Fleiß / hab ich etwas wenigs erlernet / nicht aber daß ich die Astronomia vollkommenlich versteh / sondern etwas weniges / vollkommen verstehen wurde mehrere Zeit brauchen:

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mein Alter / das 24. Jahr, so der HERR will / und ich lebe / lasset mir noch vieles zu lernen / das mir jetz noch frembd vorkommt.16

Johannes Tobler rechtfertigt seine Studien mit dem göttlichen Willen und bezeichnet dieses Interesse auch als Last. Dabei nimmt er Bezug auf den reformierten Glaubensrahmen, der in der damaligen Gesellschaft vorherrschte. Wissenschaft und Astronomie sah er nicht als Gegensatz zur Religion, sondern als Möglichkeit zu gottgefälliger Tüchtigkeit und Fleiss. Aus Toblers wissenschaftlichem Interesse entstand die Idee, selbst einen Kalender zu produzieren. Dabei stand ihm nach eigener Aussage kein Lehrer zur Verfügung. Als nicht an einer Universität studierter Kalendermacher, der sich das Handwerk autodidaktisch beibrachte, gehörte Johannes Tobler zu einer Minderheit. Er war damit im deutschsprachigen Raum aber kein Einzelfall.17 Tobler gibt sich bescheiden – eine weitere protestantische Tugend – wenn er von seinem Zögern erzählt, einen ersten Kalender herauszubringen: Freundlicher Leser / ich bin nicht gesinnet gewesen / einen Calender in den Druck zu verfertigen / und unter meinem Namen ausgehen zu lassen / nicht zwar darum / daß ich mich diser schoenen und fuertreflichen Kunst / darzu ich (ohne Ruhm) ein sonderliches Gefallen habe / oder mit dem grossen unverstaendigen Hauffen wenig oder gar nichts davon hielte / oder ungeschickte Urtheil und Reden darob faellete; auch nicht / daß ich mich durch solche unhoefliche Spott- und Lugen-Reden davon wolte lassen abschroecken; Denn ich (Gott lob) wohl weiß / daß ein Gelehrter und Verständiger besser Urtheil darob faellet. Und ich mich auch ihrer nichts achte. Alles Fleisses aber die schimpflichen Spott- und SchmahRegen [sic] etlicher losen Dirnen nichts geachtet / oder mich dardurch von meinem Vornehmen habe abschroecken lassen; sondern vielmehr aus denen Ursachen / daß bißhero mit andern Geschaefften zimlich beladen bin / also daß ich diser schoenen Wissenschafft nicht gnug kan obligen. Auch hab ich ihn lieber das erste Jahr wollen bey Hauß behalten / darbey das Wetter und Finsternussen zu observiren.18

Als Hauptgrund für das Veröffentlichen eines eigenen Heftkalenders nennt Tobler die Fehlerhaftigkeit der anderen sich im Umlauf befindlichen Almanache. Durch seine astronomischen Berechnungen und Beobachtungen war ihm aufgefallen, dass er Mond- und Sonnenfinsternisse berechnen konnte, die nicht in den ihm bekannten Kalendern aufgeführt waren. Er sei deshalb von Bekannten dazu ermuntert worden, einen Kalender herauszugeben. Bereits im Vorfeld entschuldigt sich Tobler für mögliche Berechnungsfehler, die sich im Kalender fänden: 17


Darauf hab ich mich durch treuhertzige Leut vermahnen lassen / disen

Titelblatt des ersten Appenzeller Kalenders auf das Jahr 1722.

Calender in Druck zu geben. Der geehrte Leser seye versichert / daß ich es aus keinem Calender / sondern ich habs durch zimliche Zeit selbsten berechnet / sintemahlen um dise Zeit / da ich fertig war / noch kein einiger [sic] Calender / so viel ich weiß / auskommen ist. Bitte also den geer­ then Leser / wann auch etwas moechte falsch seyn / daß ich mich in der Rechnung uebersehen haette / sie wollen doch bedencken / daß Calendermacher / die schon viele Jahr Calender in den Druck gegeben haben / auch viele Fehler haben; und ich auch nicht der Zeit hab / noch einmahl nachzurechnen / sondern es mit dem Mantel der Liebe zudecken / (…).19

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Die Herausgabe eines Druckwerks war für Appenzell Ausserrhoden zu der Zeit ein aussergewöhnliches Ereignis. Innerhalb der Landesgrenzen gab es keine einzige Druckerei. Das lag auch daran, dass sich dieses Gewerbe vor allem in den Städten entwickelt hatte. Johannes Tobler liess sein Werk mit dem Titel «Alter und Neuer SchreibCalender» deshalb für die Ausgaben von 1722 bis 1728 bei Johann Christoph Egg in Lindau drucken und 1729 bei Christian Ulrich Wagner (1686 – 1763) in Ulm. Die Ausgaben von 1730 bis 1736 setzte und druckte Tobias Hochreutiner (1669 – 1748) in St. Gallen. Gebunden wurden die Kalender jeweils an einem anderen Ort: bei Bartholomäus Anhorn in St. Gallen, bei Johann Laurenz Mock in Herisau, bei Johannes Zürcher in Rehetobel und bei Johannes Hochreutiner in St. Gallen. Ab der dritten Kalenderausgabe erschien Johannes Toblers Heimatort Rehetobel erstmals auf dem Titelblatt, und 1733 wird als Verkaufsort auch Johannes Riederer «Krömer im Wald» genannt. Den Titel «Alter und Neuer Appenzeller Schreib-Calender» erhielt das Werk ab der vierten Ausgabe.20 Johannes Tobler erschien als Kalendermacher bildlich dargestellt auf der Titelseite. Dies war damals aussergewöhnlich, da viele Heftkalender anonym oder mit einer fiktiven Kalenderherausgeberfigur erschienen. Neben dem Kalendermann und seinem Schreibtisch sowie dem Wappenschild von Appenzell Ausserrhoden und einer Brüstung, welche den Blick auf den freien Himmel freigibt, steht prominent am rechten Bildrand eine Hausorgel. Johannes Tobler hat in Rehetobel und später auch in South Carolina nachweislich eine solche besessen und gespielt. Das damals in wohlhabenden Haushalten vorkommende Instrument wurde für den frommen Gesang im Fa­m i­l ien­ kreis und für Hausandachten gebraucht. Die gesamte Vignette beschreibt ein Bild der protestantisch-intellektuellen Tugend und ist gleichzeitig ein persönliches Porträt Toblers.21 Der «Alte und Neue Schreib-Calender» trug seinen Titel deshalb, weil er sowohl den alten julianischen wie auch den neuen gregorianischen Kalender beinhaltete. Das war nötig, weil im 18. Jahrhundert in der Eidgenossenschaft beide Kalender in Gebrauch waren. Während die katholischen Orte den 1582 von Rom eingeführten gregorianischen Kalender verwendeten, benutzten die reformierten Orte aus antipapistischen Gründen den alten, damals bereits elf Tage hinterherhinkenden, julianischen Kalender. Der Appenzeller Kalender leistete mit dem Abdruck beider Kalender eine wertvolle Hilfe, um sich in der kleinräumigen Ostschweiz zurechtzufinden, zum Beispiel beim Besuch auswärtiger Märkte. Die gregorianische Zeitrechnung wurde in Appenzell Ausserrhoden nach verschiedenen gescheiterten 19


Porträt von Johannes Tobler als Astronom von 1766.

Versuchen («Kalenderstreit») mit der Helvetik 1798 eingeführt. Heute noch wird im Ausserrhoder Hinter- und Mittelland der Alte Silvester nach der julianischen Zeitrechnung begangen, mittlerweile mit 13 Tagen Abweichung zum Standardkalender. Auch deshalb war die julia­n ische Zeitrechnung noch bis 1958 im Appenzeller Kalender abgedruckt.22 Von 1721 bis 1735 gab Johannes Tobler fünfzehn Heftkalender heraus. Sie enthielten jeweils ein Kalendarium und eine Practica. Das Kalendarium beinhaltete neben den Namenstagen, der Tageslänge, verschiedenen Bauernregeln und astrologischen Angaben auch ein Marktverzeichnis. Auf der Monatsseite rechts waren fortlaufend von Tobler verfasste Texte abgedruckt, die vor allem sein naturwissenschaftliches Interesse widerspiegeln. 1727 lautete der Titel beispielsweise: «Von denen erschröckenlichen Erdbeben, was sie seyen, und wie sie entstehen, auch einige Exempel davon». In der Practica wurde 20


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