Zehn Jahre versklavt

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Appenzeller Verlag Leseprobe

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Pascal Michel

Zehn Jahre versklavt

Die vergessene Lebensgeschichte des Johannes Rohner

Die Herausgabe dieses Buches wurde

unterstützt durch:

Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft

Dr. Fred Styger Stiftung

Gemeinde Wolfhalden

Kanton Appenzell Ausserrhoden

Steinegg Stiftung

2023 © by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlagbild: Montage aus Bild Seite 27 und 32

Gestaltung Umschlag und Inhalt: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Minion und Franklin Gothic

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN 978-3-85882-876-7 www.appenzellerverlag.ch

7 Prolog

9 Vergessen und wiederentdeckt

13 Ein Meer voller Gefahren

21 Ein blinder Fleck in der Geschichtsschreibung

25 Ein publizistischer Coup

29 Stockschläge und das Warten auf die Rettung:

Die erste Version des Sklavenberichts

35 Zwischen Augenzeugenbericht und Fiktion

Sklavenberichte als einflussreiches Genre

«Plädoyers in eigener Sache»: Wie sind Sklavenberichte zu lesen?

43 Ticket zur Reintegration: Rohners Lebensgeschichte von 1825 und 1838

Gute Protestanten, schlechte Katholiken

Weisse und schwarze Sklaven

59 Zwischen Hoffnung und Verzweiflung:

Der Loskauf von Rohner und Frischknecht

Der «Piraten-Tyrann» in Tunis fordert ein Vermögen an Lösegeld

Erst der Bruder Napoleons sorgt für eine Wende

75 Erfolgreiche Diplomatie: Der Loskauf der Sklaven Emery, Rychener und Mäder

Die Spendensammlung für die Berner in «trauriger Lage»

Josef Alois Donauer, versklavt mit Frau und Kind

81 Freiheit ist teuer: Warum die Appenzeller länger ausharren mussten

83 Die Rolle der nationalen Diplomatie: «Bitten um essentielle Minderung des Lösegelds»

85 Die Bedeutung von Johannes Rohners Schriften

Ein ausserordentlicher Bericht

Offene Fragen

89 Epilog

93 Johannes Rohners Lebensgeschichte im Original (1838)

113 Bibliografie

118 Anmerkungen

Inhalt

Abkürzungen

Archives nationales Französisches Nationalarchiv, Paris

StAAR Staatsarchiv Kanton Appenzell Ausserrhoden

StABE Staatsarchiv Kanton Bern

StASG Staatsarchiv Kanton St. Gallen

StAW Staatsarchiv Kanton Wallis

StAZH Staatsarchiv Kanton Zürich

KBAR Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden

ZBSO Zentralbibliothek Solothurn

Seitenzahl im Originaldokument

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Im Frühjahr 1796 war Johannes Rohner auf dem Weg in die Heimat nach Wolfhalden, zurück nach Appenzell Ausserrhoden, zurück zur Familie. Diese hatte der junge Appenzeller zwei Jahre zuvor verlassen, nachdem ihn ein Werber im Gasthof Hirschen in Thal davon überzeugt hatte, ins sardinisch-piemontesische Regiment Schmid in Fremde Dienste einzutreten. Besonders die Mutter litt unter dieser Entscheidung. In seiner Lebensgeschichte schrieb Johannes Rohner später,1 sie habe beim Abschied «sehr geweint» und ihm den Solddienst ausreden wollen – ohne Erfolg. Die «Begierde, ins Ausland zu gehen», sei zu gross gewesen. Bis zu einem Wiedersehen mit der Familie sollte es weitere zehn Jahre dauern. Auf dem Heimweg traf Rohner in Bellinzona auf einen Landsmann, der von angeblich steigenden Preisen und düsterer Wirtschaftslage in der Heimat berichtete.2 Daraufhin liess sich der nun Achtzehnjährige wieder als Söldner anwerben: diesmal für ein königlich-neapolitanisches Regiment. Unter den Rekruten war auch Johannes Frischknecht von Schwellbrunn. Die beiden machten sich auf den Weg nach Genua, wo sie Mitte November ein Schiff nach Neapel bestiegen, auf offenem Meer jedoch bald «mit widrigen Winden»3 zu kämpfen hatten und ziellos italienische Häfen ansteuerten.

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Prolog

Die Entscheidung, sich in Bellinzona erneut als Söldner zu verpflichten, bereute Johannes Rohner spätestens am 24. Dezember 1796. An diesem Nachmittag segelte die Mannschaft nahe der Hafenstadt Civitavecchia, als der Kapitän durch sein Fernglas ein französisches Schiff erspähte. Er riet den neapolitanischen Söldnern, sich unter Deck zu verstecken, da ihnen sonst die Gefangennahme drohe. Die jungen Männer folgten der Anweisung und warteten in der Tiefe des Schiffes darauf, dass die Gefahr vorüberzog. Stunden später wurde «alles ganz ruhig und stille»4. Zu still. Als Johannes Rohner, Johannes Frischknecht und die restlichen Rekruten wieder auf Deck traten, war ihr Schiff verlassen und die «meisten kostbaren Sachen»5 verschwunden. Damit nicht genug: Bei den vermeintlichen Franzosen, die der Kapitän in der Ferne entdeckt hatte, handelte es sich um muslimische Korsaren. Die unbewaffneten Söldner waren für diese Piraten leichte Beute. Die Szene der Erniedrigung und der Gefangennahme beschrieb Rohner eindringlich:

«Das am Mittag gesehene Schiff hatte sich ziemlich genähert, und ein bei uns befindlicher Ungar erkannte es für ein türkisches. Die Verrätherei der Schiffsleute war jetzt offenbar, und wir sahen, dass wir ins Unglück gerathen waren. Ungefähr um 4 Uhr Abends war das feindliche Schiff uns ganz nahe. Die Mannschaft desselben trat ungehindert zu uns Unbewaffnete ins Schiff, und wir, an der Zahl 22, wurden sogleich entkleidet. Nur soviel wurde uns gelassen, dass wir unsere Blösse einigermassen bedecken konnten. Mittags und Abends bekamen wir ein paar Oliven, und zum Getränk faules, stinkendes Wasser. Alle Tage und Stunden erwarteten wir den Tod.»6

Der Tod ereilte die beiden Protestanten Johannes Rohner und Johannes Frischknecht nicht. Dafür verbrachten sie zehn Jahre als Sklaven in Bardo bei Tunis. Frischknecht schuftete als Arbeitssklave im Kalkabbau. Johannes Rohner diente zunächst als Haussklave beim Bey von Tunis, Hammuda al-Husain, auch genannt Hammuda Pascha (1759 – 1814).7 Dann bei einem gewissen Soliman Aga.

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Vergessen und wiederentdeckt

Erstmals begegnet ist mir der faszinierende Lebensbericht dieser beiden Sklaven vor drei Jahren in einer Fussnote eines Blogbeitrags der Historikerin Kathrin Hoesli. Dieser erschien im Rahmen des Projekts «Zeitzeugnisse» anlässlich der 500-Jahr-Feier zur Aufnahme des Standes Appenzell in die Alte Eidgenossenschaft. Im Beitrag von 2013 umreisst Hoesli die Kurzbiografie Johannes Rohners (24.8.1777 – 16.10.1855, gebürtig von Heiden) anhand seines Privatarchivs, das sich im Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden befindet.8 Es enthält eine Ausgabe des Appenzeller Kalenders von 1808, in der Johannes Rohner erstmals öffentlich Zeugnis über seine Erlebnisse in nordafrikanischer Sklaverei ablegte. Noch ausführlicher schilderte er seine Geschichte in der Zeitung Bürger- und Bauernfreund von 1825 sowie im selben Jahr in einem Sonderdruck.9 Eine zweite, identische Auflage davon erschien 1838, die im Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden erhalten ist.

Mein Interesse war sofort geweckt. Nachdem ich die verfügbare Literatur zum Fall der beiden Appenzeller gesichtet hatte, war ich zunächst erstaunt. Bisher waren Johannes Rohners Biografie und die Geschichte seines von ihm selbst verfassten Lebensberichts in Publikationen zur Lokalgeschichte nur als Rand-

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notiz abgehandelt worden. Eine ausführliche Betrachtung und Einordnung lagen nicht vor. Hatte ich etwas übersehen?

Eine E-Mail an den Wolfhaldner Lokalhistoriker Ernst Züst schaffte Klarheit: Zwar hatte er als Gründer des dortigen Ortsmuseums im Eigenverlag eine Abschrift der Lebensgeschichte eines Appenzellers, der 10 Jahre in afrikanischer Sklaverei war angefertigt.10 Ansonsten waren Johannes Rohners Bericht sowie die Darstellung im damals populären Appenzeller Kalender weitgehend in Vergessenheit geraten.11

Neben einem Zeitungsartikel, der nach der Übergabe von Rohners Nachlass ans Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden im Jahr 2001 erschien, fand er in jüngerer Zeit Erwähnung in Peter Witschis Buch Appenzeller in aller Welt. 12 Dabei hatte die Familie Rohner Johannes’ Geschichte durchaus weiter tradiert: Sein Sohn Michael Rohner (1823 – 1879), Lehrer im damaligen Kappel SG und später Gemeindeschreiber in Heiden, veröffentlichte 1867 einen Auszug des Berichts seines Vaters in der Chronik Die Gemeinde Heiden im Kanton Appenzell.13 Sohn Michael sowie der Vater fanden zudem Erwähnung im HistorischBiographischen Lexikon der Schweiz von 1929, wo auch der Lebensbericht des Sklaven erwähnt wird.14 Über einen weiteren Sohn, Johannes (1810 – 1857), der als Modellstecher und Buchdrucker in Heiden und Altstätten SG arbeitete und später nach Evansville in die Vereinigten Staaten auswanderte, führt das Historische Lexikon der Schweiz eine Kurzbiografie – nicht mehr aber über dessen Vater.15

Bereits nach diesen ersten Recherchen war mir klar, dass Johannes Rohners Bericht im Appenzeller Kalender und seine spätere Lebensgeschichte einen einzigartigen Zugang zu den Sklavereipraktiken im Mittelmeer gegen Ende des 18. Jahrhunderts eröffnen. Auch Rohners Nachlass entpuppte sich als reichhaltiger Fundus: Bei meinem ersten Besuch im Staatsarchiv Appenzell Ausserrhoden im Oktober 2021 konnte ich dort nicht nur seine beiden Berichte einsehen, sondern dazu handschriftliche Briefe des Sklaven an die Eltern, einen Reisepass mit biografischen Angaben sowie einzelne diplomatische Fragmente aus der Regierungskanzlei, die seinen Loskauf dokumentieren. Je tiefer ich in die Materie eintauchte, autobiografische Berichte von anderen christlichen Sklaven aus dem 16. Jahrhundert bis hin zu Johannes Rohners Zeitgenossen las und mich mit dieser spezifischen Literaturgattung vertraut machte, desto bewusster wurde mir die Bedeutung seiner Schriften. Denn in Johannes Rohners Lebensgeschichte verdichtet sich ein Phänomen, das die Politik, Gesellschaft und Lite-

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ratur während der Frühen Neuzeit stark umtrieb: die Versklavung, der Loskauf und die Reintegration europäischer Christen.

Fast zeitgleich mit meinen ersten Archivrecherchen beschäftigte sich Heidi Eisenhut, Leiterin der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, für einen Aufsatz mit dem Schicksal Johannes Rohners. So entstand ein produktiver Austausch, da wir fortan den Nachlass im Staatsarchiv zusammen auswerten konnten. Nachdem die Schriften des Sklaven lange kaum Beachtung gefunden hatten, legte Heidi Eisenhut im Frühling 2022 im Neujahrsblatt des Historischen Vereins St. Gallen eine erste kurze inhaltliche Übersicht von Rohners Lebensgeschichte vor.16 Das vorliegende Buch verfolgt einen breiteren Ansatz und stellt die vergessene Lebensgeschichte Johannes Rohners mit umfangreichem zusätzlichem Quellenmaterial erstmals in einen historischen Kontext. Es beleuchtet Rohners Motive, über seine Erfahrung zu schreiben, und rekonstruiert den langwierigen und zunächst scheinbar aussichtslosen Loskauf der Appenzeller Sklaven. Schliesslich verknüpft es die individuellen Schicksale mit dem heute immer noch wenig bekannten, damals aber allgegenwärtigen Phänomen der nordafrikanischen Piraterie im Mittelmeer. Rohner und Frischknecht sollten während ihrer zehnjährigen Gefangenschaft in Tunis nicht die einzigen Sklaven aus der Eidgenossenschaft bleiben.

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Ein Meer

voller Gefahren

Zwischen 1530 und 1780 gerieten 1 bis 1,25 Millionen europäische Christen an der nordafrikanischen Küste in Tunis, Algier, Tripolis und im unabhängigen Sultanat Marokko in muslimische Sklaverei, schätzt der amerikanische Historiker Robert C. Davis.17 Zwar ist diese Summe aufgrund der Quellenlage umstritten und möglicherweise zu hoch gegriffen. Trotzdem ist das Ausmass des Phänomens nicht zu unterschätzen. Die Untergrenze in dieser Kontroverse setzt der deutsche Historiker Magnus Ressel bei 350 000 Europäern an, die während der Frühen Neuzeit von muslimischen Korsaren versklavt wurden.18 Darunter befanden sich mindestens 52 Männer und Frauen aus der Eidgenossenschaft, deren Schicksal Michael Gabathuler mit ausführlichem Quellenmaterial nachzeichnen konnte. Es handelte sich vor allem um Söldner, Geistliche und Kaufleute.19

Für christliche Kaperfahrer war die Jagd auf Muslime ebenfalls ein lohnenswertes Geschäft: Christliche Ordensritter wie die Malteser oder der toskanische Stephansorden überfielen muslimische Schiffe im Auftrag von Regierungen, die sogenannte Kaperbriefe ausfertigten. Im Gegenzug nahmen sich die Obrigkeiten einen Grossteil der Beute, in die auch die Erlöse aus den Sklavenverkäufen flossen. Ebenso leitete die Sklavenjagd Kapital in die lokale Wirtschaft und

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Begründeten die muslimische Piraterie im Mittelmeer: die Gebrüder Khair ad-Din und Arudsch Barbarossa. Die nordafrikanischen Korsaren wurden wegen der dort lebenden Berberstämme auch «Barbaresken» genannt.

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Pierre Dan, Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers, Amsterdam 1684, fol. 74. Bibliothèque nationale de France BNF 88C135357.

schuf an den Küsten Arbeitsplätze.20 Auch wenn die Zahlen unscharf bleiben, dürften insgesamt gleich viele Nordafrikaner in Europa als Sklaven gehandelt worden sein wie Christen in den «Barbareskenstaaten».21

Die «weisse Sklaverei» im Mittelmeer entwickelte sich im Schatten der zahlenmässig wesentlich bedeutenderen transatlantischen Sklaverei. Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert verschleppten die Kolonialmächte über 11 Millionen schwarze Menschen aus Afrika unter grausamsten Bedingungen über den Atlantik nach Amerika. Weitere 1,5 Millionen starben auf der Überfahrt.22 Weniger bekannt ist, wie verbreitet Sklaverei bereits vor dieser Zäsur für die Weltgeschichte war: Bevor der transatlantische Sklavenhandel ungeahnte Dimensionen erreichte, gab es vermutlich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts mehr «weisse Sklaverei» in Nordafrika und Mittelasien, mehr versklavte Indigene in Nord- und Südamerika sowie mehr Leibeigene in Russland als versklavte Menschen aus Afrika in der Neuen Welt.23

Die Praxis der Verschleppung im transatlantischen Sklavenhandel unterschied sich grundsätzlich von dem, was Söldner wie Johannes Rohner in Nordafrika zu befürchten hatten. Die muslimischen Korsaren, die unter dem Schutz des Osmanischen Reichs agierten, waren meist weniger an der Arbeitsleistung der christlichen Sklaven als am Freipressen des Lösegelds aus deren Heimatländern interessiert. Diese wiederum hatten das Kapital und das Interesse, sich darauf einzulassen.24 Die nordafrikanischen Piratenstaaten finanzierten einen beträchtlichen Teil ihres Staatshaushaltes aus diesem Geschäftsmodell. Die christlichen Mächte setzten muslimische Gefangene vor allem als Rudersklaven ein.25

Robert C. Davis bezeichnet die Sklavereipraktiken auf beiden Seiten des Mittelmeers in Abgrenzung zum transatlantischen Sklavenhandel als faith slavery, da Christen wie Muslime die Legitimation der Versklavung aus der jeweils feindlichen Religion, nicht aus der «Rasse», schöpften.26 Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied bestand darin, dass Christen in nordafrikanischer Sklaverei zusätzliche Handlungsoptionen hatten: Wer konvertierte, konnte als Renegat bei seinem Herrn eine glanzvolle Karriere hinlegen. Solche Möglichkeiten blieben den Opfern des transatlantischen Sklavenhandels verwehrt.

Ein herausragendes Beispiel für die Aufstiegschancen christlicher Sklaven ist Hark Olufs. Aufgewachsen auf der Nordseeinsel Amrum, wurde er als Fünfzehnjähriger auf einer Seereise im Jahr 1724 von algerischen Korsaren verschleppt. Er konvertierte höchstwahrscheinlich – in seinem Bericht schweigt er sich darüber aus –, stieg zum Oberbefehlshaber der Armee des Beys von Constantine auf,

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pilgerte nach Mekka und gliederte sich wegen seines noch jungen Alters so nahtlos in die fremde Kultur ein, dass er nach seiner Rückkehr erhebliche Probleme bekundete, zu Hause wieder Fuss zu fassen. Zum Erstaunen der Heimatbevölkerung trug er nach seiner Rückkehr weiterhin türkische Kleidung.27

Weitere Beispiele illustrieren, dass christliche Sklaven in Nordafrika weitreichende Handlungsspielräume besassen – oft ohne den christlichen Glauben abzulegen. Der Brite William Okeley, im 17. Jahrhundert Sklave in Algier, betrieb trotz Gefangenschaft einen Laden für Tabak und andere Güter. Diese Gewerbefreiheit stand Sklaven auf beiden Seiten des Mittelmeers zu, sofern sie einen Teil der Einnahmen ablieferten.28 Okeley berichtete nach seiner spektakulären Flucht in einem Faltboot von Algier nach Mallorca, es sei ihm in der Sklaverei finanziell besser ergangen als in der Heimat.29

Leonhard Eisenschmied, österreichischer Sklave des Herrschers von Algier, schrieb 1807 über die unterschiedlichen Lebensbedingungen der christlichen Gefangenen. Er selbst wurde als Sklave in staatlichem Besitz unter katastrophalen hygienischen Bedingungen jeden Abend in einem sogenannten bagno, einem Sklavengefängnis, eingesperrt. Besser erging es Christen, die an türkische oder jüdische Privatpersonen verkauft wurden. Eisenschmied berichtete über einen tadellos gekleideten «Privatsclaven», der vom selben maltesischen Kaperschiff wie er verschleppt worden war und dem er in Algier zufällig begegnete: «Zwar sprach er, bin auch ich ein Sclave, will aber lieber Sclave seyn und bleiben, als je wieder mit der schändlichen Kaperey meine Hände beschmutzen […] ich bin mit meiner gegenwärtigen Lage so wohl zufrieden, dass ich mir gar keine bessere wünsche.»30

Insgesamt, so Davis, lag die Sterberate in nordafrikanischer Sklaverei höher als in Europa, teils war sie sogar vergleichbar mit jener afrikanischer Sklaven auf den Zuckerplantagen der west indies. Mitte des 17. Jahrhunderts starben pro Jahr geschätzt zwanzig Prozent der christlichen Sklaven infolge Krankheiten, Schwerstarbeit, Folter und Hunger.31 Opfer von Krankheiten wurden auch Schweizer Sklaven wie Johann Philipp Hochreutiner. Der Kaufmann und Bürger der Stadt St. Gallen war im Oktober 1681 in algerische Sklaverei geraten und ersuchte in einer Bittschrift um Hilfe. Tatsächlich erlaubte die Obrigkeit eine Spendensammlung zu seinen Gunsten, beteiligte sich gar finanziell und setzte sich auf den diplomatischen Kanälen für den Sklaven ein.32 Hochreutiner erlebte die nahende Befreiung im Jahr 1682 nicht mehr. Er starb in Algier an der Pest.33

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Die spektakuläre Flucht von William Okeley von Algier nach Mallorca inspirierte Daniel Defoe zu seinem Erfolgsroman Robinson Crusoe

Pierre Dan, Historie van Barbaryen en des Zelfs zee-roovers, Amsterdam 1684, fol. 147. Bibliothèque nationale de France BNF 88C135355.

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Da junge Seeleute und Söldner wie Johannes Rohner und Johannes Frischknecht den Grossteil der Sklavenpopulation in Nordafrika stellten, setzt Davis selbst die Zahl jener, welche die Sklaverei nicht überlebten, tiefer an. Berücksichtigt man die gute Kondition der christlichen Sklaven, dürfte ihre Todesrate bei jährlich fünfzehn Prozent gelegen haben.34

Trotz grundlegender Unterschiede haben die Sklaverei-Erfahrungen europäischer Christen und schwarzer Menschen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert zumindest bei der literarischen Verarbeitung mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Einflussreiche Sklaverei-Erzählungen von Opfern des transatlantischen Sklavenhandels wie jene von Olaudah Equiano (1789) weisen Parallelen zu Berichten christlicher Sklaven in Nordafrika auf.35 Hinzu kommt die literarische Bedeutung des Genres der christlichen Sklavenberichte, das den «frühen Roman»36 massgeblich beeinflusst hat. Es lohnt sich deshalb, diese hierzulande kaum beachteten Lebensberichte wie jenen von Johannes Rohner genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Bedeutung solcher Texte und die Funktion, die sie für den Autor und dessen Publikum hatten, ist nur vor dem Hintergrund der sogenannten «Türkengefahr» zu verstehen: der bis ins 17. Jahrhundert und darüber hinaus wirkenden Angst, die europäische Christenheit werde durch das Osmanische Reich existenziell bedroht.37 Rohners Lebensbericht war dabei keine Ausnahme. Auch er zeichnete ein stark mit Vorurteilen durchsetztes Bild Nordafrikas und des Islam.

Dieses Bild war publizistisch anschlussfähig. Denn in der zeitgenössischen Wahrnehmung lag das vordringliche Problem über weite Teile der Frühen Neuzeit nicht in der transatlantischen Sklaverei – in die auch Eidgenossen als Kapitalgeber, Söldner, Kaufleute oder Missionare verstrickt waren38 –, sondern in der Versklavung von Christen in Nordafrika. «Es war die Gefangennahme durch Muslime, die das öffentliche Leben bedrohte, die Staatskassen entleerte und die öffentliche Meinung verdüsterte», so Davis.39

In der Spätaufklärung mit der Französischen Revolution überlagerten Postulate der Antisklavereibewegung auch in der Eidgenossenschaft diesen Diskurs.40 Johannes Rohner veröffentlichte seinen ersten Bericht im Kalender also zu einem Zeitpunkt, als das Schicksal «weisser Sklaven» die Öffentlichkeit zwar noch bewegte; das zeigt nur schon der Umstand, dass seine Erzählung im vielbeachteten Appenzeller Kalender und als eigene Druckschrift in zwei Auflagen

erschien. Gleichzeitig rückten die verheerenden Auswirkungen des transatlantischen Sklavenhandels ins Bewusstsein. Bereits in einem Traktat aus dem Jahr

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1700 hatte der Kaufmann und Jurist Samuel Sewall aus Boston die nordamerikanische Sklaverei mit jener in Nordafrika verglichen, um bei den europäischen Siedlern in Nordamerika Zweifel an der generellen Praxis der Sklaverei zu streuen. Er wählte diese Strategie, weil er wusste, dass die Siedler mit der Situation der Christen in Nordafrika vertraut waren, blieb aber erfolglos.41 Erst fast hundert Jahre später konnten die Abolitionisten, die «erste internationale Menschenrechtsbewegung»42, dem Thema die nötige Dringlichkeit verschaffen. Sie sahen sich an der Spitze einer neuen moralisch-politischen Ordnung und argumentierten, der Kampf gegen Sklaverei und den Sklavenhandel – gemeint war besonders die Verschleppung schwarzer Menschen – sei ein zivilisatorischer Fortschritt. So erreichten sie 1807 die Abschaffung des Sklavenhandels in den britischen Kolonien und in Nordamerika. 1833 gelang in den britischen Besitzungen ausser in Indien und Ceylon die formale Aufhebung der Sklaverei.43

Die darauffolgenden globalen Kämpfe um die Aufhebung von Sklavenhandel und Sklaverei bewegten auch die Eidgenossenschaft. Zu Beginn engagierten sich vor allem christliche Kreise. Später erfasste die Debatte den jungen Schweizer Bundesstaat. In den 1860er-Jahren schickte sich die Demokratische Bewegung an, die Totalrevision der Zürcher Kantonsverfassung und der Bundesverfassung gegen den Widerstand der wirtschaftsliberalen Elite durchzusetzen. Am Anfang dieser Auseinandersetzung stand im Frühjahr 1865 eine Solidaritätsaktion der Demokraten mit den siegreichen Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, den «Sklavenbefreiern».44 Seit der Diskursüberlagerung, die Ende des 18. Jahrhunderts Fahrt aufgenommen hatte, war dabei kaum mehr die Rede von «weisser Sklaverei». Dieses Phänomen und dessen Verankerung im kollektiven Gedächtnis fand mit der Kolonisierung Algiers im Jahr 1830 sowie mit den vorangehenden «Barbareskenkriegen» ein relativ leises Ende. Zwischen 1801 und 1805 und nochmals 1815 attackierten die noch jungen Vereinigten Staaten die nordafrikanischen Piratenstaaten.45 Thomas Jefferson, der dritte Präsident der Vereinigten Staaten, hatte die stets steigenden Tributzahlungen des Herrschers in Tripolis nicht länger akzeptiert. Seit der Unabhängigkeit von Grossbritannien hatten die Vereinigten Staaten bis zu zwanzig Prozent ihres Staatshaushalts dafür aufwenden müssen. Und trotzdem waren weiterhin US-Bürger in Gefangenschaft geraten. Deshalb gründete Jefferson die US-Navy und bereitete mit seinen militärischen Interventionen den Boden für den Niedergang der nordafrikanischen «Barbareskenstaaten».46

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Ein blinder Fleck in der Geschichtsschreibung

Der österreichische Historiker Mario Klarer bezeichnete kürzlich den Forschungsstand zu nordafrikanischer Sklaverei, christlichen Sklavenberichten und deren kulturellen Auswirkungen als «erstaunlich spärlich», verwies aber auf frühe wegweisende Arbeiten von G.A. Starr (1965) oder Ernstpeter Ruhe (1993).47 Mit der Sklaverei im Mittelmeerraum beschäftigte sich Salvatore Bono, der mit Piraten und Korsaren im Mittelmeer48 bereits 1993 ein Standardwerk herausgab. Robert C. Davis machte das Phänomen 2003 mit seinem Buch Christian Slaves, Muslim Masters einem breiteren Publikum bekannt.49 Sechs Jahre später legte er nach und stellte erneut die Frage, warum die Forschung die nordafrikanischen Korsaren nicht eher in den Blick genommen hatte. Die Meistererzählung der europäischen Kolonialherrschaft, die auf der Versklavung schwarzer Menschen durch Weisse ruhe, biete wenig Raum, um weisse Menschen als Opfer von Sklaverei zu integrieren, argumentierte Davis – ohne die zweifellos zentrale globalhistorische Bedeutung des transatlantischen Sklavereisystems in Abrede zu stellen.50

Seither hat sich in der Forschung einiges getan. Hervorzuheben ist neben Gesamtdarstellungen wie Michael Zeuskes Handbuch der Geschichte der Sklave-

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rei51 oder Andreas Eckerts Geschichte der Sklaverei52 die Anthologie deutschsprachiger Sklavenberichte von Mario Klarer.53 Im Fokus stehen jüngst auch Sklavenberichte von britischen Seeleuten, der autobiografische Bericht von Ólafur Egilsson, einem isländischen Lutheraner, der 1627 mit seiner Frau und zwei Kindern von Korsaren in seiner Heimat verschleppt worden war, oder Berichte von versklavten Frauen in Nordafrika.54 Eine historische und literaturwissenschaftliche Einbettung des gesamten Genres bietet Mario Klarer in zwei aktuellen Sammelbänden.55 Weitere wichtige Beiträge befassen sich mit der Rolle christlicher Orden beim Freikauf europäischer Sklaven und der Entstehung sogenannter Sklavenkassen. Nachdem zu Beginn des 17. Jahrhunderts die bewährten Systeme des Loskaufs durch Spenden, Armenkassen oder öffentliche Gelder an ihre Grenzen gekommen waren, entstanden in den Hansestädten als Gegenstück zu den katholischen Loskaufstrukturen private Versicherungen für christliche Seeleute.56 Sekundärliteratur zu Schweizer Sklavenberichten existiert bisher kaum. Eine Ausnahme bildet die Masterarbeit von Michael Gabathuler, die Johannes Rohner allerdings aussen vor lässt.57

Neben Rohners Schriften gibt es mindestens drei weitere Sklavenberichte von Schweizern. Johann Conrad Knellwolf veröffentlichte 1774 die Schrift Mein Schicksal. Der Söldner und Tuchhändler, gebürtig aus Herisau, reiste 1764 von Genua nach Spanien, als sein Schiff von «zwey Raubschiffen»58 bombardiert und er nach Algier in die Sklaverei verschleppt wurde. Nach acht Jahren kaufte ihn der österreichische Trinitarierorden für 994 Gulden und 20 Kreuzer frei.59 Knellwolf gelangte nach Wien, wo er vom «Kayser und der Königin von Ungarn mit Musicanten aufs freundlichste und liebreichste»60 empfangen wurde und sogar an der kaiserlichen Tafel speisen durfte.

Der Solothurner Johann Viktor Lorenz Arregger von Wildensteg (1699 –1770)61 stand als Offizier in spanischen Diensten und war unter französischer Flagge unterwegs nach Alicante, als er 1732 von einem Korsarenschiff bei Tarragona eskortiert und in Algier versklavt wurde. Er sandte unzählige Briefe in die Heimat, unter anderem an den französischen Marineminister, den spanischen Gesandten am französischen Hof, an einen Verwandten sowie an einen Freund. Da trotz verschiedener Interventionen des französischen Konsuls eine Lösung auf diplomatischem Weg versperrt blieb, ging Arregger dazu über, das Lösegeld selbst aufzutreiben. Aus der Heimat Solothurn erhielt er ein Darlehen von 400 Louis d’Or, das an das Handelshaus Zollikofer in Marseille übermittelt wurde – bloss ging der Betrag dort verloren, weil das Handelshaus kurz darauf Kon-

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kurs anmelden musste. Dennoch konnten französische Diplomaten, Arreggers Familie und die Frau eines Basler Bankiers den Sklaven im Januar 1738 loskaufen. Der Rat und Schultheiss von Solothurn sorgten für die finanzielle Absicherung.62 Johann Viktor Lorenz Arregger verfasste drei Jahre nach seiner Rückkehr eine rélation über seine Erlebnisse, die 1874 durch den solothurnischen Historiker Joseph Amiet eine ausführliche Würdigung erfuhr, heute aber wie Johannes Rohners Lebensgeschichte kaum bekannt ist.63 Zurück in Solothurn machte Arregger Karriere, unter anderem als Tagsatzungsgesandter und als Vogt im Bucheggberg.64

Eine für das Genre vergleichsweise frühe Schilderung seiner Sklaverei-Erfahrung verfasste Peter Villinger aus Arth SZ kurz nach seiner Rückkehr im Rahmen eines Pilgerberichts, der 1603 erschien. Villinger war 1565 zusammen mit vier Landsmännern nach Jerusalem gereist, hatte Schiffbruch erlitten und war in die Hände eines türkischen Beys gefallen. In seiner Schilderung sticht besonders die Szene eines Fluchtversuchs mit einer Barke heraus – ob fiktiv oder nicht, ist schwer zu prüfen. Villinger kam im Frühling 1568 durch Spenden aus der Heimat frei und kehrte im Herbst desselben Jahres nach Hause zurück, wo er es an die Spitze des Innerschweizer Klerus brachte.65

Solche autobiografischen Schriften von Schweizer Sklaven sind wertvolle Zeitzeugnisse. Sie ermöglichen einen unmittelbaren Einblick in ihre Lebenswelten aus verschiedenen Jahrhunderten. Und über keinen der Sklaven ist mehr bekannt als über den Appenzeller Söldner Johannes Rohner. Das ist seiner eigenen Darstellung im Appenzeller Kalender von 1808 sowie seiner Lebensgeschichte zu verdanken.66 Mit der zweiten ausführlichen Schilderung bietet Rohner eine umfangreiche Grundlage, um in sein Schicksal einzutauchen. Anhand seiner Texte lässt sich exemplarisch zeigen, warum und für welches Publikum der Sklave nach der Rückkehr seine Erlebnisse aufschrieb. Dass zudem Briefe aus Rohners Privatarchiv67 und Akten aus der Regierungskanzlei Appenzell Ausserrhoden68 überliefert sind, ist ein Glücksfall. Gerade die intimen Briefe geben einen Einblick in die Gefühlswelt des Autors und seiner Familie in der Heimat.

Rohner war mit seinem Los nicht allein. Neben Johannes Frischknecht erwähnte er in seinem Lebensbericht drei «Berner»: Johannes Rychener, Vincent Emery und Jakob Mäder. Vincent Emery stammte tatsächlich aus dem Kanton Waadt. Die drei hofften ebenfalls in Tunis auf ihre Rettung – und wurden zwei Jahre vor Rohner und Frischknecht losgekauft. Diese Darstellung Rohners bestätigen Akten aus dem Staatsarchiv Bern. Sie dokumentieren die diplomati-

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schen Bemühungen der Kantone Bern und Waadt, ihre Bürger freizukaufen.69

Und sie zeigen, wie die Gemeinden Spenden für die Landsleute in nordafrikanischer Sklaverei sammelten, wie die Behörden über Mittelsmänner Preise verhandelten und wie die konkrete Abwicklung des Loskaufs organisiert war.

Da auch die Appenzeller Regierung viel unternahm, um ihre beiden Sklaven freizukaufen, existieren heute Dokumente zu diesen Bemühungen. Es erschienen eine Abrechnung über die Spendensammlung und verschiedene Chronikeinträge, in denen die Appenzeller Regierung sich zur Verwendung der Gelder und zu fehlgeschlagenen Freikaufversuchen äussert.70 Ein weiterer erhellender Fund ist ein Bestand aus dem französischen Nationalarchiv. Dort liegt die Korrespondenz zwischen dem Gesandten der Helvetischen Republik in Paris und den französischen Behörden. Sie erweitert die kantonale Sicht mit jener der höchsten Diplomaten auf Regierungsebene.71

Dass man sich dem Schicksal Johannes Rohners aus diversen Richtungen nähern kann, ist zwei weiteren wichtigen Protagonisten in dieser Geschichte zu verdanken, die ihre Überlegungen in Briefwechseln festhielten. Der französische Konsul in Tunis korrespondierte mit dem französischen Aussenminister

Charles-Maurice de Talleyrand und dem Bey von Tunis Hammuda al-Husain. Diese Schriftstücke zeigen, warum die französischen Behörden 1806 die entscheidende Rolle beim Freikauf von Johannes Rohner und Johannes Frischknecht spielten.72 Schliesslich wirft ein Zeitungsbericht ein Schlaglicht auf das Schicksal und den Freikauf des Waadtländers Vincent Emery. Darin taucht ein sechster Sklave auf: Josef Alois Donauer aus Küssnacht, Schwyz. Mit diesem umfangreichen Quellenmaterial werden die damaligen Geschehnisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln greifbar. Sie erlauben es, die Geschichte der sechs Schweizer Sklaven zu verbinden und deren Schicksal erstmals umfassend darzustellen.

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Ein publizistischer Coup

Im Appenzeller Kalender auf das Jahr 1808 erschien eine spektakuläre Erzählung. Unter dem Titel «Vorstellung und kurze Beschreibung zweyer aus der Sklaverey zu Tunis zurückgekommener Schweizer» schilderte ein nicht näher bezeichneter Autor chronologisch die Verschleppung, Versklavung und den Loskauf zweier Männer aus Appenzell Ausserrhoden.73 Es handelte sich um Johannes Rohner von Heiden und Johannes Frischknecht von Schwellbrunn. Die beiden zurückgekehrten Sklaven, von denen hier die Rede ist, waren dem Publikum nicht unbekannt: So gab es im Jahr 1800 im damaligen Kanton Säntis und 1805 im Kanton Appenzell Ausserrhoden Spendensammlungen für deren Loskauf.74 Mit der Abhandlung im Appenzeller Kalender wurde ihre Geschichte erstmals einem breiten Publikum zugänglich. Der Kalender war im 18. und 19. Jahrhundert im Kanton und in der Ostschweiz generell eine der einflussreichsten und auflagenstärksten Publikationen. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war ausser Blättern aus Schaffhausen oder Zürich keine Zeitung im reformierten Halbkanton erhältlich. Daher griff eine breite Bevölkerungsschicht zum Kalender; neben Bauern gehörten auch Beschäftigte in der Textilindustrie zur Leserschaft.75 Der Kalender erreichte um 1800 mit 60 000 Exemplaren be-

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Der Appenzeller Kalender – hier mit dem Titelblatt von 1808 – erreichte ein breites Publikum, weit über Appenzell Ausserrhoden hinaus.

Appenzeller Verlag.

reits eine hohe Gesamtauflage, wenn man bedenkt, dass im Kanton Appenzell Ausserrhoden damals 39 000 Menschen lebten.76

Dass der Bericht über Frischknecht und Rohner gerade im Appenzeller Kalender gedruckt wurde, war kein Zufall. Zu dessen Konzept gehörte die Verbreitung exotischer Inhalte, ab 1764 mit Abbildungen.77 Und die Behörden, die den Kalender zensierten, hatten ein Interesse daran, sich als Treiber des erfolgreichen Loskaufs darzustellen und diesen Erfolg zu kommunizieren – zu dem die Regierung letztlich gar nicht so viel beigetragen hatte.78

Bevor der Erzähler, in diesem Fall Johannes Rohner selbst, mit der Abhandlung beginnt, zeigt ein ganzseitiger Holzschnitt die beiden Sklaven: Roh-

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Der Holzschnitt im Appenzeller Kalender zeigt Johannes Rohner (rechts) als Haussklaven. StAAR Pa. 077-01, Appenzeller Kalender 1808.

ner in der Kleidung eines Haussklaven (rechts), Frischknecht in jener des «gewöhnlichen Arbeitssklaven» (links). Im Hintergrund sind eine Palme, ein Haus und exotische Pflanzen zu sehen.79 Ein Kürzel des sogenannten Formschneiders ist nicht ersichtlich.80 Der Holzschnitt dürfte aber speziell für Rohners Abhandlung gestochen worden sein. Der nachfolgende vierseitige Text ist im Vergleich zu anderen Beiträgen im Appenzeller Kalender lang, der Holzschnitt diente daher weniger zur Orientierung als vielmehr zur Beglaubigung. Eine mediale Strategie, die Rohner oder sein Verleger Mathias Sturzenegger81 bei der Lebensgeschichte ebenfalls anwendeten und im Genre weit verbreitet war.82

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Die Veröffentlichung seiner Geschichte war für Johannes Rohner ein grosser Wurf, erreichte er damit doch ein breites, überregionales Publikum. Der damalige Verleger war offenbar interessiert daran, die aufsehenerregende Erzählung rasch zu verbreiten: Mit der Publikation im Kalender 1808 realisierte er das Projekt zum frühestmöglichen Termin, da der Redaktionsschluss jeweils auf den vorherigen September angesetzt war. In diesem Format legte Johannes Rohner inhaltlich und strukturell die Grundlage für seine spätere, ausführlichere Lebensgeschichte als Druckschrift. Darin stellte er noch klarer sein Motiv heraus: dass er trotz zehn qualvoller Jahre in Gefangenschaft in seinem reformierten Glauben standhaft geblieben war.

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Stockschläge und das Warten auf Rettung

Die erste Version des Sklavenberichts

Im November des Jahres 1806 kehrten Johannes Rohner und Johannes Frischknecht nach zehn Jahren Gefangenschaft in die Heimat zurück. Den letzten Teil der Reise von Genua nach Appenzell Ausserrhoden «zu den lieben Unsrigen» meisterten sie zu Fuss, beflügelt vom «heissesten Verlangen nach Vaterland und Familien».83 Bereits ein Jahr später konnte Johannes Rohner seine Erlebnisse aus der Sklaverei literarisch verarbeiten. Dass er überhaupt in Gefangenschaft geraten war, beschrieb er dabei folgendermassen:

«Johannes Rohner – gebürtig von Heiden im Kanton Appenzell V. R liess sich am 1ten Jener 1794, im Alter von 16 Jahren, unter das Piemontesische Regiment Schmid anwerben, und wurde hierauf mit andern über Chur und den Langensee nach Piemont transportirt; hier blieb er auf verschiedenen Plätzen gegen 3 Jahre in Depot, als das ganze Regiment abgedankt wurde. Er war im Begriff in sein Vaterland zurück zu kehren, und war schon in Bellenz; als ihm ein Landsmann aus der Gemeinde Grub begegnete, bey dem er allem nachfragte, und sich dann entschloss wieder Dienst zu nehmen. Er liess sich daselbst aufs neue unter ein deutsches Regiment in königl. neapolitanischen Diensten anwerben;

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unter dem Transport wozu Rohner kam, befand sich auch ein Appenzeller, Namens Johannes Frischknecht von Schwellbrunn.»84

Nachdem die beiden sich in Genua eingeschifft hatten, folgte die bereits einleitend beschriebene Gefangennahme. Sie kamen nach Bardo, einem Vorort von Tunis. Zuerst meldete der Schiffskapitän Anspruch auf Johannes Rohner an. Hammuda al-Husain (1759 – 1814), der Bey von Tunis, begehrte den jungen Appenzeller jedoch für sich.

Über die Zeit beim Bey, der als Provinzstatthalter amtete und über erheblichen politischen Einfluss verfügte, verlor Rohner im Kalender kein Wort. Stattdessen fuhr er damit fort, dass sein Herr ihn an einen Renegaten namens Soliman Aga verschenkte. Als Renegat galt ein Christ, der einst selbst Sklave war, konvertierte und so in der Hierarchie aufsteigen konnte. Diesen Soliman bezeichnete Rohner als «abgefallene[n] Christ[en] aus Dalmatien» und «grausame[n] Mensch[en]»85, der den Appenzeller als Trophäe erhielt. Zu Beginn habe er von ihm eine «ordentliche Behandlung» erfahren. Doch dann habe Soliman Aga begonnen, «in ihn zu dringen», damit er die «mohamedanische Religion» annehme. Als sich der Sklave weigerte, sei er härter angepackt worden: «[…] das gewöhnliche, das man ihm rief, war: Hund, Ungläubiger; und ob jeder Kleinigkeit spie sein Herr ihm ins Gesicht.»86

Da Soliman Aga einst vermutete, Sklaven hätten einen nicht näher bezifferten Geldbetrag gestohlen, schickte er zwanzig Männer los, die «einem um den anderen die Füsse zusammenbanden und jedem Sklaven 500 Stockschläge auf die blossen Fusssohlen ertheilten». Als Neuankömmling erhielt Rohner 200 Schläge, «da er nicht einmal wusste, was geschehen seyn sollte». Stockschläge seien gängig gewesen bei den «geringsten Vorfällen», klagte Rohner.87

Über die Lebensumstände von Johannes Frischknecht, den er nur heimlich treffen konnte, wusste Rohner, dass dieser als Arbeitssklave im Kalkabbau «entsetzlich strenge Arbeit» zu leisten habe und miserabel verpflegt werde:

«Alle Monat bekam derselbe etwas schlechtes Korn, etwas Oliven, ein halbes Maas Oel, und des Tags zwey kleine kaum geniessbare Brod; auch er bekam oft Schläge, und einmal, als er nicht gleich fertig werden konnte mit seinem Tageswerke, 300 solcher auf einmal.»88

Nach eineinhalb Jahren in Sklaverei ermunterte Rohner ein Berner, der mit ihm dasselbe Schicksal teilte, nach Hause zu schreiben und um Unterstützung zu

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Der Bey von Tunis, Hammuda al-Husain, verlangte für die christlichen Sklaven horrende Lösegelder.

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Porträt von Teodoro Viero, 1785, The Trustees of the British Museum.

bitten.89 Erst nach einem weiteren Jahr und zwei Monaten, also etwa im Herbst 1799, erhielt er durch den französischen Gesandten in Tunis einen Brief seiner Eltern. Darin übermittelten sie ihm die Botschaft, dass in seiner Heimat für ihn und Frischknecht Spenden gesammelt würden. Darauf folgten weitere Briefwechsel, die nur teilweise überdauert haben. Rohner berichtet von einem schriftlichen Austausch «alle zwei bis drei Monate». Zwar versiegte der Briefwechsel wieder, aber Rohner schöpfte Hoffnung, da «er den besten Willen ihm zu helfen ersah».90 Rettung nahte im April 1806 in Form eines französischen

Kaufmanns:

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Der Bey von Tunis residierte im Bardo-Palast, wo Johannes Rohner als Haussklave diente. Stich von Tomás Carlos Capuz in La Ilustracion Espanola y Americana, 1881. Prisma Archivo/Alamy.
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