Zwischen Licht und Schatten

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Appenzeller Verlag Leseprobe

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Zwischen Licht und Schatten Altes Handwerk | ZĂźnfte | Laternen

Ernst Hohl-Kulturstiftung Appenzell Schriftenreihe Haus Appenzell Band 14


INHALTSVERZEICHNIS

3 Vorwort – Ernst Hohl, Stiftungspräsident 4 20 38 52

Altes Handwerk – eine Annäherung, von der Stadt aufs Land bis in die Säntisregion – Dominik Wunderlin Handwerkstraditionen rund um den Säntis – Hans Hürlemann Handwerk und Zünfte – eine symbiotische Beziehung – Rolf Schläpfer Die Zunftlaternen und die Kerzen der Handwerke – Markus Brühlmeier

Künstlerische Blicke auf altes Handwerk

74 Markus Oertle 90 Thomas Urben 108 Xu Ying 126 Dank

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VORWORT

Man mag sich fragen, was eine Ausstellung über altes Handwerk in der heutigen Zeit zu suchen hat. Nun, auch heute gilt nach wie vor der Grundsatz, dass man sich immer an die eigene Herkunft und die eigenen Wurzeln erinnern soll. So auch ich: Meine jüngeren Jahre waren durch das Erlernen von Berufen geprägt, die man heute suchen muss, wenn man sie überhaupt noch benötigt. Die ersten Kinderjahre verbrachte ich in der Sattlerei meines Grossvaters. Beim Drandenken rieche ich noch immer das Leder und den Wiener Papp. Tätigkeiten in den eigenen Polster- und Dekorationsateliers meines Vaters bildeten weitere Mosaiksteine meines Werdeganges. Als späterer Innenarchitekt hatte ich mit Vergoldern, Bildhauern, Intarsienlegern, Glasmalern, Posamentern, Drechslern wie auch Schlossern zu tun. Was damals zu meinen täglichen beruflichen Arbeiten gehörte, findet man heute zum grössten Teil nur noch in den Museen. Licht und Schatten kannten alle Berufe zu allen Zeiten, wobei das Licht vorherrschte. Heute fristen viele handwerkliche Berufe – wenn sie überhaupt noch existieren – ein Schattendasein. Diese Entwicklung hat das Haus Appenzell dazu bewogen, sich einmal mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Bei der Aufarbeitung sind wir nicht um die Zünfte herumgekommen, die ab dem 13. Jahrhundert das städtische Leben prägten. Wichtige Requisiten der Zünfte sind die Zunftlaternen. Die ältesten Exemplare gehen bis ins 15. Jahrhundert zurück und stammen aus der Umgebung von Rottweil, Baden-Württemberg. Einige dieser prächtigen Statussymbole sind in der Ausstellung zu bewundern. Die Ausstellung schaut nicht nur zurück, sondern wirft auch einen Blick in die Zukunft. Kinder aus verschiedenen Kantonen haben für das Haus Appenzell Laternen mit ihren persönlichen Traumberufen gestaltet. Einen künstlerischen Blick aufs Thema werfen drei zeitgenössische Kunstschaffende aus der Ostschweiz, die sich auf ihre je ganz eigene Art mit Licht und Schatten auseinandersetzen. Möge es uns mit der Ausstellung «Zwischen Licht und Schatten» und diesem Katalog gelingen, Sie bei Ihrem Besuch im Haus Appenzell an Ihre früheren Begegnungen mit Vertretern des alten Handwerks zu erinnern oder gar Ihre eigenen handwerklichen Wurzeln wiederzuentdecken. Ernst Hohl, Präsident Ernst Hohl-Kulturstiftung Appenzell September 2018

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ALTES HANDWERK – EINE ANNÄHERUNG, VON DER STADT AUFS LAND BIS IN DIE SÄNTISREGION Kaum jemand kann von sich sagen, dass er keine Vorfahren besitzt, die einen handwerklichen Beruf hatten. Beim Zurückdenken wird darum fast jeder wohl bald auf einen Handwerker stossen. Die Kulturgeschichte verrät uns, dass selbst Adelige oft eine starke Affinität zum Handwerk hatten. Anekdotisch ist der Beginn einer Zimmermannslehre von Zar ­Peter  I. in Amsterdam. Und von den französischen Königen Ludwig XIII. und Ludwig XVI. wissen wir, dass sie alle handwerklichen Tätigkeiten unterstützten und Gefallen am Drechseln und an Feinschmiedearbeiten fanden. Vorgeführte Handwerke  Die Begeisterung adeliger und grossbürgerlicher Kreise für Erzeugnisse des Handwerks, natürlich vor allem des Kunsthandwerks, zeigt sich auch in den Wunder- und Kunstkammern, die den Grundstock einiger heutiger kulturhistorischer Museen bilden. Wie wir alle wissen, beschränkt sich das Interesse am Handwerk nicht auf eine kleine Oberschicht: Wie gerne schauen wir alle doch einem Handwerker über die Schultern oder stehen um ihn herum! Ein Glasbläser, Drechsler oder Küfer an einem Handwerkermarkt oder in einem Museum sind immer attraktiv, so zum Beispiel auch im Toggenburger Schmiede- und Werkzeugmuseum Bazenheid. Auch das Freilichtmuseum Ballenberg könnte man sich ohne Vorführungen von Handwerken nicht vorstellen. Es ist darum auch nicht zufällig, dass sich dort schon seit geraumer Zeit auch das schweizweit wichtigste Kurszentrum für Handwerk findet. Beim Blick in die auf dem Areal dieses und aller anderen Freilichtmuseen verstreuten Werkstätten von Handwerkern wird einem bewusst, wie viele alte Handwerke es doch gibt, die gänzlich verschwunden sind oder nur noch von wenigen beherrscht werden. Obwohl wir dankbar sein dürfen, dass wir sie hier noch sehen können, wir müssen uns doch bewusst sein, dass die Arbeitsstätten ins Berner Oberland versetzt worden sind. Folglich fehlt die originale Umgebung, die Gasse, an der früher der Handwerker arbeitete. Es fehlen die Nachbarn, die eine andere Tätigkeit ausübten, die Gerüche und nicht zuletzt das Geläute der Kirchenglocken, die den Tag rhythmisierten. Und der Handwerker lebt hier auch nicht mehr mit der Familie über der Werkstatt und es sind auch keine Kinder da, die wie die Frau und Mutter dem Vater bei der Arbeit helfen, was über Jahrhunderte eher der Fall war, als dass ihm fremde Gesellen zur Hand gingen. Dies sei nun nicht verstanden als Geringschätzung der in einem Freilichtmuseum gebotenen Möglichkeiten, alte Handwerke kennenzulernen. Es soll bloss bewusst machen, wie wir es schätzen sollten, wenn wir noch irgendwo in einem Dorf oder in einer Stadt einem Handwerker durch die offene Türe oder durchs Fenster zuschauen dürfen. Und wer schon fortge-

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Der Schneider. Kupferstich aus dem Ständebuch von Christoph Weigel, 1698. Der Schmied. Holzschnitt von Jost Amman aus dem Ständebuch von Hans Sachs, 1568.

schrittenen Alters ist, erinnert sich bestimmt, wie er als Kind noch vielen Handwerkern bei der Arbeit zusehen durfte. Dem Original über die Schulter geschaut  Der in einer Kleinstadt aufgewachsene Ver-

fasser hatte Anfang der 1960er-Jahre das Glück, gerade noch manches vom alten Leben erfassen zu dürfen. Seine Kinderjahre verbrachte er in einer Kundenmühle, die allerdings schon seit Jahrzehnten das Getreide mit einer Wasserturbine mahlte, doch die frühere Einrichtung war zum Teil noch vorhanden. In der Nachbarschaft gab es zwei Metzger, einen Brotbäcker und einen Konditor. Dann hatte es in dieser hinteren, etwa 200 Meter langen Gasse auch einen Buchbinder, einen Gipser, einen Maler, einen Spengler, einen Sattler, einen Schuhmacher, einen Möbelschreiner, zwei Frisöre und einen Schneider, der – wie im Märchen – noch mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sass. Der Handwerker, der mir aber immer wieder den grössten Eindruck gemacht hatte, war der Schmied um die Ecke. Hier schaute ich gerne in die rauchgeschwärzte Werkstatt, wo auf der Esse das Feuer loderte und darüber der grosse Kaminschoss hing. Mit einem Fusspedal konnte der Schmied den mächtigen Blasbalg betätigen. Mit einer der vielen Zangen nahm er ein glühendes Eisenstück aus dem Feuer und bearbeitete es eilig, aber präzis auf dem schweren Amboss. Unterschiedlich war der Klang der Schläge auf das Werkstück und auf die Bahn. Bald wurde das Erzeugnis erkennbar, ein über den gerundeten Voramboss geformtes Hufeisen. Gelegentlich konnten wir dann auch zuschauen, wenn das Pferd eines Bauern oder Fuhrmanns mit den Eisen dieser Werkstatt neu beschlagen wurde. Wie kämpfte dann der Schmied mit dem Pferd, wenn es das Bein nicht so stillhalten wollte, wie er es haben musste. Da wurde auch einmal heftig geflucht. War das alte Eisen weg und mit Kratzer und Raspel der Huf vorbereitet, konnte das Hufeisen angepasst werden. Es war dann immer ein

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besonderer Moment, wenn das glühende Eisen zur Probe kurz auf die ­Sohle gepresst wurde und ein heftiger, streng riechender Qualm aufstieg. Danach wunderten wir uns immer wieder, dass die Hufnägel das Pferd nicht verletzten. Die Schmiede ist längst verschwunden. Heute erinnern nur noch eine Kette neben der breiten Tür und eine grosse, glatt gescheuerte Steinplatte davor an den früher hier tätigen Handwerker; die Räume sind heute als Espresso- und Apéro-Bar genutzt. Verschwinden angesagt  Transformationen vergleichbarer Art sind nichts Neues und

auch nicht regional gebunden. Es dürfte aber vor allem ein Phänomen seit Mitte des 20. Jahrhunderts sein, dass auch die Medien immer wieder darauf verwiesen, wie gewisse alte Handwerke seltener geworden sind oder sogar unmittelbar vor dem Verschwinden standen. Ein Beispiel: Das bodenständige «Gelbe Heft» (Ringier Unterhaltungsblätter) berichtete um 1955 vom «Drechseln, ein Handwerk – das langsam in Vergessenheit gerät», von der «Seilerei – ein heute seltenes Handwerk» und vom «Rechenmacher – ein sterbender Beruf». Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden und ebenso ergänzt durch Nekrologe oder Agenturmeldung wie jene vom 19. März 1986, dass im jurassischen Cornol der letzte Schweizer Holzschuhmacher mit 88 Jahren gestorben sei. Da selbst die Bauern der Ajoie im Zeitalter von Elastomeren und Kunststoff nicht mehr gross nach Holzschuhen fragten, war im Prinzip klar, dass die «Saboterie» nun in die lange Liste der ausgestorbenen Handwerke in der Schweiz eingetragen werden musste. Weit gefehlt! Die Holzwerkstatt, die natürlich nicht ohne Maschinen auskommt, konnte in der Familie weitergegeben werden und produziert heute unter anderem für Fastnachtscliquen … Vom sterbenden zum alten Handwerk  Das Handwerk galt bei uns bis zum Beginn

des 19. Jahrhunderts als eine der wichtigsten tragenden Säulen der Wirtschaft. Denn alles, was die Bevölkerung zur Lebensbewältigung nicht selbst herstellen konnte, stammte aus der Hand des Handwerkers: Behausung, Einrichtung, Nahrung, Kleidung, Werkzeuge. Mit der damals einsetzenden Industrialisierung sah man das Ende des Handwerks kommen, erst recht, als die Zünfte ihre Macht vollständig einbüssten und später neue Materialien viele der traditionell vom Handwerker verarbeiteten, aus der Natur gewonnenen Werkstoffe zu verdrängen begannen. Mancher Handwerker war in der Folge gezwungen, seine Gesellen zu entlassen und im besten Fall noch allein weiterzumachen, bis er aus Altersgründen seine Werkstatt für immer schloss. Andere veränderten ihr Aufgabenfeld: Der Wagner wurde zum Carrossier, der Schmied zum Landmaschinenmechaniker und der

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Der Goldschlager. Der Knopfmacher. Kupferstiche aus dem Ständebuch von Christoph Weigel, 1698.

Schuhmacher zum Flickschuster, der Uhrmacher wechselt fast nur noch Batterien, und der Stukkateur findet heute sein Auskommen in der Denkmalpflege. Wiederum andere wanderten in die Fabriken ab, wo manchmal sogar noch ihr handwerkliches Wissen willkommen war. Doch es ist auch unbestritten, dass es manches alte Handwerk heute nicht mehr gibt, weil seine Erzeugnisse nicht mehr verlangt werden, keinen Markt mehr finden oder günstiger aus dem Ausland importiert werden können. Wer braucht noch den Buchbinder und den Goldschlager, wer den Knopfmacher, den Spanschachtelmacher und den Portefeuiller (Feintäschner), wer den Bürstenbinder oder Kammmacher, wer den Messerschmied, den Feilenhauer oder den Drahtzieher? Auch den Nadler, den Nagelschmied, den Posamenter, den Sodmacher (­Tüchelbohrer), den Besenbinder und den Stempelschmied wird man somit hierzulande ebenso wie die Vorgenannten kaum mehr als selbstständige Berufsleute finden. Ihre Werkzeuge und Werkproben sind oft in einem Museum gelandet, auch Beschreibungen und Fotos zeugen von diesen Handwerken. Erfreulicherweise gibt es von manchem Handwerk sogar filmische Aufnahmen. Zu verdanken haben wir dies zur Hauptsache der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV), die im Jahre 1942 den Entschluss fasste, mit der Filmkamera hierzulande bekannte Arbeitsvorgänge der bäuerlichen Bevölkerung und der Landhandwerker vor ihrem – wie man meinte – nahen Aussterben für die Nachwelt festzuhalten. Interessant: Bis 1972 lief dieses Projekt, das heute über 100 Filme umfasst, unter dem Reihentitel «Sterbendes Handwerk». Danach wechselte man – wie zuvor schon beim französischen Paralleltitel «Vieux métiers» – auf «Altes Handwerk» und richtete zudem den Blick auch auf städtische Handwerke. Wertvoll ist dieses Projekt nicht bloss vom Dokumentargehalt her (vor allem derjenige der frühen Filme) und dank den oft dazu vorliegenden Begleitbroschüren, sondern auch weil ab den 1970er-Jahren zahlreiche, später be-

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kannt gewordene Filmemacher im Auftrag der SGV die Dokumentarfilme realisieren konnten. Selbstverständlich sind viele der mit der Filmkamera dokumentierten Tätigkeiten verschwunden, aber eine kleine Zahl davon wird doch noch immer ausgeübt. Erfolgreiche Handwerker in der Ostschweiz  Goldenen Boden besitzt manches Hand-

werk noch immer auch in der Ostschweiz, namentlich rund um den Säntis. In dieser Gegend, die vom Bodensee bis zu den Alpen reicht, wohnt die Bevölkerung zum Teil in kleinen und grösseren Städten, zum Teil aber auch in Dörfern, Weilern und Streusiedlungen. Die Ostschweiz hat bis heute die Anmutung einer landwirtschaftlich genutzten Region mit Ackerbau, Viehzucht und Obstkulturen. Damit waren gegen Ende des Mittelalters die Voraussetzungen für ein Landhandwerk gegeben, das sich aus der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft entwickelte. Es waren vor allem Bauernsöhne ohne eigenen Hof, die nun als Handwerker zu Lieferanten von Erzeugnissen für den dörflich-landwirtschaftlichen Bedarf wurden. Unter ihnen besass der unentbehrliche Dorfschmied das grösste soziale Prestige, er war aber Angehöriger eines «ehaften» Gewerbes, das indes schon im Mittelalter auch auf dem Land aktiv war. Als Ehafte bezeichnete man vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert die dem Gemeinwesen unentbehrlichen, konzessionspflichtigen Gewerbebetriebe samt Gebäuden wie Mühlen, Tavernen oder Schmieden; in Bevölkerungszentren und Städten ergänzt durch öffentliche Bäder, Bäckereien, Metzgereien, Gerbereien und Färbereien. In der agrarisch betonten Dorfsiedlung war es jedoch wie in der Kleinstadt: Der Handwerker hatte oft zu wenig Arbeit, er war darum manchmal zusätzlich Volksschulmeister, «dann kann er sich schon ernähren» (wie noch 1834 in Preussen festgehalten wird), oder er war fast immer «Gartenbauer», denn er betrieb zur Existenzsicherung und Selbstversorgung etwas Landwirtschaft oder gar Rebbau, dessen Ertrag er nicht selten im eigenen Haus verwirtete. Ein Mischerwerb war auch bei Betreibern eines ehaften Gewerbes (z.B. Schmied, Wirt und Kornmüller) die Regel. Verbreitet war in der Ostschweiz die Heimindustrie, die zusätzlichen Verdienst brachte. Das Handwerk der Leinenweberei wurde in fast jedem Bauernhaus betrieben. Dieses Gewerbe hatte seinen Anfang im 8. Jahrhundert genommen und stand damals in Verbindung mit dem Kloster St. Gallen. Das Leinwandgewerbe wurde auch in anderen Städten und im flachen Land im ganzen Bodenseeraum bis in das Allgäu, nach Oberschwaben, nach Rottweil und in Vorarlberg ein wichtiger Wirtschaftsfaktor; von St. Gallen aus exportierte man die Ballen in alle Himmelsrichtungen bis nach Venedig, Spanien, Antwerpen und Danzig.

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Der Bürstenbinder. Der Kammmacher. Holzschnitte von Jost Amman aus dem Ständebuch von Hans Sachs, 1568.

Die Nachfrage wurde seit dem Spätmittelalter derart gross, dass die dem Zunftregime unterstehenden Weber der Stadt St. Gallen die Nachfrage nicht mehr befriedigen konnten. So bauten die Bauern des Umlandes nicht bloss den benötigten Flachs an und spannen daraus das Garn, sondern liessen auch Webstühle in ihren Häusern aufstellen. Was nicht überall für selbstverständlich galt, war in St. Gallen möglich: Die Landweber konnten qualitativ ebenbürtige Leinwand den städtischen Händlern zu gleichen Bedingungen anbieten wie die zünftisch organisierten Weber in der Stadt. Sie hatten zudem die Vorteile, dass auch Ungelernte und Kinder in die Arbeit eingespannt werden konnten und ein Teil der täglichen Nahrung aus der eigenen Landwirtschaft kam. Um 1700 blühte die ländliche Leinwandweberei derart stark, dass die Landwirtschaft zunehmend aufgegeben und in manchen Dörfern sogar der Export selber an die Hand genommen wurde. Dies alles war nur möglich, weil im Gegensatz zu Bern und Solothurn, zum südlichen Freiamt, zu Innerschweizer Flecken, zur Basler Landschaft und zum Fürstbistum Basel kaum Landzünfte vorhanden waren. Schaffhausen und Zürich zwangen hingegen auf dem Land tätige Handwerkermeister, sich in der Stadt einzuzünften, um so unter Kontrolle zu sein. Anfang 18. Jahrhundert wurde die Verarbeitung von Leinen durch jene von Baumwolle abgelöst. Zunächst in «zunftfreien» Gebieten wie Glarus und im Zürcher Hinterland, dann vor allem auch im Appenzellerland wurde nun Baumwollspinnerei und -weberei betrieben. Hergestellt wurden neben Baumwolltüchern auch Musselin und Barchent. Die namentlich bei Appenzeller Bauernhäusern vorhandenen grossen Kellerfenster verweisen auf einen früheren Webkeller. Das eine verschwindet, das andere bleibt  Die Ostschweizer Textilindustrie erlebte um 1850 nochmals eine Wende: Mit der Erfindung der Handstickmaschine wurde die eben-

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Der Feilenhauer. Kupferstich aus dem Ständebuch von Christoph Weigel, 1698.

falls vorwiegend hausindustriell betriebene Stickerei eine dominierende Erwerbsquelle. Die Anfänge nahm die Handstickerei – noch ohne Maschine – im Jahre 1753, als ein St. Galler Handelshaus erstmals Musselin besticken liess. Das neue Textilhandwerk wurde für St. Gallen derart rasch zum neuen Exportschlager, dass bereits um 1790 rund 50 000 Frauen in der Handstickerei beschäftigt waren. Die Handstickerei war stets eine reine Frauenarbeit; die gerade im Appenzellerland noch häufig bei Bauernhäusern vorhandenen Anbauten mit grossen Fenstern dienten einst der Stickerei. Der Maschinensticker genoss auch dank seines handwerklichen Geschicks grosses Ansehen, und als Einzelsticker sah er sich nicht als normaler «Büezer», sondern als selbständiger Meister und eigener Herr. 1882 liefen allein in den Kantonen St. Gallen, Thurgau und in den beiden Appenzell 14 042 Stickmaschinen! Die Blütezeit der Ostschweizer Textilindustrie (und somit auch der Verdienst der vielen Heimarbeiter) ging mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende, und die Textilindustrie hat seither nur noch geringe Bedeutung. Allerdings geniesst die St. Galler Stickerei weiterhin Weltruf. Wo Textilien hergestellt werden, sind der Färber und der Stoffdrucker nicht weit. Beide übten einst ihre Tätigkeit auch im Kleinbetrieb aus, was ja als eines der Merkmale für einen Handwerksbetrieb gilt. Weitere Kennzeichen sind der direkte Bezug des Handelnden zum Erzeugnis, dessen Handfertigkeit und Beherrschung des Werkstoffs, der geregelte Ausbildungsgang und die korporative Organisation, die berufs-, markt- und preisordnende sowie sozial-karitative und militärische Funktionen umfasste. Die zwei letztgenannten Punkte betrafen den Landhandwerker zumeist gar nicht. Sowohl in der Stadt wie auf dem Land eine wichtige Rolle spielte auch um den Säntis das Nahrungsmittelgewerbe: die Bäcker, Metzger, Müller, Fischer und Rebleute. Allerdings hatten die zwei Erstgenannten auf dem Land bis ins 19. Jahrhundert einen schlechten Stand, da

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das Brot selbst gebacken und auch das selten auf den Tisch kommende Fleisch ebenfalls selber erzeugt wurde. Heute haben es unter den verbliebenen, alten Handwerkern jene bestimmt besser, die wie der Sennenschmuckhersteller, der Schellenschmied, der Fassküfer, der Weissküfer, der Hackbrettbauer und der Töpfer eine Tätigkeit ausüben, die doch einiges Wissen erfordert und auch besondere Werkzeuge und Einrichtungen benötigt. Wer also heute das Glück hat, ein Handwerk auszuüben, dessen Erzeugnisse weiterhin gefragt sind, darf mit Recht sagen, dass sein Handwerk noch goldenen Boden hat und ein Beruf mit Zukunft ist. Dominik Wunderlin Kulturwissenschaftler, Kurator und Vizedirektor des Museums der Kulturen Basel a. D.

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Schuhmacher Frei in Dicken, Mogelsberg, um 1960 Toggenburger Museum, Lichtensteig Bleiglaser Otto Mäder, um 1940 Glas Mäder & Co. AG, Zürich

Drechsler in Neu St. Johann, Schauobjekte auf einem Tisch, um 1915 Toggenburger Museum, Lichtensteig


Bäckerei Obere Lochmßhle am Rotbach, Teufen AR, um 1920 Privatbesitz Korber an der Arbeit, Sonderschule Johanneum, Neu St. Johann, um 1927 Toggenburger Museum, Lichtensteig

Innerrhoder Handstickerinnen mehrerer Generationen an der Arbeit, um 1900 Museum Appenzell

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Seiler Martin Benz, Seilerei Kislig, Winterthur, 2016

Schmiedekünstler Thomas Urben, Ziithof, Zürchersmühle, 2018


Wagnerei Sepp Meier, Appenzell, 2018

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KÜNSTLERISCHE BLICKE AUF ALTES HANDWERK

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MARKUS OERTLE

Markus Oertle wurde 1965 geboren und wuchs in Urnäsch im Kanton Appenzell Ausserrhoden auf. Trotz seines fussballerischen Talents auf Nationalkaderniveau machte er nach der Schule eine Lehre als Herrencoiffeur und absolvierte die Meisterprüfung. Nach verschiedenen Arbeitsstellen betrieb Oertle ab 1997 seinen eigenen Coiffeursalon in Urnäsch. 2008 bekam er die Diagnose Parkinson. Oertle, der sich nebenberuflich seit jeher kreativ betätigte, sieht sich trotz seiner Krankheit auf der Sonnenseite des Lebens. Die Kunst hilft ihm, seinen körperlichen Zustand wach zu halten, und verhilft ihm nicht zuletzt zu einem willkommenen finanziellen Zustupf. Auf Brockenhaus-Touren oder Alteisen-Sammelstellen hält Oertle nach ausrangierten Alltagsgegenständen Ausschau, die umfunktioniert einen neuen Sinn ergeben. Sein Blick bleibt oft am Andersartigen haften und lässt daraus fantastische Bilder und Objekte entstehen. So verwundert es nicht, wenn der Appenzeller Art Brut-Künstler den Säntis oder die traditionellen Silvesterchläuse ungewohnt in Szene setzt: vor einer Skyline, auf der Chinesischen Mauer, an der englischen Küste oder als Adam und Eva. Auch mannigfaltige Guckkästen tauchen in Oertles kreativem Schaffen immer wieder auf – in Form von Autogaragen, Schulzimmern, Plumpsklos oder alten Handwerksstätten. «Das alte Handwerk finde ich faszinierend. Ich liebe altes Werkzeug. Für mich sind schon allein die Werkzeuge Kunstwerke, die erschaffen wurden. Das vermisse ich heute bei vielen Sachen. Auch in meinen Kästen ist nichts neu, alles alt. Entweder aus der Mulde oder aus dem Brocki. Jeder Kasten ist ein Unikat. Ich arbeite nicht millimetergenau – für mich ist wichtig, dass die Stimmung stimmt und die Kästen einen sofort berühren, wenn man sie anschaut. Ich beginne nicht immer mit dem Beruf und sage, jetzt mache ich die Werkstätte des Perückenmachers oder des Becks. Manchmal beginne ich mit der Person, die in das Kästchen kommt. Dann sehe ich irgendwann den Beruf des Männchens. Manchmal entsteht die Idee auch aus der Form des Kastens, oder ich sehe einen Gegenstand und weiss, aus dem mache ich nun genau dies.»

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Polsterer – Dekorateur 2017 22 x 27.5 x 12 cm


Hutmacher 2018 22 x 27 x 11 cm

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