Mein Vater ist Schifflisticker

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Doris Walser «Mein Vater ist Schifflisticker»

Appenzeller Verlag Leseprobe

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Doris Walser

«Mein Vater ist Schifflisticker» Roman

Appenzeller Verlag


© 2019 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten. Umschlaggestaltung: Janine Durot Umschlagbild: Doris Walser Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN: 978-3-85882-806-4 www.appenzellerverlag.ch


Inhalt

1939 September – Prolog 1930 Anfang April – Kirchgasse 1930 Mai – Tante Frieda hat Geburtstag 1930 Mai – Die Konsumgenossenschaft 1931 Tante Ida 1932 März – Das Schulstrafgesetz 1932 Juli – Eine Stickmaschine 1932 August – Gefüllter Biber 1932 September – Die Kirche 1933 Juni – Zum Rechberg 1933 Juli – Heuen im Städeli 1934 April – Erster Schultag 1934 Juli – Schwimmen im Hofmüliweiher 1935 1. Januar – Das Vergissmeinnicht 1935 Juli – Jungfernfahrt 1936 April – Ein Tagebuch 1936 Mai – Umzug ins Sonder 1936 September – Die Kegelbahn 1936 Oktober – Weihnachtsvorbereitung 1937 Mai – Die Arbeitsschule 1938 Januar – Das Radio 1938 August – Sommerferien 1939 April – Der Schmerz 1939 August – Das Bergrennen 1939 Ende August – Befiehl du deine Wege Bildnachweis Dank

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1939 September – Prolog

Als ich wie betäubt von den Geschehnissen in Mutters Bett lag, legte mir meine Gotte unbemerkt ein Buch auf meine Bettdecke. Ein leeres Buch mit vielen Seiten. Mit seiner Einfassung aus dunkel- und hellblauem Stoff liegt es mir warm in der Hand. Gross­ zügig blättere ich die leeren Seiten durch. Keine einzige Zeile ist darin. Ein weisses, seidiges Band führt mich in das erste Drittel. Dort liegt eine Karte mit dem Bild einer Wasseroberfläche. Ein leiser Angstton entweicht meiner Kehle. Eine Schwere überkommt mich. Auf der Rückseite der Karte erkenne ich die Schrift meiner Gotte: St. Gallen, den 5. September 1939. Liebes Ruthli, Wasser wird Dir eines Tages wieder guttun. Deine Gotte. Ein Buch mit leeren Seiten – wollte meine Gotte, dass ich es mit meiner Geschichte fülle? Auf dem Buch, das sie mir zu meinem neunten Geburtstag schenkte, stand «Tagebuch» geschrieben, auf diesem blauen hier steht nichts. Ich hole mein Tagebuch aus dem Schrank. Diese wenigen paar Schritte ermüden meine Beine stark. Wie viele Wochen wird es dauern, bis ich wieder mühelos Treppen steigen und in der Schulpause mitspielen kann? Mein erster Eintrag in meinem fast vier Jahre alten Tagebuch beschreibt die Zeit, als wir noch in der Holderen wohnten, ich schrieb sogar ein Erlebnis von mir als Dreijährige auf. Mit meinen bald dreizehn Jahren würde ich vieles anders schreiben als mit neun Jahren. Ich geniere mich ein wenig, wie einfach ich damals schrieb. Es ist komisch und lustig, das jetzt zu lesen: Mutter ging in den Garten hinaus. Sie schaute, ob die Wäsche trocken war. Ich ging auch die Treppe hinunter. Ich öffnete die Gartentüre. Dann überquerte ich die Holderenstrasse. In der Kirchgasse stand ein Wagen voll mit Möbeln, und am Wagen waren Pferde angebunden … Ich erinnere mich an die damaligen Tage wieder ganz klar. Um 7


mir den Start in das blaue Buch zu vereinfachen, will ich ein paar Einträge aus dem Tagebuch neu schreiben, wie den Eintrag von 1930. Tante Ida hat an ihrem Buffet eine Ansichtskarte von der Kirchgasse. Ich frage sie, ob sie sie mir schenkt. Dann klebe ich sie in mein blaues Buch. Vielleicht wird es dann ein richtiges Buch. Als Erstes will ich mich vorstellen. Ich heisse Ruthli, meine Schwester heisst Rösli, und der älteste unter uns Kindern ist Kobeli, eigentlich Jakob, aber wir nennen ihn Kobeli. Ich sollte Ruth heissen, aber als ich am 1. Januar 1927 geboren wurde, ging Vater zum Gemeindeschreiber Rudolf Messmer, um meine Geburt zu melden. Vater fand mich so niedlich und klein, dass er aus Ruth ein Ruthli machte. Nachher konnte man das nicht mehr ändern. Das hat er mir so erzählt. Manchmal bin ich ihm ein bisschen böse deswegen. Aber Vater kann man nicht wirklich böse sein. Seit September 1935 haben wir noch einen Nachzügler, den Alfredli. Er ist allerliebst. Jetzt ist er vier Jahre alt. Nächsten Frühling geht er in den Kindergarten. Einen solchen gab es noch nicht, als ich klein war. Damals wohnten wir in der Holderen in dem Haus, das früher das Restaurant Adler war. Es steht direkt unter dem Gaden, wo mein Vater im oberen Stock als Fergger gearbeitet hat. Es war praktisch, dass sein Arbeitsplatz so nahe war. Ein Fergger ist ein Mann, der den Stickern Arbeit verteilt, hat er mir erklärt. Nach dem Sticken überprüft er die Arbeit, lässt fädeln und nachsticken und zahlt dem Sticker den Lohn aus. Vaters Vater im Städeli ist auch Sticker, deshalb kennt sich Vater gut aus. Ich bewundere meinen Vater. Meine Nasenflügel gehen auf, ich rieche Mais. Es gibt heute Abend also Mais. Dieser ist immer so trocken. Wenn ich einen zu grossen Bissen nehme, will er nicht den Hals hinunterrutschen. Dann schmerzt es eine Weile hinten am Hals den Rücken hinun8


ter. Aber ich sage nichts. Mutter hat einmal gesagt, die Leute in Afrika hätten oft gar nichts zu essen. Ich bin froh, immer genug zu essen zu haben. Mutter übernimmt nach dem Essen den Abwasch, und sie stellt Rösli zum Abtrocknen an. «Geh dich ausruhen, Ruthli, damit du wieder zu Kräften kommst», sagt sie ganz lieb. Wie lange ist es her, seit wir zusammen so vergnügt gelacht haben, dass wir nicht mehr aufhören konnten? Es fällt mir nicht ein. Froh darüber, vor dem Schlafen noch ein wenig Zeit für mein Buch zu haben, steige ich die Treppe zum Schlafzimmer hinauf und setze mich mit dem Tagebuch, dem blauen Buch und einem Bleistift an den Tisch.

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1930 Anfang April – Kirchgasse

Mutter ging in den Garten vor dem Haus, um nach der Wäsche zu schauen. Ich stieg die Treppe hinunter, öffnete das Gartentürchen und überquerte die Holderenstrasse. In der Kirchgasse stand ein Fuhrwerk mit hochaufgetürmten festgebundenen Möbeln. Der Wagen hatte vor dem ersten Haus an der Kirchgasse gehalten, daneben standen ein grosses Mädchen, ein mittelgrosser Bub und ein kleiner. Vor lauter Staunen fiel ich fast über den Pflastersteinhaufen am Strassenrand. Herr Longatti hob seinen Kopf und sagte «Hoppla» unter seinem Hut hervor. Er war ein lustiger. Manchmal schaute ich ihm zu, wie er mit Steinen den Strassenrand verschönerte. Grosse starke Männer luden die Möbel ab und trugen sie über die zwei Treppenstufen und durch die schmale Eingangstür ins Haus, während die Pferde schnaubten und dicke dampfende Bollen auf die Kiesstrasse fallen liessen. Ich ging auf den kleinen Buben zu und schaute ihn an. Der Bub sagte: «Hoi.» Er hatte eine sanfte Stimme. Er war barfuss, trug dunkle kurze Hosen und einen grauen Pullover mit Knöpfen vorne. Das Mädchen sagte: «Ich bin die Zita, das ist mein Bruder Otto und das der Edwin.» Sie zeigte auf den Kleinen. «Und wie heisst du?» Das Mädchen hatte oben ein breites Gesicht und lange braune Zöpfe. Es wartete auf meine Antwort. Ich schaute den kleinen Buben an und sagte: «Edwin», worauf sie loslachten, so dass ich mich erschreckte. «Nein, du, wie heisst du?» Ich merkte meinen Fehler und sagte: «Nicht Edwin.» Sie lachten wieder. «Ich bin Ruthli, aber Edwin habe ich noch nie gehört.» 10


Holderenstrasse mit Kopfsteinpflaster.

«Ja, weisst du, Edwin hat einen englischen Namen. Ein Amerikaner namens Edwin machte einen Film über das Buch ‹Onkel Toms Hütte›. Mutter hatte das Buch gelesen und in der Zeitung stand etwas von diesem Film.» Unter der Haustüre erschienen die starken Männer wieder. Auf dem Treppenabsatz blieben sie stehen, drehten sich um zu einem Mann mit spitzem Bart und Bürstenhaarschnitt, schwarzer Anzugshose, Gilet und silbriger Uhr an einer Kette. Er zählte den Männern Geldscheine in die Hände, worauf sich diese bedankten und mit dem Fuhrwerk wegfuhren. Zurück blieben die inzwischen erkalteten gelblichen Bollen. Es roch. «Das ist mein Vater», sagte das Mädchen, aber er war schon wieder verschwunden. Sprachfetzen drangen durchs offene Fenster: «… hoffentlich nicht zu viel Trinkgeld … Misch dich nicht ein … Männersache … Nicht genug fürs Essen.» 11


«Meine Eltern streiten wieder», sagte das Mädchen, «ich gehe besser hinein und helfe beim Einräumen.» Der kleine Bub sagte zu mir: «Bleib doch noch zum Spielen!» Er schaute mich bittend an. «Ich habe Glaskugeln», sagte er so, wie wenn er Kuchen anzubieten hätte. Er langte in seinen Hosensack und brachte drei farbige Kugeln hervor. Sie leuchteten. «Kennst du das Spiel?» Ich schüttelte den Kopf. «Ich zeig es dir.» Er nahm meine Hand und führte mich weg vom schrägen Kopfsteinpflaster zum kleinen Platz vor dem Hauseingang. Seine Hand war warm. Er war wie ein Freund. «Meine Oma hat sie mir aus Deutschland gebracht. Sie sagt ihnen Märbel. Kennst du meine Oma?» Ich schüttelte den Kopf. Er legte einen Stein mitten auf den Platz und kauerte hinter einen zweiten. Dann rollte er die blaue Kugel zum ersten Stein hin. «Jetzt du. Die Kugel muss ganz nahe an den Stein heran, dann hast du gewonnen.» «Die Kugel gewonnen?» «Nein», sagte er mit entschuldigendem Gesicht, «nur das Spiel.» Zaghaft gab ich der Kugel mit der roten Blume einen Schubs. Sie rollte kaum von mir weg. «Macht nichts, du darfst nochmals.» Jetzt schubste ich stärker, und die Kugel traf Edwins Kugel hart. Er sagte: «Zack», und lachte fröhlich. Zwischen zwei Häusern fiel die Abendsonne auf seine blonden Haare. Kauernd schaute er mich von der Seite an und sagte: «Wenn ich gross bin, heirate ich dich.» Ich hörte Mutter nach mir rufen und lief geschwind über die Holderenstrasse nach Hause. 12


Der Strassenarbeiter hatte nun Feierabend gemacht, aber die Steinhaufen waren noch da. Am Gaden half Vater einem Sticker, sein neues Stickereistück auf den Leiterwagen zu binden. Er schaute auf und lächelte mir zu. Ich probierte laut Edwins «Hoi» aus. Abends sagte Vater zu Mutter: «Die Haushälfte an der Kirchgasse hat ein Walser aus Trogen gekauft. Du hast sie ja nicht haben wollen, gell?» «Mir ist’s zu nahe am Friedhof. Ich schaue vom Wohnzimmer lieber in den Alpstein. Und wenn schon ein Haus, dann lieber ein freistehendes mit grossem Garten. Lieber warten wir zu und kaufen dann etwas Rechtes, gell, Vater?» «Hm. Man sagt, Walser sei Barbier. Soll ich mich einmal bei ihm rasieren lassen?» «Nein, lass uns das Geld für ein Haus sparen. Wenn wir weiterhin so sparsam sind, klappt’s in ein paar Jahren. Man hört im Dorf übrigens, er sei etwas seltsam. Sie sei eine Deutsche, aber schon recht.» Ich sagte «Zack», und Mutter schaut mich verdutzt an. 1930 Mai – Tante Frieda hat Geburtstag

Mutter hatte wie so oft noch bei Tageslicht die Butter in die Wärme gestellt. Sie nahm aus dem Schrank die Zuckerdose mit dem roten Deckel und der Glasverzierung in der Form eines Kreuzes. Nun kam die weisse Waage auf den Tisch. Diese hatte oben zwei Bänder übereinander, in die eine Schale hineinpasste. Dorthinein leerte Mutter den Zucker, nachdem sie die Waage mehrmals mit dem Finger angetippt hatte. Heute stimmte sie und musste nicht justiert werden. Ich kniete auf der Eckbank, meinem Lieblingsplatz, wie immer, wenn Mutter Kuchen backte. 13


«Mutter, darf ich den Zucker in die Schüssel leeren?», fragte Rösli erwartungsvoll. Sie war gerade zur Küchentür hereingekommen. Jetzt war mir Rösli wieder zuvorgekommen. Ich dachte nie rechtzeitig daran, das Richtige zu fragen. Aber Mutter meinte: «Heute muss ich vorwärtsmachen. Wenn du willst, kannst du nachher den Teig rühren. Hol mir das Mehl und das grosse Sieb.» Rösli war schnell wie der Blitz. Schon lag beides auf unserem roten Tisch. Mutter hatte den Zucker schon ein wenig in die Butter gerührt. «Jetzt kannst du rühren, bis alles eine Masse ist.» Rösli rührte wie wild mit der Kelle in der Schüssel. Schweiss­ tropfen standen auf ihrer Stirn. Einer kullerte in den Teig hinein. Inzwischen rieb Mutter Zitronenschale hinein und leerte drei mit der Gabel verquirlte Eier dazu. «Jetzt nicht mehr so wild, Jümpferli. Rühr ganz sachte.» Rösli war nicht vorsichtig genug, deshalb übernahm Mutter das Rühren wieder. Meine Schwester schmollte und verliess die Küche. Mutter kommentierte das mit einem Kichern, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Immer steckte sie mich an damit. Ich lachte mit. Mutter stupste mit der Kelle an meine Nase, da mussten wir noch mehr lachen. «Warum habt ihr es so lustig?», fragte Rösli, die sofort wieder in die Küche kam. Mutter stupste auch ihre Nase mit der Kelle an. Rösli lächelte nur matt und war sofort wieder draussen. Mutter und ich konnten nicht mehr aufhören zu lachen, bis Mutter sich den Bauch hielt. Da hörte ich ein leises Weinen. Ich kroch schnell von der Eckbank und fand meine Schwester über die Toilette gebeugt und mit verheulten roten Augen. Es roch schrecklich. «Mutter, Rösli muss wieder kotzen», rief ich aufgeregt. 14


Mutter band Rösli die Zöpfe nach hinten, damit sie sie nicht vollkotzte. Dann legte sie ihr einen kühlen Waschlappen auf die Stirn. «Das kommt wieder besser, meine Liebe. Legst dich nachher eine Weile hin, wenn’s wieder geht, gell?» Rösli nickte traurig. «Übrigens, Ruthli, wir sagen erbrechen, nicht kotzen. Kotzen sagen nur grobe Leute mit schlechter Bildung und Bauern.» Am Abend vor dem Schlafen wusch ich meine Nase, wo immer noch Teig daran klebte, als Kobeli sich das Gesicht waschen wollte. «Ich kläre dich jetzt auf», sagte er wichtigtuerisch. «Mädchen bekommen ein Kind, wenn sie kotzen müssen. Das hat mir heute Karl Lendenmann gesagt. Der Barbara Züst vom Berg war es auch schlecht, und jetzt hat sie ein Kind.» Ich war sehr erstaunt und fragte Mutter beim Frühstück: «Behalten wir das Kindlein, das Rösli bekommt?» Mutter machte ein verdutztes Gesicht. «Kobeli hat mir erzählt, dass man ein Kind bekommt, wenn es einem oft schlecht ist.» Vater wollte gleich nach dem Lederriemen greifen, um Kobeli zu bestrafen, aber Mutter lachte so herzhaft, dass er auch zu lachen anfing. So lachten diesmal alle ausser mir. «Warum lacht ihr?», fragte ich. «Kinder können noch keine Kindlein bekommen. Man muss zuerst heiraten», sagte Mutter. Vater und Mutter tauschten Blicke aus, die ich damals nicht deuten konnte. Mutter packte einen Korb mit einer Flasche Wein und dem Kuchen, den sie am Vorabend gebacken hatte und den wir leider nicht probieren durften. Im ganzen Haus roch es nach diesem herrlichen goldgelben Kuchen mit der braunen Kruste. Sie zog gute Schuhe, den Übergangsmantel und das blaugraue seidene Halstuch an, das sie im Dreieck um die Schultern legte. Mutter war so elegant. 15


«Kinder zieht Schuhe und Jacken an, wir besuchen Tante Frieda im Sägholz. Sie hat heute Geburtstag.» Dann ging es die Holderenstrasse hinunter an der grossen Fabrik vorbei, dann vor dem letzten Haus Richtung Buechschwendi. «Hier wohnten wir früher», sagte Rösli. «Das ist nicht wahr», sagte ich. «Doch, es ist wahr, gell, Mutter?» Mutter war aber schon vorausgelaufen und wohl in Gedanken versunken. Ich behauptete: «Wenn wir da gewohnt hätten, so würde ich mich erinnern.» «Nein, du warst gerade erst geboren, also noch zu klein.» Sie hielt ihre Hand auf einen handhohen Stein. Ich konnte nichts erwidern, denn wir wurden von Kobeli am Brunnen nassgespritzt. «Hör auf», sagte Rösli, «ich sag’s Mutter.» Ich fand das Spritzen auch lustig und spritzte mit Kobeli um die Wette. Oh je, jetzt kam Mutter zurück und schimpfte: «Musst dem Ruthli nicht so dummes Zeug vormachen!», und gab ihm einen Klaps. Die Sonne wärmte zu wenig. Bei Tante Frieda angekommen waren wir immer noch nass. «Ach Herrje, ihr erkältet euch noch. Kommt, ihr lieben Kinder, wir setzen uns in den Garten an die Sonne.» Tante Frieda strich über mein Haar. Das mochte ich. Mich dünkte, sie habe mich lieb. Mutter schaute mir auf den Mund, nahm ihr Taschentuch und speuzte hinein. Damit rieb sie mir den Mund ab. «So, jetzt siehst du anständiger aus», sagte sie und steckte ihr Taschentuch weg. Um meinen Mund roch es komisch. Ich versuchte, flacher zu atmen, damit mir dieser Geruch weniger in die Nase stieg. 16


Kaum waren wir etwas getrocknet, gab es auf der Strasse einen ungeheuren Lärm. Wir rannten an die Hecke zur Sägholzstrasse. Ein riesiges Auto hielt gegenüber und heraus stieg Doktor Capeder. Er grüsste freundlich über die Hecke, nahm sein Köfferchen und verschwand im Bauernhaus der Familie Egli. Wir traten aus dem Garten heraus und bewunderten das mächtige Auto. «Ja, wer ist denn hier so neugierig?» Herrn Longattis Stimme schreckte uns auf. «Stellt euch vor das Auto. Ich fotografiere dann das schöne Auto mit euch zwei netten Mädchen.» Mich blendete die Sonne so, dass ich fast nicht schauen konnte, aber das schien ihn nicht zu stören. Dann kam ein ganzer Schwarm Leute vorbei, die ich nicht kannte. Eine der vornehmen Spaziergängerinnen beugte sich zu mir herunter und sagte: «Was für ein herziges Böhnchen, was für hübsche Kinder. So sauber und nett gekleidet.» Mutter musste das im Garten gehört haben, wo sie mit Tante Frieda auf dem Bänkchen unter dem Baum sass. Sie war stolz. Klar, ihre Kinder kamen immer sauber daher. Das war ihr wichtig. «Meine Kinder sind mein Stolz. Du, Frieda, es hat immer mehr Kurgäste im Dorf, wo sind sie nur alle untergebracht?» Tante Frieda zählte auf: «Zum Beispiel bei Robert Fässler in der Midegg, Robert Tobler auf Gigeren, Familie Walser-Wieser in der Holderen. Die kennst du sicher. Dann natürlich auch in den Pensionen. Waldheim und so weiter.» Und nach einer Weile fuhr sie fort: «Die Fremden sind für unser Dorf eine wichtige Einnahmequelle. Das Verkehrsbüro an der Neugasse macht kräftig Werbung. Die Gäste kommen gern von der lärmigen Stadt in unser ruhiges Dorf, um sich zu erholen. Es ist ja hier viel günstiger als anderswo. Bei Konrad Jäger im Michlenberg kostet ein Zweibettzimmer nur 2.60 Franken pro Tag. Die Gäste dürfen sogar Wohnzimmer und Küche benutzen. Frau Lutz vom Kolonialwarenge17


schäft hat mir kürzlich gesagt, sie wolle sich das mit dem Zimmervermieten auch überlegen. Sogar sie, gell, obwohl sie es doch gar nicht nötig hätte.» «Ich hätte nicht gern Fremde in meinem Wohnzimmer», erwiderte Mutter nachdenklich. «Ich habe auch lieber Ferienkinder», meinte Frieda. «Sie sind noch so formbar. Ich kann ihnen eine Weile ein gutes Zuhause bieten. Aus Zürich ist wieder eine Anfrage für den Sommer gekommen für zwei Buben, Kinder einer Marktfahrerin mit französischen Vorfahren. Sie will ihre Kinder nicht mit auf die Tour nehmen. So können Bethli und ich unser Elternhaus halten und müssen es nicht verkaufen.» «Frieda, ich kann mir keine glücklicheren Kinder vorstellen als jene, die bei dir die Ferien verbringen!», sagte Mutter und drückte Tante Friedas Hände. Frieda wischte sich verstohlen eine Träne ab. «Gut, dass uns Vater das Haus vererbt hat. Wo würden wir sonst nur leben? Bethlis Lohn in der Weberei Volkart ist auch nicht gross.» Auf dem Rückweg kamen wir an etlichen Fremden vorbei. «Grüeziwohl», grüsste Mutter alle offen und freundlich und hatte oft ein gutes Wort für sie bereit. «Kinder, grüsst mir immer schön freundlich die Gäste in unserem Dorf. Wenn sie nicht kämen, wär unser Dorf sehr arm.» «Wie arm denn?», fragte ich. Mutter erzählte: «Früher hatten viele Leute hier eine Handstickmaschine im Keller, aber sie hatten auch einen Stall mit Vieh, Schweinen oder Hühnern, so wie eure Grosseltern im Städeli. Nach der Jahrhundertwende kamen viele Stickaufträge. Dann verkauften die Sticker ihr Land und stickten nur noch. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kamen jedoch viel weniger Stickaufträge. Die Sticker verdienten zu wenig Geld. Sie und ihre Familien 18


hatten kaum mehr genug zu essen. Sie wurden mager und krank. Die Kinder wurden hungrig zur Schule geschickt und lernten nichts mehr, denn mit Hunger kann man nicht lernen. Da richteten die Fabrikanten beim Metzger eine Suppenküche ein. Die Armen konnten dort einmal am Tag einen Teller Suppe essen.» «Nur einen Teller Suppe?», rief ich entsetzt. Ich bin nach der Suppe nie satt. «In der Suppe waren auch Kartoffeln, Gemüse und vielleicht ein kleines Stück Fleisch. Aber die Männer hatten keine Arbeit mehr. Deshalb baute das Dorf 1920 die grosse Turnhalle. Viele Arbeitslose im Dorf konnten hier etwas verdienen. Jetzt kommen viele Auswärtige und staunen, was für eine grosszügige Turnhalle sich das Dorf geleistet hat. Nun, das Dorf musste die Löhne zahlen und dafür Schulden machen. Unser Dorf hat immer noch Schulden. Deshalb müssen wir alle fleissig arbeiten, und manche müssen Feriengäste oder Ferienkinder aufnehmen. So wie Tante Emma im Klingenbuch.» «Und jetzt ist niemand mehr arm?», wollte ich wissen. «Doch, leider schon. In dem Jahr, als du geboren wurdest, hatten hier manche so wenig zu essen, dass ihnen die Leute aus dem Kanton Graubünden Pakete mit Essen schickten.» «Sind wir auch arm, Mutter?» «Nein, Gott Lob und Dank haben wir immer genug zu essen und haben eine rechte Wohnung, wenn auch nur zur Miete. Wir danken auch dem lieben Vater, dass er so gut und fleissig arbeitet. Aber ohne eisernes Sparen kämen wir trotzdem nirgendwo hin. Das ist unsere und auch eure Aufgabe – immer schön sparsam zu sein.» Am Abend suchte ich mein Sparkässeli. Es hatte die Form eines Appenzeller Holzhauses mit Läden zum Herunterlassen. Mutter war in ihrem Schlafzimmer daran, die frisch gewaschenen Strümp19


fe in das dunkle Kästchen mit der weissen Steinplatte zu räumen. Ich hielt meine Hand auf die kühle Oberfläche. Graue Adern zogen sich durch den weissen Stein. Ich stand auf den Zehen, konnte mich aber im Spiegel nicht sehen. «Du störst mich beim Einräumen, Ruthli.» Da fiel mir ein, weswegen ich sie gesucht hatte, und ich streckte ihr mein Sparkässeli entgegen: «Mutter, ich helfe euch sparen. Du sollst die Batzen haben.» Zwei Wochen später brachte Herr Longatti Mutter ein Bild von Rösli und mir vor dem Auto und wollte partout nichts dafür annehmen. Aber einen guten Kaffee und ein Stück Kuchen nahm er gern. Kobeli war nicht auf dem Bild, weil er in dem Augenblick gerade auf der Toilette war.

Rösli und Ruthli vor dem Auto.

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1930 Mai – Die Konsumgenossenschaft

Mutter schickte mich mit drei zum ersten Mal allein in den Konsum Reis kaufen. Den Karoliner. Sie legte mir einen Zweifränkler und eine zusammengefaltete Papiertüte in die Schürzentasche. Das Wetter war schön, ich musste keine Jacke anziehen. In der Kirchgasse sassen Frau Walser, Zita, Edwin und eine alte Frau auf der grünen Bank vor dem Haus. Ich sagte «Hoi» zu Edwin und grüsste Frau Walser. Ich lief etwas weniger schnell und schaute sie an. Edwin schaukelte heftig mit den Beinen. Er sprang auf, nahm meine Hand und sagte: «Das ist meine Oma aus Deutschland. Sie hat mir die Murmeln gebracht.» Edwin trug über dem hellblauen Pullover und den kurzen braunen Hosen eine Schürze mit zwei gestickten Blümchen und einer Querborte. Seine Haare waren ganz kurz geschnitten. In der Stirn über der Nase liefen sie in einen Spitz zu. Seine Hand war schön warm. Die Grossmutter öffnete ihre Handtasche und reichte mir eine violette Glaskugel: «Hier, du liebes Mädelein. Du bist ja offenbar eine Freundin von unserem Edwin. Dann sollst du auch eine Marmel haben.» Sie nahm meine Hand in ihre grosse, legte die Kugel mit der anderen hinein und bewegte meine Hand auf und ab. «Du bist ein süsses Mädele.» Ich sagte: «Dankeschön, Frau Walser!» «Ich bin Frau Mayer. Und das ist meine Tochter. Weisst du, seit sie den Herrn Walser geheiratet hat, heisst sie nicht mehr Mayer, sondern Walser.» Edwins Mutter lächelte und nickte. «Hm? Meine Mutter hiess vor dem Heiraten auch Schläpfer», erwiderte ich. «Ja so, dann heisst sie Schläpfer-Schläpfer.» Das klang lustig. Heiss durchfuhr mich, dass Mutter auf den Reis wartete. Schnell 21


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