Grosse Welt ganz klein

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Appenzeller Verlag Leseprobe

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GROSSE Welt ganz KLEIN Verkaufslädeli & Miniaturen aus West und Ost

Ernst Hohl-Kulturstiftung Appenzell Schriftenreihe Haus Appenzell Band 13


INHALTSVERZEICHNIS

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Prolog – Ernst Hohl, Stiftungspräsident Vorwort – Landammann Roland Inauen, Stiftungsrat Zur Geschichte der Kaufläden – Swantje Köhler «Maohou» – Faszinierende Miniaturen aus China – Yu Hao Die Sammlung Frieda Wick-Willi – Helena Mettler

Bildteil 26 Maohou-Miniaturen aus China 54 Verkaufslädeli aus der Sammlung Frieda Wick-Willi 126

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Dank


PROLOG

Ich hätte mir kaum vorstellen können, mich einmal mit einer Ausstellung über Verkauflädeli zu befassen – und dies obwohl wir als Kinder in den frühen Nachkriegszeiten schon bald einmal «Verkäuferlis» spielten. Unsere Lädeli wären sehr einfach, oft nur zusammengestellte Kartonschachteln. Vor allem der Inhalt war entscheidend: Es ging darum Artikel zu besitzen, die nicht alle hatten, und die sich somit gut «verkaufen» liessen. Diese erstanden wir, sofern sie nicht geschenkt wurden, mit dem ersten Sackgeld beim FCW (Franz Carl Weber) an der Zürcher Bahnhofstrasse. Viele Jahrzehnte später durfte ich in der Sammlung von Frieda Wick-Willi Altbekanntes wiederentdecken. Nicht nur die Verkaufsartikel in den Lädeli faszinierten mich, nein, es war die ganze Aufmachung der Läden. Als ehemaliger Innenarchitekt, der sich über fünfzig Jahre mit dem Entwerfen und Anfertigen von Interieurs im Stilmöbelbereich auseinandergesetzt hat, wurde ich beim Betrachten der kleinen Kunstwerke in meine Berufszeit zurückversetzt. Die von Frieda Wick und Ihrem Mann Niklaus Wick liebevoll und mit viel Akribie gekonnt restaurierten Läden wiederspiegeln Interieurs aus früheren Zeiten. Die jetzige Ausstellung soll jedoch nicht nur westliche Wohnwelten zeigen, sondern den Besucherinnen und Besuchern auch Lebensgewohnheiten aus China vor Augen führen. Vor über dreissig Jahren haben mich die Miniaturen mit «Maohou», den kleinen Äffchen von Beijing, in den Bann gezogen. Das, was heute im modernen China schon lange verschwunden ist – seien es alte Berufe oder das Leben in den «Hutongs» – erinnert mich bei diesen kleinen Kunstwerken an meine früheren Entdeckungen auf dem Fahrrad durch Dörfer und Städte im Land der Mitte. Möge es dieser Publikation, aber auch der Ausstellung, gelingen, die Besucherinnen und Besucher an frühere Zeiten zu erinnern, ihnen aber auch östliche Lebensgewohnheiten näher zu bringen. Viel Bekanntes aber auch Neues gibt es zu entdecken. Dazu wünsche ich viel Vergnügen. Ernst Hohl, Präsident Ernst Hohl-Kulturstiftung Appenzell

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WENN KUNST, HANDWERK UND SAMMELLEIDENSCHAFT SICH VEREINEN Zwei Spielzeug-Möbelläden stechen demjenigen, der die Liegenschaft an der Bahnhofstrasse 43, das heutige Haus Appenzell, schon vor 2006 gekannt hat, besonders in die Augen. Was könnte neben all den Gemischtwarenläden, Metzgereien, Konditoreien, Apotheken, Mer­ cerien, Modegeschäften oder Gewürzhandlungen besser in die Ausstellung «Grosse Welt ganz klein – Verkaufslädeli & Miniaturen aus West und Ost» und in diese Räume passen? Denn bis vor rund einem Dutzend Jahren wurden im Haus Appenzell durch die Ernst Hohl & Co. exklusive Stilmöbel sowie Teppiche, Vorhänge, Leuchten und Gemälde verkauft. Die grossartige Sammlung an Kaufläden, die in der Ausstellung und in diesem Katalogbuch zu sehen ist, haben wir Frieda Wick-Willi aus Teufen zu verdanken. Sie gehört zur auffällig grossen Gruppe von Sammlerinnen und Sammlern, welche die Gegend rund um den Säntis bevölkern und kulturell bereichern. Frieda Wick-Willi suchte und fand die Läden – meist als Ruinen – auf Flohmärkten, in Brockenhäusern oder im Internet. Anschliessend hat sie diese mit Hilfe ihres Mannes liebevoll restauriert, eingerichtet und ausgestattet. Dabei scheute sie keinen Aufwand. So schreckte sie nicht davor zurück, eigens nach Übersee zu reisen, wenn sie in Erfahrung bringen konnte, dass auf einer bestimmten kanadischen Brocante eine lange gesuchte Platte mit Hummern für ihren Comestibles-Laden zu finden sei. Konnte ein bestimmtes Objekt trotz aller Anstrengungen nicht aufgetrieben werden, wurde es aufwändig und detailgetreu nachgebildet. Selbstredend brauchte es für diese Rekonstruktionen eine gehörige Portion Fachwissen, grosses kunsthandwerkliches Geschick und immer wieder auch Erfindergeist. «Kunst und Handwerk vereint sich hier», steht an der prächtigen Jugendstildecke des Hauses Appenzell. Frieda Wick-Willi kombinierte Kunst und Handwerk mit ihrer bewundernswerten Sammelleidenschaft. Die Besucherinnen und Besucher dürfen dieses einzig­ artige Resultat im ebenso einzigartigen Ambiente des Hauses Appenzell geniessen. Es gehört zur Tradition des besagten Hauses, dass thematische Ausstellungen mit östlichen Elementen ergänzt werden. Passend zu den Verkaufslädeli von Frieda Wick-Willi und auf sensible Art mit diesen kombiniert, sind in der aktuellen Ausstellung Alltags-Miniaturen mit Äffchen aus China zu bestaunen. Ernst Hohl, der Stifter des Hauses Appenzell, hat sie vor Jahren in China erstanden. Mit der Ausstellung der Sammlung Frieda Wick-Willi ist der ideale Zeitpunkt gekommen, um diese faszinierenden kleinen Kulturerzeugnisse aus dem Reich der Mitte zum ersten Mal in einem gebührenden Rahmen der Schweizer Öffentlichkeit zu präsentieren. Roland Inauen, stillstehender Landammann Appenzell Innerrhoden

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ZUR GESCHICHTE DER KAUFLÄDEN

Seit Jahrhunderten sind Kaufläden weltweit ein beliebtes Spielzeug. Dabei ist es vielen nicht bewusst, dass der grösste Teil von ihnen traditionell in Deutschland hergestellt wurde – und dort vor allem in Nürnberg. Dies hatte seinen Grund. Die stets sehr gewitzten Nürnberger Spielzeugfabrikanten hatten schon früh damit begonnen, Spielwaren nicht allein von Spielwarenmachern herstellen zu lassen. Sie nutzten vielmehr die Vorteile einer Stadt, in der viele verschiedene Handwerksgruppen auf dichtem Raum lebten, und schlossen sich mit ihnen zusammen. Die Spielwarenmacher entwarfen und bauten die Gehäuse, die Flaschner produzierten Ölkannen, Fässer, Waagen u.a., und die Zinngiesser gossen Zubehörteile aus Zinn. Viele weitere kleine Handwerksbetriebe waren damit beschäftigt, einen Kaufladen so auszustatten, dass es darin an nichts fehlte. Diese Produktionsallianzen und der damit einhergehende Detailreichtum waren denn auch der Grund dafür, dass beispielsweise die Nürnberger Puppenküchen die berühmtesten der Welt wurden. Neben Nürnberg versuchten sich später auch Spielzeugmacher im Erzgebirge an der Produktion von Kaufläden, sie erreichten aber nie die hohe Qualität der direkt in Nürnberg hergestellten Spielwaren, auch wenn sie von Nürnberger Grosshändlern in Auftrag gegeben worden waren und als «Nürnberger Spielwaren» verkauft wurden. Die ältesten bekannten Abbildungen von Puppenkaufläden finden sich im Katalog des Nürnberger Spielwaren- und Möbelhändlers Hieronimus Bestelmeier aus dem Jahre 1812. Unter der Nummer 145 wird ein «Gewürzladen» angeboten und wie folgt beschrieben: Der Laden ist «13 Zoll hoch (= etwa 33 cm), 11 Zoll breit (= etwa 28 cm), mit vielen Schubladen versehen, von Holz schön gemalt mit zwei Glastüren». Wenn man einen Kasten dazu kaufte, musste man 18 Kreuzer mehr bezahlen. Solch ein Gewürzladen wurde auch Spezereiladen genannt. Doch in einem Gewürzladen konnte man keine Gewürze kaufen. Der Begriff wurde einerseits für Drogerien, andererseits für Delikatessenläden verwendet. In demselben Katalog werden weitere Kaufläden angeboten, so zwei Zinnläden (N° 304 und N° 425), ein Kaufmannsgewölb mit Schreibstube (N° 564) und sogar eine Spielwarenbude (N° 582). Das «Kaufmannsgewölb» wird so beschrieben: In ihm «befinden sich alle zu einer Handlung möglichen Sachen, wie Bestelmeier Kaufmannsgewölb mit Schreibstube, N° 564, 1812, Sammlung M. & D. Leipold.

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Zuckerhüte, Kaffee, Taback, Käss, Büchsen auf Zinnart, Kübel um verschiedenes hinein zu tun, eine grosse Waage mit vielen Gewichten und ein Fahrwägelein».1 Kaufläden wurden zwar schon viel früher von Grosshändlern angeboten, da den Verkaufslisten vor 1800 aber keine Abbildungen beigefügt wurden, lässt sich über deren Aussehen nichts sagen. In einem Einkaufsbuch des Nürnberger Grosshändlers Förster & Günther aus dem Jahr 1796 ist eine Bestellung bei dem Fabrikanten Johann Georg Fichtel Junior verzeichnet, die «vielerlei schöne Boutiken» umfasst, wie: «Galanterie Läden (Kurzwaren), Apotheke, Gewürzläden, Zuckerbäcker (Konditorei), Pastetenbäcker und Tuchläden».2 Es sind ­darüber hinaus viele weitere Arten von Läden bekannt, wie Korbwarenläden, Devo­t iona­ lienläden (christliche Gegenstände), Lebkuchenbäcker, Porzellanläden, Fleisch- und Geflügelläden, Materialläden (Haushaltsbedarf), Milchhandlungen, Bäckerläden, Modeläden, Antiquitätenläden und noch so manche andere, von denen sich in originalem Zustand leider fast keiner erhalten hat.

1 Georg Hieronimus Bestelmeier, Magazin von verschiedenen Kunst- und andern nützlichen Sachen zu lehrreichen und angenehmen Unterhaltung der Jugend; als auch für Liebhaber der Künste und Wissenschaften, Nürnberg 1812.   2 Firmenarchiv von Förster und Günther, in: Stadtarchiv Nürnberg E9/1.

Spielwaren als Bildungsmittel  Die bekanntesten und häufigsten Läden waren zu allen

Zeiten die Lebensmittelläden. Auch gab es den Begriff «Kolonialwarenladen» schon seit langer Zeit, so richtig populär wurde er Ende des 19. Jahrhunderts, als man im Deutschen Reich begann, Werbung für die eigene Kolonialpolitik zu machen. Kleine aufgedruckte Bildchen zeugen von einer Harmonie zwischen Kaufleuten und «Eingeborenen», die es in der Realität so nie gab. Weiter oben ist deutlich geworden, welche Vielfalt an Kaufmannsläden damals vorhanden war und wie aufwändig Spielzeug produziert und vertrieben wurde. Das hatte seinen Grund. So wird 1864 in der Jahreszeitschrift «Unsere Tage» geschrieben: «Immer mehr hält man in der neuen Zeit darauf, dass die Spielwaaren nicht allein der Unterhaltung und Erheiterung sondern auch zur Belehrung und Bildung der jungen Weltbürger dienen sollen.» 3 Der Reformpädagoge Friedrich Fröbel erkannte schon Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Entwicklung und Bildung des Kindes durch das Spielen massgeblich beeinflusst wird.4 Für jene «Bildung der jungen Weltbürger» konnte, so Fröbel weiter, durch das Spiel mit dem Kaufladen sehr viel getan werden. Die Kinder der Mittel- und Oberschicht – und sie allein waren es, die das Privileg hatten, mit Kaufläden zu spielen – sollten dadurch aber nicht direkt auf den Kaufmannsberuf vorbereitet werden. Für sie waren Tätigkeiten in bedeutenderen Funktionen vorgesehen. Auch Kinder aus Kaufmannsfamilien wurden nicht durch Kaufmannsläden in ihre spätere Arbeitswelt eingeführt. Dies geschah von Kindheit an direkt im elterlichen Geschäft. Die reicheren Kinder, die meist von dem täglichen Einkaufen

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3 Deutschlands SpielwaarenIndustrie, in: Unsere Tage, Bd. 4, Braunschweig 1864, S. 341.   4 Adolph Diesterweg, Jahrbuch für Lehrer und Schulfreunde, Leipzig 1851, S. 114.


5 Maria Leske, Illustriertes Spielbuch für Mädchen, Unterhaltende und anregende Belustigungen, Spiele und Beschäftigungen für Körper und Geist im Zimmer sowie im Freien, Berlin 1877, S. 21.   6 Illustrirter Catalog über Spielwaaren von Joseph Obletter, Königl. Bayr. Hoflieferant, München 1887, S. 44.

ausgeschlossen waren, da hierfür Personal abgestellt war, konnten aber durch das Spiel mit dem Kaufladen an die Grundprinzipien der Wirtschaft und des Handels herangeführt werden. So wie man kleine Mädchen durch das Spiel mit Puppenstuben und Puppenküchen mit vielen Dingen des Haushaltens vertraut machen wollte, so versuchte man den männlichen Nachkommen anhand der Kaufläden wirtschaftliche Zusammenhänge näher zu bringen. Aus diesem Grund war es wichtig, dass alle Gegenstände im Kaufladen möglichst realistisch gestaltet waren, um einen hohen Wiedererkennungswert zu gewährleisten. Beim Kaufmann-Spielen gab es tatsächlich viel zu lernen. Da war nicht nur das Zusammenrechnen der Warenpreise, wozu manche frühen Läden sogar einen kleinen besonderen Raum, das Kontor, hatten. Die Kinder begriffen wie ein Waage funktionierte, übten, wie man Waren verpackte und sie später wieder einsortierte. Sie lernten, sich zu merken, wie bestimmte Dinge aussahen. Auch im Lesen der Packungsaufschriften konnte man sich üben. Manch einer lebte seine Kreativität darüber hinaus im Dekorieren der Schaufenster aus: Die kleinen Mädchen konnten in ihren Modeläden winzige Puppenköpfe mit Hauben und Bändern verziert in Glasvitrinen stellen, immer wieder alles neu gestalten oder auch gleich neue Ensembles entwerfen und nähen. In dem «Illustrierten Spielbuch für Mädchen» aus dem Jahre 1877 steht dazu: «Wer als Kind einen Puppenhut anzufertigen versteht, dem fällt es auch in späteren Jahren nicht schwer, einen Hut für Erwachsene zustande zu bringen. Unbemerkt bildet sich der Geschmack, übt sich das Mädchen in der Ordnung, dem Fleisse, der Ausdauer und Geduld.»5 Kaufläden werden in manchen Spielwarenkatalogen unter der Rubrik «für Knaben», in manchen hingegen als Mädchenspielzeug angeboten. Da man glaubte, dass kleine Jungen ungern mit kleinen Puppen spielen würden, standen in vielen Läden männliche Masse­ figuren an Stelle von Puppen, die z.B. von dem Spielwarenhändler Obletter in München 1887 als «Ladendiener» angeboten wurden.6 Zuckersachen und Schokolade-Zigarren  All die fremden Dinge, die sich laut den Schubladenschildchen in den Schubladen verbargen, waren für die spielenden Kinder faszinierend und sind es für den heutigen Betrachter geblieben. Da gibt es viele Sachen zu entdecken, die mittlerweile vergessen sind oder inzwischen ganz anders bezeichnet werden. Wer weiss denn heute noch, dass «Melis» ein feiner Zucker aus Malta ist, dass «Suppenkorn» heute «Sago» heisst und «Gummizucker» unserem Pektin entspricht? In den Spezereien gab es sogar hochgiftiges «Bleiweiss», das aber im Kaufladen zweifellos durch ein harmloses Produkt ersetzt wurde.

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All das spielend zu lernen machte Spass, und besonders, wenn man sich dabei an allerlei Leckereien erfreuen konnte, mit denen der Laden gefüllt war. Man durfte sie beim Spiel genüsslich wegfuttern und hatte darüber hinaus die Gewissheit, dass alles zum nächsten Weihnachtsfest wieder aufgefüllt würde. Bestanden in früheren Zeiten die Waren in einem Lebensmittelladen aus Holz oder Steinmasse oder auch nur aus Pappmaché, so gab es später viele kleine feine Dinge aus Marzipan, Schokolade oder Zuckerguss. Der Münchner Spielwarenhändler Josef Obletter empfiehlt 1887 seinen Kunden zur Ausstattung der von ihm angebotenen Kaufläden: «Chocolade-Enveloppes mit Etiketten von Tabak, Cichorie, Café, Thee, Wichse, Kerzen, Nachtlichter etc.; Zuckerhüte von richtigem Zucker, Cigarrenkistchen mit Chocolade-Zigarren.»7 Später erfreute man die Kinder mit bunt gefärbtem Puffreis, der zwar nach fast nichts schmeck­ te, aber trotzdem gerne genascht wurde. Leider sahen die Kaufmannssachen aus Tragant mit ihrer realistischen Bemalung zwar sehr verlockend aus, doch der Zucker war bei diesen Waren mit dem hart werdenden Gummi der Tragantpflanze vermischt und daher ungeniessbar. Bezüglich der Kaufladenausstattung gab es für Kinder keine Tabus: Alle Waren der Erwachsenen waren auch in den Kaufläden zu finden. Der Tabak in den ganz frühen Kaufläden wurde meist in braunen Rollen geliefert, die an einen Stapel runder Pfannkuchen erinnern. Es gab Weinfässer, Schnapsfässer, später auch Glasflaschen, die mit jeder Art von «Alkohol» gefüllt waren, der natürlich in Realität gefärbtes Zuckerwasser war. Eine Herausforderung für tierliebende, mitleidige Kinderseelen dürften wohl die realistisch bemalten Tierhälften, die gehäuteten Hasen und das kopfunter hängende Geflügel gewesen sein, das im Schaufenster der Fleischerläden hing.

7 Illustrirter Catalog über Spielwaaren von Joseph Obletter, Königl. Bayr. Hoflieferant, München 1887, S. 44.

Von der Marktbude zum Kaufladen  Als Mitte des 18. Jahrhunderts der vermehrte Zu-

zug in die Städte begann, war es immer weniger möglich, die tägliche Versorgung einer Familie durch einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb zu sichern. Statt auf grosse Vorratshaltung zurückzugreifen, wurde zunehmend auf Märkten eingekauft, auf denen die von dem umliegenden Land gebrachten Waren offen oder in Marktbuden angeboten wurden. Diese wurden nachts mit einem Laden verschlossen. Tagsüber war der Laden heruntergeklappt und diente als Ablagetisch für die Waren. Bald nannte man jeden Verkaufsstand «Laden». Später baute man dann Markthallen mit Gewölben, in denen sich kleine Läden befanden, woher der weiter oben genannte Begriff «Gewölb» stammt. In Nürnberg und im Stuttgarter Raum gab es eine grosse Anzahl von Spezialfabriken, die Kaufladenartikel herstellten. Die berühmtesten waren in Nürnberg die Firmen J. J. Land-

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Der Kindlas Markt in Nürnberg um 1820, Bayerisches Nationalmuseum, Bibl. 10126, in: Swantje Köhler, Christian Hacker, 2009, S. 333.


Zubehör Firma Cartheuser, 1904, Privatsammlung. Seite aus dem Verkaufskatalog der Firma Carl Gross, 1926, Privatsammlung.

8 Christian Väterlein (Hrsg.), Kindler & Briel, Musterbuch N°4 von feinen Holz- und Metallspielwaren, Nachdruck eines Kundenkatalogs von 1904, Stuttgart 1993.

Obst und Gemüse der Firma Cartheuser, 1901, Privatsammlung.

mann, schon 1817 gegründet, und die 1897 gegründete Firma Carl Bierhals. Von der Firma Christian Hacker wissen wir, dass sie das Zubehör für ihre Läden bei einem Drechsler in Altdorf bei Nürnberg herstellen liess. Die Firma Kindler & Briel dekorierte ihre Läden mit Einzelteilen der 1846 in Stuttgart gegründeten Firma Carl Cartheuser. In einem Katalog, der mittlerweile im Reprint erschienen ist, bietet die Firma Kindler & Briel ihren Kunden an, die Bestückung durch die Stuttgarter Firma gleich mit zu bestellen.8 Die bedeutendste Firma, die Kaufladenzubehör aus Tragant herstellte, war die 1829 in Biberach gegründete Firma Gbr. Baur. Der Firmengründer hatte in Paris gelernt, TragantBlumen herzustellen, baute später in seiner Heimatstadt gleich drei Fabriken und stellte dort bis in die 1950er-Jahre auch Kaufladenzubehör her. Dazu kamen fleissige Mütter, die zu Weihnachten, wenn in Deutschland meist die Kaufläden frisch herausgeputzt und gefüllt unter dem Weihnachtsbaum standen, beim normalen Plätzchenbacken auch an winziges Kaufladenzubehör wie kleine Brote, Plätzchen oder winziges Marzipanzubehör dachten. Oft wird gesagt, dass die Läden mit Dach und die Marktstände die frühen Läden seien. Aber das ist nicht richtig. Wie so oft in der Spielwarengeschichte, in der es den Händlern hauptsächlich darauf ankam, Geld zu verdienen, läuft vieles gleichzeitig oder nebeneinander her. Vielleicht hatte man zuerst nur geschlossene Läden hergestellt, aber dann gesehen, dass sich offene viel besser bespielen liessen, weil die kleinen Kinderhände so an die winzigen Waren in den hinteren Regalen einfach besser herankamen. Grundsätzlich blieb ein Produkt so lange im Angebot, wie es sich gut verkaufte. So sieht man in den Musterbüchern oft eine «frühe» Verkaufsbude und einen Biedermeierladen ungeniert neben einem Laden in verziertem Jugendstil stehen. Das ist für Sammler oft etwas enttäuschend, denn

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Jugendstilladen der Firma Aki Spielwarenwerke, 1908, Archiv Swantje-Koehler-Verlag. Kaufladen der Firma Hacker, 1893, Privatsammlung.

niemand möchte wahrhaben, dass seine «frühe» Verkaufsbude oder sein «Biedermeierladen» vielleicht aus dem Jahr 1910 stammt. Die geschäftstüchtigen Fabrikanten bemühten sich, die Kunden durch allerlei modische Stilspielereien zum Kauf zu verlocken. Manche Läden glichen mit ihren Verzierungen einer süddeutschen Barockkirche. Andere sind wunderbare Beispiele für den geschwungenen Jugendstil oder das strenge Art Deko. Auch die neusten technischen Entwicklungen wurden sogleich aufgenommen. Als 1900 auf der Weltausstellung in Paris die erste Rolltreppe präsentiert wurde, baute man in der 1835 in Nürnberg gegründeten Holzspielwarenfabrik von Christian Hacker ein Kaufhaus mit Rolltreppe. Eine besondere Attraktion war auch ein Kaufladen mit drehenden Etageren im Schaufenster, alles von einem Uhrwerk betrieben. Die Spielwarenfirma Christian Hacker hat wohl die prächtigsten und schönsten Kaufläden der Welt gebaut und sie auch in alle möglichen Länder bis nach Übersee geliefert. Von dieser Firma haben sich gemalte Musterbuchbilder, kolorierte Produktfotos und auch einige Kataloge erhalten, so dass noch heute vieles genau identifiziert werden kann. Es ist nicht verwunderlich, dass Läden der Firma Christian Hacker auch in der Sammlung Frieda WickWilli zahlreich vertreten sind (u. a. S. 64, 85, 96). Da sie alle von sehr hochwertiger Qualität sind und deshalb immer sehr teuer waren, wurden sie vielleicht besonders hoch geschätzt und wohl auch geschont. Die bekannte Nürnberger Blechspielwarenfabrik Gebrüder Bing zeigt in ihrem Spielwarenkatalog prächtige Kaufläden, für die eine besondere Bodenbemalung typisch ist. Diese Firma hat die Kauf­ läden allerdings nicht selbst hergestellt, sondern extra anfertigen lassen. Eine andere bekannte Firma, die hervorragende Kaufläden herstellte, war die 1894 in Böblingen ge­ gründete Firma Kindler & Briel, deren besondere Spezialität Wendeltreppen und verzierte Ge­länder waren, die aus der renommierten Württemberger Blechspielwarenfabrik Rock & Graner in Biberach kamen. Ebenfalls in Stuttgart produzierte die Firma Karl Gross, 1852 gegründet, stabile Kaufläden, die meist ihr Markenzeichen, ein G mit einem Pferdekopf, im oberen Ladenbereich aufweisen.

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Kaufladen der Firma Kindler & Briel, 1925, Privatsammlung.

In der ausgestellten Sammlung sind auffallend viele Läden der 1865 in Marienberg ge­ gründeten Holzspielwarenfabrik Moritz Gottschalk vertreten (u. a. S. 62 f, 67 f, 70 f, 90, 94 f), der wohl grössten Fabrik für Gehäusespielwaren zu damaliger Zeit. Da Moritz Gottschalk ursprünglich Buchbinder war und damit begonnen hat, Kinderhelme aus Pappe herzustellen, verwundert es nicht, dass die Kapitele von Frontsäulen oft aus gedrückter Pappe gefertigt sind. Auch Albin Schönherr, 1895 in Niederlauterstein, einem kleinen Nachbarort von Marienberg, gegründet, hat schöne Kaufläden hergestellt. Da er lange Jahre selbst bei der Firma Gottschalk gearbeitet hat, werden seine Läden oft mit denen der Firma Gottschalk verwechselt. Neben diesen beiden bekannten Fabrikanten gab es viele weitere Hersteller im Erzgebirge, die neben anderem Spielzeug auch Kaufläden herstellten. Ihre Läden sind zwar in den Katalogen der Grosshändler verzeichnet, deren Herkunft wurde allerdings bewusst verschleiert, da kein Händler preisgeben wollte, woher er seine Waren bezog. Die Blüte der Kaufladenproduktion wurde Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts erreicht. In dieser Zeit entstanden die meisten Variationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Beliebtheit noch einmal an, was wohl dem Warenmangel der kargen Kriegsjahre geschuldet ist. Als sich überall die Supermärkte breit machten, zogen zwar einige der Spielwarenhersteller noch eine kurze Zeit mit, verloren aber bald ihre Kunden an Lego und Playmobil, die sich diesem Genre annahmen und den Markt ab Mitte der 1950er-Jahre sukzessive eroberten. Swantje Köhler Verlegerin und Autorin zahlreicher Publikationen zur Spielzeuggeschichte

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«MAOHOU» – FASZINIERENDE MINIATUREN AUS CHINA Maohou (毛猴) sind einzigartige kleine Wesen. Auf einer Fläche von der Grösse eines Daumens zeigen sie uns die grosse Welt. Sie laden uns ein, ganz in die Zeit ihrer Entstehung einzutauchen, auf klitzekleinen Strassen zu flanieren und dabei chinesische Sitten, Traditionen und Gebräuche kennenzulernen. Nicht selten blinzeln sie uns dabei schelmisch zu, sind humorvoll, drollig und ironisch. Dann sind es kleine Karikaturen, die echte und gefühlte Gesellschaftsphänomene portraitieren, während sie Realitäten und Neuerungen im Alltagsleben dokumentieren. Manchmal übertreiben sie auch, um dem Betrachter eine distanzierte Betrachtung zu erlauben. Der interessierte Zuschauer wird dann gedanklich zwischen Phantasie und Realität hin- und herpendeln, um so vielleicht auf den Grund einer schon länger gefühlten Diskrepanz zu gelangen. Das besondere Geschick der Maohou liegt schliesslich darin, dass sie ihre Geschichten lautlos erzählen. Sie sind wie ein Theaterstück, das in die Vergangenheit zurückversetzt oder in die Zukunft blickt, während sie ganz unschuldig erstarrt zum Beobachter herüberblicken.

Hofszene in Tianjin《城厢小院》 Ren Jinsheng 任金生

Bewegte Vergangenheit  Die aus dem Panzer der Zikade und der Magnolienknospen

entstandenen Maohou wurden anfänglich als Spielzeug und später als typisches Volkskunsthandwerk aus Peking gehandelt. Da sie Äffchen glichen – die fein behaarte Magno­ lienknospe imitiert einen Pelz – setzte sich in der Alltagssprache rasch die Bezeichnung «Hairy Monkey» durch. Über die «Geburt» des Maohou gibt es zwei Theorien. Die eine wird erstmals im Buch «Sammlung der Kunsthandwerke aus Peking» (1983, Peking Verlag) geschildert. Demnach seien die Maohou in der Daoguang-Periode der Qing-Dynastie (1821–1850) entstanden: Ein Handwerker namens Wang habe den Maohou erfunden, was ihm den vielsagenden Titel des «Affenkönigs» eingebracht habe. Seine Technik sei gegen Ende der Qing-Dynastie einem gewissen Qian Yifan weitergegeben worden.1 Die zweite Theorie vertritt die Ansicht, dass die Maohou während der Tongzhi-Periode der Qing-Dynastie (1862–1874) in einer auf Heilkräuter spezialisierten Drogerie in Peking entstanden seien – zumindest besagt dies eine Legende aus dem Buch «Legende der Kunsthandwerke aus Peking» (2010, Denkmal Verlag): Am Gemüsemarkt in Xuanwumen im Südpeking gab es eine Drogerie namens «Nan Qing Ren Tang». Zwei Gehilfen schufteten dort täglich beim Kräutermischen. Eines Tages wurde der eine von dem hässlichen und boshaften Chefbuchführer übel beschimpft. Der unglückliche und untergedrückte Junge verlor darüber die Lust auf die Arbeit. Beim Kräutermischen öffnete er eine der Medikamentenschubladen, griff nach einigen Magnolienknospen und Zikaden und warf sie auf

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1 《北京工艺美术集》北京出版社, 1983年.


2 《北京手工艺的传说》李苍彦, 于志海编著, 文物出版社, 2010年 出版.

3 《中国民间儿童玩具史话》张新沂 著, 南方出版传媒, 新世纪出版社 2016年3月第1版.

4 《北京手工艺的传说》李苍彦, 于志 海编著, 文物出版社, 2010年出版.

5 《美的求索》李苍彦著, 北京燕山出 版社, 2010年5月第1版.

den Tisch. Noch immer verärgert liess er seinen Emotionen freien Lauf und begann, den Panzer der Zikaden zu zerreissen. Schliesslich befestigte er die Beine und den Kopf auf einer Magnolienknospe.2 Die fertige Figur sah wie der hässliche Chefbuchführer aus, und über der Geburt des allerersten Äffchens verflog der Trübsinn des Gehilfen rasch. Später fand man die Maohou als Kinderspielzeug, als Geschenkartikel auf den Märkten oder als Dekoration in bürgerlichen Häusern. Im Verlauf der 1950er- und der 1960er-Jahre verschwanden die Zikade-Äffchen. Während der chinesischen Kulturrevolution wurde eine Kampagne gegen die «Vier Alten» – damit waren alte Denkweisen, alte Kulturen, alte Gewohnheiten und alte Sitten gemeint – durchgeführt. Einerseits hatten die Kunsthandwerker Angst vor Kritik, andererseits erlosch in dieser Zeit die Nachfrage nach den Miniaturen. Erst nach 1980 kamen die Maohou wieder zum Vorschein. Dank Cao Yijian erhielt diese alte Volkskunst ein zweites Leben.3 Der Volkskunstmeister Cao Yijian (geb. 1925) entdeckte in den 1930er-Jahren die Maohou auf dem Schulweg durch den Dong’an-Markt in Peking. Ein Mann namens «Äffchen Wang» verkaufte am Nordeingang des Marktes die selbstgemachten kleinen Zikade-Äffchen. Die lustigen und lebendig scheinenden Miniaturfiguren weckten Caos Interesse sofort. Mitte der 1950er-Jahre verschwand der Verkaufsstand von «Äffchen Wang» und man fand diese Zikade-Äffchen nirgends mehr. So gerieten die Maohou in Vergessenheit.4 Nur Herr Cao erinnerte sich: Er vermisste die faszinierenden Zikade-Äffchen, die ihn an seine Begeisterung während des Schulwegs erinnerten. Er fand es schade, dass man sie nicht mehr finden konnte und entschied sich schliesslich dazu, selber Maohou herzustellen. Er ging in eine Apotheke, kaufte Zikaden und Magnolienknospen und begann mit der Gestaltung der Äffchen. Anfänglich versuchte er, Szenen aus seiner Erinnerung nachzustellen. Ab 1978 kombinierte er die traditionellen Zikade-Äffchen vermehrt mit Lebensszenen, Geschichten und Sagen. Dabei entwickelte er eine eigene Dramaturgie, liess Neues aus Altem entstehen. Mit viel Leidenschaft, Geduld und Geschicklichkeit brachte er die Kunst des Maohou auf eine neue künstlerische Ebene. Nachdem Cao Yijian seine Schöpfungen 1986 auf dem Jahrmarkt im Erdealtar in Peking ausstellte, schlug ihm insbesondere von vielen Jugendlichen Begeisterung entgegen – die Kunst der Maohou trat in eine neue Blütezeit.5 Im Jahr 2009 und 2011 wurden die Maohou in die Listen des Immateriellen Kulturerbes von Peking und Tianjing aufgenommen. Verwendete Materialien  Die traditionellen Materialien für die Herstellung des Mao-

hou bestehen aus vier Medikamenten der chinesischen Medizin: Chan Tui (der Panzer der

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Zikade) für den Kopf und die vier Glieder, Xin Yi (die Magnolienknospe) für den Körper, Bai Ji (die Wurzelstöcke von Bletilla) als Klebstoff und Mu Tong (der Clematisstängel) für die Requisiten. Der Panzer der Zikade (Chan Tui, 蝉蜕), den das Insekt bei der Häutung abstreift, wird als Arzneimittel zum Durchatmen und zur Kühlung des Körpers verwendet. Im Buch «Das Buch der heilenden Kräuter» (Bencao Gangmu, «本草纲目») des Gelehrten Li Shizhen (1518– 1593) wird die medizinische Anwendung von Zikadenpanzern (Chan Tui, 蝉蜕) erstmals ausführlich beschrieben. Chan Tui wird häufig bei Heiserkeit, Racheninfektionen, Husten, Fieber, Stimmverlust, Schmerzen, geröteten Augen und gegen Hautausschlag verwendet. Zikaden sind in fast allen Regionen Chinas anzutreffen, aber die Zikadenpanzer höchster Qualität stammen vorwiegend aus den Provinzen Hebei, Henan, Shandong, Jiangsu und Zhejiang. Die leeren Zikadenpanzer werden im Sommer und Herbst eingesammelt, gereinigt und dann an der Sonne getrocknet. Die beste Zeit für das Sammeln der Panzer ist nach einem Regentag im heissen Sommer.6 Die weissen Magnolienknospen (Xin Yi, 辛夷) werden in der Traditionellen Chinesischen Medizin vorwiegend als ein wärmendes, scharfes Arzneimittel zur Bewegung und Regulierung des Qi und zur Kühlung des Körpers verwendet. Daher werden die Magnolienknospen gerne gegen Schnupfen, verstopfte Nase und Kopfschmerzen eingesetzt. Viele Magnolienarten blühen schon im Frühjahr. Die für die Maohou verwendeten Magnolienknospen müssen allerdings solche sein, die sich schon im Herbst gebildet und den Winter überwunden haben. Die Zeit des Pflückens ist dabei entscheidend: Werden sie zu früh geerntet, dann schrumpfen sie, ist es zu spät, dann sind sie schon verblüht.7 Bletilla ist eine Orchideenart. Die Wurzelstöcke von Bletilla (Bai Ji, 白芨) werden vornehmlich als Mittel zur Regulierung des Körpers und zur Blutstillung eingesetzt. Unter Hitze werden die Bai Ji schleimig und klebrig, so dienen sie ideal als Klebstoff für die Befestigung der Zikadenbeine an der Magnolienknospe. Beim Aufheizen werden Bai Ji durchsichtig, zum Trocknen braucht die Klebestelle dann rund acht Stunden Zeit. ­Wegen der langen Trocknungszeit werden daher heute oft auch künstliche Klebstoffe verwendet.8 In der Traditionellen Chinesischen Medizin wird der Clematisstängel (Mu Tong,木通) häufig als Arzneimittel zum Ausscheiden von Flüssigkeit und zur Umwandlung von Feuchtigkeit angewendet. Mu Tong ist daher Bestandteil vieler Rezepturen gegen Blasenentzündungen. Früher wurden Mu Tong häufig für Accessoires wie beispielsweise den Hut eines Äffchens verwendet.

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Rohmaterialien für die Herstellung von Maohou. 毛猴制作原料

6 《毛猴制作技法》杨爱玲著, 第6页, 北京工艺美术出版社, 2015年1月第 1版.

7 《北京民间玩具》王连海编著, 第 126页 北京工艺美术出版社, 2011 年5月第1次印刷.

8 《毛猴制作技法》杨爱玲著, 第15页, 北京工艺美术出版社, 2015年1月第 1版.


Der Künstler Ren Jinsheng aus Tianjin bei der Arbeit an einer Mahou-Miniatur. Rikschafahrer bei der Mittagspause (Ausschnitt), Ren Jinsheng.

9 《北京民间玩具》王连海编著, 第 127页, 北京工艺美术出版社, 2011 年5月第1次印刷. 《毛猴制作技法》杨爱玲著, 第32页, 北京工艺美术出版社, 2015年1月 1版.

Fertigungsprozess  Der Herstellungsprozess eines Äffchens lässt sich in drei Teile glie-

dern: Zuerst wird der Zikadenpanzer zerteilt, Kopf und Beine werden abgetrennt. Dann wird ein Stück Magnolienknospe in der gewünschten Grösse ausgewählt, der dickere Teil der Knospe schaut nach oben; schliesslich wird der Kopf auf die Knospe aufgesetzt und angeklebt. Die dickeren Vorderbeine der Zikade werden zu den Hinterbeinen des Äffchens umfunktioniert, die Arme des Äffchens aus den mittleren und hinteren Beinchen der Zikaden gefertigt. Dabei ist man gut beraten, wenn man die Zikadenglieder vor deren Montage im Wasser einweicht, damit sie weich werden und man sie besser in die gewünschten Bewegungen formen kann. Zum Schluss werden die Äffchen zu einer Miniatur zusammengefügt und auf einer Kulisse fixiert. 9 Durch ihre sorgsame Positionierung werden die ­Maohou zum Leben erweckt, und das, obwohl ihre kleinen Gesichtchen keine Augen haben oder Mimik zeigen. Für die Herstellung der Requisiten sind Kreativität und Geschicklichkeit gefragt. Beliebte Materialien sind Haushaltsabfälle. Die chinesischen Kunsthandwerker hauchen zahlreichen Wegwerfgegenständen neues Leben ein: Alte Kartons und Zahnstocher sind ideal für die Herstellung von Stühlen, Tischen und Wänden; Knallfrösche werden zu kleinen Papierrollen gefaltet, gefärbt und zusammengesetzt; kandierte Weissdornspiesse werden mit Tonerde zusammengeknetet; das Schriftzeichen «Glück» über den Türen wird aus Bonbonpapier ausgeschnitten; Baumrinde kann man für die Fersen einsetzten; Sand- und Schotterstrassen werden mit Sandpapieren dekoriert; eine Schuhöse schliesslich passt bes­ tens als Hut auf den Kopf eines Äffchens. Kurz: Es gibt nichts, aus dem man nicht etwas für die Maohou-Miniaturen fertigen könnte! Beim Aufbau der Kulissen und der Herstellung der Äffchen und Requisiten kommen vielfältige Werkzeuge zum Einsatz: Scheren, Messer, Pinzetten, Lochstanze, Zahnstocher, ­Spirituslampe, Emulsion, Klebstoffe usw. werden verwendet. Beliebte Motive  Mit den Mahou-Miniaturen werden einerseits viele alltägliche Lebens-

szenen, Sitten und Gebräuche lebendig dargestellt und die Vielfalt der Vergangenheit do-

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kumentiert. Andererseits lernen wir anhand der kleinen Szenen alte Berufe und die entsprechende Zeitepoche kennen. Viele der dargestellten Berufe sind verschwunden, manche haben sich stark verändert, wie z.B. der Scherenschleifer, der Wassermelonenverkäufer, der Strassenschauspieler, der Wahrsager, der Rikschafahrer oder der Sänftenträger. Häufig wird auch das tägliche Leben der Unterschicht dokumentiert: Das Plaudern im Teehaus, das Umziehen oder das Haareschneiden und Rasieren sind weitere beliebte Szenen. Die schöne Freizeit in den «Hutong» (typische enge Gassen, traditionelle Wohnviertel in Beijing) wird oft anhand von Szenen des Grillen- oder Schachspiels, aber auch über all­ tägliche Szenen wie dem Wasserholen aus alten Brunnen dargestellt. Selbstverständlich gehören auch die wichtigsten Feste wie das Chinesische Frühlingsfest und Hochzeitszenen zum Repertoire. Ein besonders beliebtes Motiv ist ausserdem die vielfältige Esskultur, die sich in Miniaturen mit alten Pekingfeuertöpfen, kandierten Weissdornspiessen (Bingtang Hulu) und Tofu-Werkstätten niederschlägt. Szenen über das Süsskartoffel- und Maiskuchenbacken finden sich ebenfalls häufig. Die Vielzahl der mit Maohou dargestellten Szenen und Berufe hat dazu geführt, dass Miniaturen mit Hairy Monkeys heute gerne als Geschenke gekauft und verteilt werden. Zu Schul- und Geschäftsabschlüssen, aber auch zu Hochzeiten und Geburtstagen werden oft Maohou-Miniaturen mit passenden Motiven verschenkt. Portrait eines Mahou-Künstlers  Viele Kunsthandwerker haben sich ganz den Maohou

verschrieben und streben in ihrer Arbeit nach stetiger Verbesserung. Einer von ihnen ist der Volkskünstler Ren Jinsheng aus Tianjin. Ren wurde 1955 in Tianjin geboren und war ursprünglich gelernter Zauberkünstler und Ledertaschenhersteller. Vor mehr als dreissig Jahren sah er zum ersten Mal Maohou in ­Peking – und wurde sogleich von diesem besonderen Volkskunsthandwerk bezaubert. In den 1990er-Jahren entschied er sich dazu, sein restliches Leben den Maohou zu widmen. Viele seiner Kunstwerke sind in der Zwischenzeit in Zeitschriften und Fernsehsendungen

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Das Alte Hofleben um 1960 in Tianjin und Chinesisches Frühlingsfest, Ren Jinsheng. 任金生 《天津老城厢》,  《过大年》


Ren Jinsheng 任金生

portraitiert worden – zahlreiche Ausstellungseinladungen waren die Folge, ebenso diverse öffentliche Auftritte im In- und Ausland, an denen er dem interessierten Publikum live vorführt, wie Maohou gefertigt werden. Nicht wenige seiner Werke erhielten wichtige Auszeichnungen. Der Künstler gehört nicht nur in Tianjin zu den besten, sondern gilt auch in ganz China als einer der anerkanntesten Meister seines Kunsthandwerkes. Seine Stärke liegt zweifellos in der Darstellung von grossformatigen, dramatischen Lebensszenen mit innovativen Kulissenbauten, deren Gesamteindruck insbesondere von einer «Bewegung des Unbeweglichen» gekennzeichnet ist: Obwohl die Maohou keine Mimik haben, wirken sie in Rens Miniaturen niemals starr. Dadurch erwecken seine Szenendarstellungen den Eindruck lebendiger Einheiten – eben wie eine belebte Strassenecke oder ein Strassenfest, auf dem sich unzählige Anwohner vergnügen. Ren stellt seine Heimat dar, so wie er sie als Kind erlebt hat. Seine Miniaturen thematisieren das schlichte, einfache Leben in den Innenhöfen Tianjins in den 1970er-Jahren. Mithilfe der Mahou lässt Ren den Betrachter in diese Zeit zurückreisen, in eine gemütliche, freundliche und von Nachbarschaftlichkeit geprägte Lebenswelt, wie sie heute so nicht mehr erlebt werden kann. Yu Hao Filmemacherin und Kuratorin im Haus Appenzell Zürich

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DIE SAMMLUNG FRIEDA WICK-WILLI Ein Gespräch mit Niklaus Wick

Das Haus, dem wir uns an diesem sonnigen Maimorgen nähern, wirkt von Weitem selbst wie eine Miniatur. Die Auffahrt schlingt sich in zwei kurzen Windungen um bemerkenswert gepflegten Rasen und akkurat gestutzte Stauden. Die letzten Hornveilchen blühen vor dem kalten Blau des Himmels. Die Luft steht still, obwohl ein frischer Wind aufzieht. «Sie haben Glück, dass Sie mich zu Hause antreffen», schmunzelt Niklaus Wick, als er uns die Türe öffnet. Natürlich weiss er seit einigen Tagen, dass wir heute mit ihm über seine verstorbene Frau sprechen wollen, deren Sammlung von Kaufläden das Herzstück der Ausstellung 2017/2018 im Haus Appenzell bildet. Nachdem sie Ende 2016 überraschend verstorben ist, sehen wir uns, gemeinsam mit Niklaus Wick, mit einer plötzlich verwaisten Sammlung von Verkaufsläden konfrontiert. Von Frau Wick wissen wir bisher nur wenig. Auf den paar Fotos, die wir von ihr kennen, wirkt sie ernst und etwas unnahbar. Ihr schwarzes Haar betont ein fein geschnittenes Gesicht, die hellen Augen versprechen Intelligenz, ein unbestimmter Zug um den Mund verrät Entschlossenheit und Durchsetzungswillen. Ihr Mann, der ihr auf einigen Fotos zur Seite steht, wirkt zugänglich, doch der Herr Wick, der uns heute ins Haus bittet, scheint abgemagert und fragil. Er befinde sich noch immer in Trauer, wie er offen zugibt, trotzdem hat er sich bereit erklärt, uns heute von seiner Frau zu erzählen. Sie hatte einige Monate vor ihrem Tod für die Ausstellung im Haus Appenzell zugesagt, und er sieht sich nun trotz gesundheitlicher Probleme dazu verpflichtet, deren Durchführung nach Kräften zu unterstützen. Seine Herzlichkeit bringt Bewegung in die Luft. Er bugsiert uns und das umfangreiche Filmequipment, das wir mitgebracht haben, in einen grossen Raum im Erdgeschoss des Hauses. Linker Hand erstreckt sich ein Feld von Arbeitsplätzen, kleine Schleif-, Drechselund Drehmaschinen, deren Funktionen sich auf den ersten Blick nicht erschliessen, stehen in Reih und Glied. Schachteln voller Silikonformen türmen sich auf dem Boden, ein demontierter grüner Verkaufsladen liegt zur Rechten neben einem Computertisch. Überall erblicken wir kleine Schachteln, Fässchen und Konstruktionszeichnungen, auf einem der grösseren Tische sonnt sich eine stattliche schwarze Katze. Im Hintergrund, entlang der Wände, breiten sich hohe Regale aus, auf denen nur mehr vereinzelte Verkaufsläden stehen. Die leeren Ausstellungsflächen – viele der Läden wurden bereits ins Lager des Hauses Appenzell abtransportiert – mahnen an die Abwesenheit der Protagonistin, die der Witwer uns nun beschreiben soll. Es fällt ihm schwer – so schwer wie es jemandem fallen muss, der mit seinem Partner ein ganzes Leben verbracht hat und sich über derlei nie Gedanken machen musste, weil alles stets unausgesprochen klar sein konnte und durfte.

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In Zusammenhang mit der Sammlung fällt die Charakterisierung Frieda Wicks leichter. Ein «unglaubliches Vorstellungsvermögen», ein «immenses Gedächtnis» habe sie bewiesen, zudem eine «unwahrscheinliche Konzentration und Ausdauer» an den Tag gelegt – seit dem allerersten Laden, den sie 2002 in einer Brocante in Zürich-Oerlikon erstanden habe. «Ich sehe noch die Bilder vor mir von dieser Brocante, wie wir da herumspaziert sind. Meine Frau lief dreimal zurück zu dem Miniaturladen, verhandelte den Preis. Das hat mir so gefallen, dass sie den Laden nicht einfach gekauft hat, obwohl ich spürte: Sie will ihn unbedingt haben. Das war ihre Art. Vorsichtig, zurückhaltend, aber wenn’s stimmt, schlägt man zu. So hat alles angefangen.» Und er fügt an: «Ich wusste, wenn Frieda sich entscheidet, wird eine Kostbarkeit daraus. Und ich freute mich mit ihr.» Zu Hause habe sie sich an die Restaurierung des Ladens gemacht, sie, die zuvor nie etwas mit Verkaufsläden zu tun gehabt hatte. Zwar hatte sie schon an Puppenhäusern und Einrichtungs-Schaukästen mit Möbeln im Massstab 1:12 gearbeitet, doch das historische Wissen um Entstehung, Entwicklung, Ausstattung und Rekonstruktion der Verkaufsläden, die vorwiegend aus Deutschland stammen, musste sie sich erst erarbeiten. Lebhaft berichtet Niklaus Wick, wie seine Frau begonnen habe, in jeder freien Minute, aber vor allem nachts, eine unglaubliche Menge von Fachbüchern zu lesen. Wie sie gemeinsam Flohmärkte und Antiquitätengeschäfte in St. Gallen, Bregenz, Konstanz, Burgdorf, Immenstadt, Zürich, Luzern, München, Kempten, Friedrichshafen, Meersburg, Konstanz und Überlingen abklapperten. Wie sie das Internet entdeckten, eBay vor allem, um Angebot und Nachfrage kennenzulernen. Wie seine Frau schliesslich nach Amerika, England und Hongkong reiste, um sich an den jährlichen Antiquitätenausstellungen, wo Handwerker und Laien bei der Restauration von Läden beobachtet werden können, mit Fertigkeiten und Informationen zu Arbeitstechniken und Materialien vertraut zu machen. Wie all dies also seinen Anfang nahm, an jenem Nachmittag in Zürich und mit dem ersten Laden, dessen «Restauration so überzeugend ausfiel, dass ein nächster zwingend hermusste». Frieda Wick spezialisierte sie sich dabei von allem Anfang an «auf schlecht restaurierte und ramponierte Stücke, deren Qualität sich hinter einem unansehnlichen Aussehen versteckte». Die Vision einer Sammlung entwickelte sich dabei kontinuierlich, ein vorgefasstes Konzept fehlte. Woher hätte es in dieser ersten Zeit auch kommen sollen? Der erste Laden war ja ohne Gebrauchsanweisung hereingetrudelt, die ersten Wünsche beschränkten sich vorerst lediglich auf den Erwerb des nächsten Stücks. Diese Planlosigkeit erlaubte Freiheiten: «Frieda musste nie kaufen, sie konnte sich in Ruhe umsehen, abwägen, vergleichen.» Erst mit dem Anwachsen der Sammlung habe sie Ansprüche entwickelt: «Eine gewisse

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Anzahl ‹Hacker› und ‹Gottschalk› sollte da sein, damit man die nebeneinander sieht. Zum Beispiel wollte sie die Entwicklung von Confiserien zeigen, die ­damals in verschiedenen Grössen angeboten wurden (S. 114 f). Solche Läden hat sie dann im Internet auch gezielt gesucht. Sie hatte ganze Kataloge im Kopf gespeichert, konnte die einzelnen Bilder jederzeit abrufen und mit dem Angebot vergleichen. Aber krampfhaft einen Laden suchen, das machte sie nie. Andererseits war sie immer interessiert an Raritäten, die man erkennen muss, und deren Anschaffung niemals planbar ist. Überhaupt war das ein Talent von F ­ rieda: Ein von aussen unansehnliches Teil als Kostbarkeit zu er­ kennen.» Auf der Suche nach Läden ist Frieda Wick auch in Kontakt mit gleichgesinnten Sammlern und Restauratoren gekommen, die ihr Mann durchaus liebevoll als «Bonsai-Mafia» bezeichnet: Eine Sammlerkommune gebe es allerdings nur an Ausstellungen oder Flohmärkten, an denen man immer etwa die gleichen Leute treffe. Man kenne sich, insgesamt gönne man sich wenig, im Grossen und Ganzen seien das aber «ganz flotte Leute». Gerade diese soziale Komponente des Sammelns, so Niklaus Wick weiter, habe ihnen auf eBay gefehlt. Und: «In England und den USA ist die Stimmung gelöster, offener. Die Sammler treffen sich alle Jahre, und Neid ist verpönt. Jede Auskunft, um die man bittet, wird gewährt.» Das Interesse von Frieda Wick schlägt sich schliesslich nach 15 Jahren Sammlertätigkeit in einem veritablen Schatz von rund 150 Läden nieder, etwa hundert davon sind heute fertig restauriert, 80 werden im Haus Appenzell ausgestellt. Der älteste Laden datiert um 1840, die jüngsten stammen aus den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts (S. 56, 120). Die Frage nach deren historischer Authentizität führt zu einer längeren Diskussion: Sind die Läden aus der Sammlung Frieda Wick-Willi als historische Artefakte anzuerkennen, wenn sie allesamt restauriert sind? Zumal Frau Wick oft selber entschied – manchmal erst im Laufe der Restauration – was für eine Art von Laden aus dem Stück entstehen sollte? Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ist eine solche Auffassung sicher zurückzuweisen. Niklaus Wick allerdings verteidigt einen solchen Anspruch: «Die historische, auch baugeschichtliche Kontinuität in der Entwicklung dieser Spielzeuge aufzuzeigen, war einer der ausdrücklichen Ansprüche meiner Frau.» Seiner Ansicht nach sei das Nachgiessen

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Frieda Wick bei der Arbeit.


Niklaus Wick bemalt Waren für einen Weihnachtsladen (vgl. S. 105).

von Zinndekorationen, an dem sich unser Gespräch im Folgenden orientiert, und die im Original aus vergleichsweise billigem Papiermaché gepresst und gestanzt wurden, durchaus ein Beitrag zur authentischen Rekonstruktion eines Verkaufsladens. Schliesslich muss man die Restaurierung der Läden fraglos als herausragende Leistung der Sammlung anerkennen. Seiten liessen sich füllen mit der Beschreibung dessen, was es braucht, einen vernachlässigten Laden in so etwas wie einen Ursprungszustand zurückzuversetzen: «Zuerst wird der Laden auseinandergenommen. Dann werden alle Holzteile abgelaugt, gespachtelt, geschliffen, wieder gespachtelt, wieder geschliffen, nochmal gespachtelt und dann feingeschliffen. Dann wird grundiert, die Bodenplatten werden repariert, gegebenenfalls zurechtgezogen und verstärkt.» Die Kalkfarbe für die Ausbesserung der Originalfarbe habe seine Frau jeweils selbst gemischt – er hingegen habe eine Form von – wenn man es denn so nennen wolle – Perfektion darin entwickelt, Tapeten mit einem Grafikprogramm Pixel für Pixel am Computer zu rekonstruieren. Mit diesen habe seine Frau dann die Böden und Wände des Ladengehäuses tapeziert. Verzierungen aus Gold schliesslich habe sie ebenso gemeistert wie das Giessen in Gips und Zinn. Eine veritable Knacknuss waren auch die bedruckten Furniere für zwei Jugendstil-Läden aus dem Hause Christian Hacker. Niklaus Wick erinnert sich: «Die Flächen waren ursprünglich im Siebdruckverfahren auf Furniere gedruckt worden. In Art und Gestaltung einmalig und wunderschön. Nur: Wie sollten wir das reproduzieren? Durch Zufall fanden wir dann eine Firma in Berlin, die sehr gleichmässige Furniere auf Papier kaschiert liefert. Ich rekonstruierte die Motive am PC und druckte sie mit dem Laserprinter auf das Holz.» Zahllose Stunden waren schliesslich für die Einrichtung der Läden aufzubringen: «Oft hat meine Frau mit Glück einen einzigen Einrichtungsgegenstand erwerben können, zum Beispiel einen kleinen Zwerg aus Siebenbürgen. In einem Verkaufsladen kann man aber nicht nur einen Artikel eines Produktes haben. Also entwickelte Frieda eine Technik, hinterschnittene Formen abzunehmen und mit vergütetem Gips nachzugiessen. Die Kopien hat sie dann stundenlang nachbearbeitet und bemalt.» Das Sticken der ganzen Einrichtung für einen Mercerieladen (S. 89) macht vielleicht ­deutlicher als alles andere, wie viel Geduld und Leidenschaft Frieda Wick in ihre Läden investiert hat. Jahrelang führte sie die klitzekleinen Straminstückchen und Garne, aus ­denen sie die Artikel für den Laden fertigte, in der Handtasche mit, um während Flug­ reisen oder in den Ferien am Strand daran zu arbeiten. Die Rekonstruktion der Läden, die das Ehepaar oft gemeinsam in Angriff genommen hat, liefert dem Betrachter ein beredtes Zeugnis einer Partnerschaft, die sich auch an einer

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Einer der Arbeitsplätze Frieda Wicks sowie Waren und Figuren zur Ausstattung der Verkaufsläden.

­ emeinsamen Passion entwickelte: «Von meiner Frau habe ich sicher eine hohe Konzentrag tion und die unbedingt notwendige Ausdauer gelernt. Geht nicht, gibt’s nicht – das war ihr Credo. Ich selber habe Freude daran gehabt, wenn ich dazu beitragen konnte, dass ein ­Laden so fertig wird, wie sie ihn wollte. Zum Beispiel habe ich drechseln gelernt, als ihr bäuerliche Geräte fehlten, Rahmtrommeln im Besonderen. Wir bestellten also im Haushaltgeschäft Walser in Teufen eine Drechselmaschine, und ich lernte mithilfe von Fach­ büchern drechseln. Sie hat gewusst, sie kann solche Sachen wie Holzdosen und Fässer, aber auch Säulen oder Fadenspulenständer von mir bekommen. Sie hat mich auch oft gerufen, wenn sie einen Laden fast fertig eingerichtet hatte, um meine Meinung dazu zu hören. Dann habe ich als ‹Aussenstehender› Rückmeldung gegeben, zum Beispiel wenn mir ein Detail als nicht stimmig erschien. Wenn sie dann sagte, weshalb sie besagtes Details nicht ändern wolle, dann war das für mich auch in Ordnung.» In den Äusserungen Niklaus Wicks spiegelt sich immer wieder der unbedingte Respekt vor den Fähigkeiten seiner Frau wider. Sie sei die Architektin der Läden gewesen, er nur der Mitarbeiter, der Tüftler bestenfalls. Sein Beitrag an die Läden liege im einstelligen Prozentbereich. Er stellt klar: «Ich hatte immer Freude, wenn im Laden auch etwas von mir drin war, aber man darf das nicht überbewerten.» Ob er die gegen fünfzig noch unbearbeiteten Läden restaurieren werde? Diese Frage stelle er sich auch. Aber: «Das, was Frieda konnte, kann ich nicht. Von da her müsste ich ehrlicherweise sagen: Nein. Gewisse Techniken könnte ich zwar lernen, zum Beispiel das Tapetenkleben. Farben mischen könnte ich auch. Aber dann einen ganzen Laden gestalten, einrichten … da muss ich zugeben, das kann ich nicht.» Seine Zurückhaltung schlägt sich im Schlussappell nieder, den er sichtlich bewegt vorträgt: «Diese Sammlung ist das Lebenswerk meiner Frau. Darin steckt all ihr Wissen, Können und ihre Kreativität. Sie hat in jedem Laden gelebt, so, wie wenn sie der Verkäufer wäre, der darin hantiert. Ihre Liebe zum Detail und ihre Perfektion waren bewundernswert und faszinieren den Betrachter. Und trotz der Ausarbeitung bis in die letzte Feinheit, trotz dieses kompromisslosen Perfektionismus wirkt kein Laden kleinlich, pedantisch oder streng. Frieda hatte eine ungeheure Liebe für die Läden, und das berührt die Leute. Wenn ich die Läden betrachte, dann sehe ich überall meine Frau Frieda.» Helena Mettler Wissenschaftliche Mitarbeiterin Ernst-Hohl Kulturstiftung Zürich

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Detailaufnahmen Schaukasten Antiquitätengeschäft (vgl. S. 25).

So restaurieren Sie einen Kaufladen*

1. Demontieren Sie den Laden vollständig, entfernen Sie alle Säulen und Aufsätze, die Möbel und die Dekorationen. 2. Laugen Sie alle Holzteile ab. Dann schleifen Sie alle Teile sorgfältig ab und spachteln Un­ ebenheiten aus. 3. Falls nötig: Reparieren Sie die Bodenplatten und verstärken Sie sie. 4. Stellen Sie dann die zur Ausmalung benötigten Farben bereit, das heisst: Mischen Sie sie nach und tönen Sie sie gegebenenfalls ab. Überprüfen sie die Tönung an einem Probestück. 5. Bemalen Sie nun den Laden. Drucken Sie dann die gegebenenfalls vorgängig am PC rekonstruierten Tapeten aus, schneiden Sie sie zu und kleben sie in das Gehäuse. 6. Schablonieren Sie die Verzierungen und bringen Sie gegebenenfalls Vergoldungen an. 7. Schneiden Sie Scheiben oder Spiegel zu und bauen Sie sie ein. 8. Formen Sie Gipsverzierungen ab und giessen Sie sie nach. Dann grundieren und bemalen Sie sie, zuletzt montieren Sie sie. 9. Stellen Sie die Ausstattung bereit, das heisst: Wählen Sie Objekte aus vorhandenem Konvolut aus, oder arbeiten Sie sie selbst nach historischen Modellen oder Zeichnungen nach. 10. Reparieren und kopieren Sie die Holzaufsätze, indem Sie sie auf ein passendes Brettchen zeichnen, dann ausschneiden, schleifen, grundieren, bemalen und befestigen. Zierleisten fräsen und schneiden Sie zu, um sie dann mit passenden Holzteilen zu kombinieren. 11. Drechseln Sie verlorene Teile wie z.B. Fässchen, runde Ständer, Milcheimer etc. neu. Lackieren oder bemalen Sie diese mittels einer Drehvorrichtung. 12. Fügen Sie schliesslich das Gehäuse und die Möbel wieder zusammen. Montieren Sie allfällige Scharniere. 13. Stellen Sie der Epoche entsprechende Schachteln, Dosen, Fässer, Tongefässe etc. zusammen und richten Sie den Laden damit provisorisch ein.

* Anleitung für eine umfas­sende Restaurierung wie sie in den USA üblich ist.

14. Begutachten Sie die Bestückung, ändern und ergänzen Sie sie gegebenenfalls. Wenn Sie schiesslich damit zufrieden sind, befestigen Sie alle beweglichen Teile des Ladens mit wieder ablösbarem Klebstoff (BlueTak).

Arbeitsaufwand pro Laden: 100 bis 200 Stunden.

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«MAOHOU» AUS CHINA


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Chinesisches Frühlingsfest 《过大年》 Ren Jinsheng 任金生 77 x 27 x 19 cm


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Frühlingsfest-Zweizeiler schreiben (Chunlian) 《写春联》 Ren Jinsheng 任金生 10 (Ø) x 15 cm

Harmonisches Leben bringt Glück und Erfolg 《家和万事兴》 Ren Jinsheng 任金生 10 (Ø) x 15 cm

Rikscha 《人力车》 Ren Jinsheng 任金生 10 (Ø) x 15 cm

Rikscha 《人力车》 Zhao Zhi 兆志 8 (Ø) x 13 cm

Sänftenträger 《抬花轿》 Ren Jinsheng 任金生 10 (Ø) x 15 cm

«Bai Nian Hao He» 《百年好合》 Zhao Zhi 兆志 8 (Ø) x 13 cm


Harmonisches Familienleben 《和家欢》 Ren Jinsheng 任金生 20 x 4 x 16 cm

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VERKAUFSLÄDELI

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Gemischtwarenladen Christian Hacker, wahrsch. um 1840 59 x 22 x 25 cm


Gemischtwarenladen Christian Hacker, ab 1850 78 x 37 x 38 cm

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Gemischtwarenladen unbekannter Hersteller, ab 1900 52 x 35 x 34 cm


Gemischtwarenladen vielleicht Clemens Theodor Heymann, ab 1880 45 x 17 x 23 cm

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