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Appenzeller Verlag Leseprobe

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Bettina Schawalder Frei

Vadian Wie Joachim von Watt als Vadian die Reformation in St. Gallen prägte

Appenzeller Verlag


Herausgegeben von der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen. © 2017 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.

Illustrationen: Bettina Schawalder Frei Satz: Appenzeller Verlag, Schwellbrunn ISBN: 978-3-85882-774-6 www.appenzellerverlag.ch


FĂźr meinen Sohn Andrin und alle, die von einem ebenso grossen Wissensdurst beseelt sind wie er.



Ein Wort zum Buch

Wer durch St. Gallens Innenstadt bummelt, begegnet dem Mann auf dem Sockel. Sein Denkmal ist markant. «Wo wollen wir uns treffen?» «Beim Vadian-Denkmal!» Doch wer war dieser Mann, der da auf dem Sockel steht? Und was ist eigentlich ein Reformator und eine Reformation?

Dieses Buch erzählt die Geschichte von Vadian und der St. Galler Reformation. Die Bilder stellen mögliche Situationen dar. Sie versuchen, die Lebenswelt jener Zeit einzufangen. Obwohl die Autorin dabei mit Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen ist, ist für ein solches Werk eine gewisse Freiheit in Bezug auf historische Gegebenheiten nötig.

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Vadians Kindheit

Die Frauen und Männer, die in den Gassen von St. Gallen unterwegs waren, trugen bereits ihre warmen Winterkleider. Es war der 29. November 1484.

Joachim wuchs zu einem kräftigen Jungen heran. Er hatte stets viele Spielgefährten, da Tante und Onkel mit ihren Kindern im selben Haus wohnten.

«Wisst ihr es schon? Magdalena und Lienhard von Watt haben Nachwuchs bekommen: einen Sohn!», erzählte der Schuhmacher seinem Kunden, während er feines Leder an einen Absatz heftete.

Mutter und Vater bemühten sich, den Sprössling und seine Geschwister zu anständigen Menschen und guten Christen zu erziehen: Gemeinsam betete die Familie in ihrem Haus. Und in der Kirche besuchten sie jede Messe.

Im Haus zum Goldapfel in der Hinteren Laube war fröhliches Lachen zu hören. Familie von Watt wohnte dort seit einigen Jahren. Stolz hob Vater Lienhard seinen ersten Sohn Joachim in die Höhe. Die Augen der Mama strahlten, als sie ihren gesunden Jungen in den Armen hielt.

Als Joachim fünf Jahre alt war, wurde es der kinderreichen Familie im Haus zum Goldapfel allmählich zu eng. Daher zogen sie in die Schmiedgasse. Vater Lienhard war Ratsherr der Stadt. Seine neuen Nachbarn waren einfache Leute, die wenig Geld besassen.

Damals gab es noch keinen elektrischen Strom. Auf dem Feuerherd wärmte die Mutter das Wasser, um ihre Kinder zu waschen oder zu baden. Für das Feuer hatte die Familie trockenes Holz ins Haus getragen. Die meisten Strecken ging man zu Fuss. Pferd und Kutsche waren Verkehrsmittel für grössere Reisen.

Joachim genoss es, mit den anderen Kindern in der Schmiedgasse zu spielen. Von dort sah er direkt zum Kirchturm der Stadtkirche St. Laurenzen.

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Schulzeit

Hinter Joachims Wohnhaus lag das Kloster, in dem der Abt und die Mönche lebten. Die einfachen Leute wussten wenig über das, was die Bibel von Jesus Christus erzählt. Sie waren aber fromm und spendeten dem Kloster immer wieder Geld, weil sie glaubten, dass man so in den Himmel kommen würde. Der Abt regierte die Landschaft rund um die Stadt. Früher mussten alle Bewohner von St. Gallen dem Abt gehorchen. Das hatte sich in den letzten Jahrzehnten geändert, da die Städter immer selbstständiger geworden waren. Dennoch mussten sie dem Abt noch immer viel Geld bezahlen. Das führte oft zu Streit zwischen Stadt und Kloster. Bei solchen Streitigkeiten rief das Kloster Untertanen aus Gebieten, die ihm treu verbunden waren, zu Hilfe. Diese drohten der Stadt mit Krieg. Ich habe grosse Angst, dass sie unsere Stadt angreifen, dachte Joachim. Zum eigentlichen Krieg kam es zum Glück in St. Gallen nicht, da die Städter letztendlich taten, was das Kloster verlangte.

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Da Joachim ein kluger Kopf war, schickten ihn seine Eltern auf die städtische Lateinschule. Dort lernte er rechnen, lesen und schreiben in lateinischer und in deutscher Sprache. Hauptfach war die lateinische Sprachlehre. Jeder Schüler sollte die lateinische Sprache vollkommen beherrschen, damit er für ein Studium an einer Universität gut vorbereitet war. Die Lehrer waren streng mit ihren Schülern. Wer nicht parierte, erhielt schmerzhafte Schläge. Joachim berichtete seinen Geschwistern: «Ich lerne an der Schule in fremder und heimischer Sprache. Oft erhalten wir Prügel, wenn wir etwas falsch machen. Davor habe ich Angst. Ich strenge mich an, um den harten Strafen zu entgehen.» Die Schule befand sich mitten im Kloster. Abt Ulrich hatte die ehemalige Sankt-Michaelskapelle als Schulraum eingerichtet. Der Schulmeister kam aus der Stadt, er wurde vom Stadtrat gewählt. Für Lehrer und Schüler war es Pflicht, im Gottesdienst des Münsters zu singen. Deshalb lernten sie im Musikunterricht den Chorgesang.



Wien

Als Joachim 17 Jahre alt war, zog er von St. Gallen nach Wien. Er wollte dort an der berühmten Universität studieren. Wien liegt rund 650 Kilometer von St. Gallen entfernt, was damals eine Reise von vielen Tagen bedeutete. Auch andere junge Männer aus der Schweiz zog es zum Studium nach Wien. So studierte Joachim anfangs in Wien zusammen mit seinem späteren Freund Huldrych Zwingli aus dem Toggenburg, der in dieser Zeit seine letzten Monate in Wien verbrachte. Zwingli kehrte danach zurück in die Schweiz und wurde Pfarrer.

Sein Talent fiel auf. Kaiser Maximillian verlieh Vadian 1514 die höchste Auszeichnung, die man erlangen konnte: den Dichterkranz. Der Kaiser persönlich krönte Vadian mit diesem Kranz. Welche Ehre für den klugen, fleissigen Sankt-Galler!

Joachim studierte zuerst lateinische Grammatik, Redekunst und lernte, gut zu argumentieren. Er schloss sein Studium als Magister ab, was so viel bedeutete wie Meister und Lehrer der lateinischen Sprache. Nun begann er, sich für den Humanismus zu interessieren. Es gab nämlich seit Kurzem die Vorstellung, dass die Menschen sich zum Guten entwickeln konnten. Von dieser Idee war Joachim fasziniert. Er schrieb wissenschaftliche Texte und Gedichte. Wie es damals unter Gelehrten üblich war, übersetzte er seinen eigenen Namen. «Ich heisse Joachimus Vadianus», stellte er sich nun den Leuten vor. Die Abkürzung seines lateinischen Namens ist Vadian. Unter diesem Namen ist er bis heute bekannt.

Doch Vadian ruhte nicht aus. Er begann zusätzlich Geographie zu studieren. Er interessierte sich auch für Mathematik und Astronomie. Weil er zugleich musikalisch begabt und ausgebildet war, wirkte er nebenbei als Lehrer der Wiener Sängerknaben.

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Als der König von Polen 1515 für die Fürstenkonferenz nach Wien kam, durfte Vadian die Begrüssungsrede halten. Und ein Jahr später wurde er gar zum Rektor der Universität gewählt.

Neben allen Verpflichtungen begann Vadian Medizin zu studieren. 1517 schloss er dieses Studium als Doktor ab. Vadian nutzte sein überragendes Talent. Er war ein Gelehrter in nahezu allen Bereichen.



Vadian reist weg

«Ich mag nicht nur aus Lehrbüchern, Schriften und Studium am Schreibtisch lernen. Ich will die Menschen und Dinge auch mit eigenen Augen sehen und erleben!», beschloss Vadian. Er brach von Wien auf, um andere Länder zu erkunden. Weite, unwegsame Strecken marschierte er zu Fuss. Manchmal konnte er ein Stück auf einem Pferdewagen mitfahren. Vadian nahm die Mühen des Reisens auf sich, um zu lernen. Er besuchte Italien, Ungarn, Deutschland und Gebiete von Schlesien und Krakau, die heute zu Polen gehören. So viel gab es da zu entdecken! Die Freunde in Wien staunten nicht wenig, als er nach seiner Rückkehr von diesen Ländern erzählte.

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Noch immer wohnte Vadian in Wien, aber er wollte in seine alte Heimatstadt St. Gallen zurückkehren. Dort gab es keine Universität. Da werden mein Dichterkranz und mein Magistertitel wenig nützen, dachte er. Was St. Gallen brauchen würde, wäre ein Arzt. Ausserdem könnte ich meine Landsleute mit allem, was ich gelernt habe, beraten und vielleicht ein guter Helfer sein. Nachdem er mehr als 16 Jahre in Wien gelebt hatte, kehrte er 1518 nach St. Gallen zurück.



Erste Jahre in St. Gallen

Die Sankt-Gallerinnen und Sankt-Galler freuten sich, dass der gelehrte Vadian nun wieder unter ihnen lebte. Nun hatten sie einen guten Arzt. «Schnell, Vadian, komm zu uns! Beeile dich! Unser Kind ist schwer krank.» In vielen Häusern besuchte Vadian Kranke oder Verletzte und leistete Hilfe. Auch Huldrych Zwingli, der Vadian von seiner Studienzeit in Wien kannte, liess sich, wenn er krank war vom St. Galler Arzt untersuchen und beraten. Zwingli lebte nun in Zürich. Er und Vadian waren gute Freunde. Bald lernte Vadian Martha Grebel kennen. Die beiden heirateten. Sie lebten im Haus zum tiefen Keller. Es lag direkt neben dem Haus zum Goldapfel in der Hinteren Laube, wo Vadian geboren worden war.

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1523 verbreitete sich in der Gasse erneut eine freudige Nachricht. «Hast du schon gehört: Vadian ist Vater geworden. Martha hat ein Kindlein geboren», rief die Frau des Webers, die gerade einer Freundin begegnete. «Na, das sind ja schöne Neuigkeiten! Mädchen oder Junge?», wollte diese sofort neugierig wissen. «Ein Mädchen, Dorothea heisst das Kindlein.» Die Sankt-Galler merkten bald, dass dieser Arzt auch in anderen Dingen gelehrt war. «Mit all seinem Wissen könnte uns Vadian bei vielen Fragen weiterhelfen. Wir wählen ihn am besten in den Kleinen Rat!» Gesagt, getan. Vadian wurde ein Ratsmitglied der Stadt St. Gallen.


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