Leseprobe «Iftach ben Aharon – Dialog durch das Nichts»

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5 Inhalt Einleitung ........................................................................ 7 Erster Teil – Dialogische Poetik 1 Das Gedicht als Flaschenpost ..................................... 15 2 Das Sprechen zum Anderen innerhalb des Gedichts ... 25 3 Das Gedicht als Begegnung – Eine Poetik der Vergegenwärtigung .................................................... 39 4 Negation als Vorbedingung für die Begegnung ........... 58 Zweiter Teil – Das Nichts und das Ich 1 Negative Sprache ....................................................... 65 2 Die Sprache des Nichts ............................................... 82 3 Transformation zwischen Nichts und Nichts ............. 105 4 Hölderlin, Rilke, Celan .............................................. 132 Dritter Teil – Das Nichts als Öffnung zum Anderen 1 Umwandlung auf dem Weg zum Anderen .................. 165 2 Das Hinwenden zum absoluten Du ............................ 194 3 Augen ........................................................................ 211 4 Das Weibliche und das Nichts ................................... 229 Vierter Teil – Poetik in Anbetracht der U-topie 1 Die Befreiung des Anderen im Gedicht ....................... 247 2 Die bildliche Ebene .................................................... 253 3 Die rhythmische Ebene .............................................. 276 4 Strukturen poetischer Fortbewegung .......................... 314 5 Die Klangebene .......................................................... 341 6 Die Pole ..................................................................... 362 Bibliografie ..................................................................... 369
6 Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Dichtung Paul Celans (1920–1970) ist ein Zeugnis der Schwellenwirklichkeit eines Menschen, der die Grausamkeiten des Holocaust durchschritten und überlebt hat, um zu sprechen. Zwei grundlegende Erfahrungen stehen im Mittelpunkt seiner Dichtung: einerseits das Verschwinden oder die Verfinsterung des Menschlichen durch das Erscheinen eines Bösen, das der Menschheit zuvor mit einer solchen Macht und in einem solchen Umfang noch nicht widerfahren war, andererseits jedoch auch die Geburt und das Entstehen einer neuen Menschlichkeit nach und in Auschwitz. Diese beiden grundlegenden Erfahrungen bringen das menschliche Bewusstsein an den Rand dessen, was zu erfassen und zu beschreiben ist. Zeugnis ablegen, bedeutet für Celan in erster Linie den Versuch zu vergegenwärtigen, in Worte zu fassen, was unsagbar ist.

Celan, dessen ursprünglicher Name Paul Ancel lautete, wurde in eine jüdische Familie in Czernowitz, Rumänien, hineingeboren und wuchs in einer mehrsprachigen Kultur auf, in der das Deutsche für ihn eine Art Muttersprache war und so später auch zur Sprache seines Schreibens wurde. Schon in jungen Jahren verfasste er erste Gedichte, insbesondere unter dem Einfluss von Rainer Maria Rilke. Im Jahr 1941, als Celan 21 Jahre alt war, fiel die deutsche Wehrmacht in Rumänien ein. Die Czernowitzer Juden wurden in die Konzentrationslager der Nationalsozialisten deportiert oder durch die rumänische Armee im Auftrag der Nationalsozialisten zur Zwangsarbeit verpflichtet. So wurde Celans Familie auseinandergerissen: Vater und Mutter wurden in ein Konzentrationslager deportiert, Celan selbst zur Zwangsarbeit unter der rumänischen Armee verpflichtet; Straßenbau, Tunnelbau, unter Hunger und Kälte, Demütigung und Erschöpfung. Im Laufe der gesamten Zeit schrieb er weiter. Seine Gedichte

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schickte er an seine Freundin Ruth Lackner, die der Deportation entkommen war, und sie sammelte. In dieser Zeit wurde Celan über den Tod seiner Eltern informiert. Sein Vater, der vor der Besetzung unter gesundheitlichen Problemen gelitten hatte, starb 1942, und seine Mutter wurde ein Jahr darauf durch einen Genickschuss ermordet. Vom Tod seines Vaters erfuhr er in einem Brief seiner Mutter, den diese herausgeschmuggelt hatte. Vom Tod seiner Mutter las er im Brief eines Verwandten, der zu ihm durchgedrungen war. In einem nicht in seinen Gedichtbänden verö entlichten Gedicht aus dieser Zeit schreibt er:

O steinerne Masten der Schwermut! O ich unter euch und lebendig!

O ich unter euch und lebendig und schön, und sie darf mir nicht lächeln! (Chalfen, 1983: 129)

Es wurde finster um ihn und das Schuldgefühl des Überlebens wog schwer. In einem Brief an Ruth Lackner schreibt er: «Es soll nun Frühling werden. […] Seit ungefähr zwei Jahren fühle ich nicht mehr Jahreszeiten und Blumen, und Nächte und Verwandlungen überhaupt» (ebd., 130). Die Zeit hielt für ihn an und mit ihr auch die Empfindung der eigenen Identität. Es entstehen Gedichte und sie sind vielleicht das Einzige, das bleibt, aber ihre Bindung an ihn als Persönlichkeit verliert jede Wichtigkeit. In einem Brief an Ruth Lackner bezieht Celan sich auf die mögliche Verö entlichung seiner Gedichte in der Zukunft und schreibt: «Eine Bitte, die meine Gedichte betri t: […] keine Namen auf das Titelblatt zu schreiben und keinen Titel, höchstens: ‹Gedichte›» (ebd., 130). Die Gedichte schickt er ihr als eine Art Vermächtnis. In der auf den Tod seiner Eltern folgenden Zeit erscheint es ihm, als seien sein Leben und sein Schreiben an ihrem Ende angelangt. «Was er für sich selbst nicht mehr erwartet, soll seiner Dichtung zuteilwerden: Weiterleben in der Zukunft, und ohne seinen Namen, der

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ihm bedeutungslos geworden ist, soll sein Werk Kunde davon geben, was unsäglich Großes ihn bewegt hat» (ebd., 131).

Anfang 1944 wird Celan mit der Eroberung Rumäniens durch die Rote Armee aus der Zwangsarbeit befreit. Noch im selben Jahr setzt er das um, was er Ruth Lackner im obigen Brief aufgetragen hatte. Er verö entlicht eine Ausgabe seiner Gedichte in einem schreibmaschinegetippten Heft, ohne seinen Namen und mit dem schlichten Titel: «Gedichte».

Celans Biografie und sein Weg als Schriftsteller führen ihn von Czernowitz nach Bukarest. Dort überquert er illegal die Grenze nach Wien und reist später weiter nach Paris. Dort würde er schreiben, bis er seinem Leben im Jahr 1970 mit einem Sprung in die Seine ein Ende setzt. In Bukarest verö entlichte er einzelne Gedichte in einer Anthologie moderner Dichtung, zum ersten Mal unter dem Namen Celan. Celan ist ein Anagramm seines ursprünglichen Namens (Ancel). Beim Namenswechsel wurde der alte Name ausgelöscht und erschien als neuer, der vorher nicht bekannt gewesen war. Zu dieser prägenden Nachkriegsphase gehört auch der Kontakt mit den Mitgliedern der «Gruppe 47», einer Gruppe deutscher Dichter und Schriftsteller, die sich vorgenommen hatte, nach und aus der Katastrophe heraus die Literatur und Dichtung zu erneuern. Die erste Fahrt zu einem Tre en der Gruppe, welche gleichzeitig die erste Reise Celans in das Deutschland der Nachkriegszeit war, unternahm er im Jahr 1952. Die Vorlesung seiner Dichtung im Rahmen einer Veranstaltung der Gruppe wurde von den Mitgliedern ambivalent aufgenommen, aber sie ö nete ihm die Tür zur Welt der deutschen Literatur (Felstiner, 1995: 64).1

Das nach dem Holocaust bestehende Bedürfnis zu sprechen, stand bei Celan in einem Spannungsverhältnis mit dem Drang zu verschwinden. Hier musste Celan mit zwei Vorwürfen

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1 Mitglieder der Gruppe waren unter anderem: Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass und Ingeborg Bachmann.

an ihn umgehen: Der erste bezog sich auf das Schreiben von Gedichten in der deutschen Sprache, der «Sprache der Mörder seiner Eltern». Celan erwidert auf diesen Vorwurf (in einem Gespräch mit Ruth Lackner): «Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit aussagen, in der Fremdsprache lügt der Dichter. Und später wird er präzisieren: «Dichtung –das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache» (Chalfen, 1983: 148). Der zweite Vorwurf ist ein Satz Theodor Adornos aus dem Jahr 1955: «Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch» (Felstiner, 1995: 225). Celan nahm sich diesen Vorwurf sehr zu Herzen, auch da dieser Satz sich der Ansicht vieler nach auf sein Gedicht Todesfuge bezog. In seinem Gedicht Sprich auch du findet sich vielleicht die Antwort auf die Notwendigkeit, welche die Dichtung nach Auschwitz für ihn hatte:

Sprich Auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch.

Sprich –

doch scheide das Nein nicht vom Ja. […]

Blicke umher:

sieh, wie’s lebendig wird rings –Beim Tode! Lebendig! (Celan, 1975: 135)

Das Sprechen, die Dichtung sind nur jenem möglich, der «als letzter» übriggeblieben ist, völlig entblößt, sogar seines Namens. Nur die Dichtung kann die Wirklichkeit in Worte fassen, ohne das Nein vom Ja zu scheiden. Und hier liegt vielleicht die Lösung für das beschriebene Spannungsfeld: einerseits die Pflicht zu reden, in der Muttersprache zu sprechen, Zeugnis abzulegen, eine neue Intimität in der ermordeten Sprache zu gebären. Andererseits ist dieses Sprechen nur über

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eine neue Sprache möglich, welche selbst das Nichts durchschritten hat und Zeugnis der Geburt einer neuen Ichheit aus dem Tod und dem Bösen sein kann.

Die Frage nach der Möglichkeit einer Dichtung nach Auschwitz ist Celans Ansicht nach gleichzeitig auch die Frage nach einer Möglichkeit des Gesprächs, die Frage des Anderen als wahres Du.

In seiner Meridian-Rede aus dem Jahr 1960 stellt Celan zwei poetische Grundsätze vor. Der erste: «Das Gedicht zeigt […] eine starke Neigung zum Verstummen» (Celan, 1986: 197). Hier geht es also um die Bewegung des Gedichts in Richtung des Nichts. Und der zweite: «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht diesen Andern, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu» (ebd., 198).

Celan zielt hier auf die dialogische Grundlage der Dichtung ab. Nach der Überprüfung des ersten poetischen Grundsatzes, den Celan aufstellt, tritt in seiner Dichtung die Frage des Verschwindens oder des Nichts in zweierlei Aspekten ein: Das Nichts taucht als Erfahrung der Negation des Seins auf, als Erfahrung eines Bruchs und eines Abgrunds in deren Zusammenhang mit dem Holocaust sowie mit dem Bruch des modernen Menschen im Allgemeinen. Und andererseits das Nichts im kabbalistischen Zusammenhang als das wahre Sein, als das Unendliche.

Um den zweiten Grundsatz aufzugreifen: Es scheint, dass die große Frage, mit der sich Celan in seiner Dichtung auseinandersetzt, die Frage des Übergangs aus dem von Martin Buber als «Ich-Es» bezeichneten Zustand – in dem das Andere als Objekt empfunden wird – in den Zustand des «Ich-Du» ist. Diese Frage erscheint sowohl auf der thematischen als auch auf der ethisch-poetischen Ebene. Das Gedicht selbst braucht sein Anderes, so wie jedes Wesen sich selbst nur über sein Anderes, über sein Du finden kann. Um das Andere zu erreichen und es aus einem Objekt in ein wahres Du zu verwandeln, muss das Nichts durchschritten werden:

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und zuweilen, wenn nur das Nichts zwischen uns stand, fanden wir ganz zueinander (Celan, 1975: 217).

Nur über die Durchquerung des Nichts fallen die Barrieren, die Schalen, welche den Menschen von sich selbst und von seinem Nächsten trennen. Die Aufgabe des Nichts besteht darin, die Bewegung auf das Andere hin zu ermöglichen und als solches auch das Gespräch. So kreuzt Celan eigentlich die Begri e Bubers mit der Sprache, die aus Gershom Scholems Erforschung der Kabbala entspringt. Über diese Bewegung auf das Andere zu wird die Dichtung zur ethischen Handlung, ohne ihre poetische Dimension zu verlieren. Die transformativen Prozesse, die den Durchbruch zum Zusammentre en mit dem Anderen ermöglichen, hängen eng mit den Prozessen der Negation und des Verschwindens zusammen.

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Erster Teil Dialogische Poetik

Erster Teil 14 Erster Teil

1 Das Gedicht als Flaschenpost

In seinem Buch Eigennamen beschäftigt sich Emmanuel Lévinas mit Celans Aussage, dass seiner Ansicht nach «kein prinzipieller Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht» bestehe (Lévinas, 1988: 56). Lévinas spricht über die Priorität des Gedichts als Begegnung, über sein beschreibendes Element. Das Gedicht ist seiner Ansicht nach eine Art Zeichen für den Anderen, ein Hinwenden, und als solches ein «Sagen ohne Aussage». Seine Wichtigkeit entsteht über die auf den Anderen gewendete Aufmerksamkeit. «Die Tatsache des Zum-Andern-Sprechen […] geht jeder Thematisierung voraus» (ebd., 60). Der von Celan aufgebrachte Vergleich mit dem Händedruck verbindet sich mit dem Vergleich des Gedichts als Flaschenpost, den Celan in seiner Bremer Rede verwendet. Beide lenken unsere Aufmerksamkeit auf das dichterische Schreiben als Teil einer begegnenden Dimension. Dieser Vergleich ist eigentlich einem Artikel Ossip Mandelstams mit dem Titel Über den Gesprächspartner aus dem Jahr 2013 entlehnt. Celan, der Mandelstams Gedichte in die deutsche Sprache übersetzt hat, sah ihn als eine Art Bruder an, als einen Schicksalsgenossen. Ähnlich wie der Schi brüchige, der eine Flaschenpost abschickt (Mandelstam, 1991: 9), sieht Mandelstam, wie später Celan, die Dichtung als dialogische Handlung.

Im Zentrum von Mandelstams Aufsatz steht die Aussage: «Es gibt keine Lyrik ohne Dialog» (ebd., 14), ein Ansatz, den Celan später in seiner Bremer Rede und in seiner Meridian-Rede aufgreift und welcher tatsächlich die poetische Grundlage für sein dichterisches Scha en bildet. Mandelstam kritisiert in seinem Artikel die symbolistische Dichtung, die in seiner Zeit in der russischen Dichtung vorherrschend war und deren Grundprinzipien etwa drei Jahrzehnte vorher durch die fran-

Das Gedicht als Flaschenpost

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zösischen Symbolisten formuliert worden waren. Das symbolistische Gedicht «strebt danach, durch die Sprache selbst die Heiligkeit der unerreichbaren Höhen zu Wirklichkeit werden zu lassen, in denen sich reine Poesie befindet» (Bar Yosef, 2000: 19). Stéphane Mallarmé legt dar, dass die Bedeutung dieses «reinen Kunstwerks» im Verschwinden des Dichters als Sprechendem besteht. Das Kunstwerk funktioniert als autonomes Sein, welches die Sprache in das Zentrum stellt, die akustische Grundlage, das Erklingen der Laute; sie hat einen polierten Stil zum Ziel, der sich von der natürlichen Sprache und von freien Formen entfernt hat. Die künstlerischen Werkzeuge der Dichtung sollen dazu dienen, über Worte ein «reines Kunstwerk» zu scha en, ein perfektes ästhetisches Objekt. Das Erlebnis der reinen Schönheit – mehr als das Erwachen von Gefühlen, von Ethik, von Ideologie – ist das zentrale Ziel des symbolistischen Dichters (ebd., 25–28). Die Frage nach der Beziehung zwischen der lebendigen Sprache, die sich an jemanden wendet, und der Künstlichkeit der Kunst (und der Welt der Kunst, welche die Kunst aus dem Leben gerissen und sie in die Keller der Museen verbannt hat) zeigt sich auch in Mandelstams Gedicht Noch bin ich kein Papst:

Der Museen-Höhlen werde ich betreten, wo Rembrandtsche Gelehrte blasen sich auf, die einen Cordoba-Glanz erreicht haben. […]

O, wie sehr will ich mich entladen, mich auszudrücken, Wahrhaftiges zu sprechen, […] Jemanden an der Hand zu halten: sei lieb –ihm zu sagen – der Weg ist eins für uns beide (Mandelstam, 2000: 74 f.).

Mandelstam beschreibt hier die Kunst als dem Leben entfremdet, als den Händen der Fachleute ausgeliefert und gefangen im Leuchten des Könnens und des Talents, welche sie vom

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direkten zwischenmenschlichen Dialog entfernt. Das dichterische Scha en wird dagegen als Drang beschrieben, sich einem wirklichen Anderen gegenüber auszudrücken, über den «Händedruck», das heißt als wahre Berührung eines Menschen, der auch Bruder ist, auch Schicksalsgenosse. In seinem Artikel verweist uns Mandelstam bereits zu Beginn auf die grundlegenden Fragen der Dichtung und der Sprache. Die Dichtung ist zunächst ein Sprechen – und ein Sprechen wendet sich immer an jemanden:

Mit wem spricht denn der Dichter? Eine quälende und äußerst aktuelle Frage, da es die Symbolisten bis auf den heutigen Tag versäumt haben, sie in ihrer ganzen Schärfe zu stellen. Der Symbolismus hat die […] Wechselbeziehung, die den Akt des Sprechens begleitet […] völlig außer Acht gelassen und seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Akustik gerichtet (Mandelstam, 1991: 8).

Mandelstam bringt die Frage des Adressaten auf. An wen wendet sich das Gedicht? Das symbolistische Gedicht hat in vielerlei Hinsicht sowohl den Adressaten als auch den Absender aufgegeben. Es strebt danach, sich selbst zu genügen als autonomer Bereich, als Kunst um der Kunst willen. Mandelstams Frage in der Sache des Dialogs der lyrischen Dichtung wird drängender angesichts des monologischen Anscheins dieser Form der Dichtung. Hier kommt der Vergleich der Dichtung als Flaschenpost ins Spiel:

Ein Seefahrer wirft im kritischen Augenblick eine versiegelte Flasche mit seinem Namen und der Aufzeichnung seines Schicksals in die Fluten des Ozeans. Viele Jahre später streife ich durch die Dünen und finde sie im Sand, lese den Brief, erfahre das Datum des Ereignisses und den letzten Willen des Umgekommenen. Ich hatte ein Recht dazu, habe keinen fremden Brief aufgemacht. Der Brief in

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der Flasche ist an denjenigen adressiert, der sie findet. Ich habe sie gefunden. Dies bedeutet, daß ich der heimliche Adressat bin (ebd., 9).

Das Gedicht ist laut Mandelstam wie die Flasche ein an einen Unbekannten gerichtetes Sprechen. Jedoch sind sowohl Gedicht als auch Flasche an einen Adressaten gerichtet und versuchen, diesen zu erreichen: Die Flasche an denjenigen, der sie im Sand findet, und das Gedicht an den Leser. Und genau das verleiht der lyrischen Dichtung ihre Macht, das ihr innewohnende lebende, überraschende Element. Dies ist gemäß Mandelstam die schöpferische Spannung der lyrischen Sprache. Das wahre Sich-Wenden an jemanden, den man nicht kennt. Es ist ein Dialog mit dem Ungewissen, mit einem unbekannten Adressaten:

Jedenfalls führen […] Verse auch nach ihrer Niederschrift ihr Leben weiter: als Ereignis, und nicht bloß Zeichen von Erlebtem. Auch wenn einzelne Gedichte (in Form einer Botschaft oder einer Widmung) an konkrete Personen gerichtet sein können, so wendet sich die Poesie als Ganzes an den mehr oder minder fernen, unbekannten Adressaten, an dessen Existenz der Dichter nicht zweifeln kann (ebd. 15).

Die wahrhaftige Existenz des Adressaten steht außer Frage und für den Dichter existiert er tatsächlich, außerhalb der Einschränkungen von Raum und Zeit. Das Gedicht kann an einem weit entfernten Ort und lange Zeit nach seiner Erschaffung gelesen werden. Die Anwesenheit des unbekannten Adressaten, irgendwo, sorgt für die dialogische Spannung, die gemäß Mandelstam für das Schreiben erforderlich ist. Die Seele des Anderen ist der notwendige Resonanzkörper für das dichterische Geschehen, wenn man den von Mandelstam selbst verwendeten Vergleich nutzen will (ebd., 68). Das

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Gedicht lebt im Zusammentre en mit dem Adressaten als Ereignis weiter, das heißt als werdendes, dialogisches Geschehen und entsteht daraus, dass das Gedicht im Grunde nur in diesem Aufeinandertre en besteht. Das Gedicht selbst ist nur ein Teil, eine Einladung, aktiv zu werden, welche über das lebendige Zusammentre en im Leseprozess erfüllt wird. Der Leser nimmt durch sein Zuhören am Entstehungsprozess, am «Ereignis», teil.

In der Rede, die Celan anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Bremen im Januar 1958 hielt, verwendete er den Vergleich des Gedichtes mit der Flaschenpost, welcher im Artikel Mandelstams erscheint. Das Aufgreifen dieses Vergleichs spiegelt für uns Mandelstam und deutet auf die dialogische Richtung hin, in die sich Celan selbst in seiner Dichtung bewegt. In einer Radiosendung über Mandelstam spricht Celan darüber, dass er sich selbst als den «heimlichen Adressaten» der Dichtung Mandelstams ansieht (Eskin, 2000: 145–151). Zwischen dem Artikel Mandelstams und der Bremer Rede stehen die Vernichtung der russischen intellektuellen Elite durch Stalin sowie die Vernichtung des europäischen Judentums. Man kann hier den Zusammenhang eines umgekehrten Schicksals zwischen Mandelstam und Celan erkennen: Mandelstam, der nach Sibirien deportiert wurde und im Jahr 1938 starb, wurde die Verö entlichung seiner Dichtung bereits im Jahr 1928 untersagt. Und so wurde seine Dichtung im letzten Jahrzehnt seines Lebens, während ihm seine Menschenrechte immer umfassender entzogen wurden, im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Flaschenpost für die kommenden Generationen. Celan, wie bereits oben beschrieben, beginnt sein Scha en im Zwangsarbeitslager und sieht es dort als eine Art Flaschenpost an zukünftige Leser. Die Sprache selbst als allererstes dialogisches Medium musste «hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede» (Celan, 1986: 186), um sich selbst als Raum des Zuhörens

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und des Kontakts zu gebären. Die «todbringende Rede» ist das monologische Sprechen einer Sprache, die ihr Du verloren hat:

Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer ho nungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas O enstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht (ebd. 186).

Die poetischen Bemühungen Celans hängen direkt mit Mandelstam zusammen: die Dichtung als «eine Erscheinungsform der Sprache» auf eine dialogische Ebene zu bringen. Auch hier wird das Gedicht als Flaschenpost beschrieben, welche in andere Zeiten und Orte gesandt wird, an das «Herzland», an ein mögliches Du, welches dort als «O enstehendes, Besetzbares» steht. Im Unterschied zu Mandelstam wird Celans Aussage von einem Unterton des Zweifels begleitet, das Gedicht wird «aufgegeben in dem – gewiß nicht immer ho nungsstarken – Glauben», dass es sein Ziel erreicht. Der unbekannte Adressat Celans ist nicht mit Sicherheit vorhanden. Die Sprache, die «die tausend Finsternisse todbringender Rede» durchquert hat, tastet sich auf ihrem Weg zu ihrem möglichen Anderen in einer Dimension der Ungewissheit voran. Dieses Gefühl des sich Vorantastens wird in Celans Worten noch verstärkt durch die Verwendung von Begri en wie «vielleicht» oder «es kann sein». Die Ungewissheit und die Einschränkung hängen eng mit der dialogischen Qualität der Sprache zusammen. Sie lassen sie o en für ein Weiterführen des Gesprächs, für eine Vervollständigung. Die Gedichte befinden sich, wie

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die Flaschenpost, auf dem Weg, sie bewegen sich auf etwas zu. Auf dieses Motiv, auf das Unterwegs-Sein des Gedichts, bezieht sich Celan ebenfalls etwa zwei Jahre später in seiner Meridian-Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises an ihn:

Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs.

[…] Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu (ebd. 198).

Die «Einsamkeit» des Gedichts verbindet sich mit dem Motiv des Resonanzkörpers Mandelstams. Das Gedicht benötigt den widerhallenden Raum des Anderen, es sehnt sich nach ihm, um seine Einsamkeit zu überwinden, und findet im Anderen seine wesentliche Vervollständigung. Im Gedicht Die Schwermutsschnellen hindurch schreibt Celan:

Die Schwermutsschnellen hindurch, am blanken

Wundenspiegel vorbei: da werden die vierzig entrindeten Lebensbäume geflößt.

Einzige Gegenschwimmerin, du zählst sie, berührst sie alle (Celan, 1986: 16).

Die Gedichte erscheinen hier in der Metapher der Lebensbäume. Sie sind «entrindet», also schutzlos, und vielleicht selbst verletzt, und sie werden auf die «Schwermutsschnellen» geschickt. Was das Gedicht zum Anderen – der im SchreibenLesen seine wesentliche Ergänzung ist – hin vorantreibt, ist der Schmerz. Das ist die eine Bewegung. Dieser schließt sich

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in der zweiten Strophe die vervollständigende Bewegung des «Schwimmens gegen den Strom» an, welche auch die Hilfe seines Gleichen des Gedichts ist. Sie tritt als «Einzige» auf, das dialogische Sprechen richtet sich immer nach dem individuellen Element, welches «sie alle» «berührt» und in dieser Berührung wird die Begegnung als Ereignis erfüllt, und das Gedicht wird aus seiner Einsamkeit befreit.

Das Unterwegs-Sein des Gedichts steht im Zusammenhang mit seinem o enen, entstehenden Charakter, welches es an seinen Rändern immer unberührt lässt. Und genau darauf bezieht sich Celan, wenn er in der Meridian-Rede die Kunst anzweifelt, die Kunst als «reines Kunstwerk», welches in sich selbst ruht, auf die sich auch Mandelstam in seinem Artikel (und in seinem oben genannten Gedicht) mit seinen Aussagen über die symbolistischen Dichter bezieht. Dieser Zweifel ist laut Celan wesentlich, um die Dichtung zu befreien und ihre dialogische Natur zu erreichen:

Gibt es nicht […] Eine In-Frage-Stellung, zu der alle heutige Dichtung zurück muß, wenn sie weiterfragen will?

Mit anderen, einiges überspringenden Worten: Dürfen wir, wie es jetzt vielerorts geschieht, von der Kunst als von einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden ausgehen, sollen wir, um es ganz konkret auszudrücken, vor allem sagen wir – Mallarmé konsequent zu Ende denken? (Celan, 1986: 192–193)

Was bedeutet es, wenn man Mallarmé bis zum Ende durchdenkt? Es bedeutet eine Umkehr der Kunst, der Dichtung, in ein ästhetisch-musikalisches Objekt. Es ist die Kunst, von der Celan spricht, die auch künstlich ist. Die Dichtung als dichterische, reine Sprache wird ihres trivialen Nutzens und ihrer kommunikativen Grundlagen entledigt (Mallarmé, 2011: 8).

Sie wird ihrer sprechenden Grundlage entrissen und verneint so sowohl das sprechende Ich als auch das empfangende Du.

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Die Bedeutung von «das Gedicht will zu einem Andern» in diesem Sinne ist, dass die ästhetische Dimension für ihre Existenz der ethischen Dimension bedarf. Die Dichtung mit der Abkapselung von der ethischen Dimension wird ine ektiv, unfruchtbar für das wirkliche menschliche Leben und isoliert sich selbst von der lebendigen Ganzheit, aus der sie selbst gewachsen ist. Sprache ist ihrer Natur nach dialogisch und die Dichtung als eine ihrer reinsten Erscheinungsformen muss daher die Essenz dieser Dialogität sein. In einer der Listen, die Celan anlässlich seiner Meridian-Rede geführt hat, schreibt er: «Das heutige Gedicht ist nicht ‹reine Poesie›; Er weiß, dass es keine ‹reine Poesie› gibt» (Vorbereitungslisten, Eshel, 2012: 62). Der Bezug Celans auf die «reine Poesie» richtet sich auch an den deutschen Dichter Gottfried Benn, der in den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekam. In den Listen zur Vorbereitung seiner Meridian-Rede schreibt Celan: «Heutzutage: Was für eine Unkunstfertigkeit im Gegensatz zu Benns Kunstfertigkeit» (ebd., 63). Diese reine Kunst erscheint bei Gottfried Benn, indem er die Form dem Inhalt vorzieht: «Aber die Form ist ja das Gedicht» (Benn, 1960–1968: 1071). Bei Benn tritt jedoch ein weiteres zentrales Motiv auf, in dem er das Ich in das Zentrum der Dichtung stellt. In seinem zentralen Artikel Probleme der Lyrik (1951) äußert sich Benn wie folgt: «Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich» (ebd., 1065). In Benns Gedicht Reisen kann man die dichterische Formulierung dieser Au assung erkennen:

ach, vergeblich das Fahren!

Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich (Benn, 1986: 307).

Das Ich genügt sich selbst und daher ist das «Fahren» sinnlos. Denn an jedem Ort, den man erreicht, ist schlussendlich das

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eigene Ich isoliert. Hier erkennt man deutlich den Gegensatz zwischen der dialogischen Au assung Celans und der monologischen Au assung Benns. Die monologische Betonung verbindet sich gemäß Michael Eskin mit dem Dritten Reich und mit dem «physischen Stummschalten des Andern» (Eskin, 2000: 150–151). Celan bezieht sich in seiner Meridian-Rede auf diese monologische Poetik, wenn er darüber spricht, dass sich das Gedicht immer auf irgendeinen Anderen hinbewegt. Benn bis zum Ende zu durchdenken, bedeutet gemäß Celan eine Verneinung des Anderen und führt an den extremen Enden dieser Tendenz zum Nationalsozialismus.2 Daraus wird ersichtlich, dass der Kampf Celans um eine dialogische Poetik mit dieser neuen dichterischen Sprache zusammenhängt, die aus den «tausend Finsternisse[n] todbringender Rede» hervorgehen soll.

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2 Zwischen 1933 und 1935 war Benn Anhänger der Ideen des Nationalsozialismus (Benn, 2012: 15).

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