Vieles ist in Bewegung geraten in den vergangenen Monaten und lange wird uns noch beschäftigen, was sich durch das, was wir schnell Krise zu nennen gelernt haben, verändert. Ein gutes Werkzeug dabei ist die Befragung dessen, was Kultur für uns ist. Kultur stellt ein Repertoire an Möglichkeiten zur Verfügung, miteinander umzugehen. Das gibt uns Handlungssicherheit und befreit im Alltag davon, allzu viele Entscheidungen treffen zu müssen. Wir hinterfragen nicht jeden Schritt, jede Geste. Und so manches von dem, das wir für „selbstverständlich“ halten, ist es aber gar nicht. Viel mehr, als uns bewusst ist, ist kulturell geprägt und nicht „natürlich“. Denn Kultur ist nicht nur Kunst, Literatur oder Musik, sondern auch die Art, wie wir einander begegnen, was uns als angemessene Rivalität oder übertriebener Ehrgeiz erscheint, wie wir Freundschaft und Liebe definieren, was höflich oder unhöflich ist. Krisenzeiten bieten Gelegenheiten, Selbstverständliches zu befragen. Wir haben kürzlich etwa schnell gelernt, bisher unverrückbar Scheinendes aufzugeben, einander nicht mehr die Hand zu reichen und Abstände vorsichtiger zu setzen. Auch das kann Kultur: Sie bietet uns Geschichten darüber, wie Menschen im Laufe der Zeit mit 12
Veränderung umgingen. Geschichte zeigt, dass die Welt veränderbar ist. Sonst müssten wir sie nicht schreiben. Lernen gelingt vor allem in Beziehung, und deswegen treten wir gerne mit Besucherinnen und Besuchern, vor allem mit jungen Leuten, über Geschichten in Verbindung. Sei es, dass wir uns in der Ausstellung Dein Graz! in der eigenen Stadt verorten können und alte Plätze, Häuser und Gassen suchen, die wir nicht mehr kennen oder uns angesichts der Bilder gegenseitig Erinnerungen erzählen können – auch den jungen Leuten, die diese Geschichten vielleicht noch gar nicht kennen. Sei es, dass wir nicht nur zu den Programmen rund um den Weltfriedenstag Geschichten vom Krieg erzählen, um zu überprüfen, was es braucht, um täglich dem heurigen Aufruf der UNO „shaping peace together“ zu folgen. Oder sei es auch, indem wir Sie einladen, uns Ihre Corona-Geschichten zu erzählen. All das tun wir, um uns alle in Geschichten zu verstricken, denn so knüpfen wir uns auch selber ein in das dichte Gewebe an Geschichte und Kultur, dessen Teil wir sind. Denn je verstrickter wir darin sind, umso leichter fällt es uns, einmal Maschen fallen zu lassen und andere aufzunehmen.
Am liebsten tun wir das gemeinsam mit Ihnen und den Ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen, weil sie uns dabei helfen, die Richtigkeit unserer Strickmuster ständig zu befragen. Nur so gelingt Kultur.
Anita Niegelhell Leitung Kulturvermittlung (Landeszeughaus, Museum für Geschichte, Volkskundemuseum)