UNIQUE #05/12

Page 23

im zeichen der krise

Keine Pflichten ohne Rechte! Warum ein freier Markt nicht demokratisch und eine universale Verteilung von gesellschaftlichem Eigentum die klügere Alternative ist. Ein Überblick über die Krise politischer Systeme nach Robert Castel.

D

ie Erhaltung des freien Marktes und einer stabilen Währung gelten als oberste Prämisse politischer Entscheidungen – zumindest gewinnt mensch den Eindruck bei Lektüre morgendlicher Presseartikel zum Umgang der Europäischen Union bzw. ihrer Mitgliedsländer mit der Regierung und Bevölkerung in Griechenland. Es scheint, wenn nur diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, steht einem finanziellen Überleben und einer staatlichen Stabilität nichts mehr im Weg. Und überhaupt: Finanzpolitik ist doch wohl wichtiger als Demokratie- und Sozialpolitik, denn was gibt es schon Demokratischeres als den freien Markt? Die Fragen, die dabei nicht gestellt werden – vor allem weil sie unbequem sind – lauten: was passiert, wenn Menschen nicht am Markt teilhaben können, weil sie ohne Einkommen oder nur mit prekärem Einkommen ausgestattet sind? Und welche Folgen hat diese Zunahme an sozialer Unsicherheit und Prekarität für die Stabilität eines politischen Systems und seine Institutionen?

Wer nicht entbehrt, hat schon verloren Robert Castel, ein Soziologe aus Frankreich, der sich u. a. mit der Transformation von Lohnarbeitsverhältnissen in Frankreich und Europa beschäftigt, kam in seinen Analysen zur „Krise der Arbeit“ zu der Schlussfolgerung, dass die Teilhabe an der sozialen Umwelt verunmöglicht wird, wenn die Frage nach der Aufrechterhaltung der eigenen Existenz überwiegt. Denn wenn Konsum, Gesundheitsvorsorge, Partizi-

pation an Bildung, Wohnen, aber auch Freizeit nicht möglich sind, kommt es nicht nur zur Isolation betroffener Personen sowie zu breiten Spannungsverhältnissen innerhalb der Gesellschaft, sondern auch zu einem Verlust an Vertrauen in Regierungen oder die Regierungsform generell. Die Antwort auf Protest lautet gegenwärtig vor allem Restriktion und Einsatz von Exekutivgewalt, wie sich beispielsweise an der Tagespolitik in Griechenland ablesen lässt. Häufige Regierungswechsel, Rückgänge in der Partizipation an Wahlen sowie in Interessensorganisationen selbst (seien es Parteien oder Nichtregierungsorganisationen) sind Symptome für eine zunehmende Instabilität eines politischen Systems. Da reicht die bloße Existenz von demokratischen Institutionen nicht aus. Ergebnisse hierzu finden sich in Erhebungen wie dem Pew Global Attitudes Project zur „Demokratiezufriedenheit“ in Staaten Osteuropas. Sie zeigen – mit einem Jahrzehnt Abstand –, dass trotz anfänglicher Euphorie über ein institutionalisiertes Mehrparteiensystem und regelmäßige Wahlen durch die vermehrten Privatisierungen, Arbeitsplatzkürzungen und Eindämmung einer umfassenden Sozialpolitik der allgemeine Zuspruch zu einem demokratischen politischen System abnimmt. Auch in europäischen Ländern des ehemaligen westlichen Blocks hat es eine Umgestaltung der Sozialsysteme gegeben. Es fanden eine Abkehr von einem „universalen Versicherungsmodell“, wie es Castel bezeichnet, und ein Richtungswechsel hin zu einem „minimalistischen Modell“ statt, das nur noch jene auffangen soll, die am Existenzminimum leben müssen. Diese zunehmende Individualisierung, also Selbstverantwortung, geforderte Risikobereitschaft – und häufig Isolierung – im Wettkampf um Existenzsicherung steht quer zu Vertrauen in große Parteien, Regierungen oder auch emanzipative Selbstorganisation mit anderen, sei es in NGOs, Gewerkschaften oder autonomen politischen Räumen. Und tatsächlich ist eine Parallele zu beobachten:­

Kathrin Glösel

mit zunehmender Ausdifferenzierung­von Spaltungen zwischen Menschen (Alter, Geschlecht, Beruf, Sexualität, Wohnort …), mit vermehrten prekären Beschäftigungsverhältnissen, gesteigerten Lebenskosten, Abbau von Transferleistungen und Privatisierung von Versicherungssystemen und mehr haben auch Mitgliedschaften in Vereinen/Parteien und Wahlbeteiligungen abgenommen. Häufige Regierungswechsel, knappe Mehrheiten und noch mehr Restriktionen durch das Mantra des Sparens waren die Folge. Zweifelsohne ist das nicht zusammenhangslos zu betrachten, denn auch politische Organisationen haben sich verändert und sich durch Personalisierung und Professionalisierung am Produkt-Marketing orientiert. Die Motivation, zu partizipieren, schnellt dadurch nicht in die Höhe.

Ohne Leistung keine Belohnung In diesem Wirrwarr an Ereignissen haben, so Castel, Sozialleistungen in ihrer Ausgestaltung nur noch „Anreizcharakter“ (Castel 2008: 202), sie reichen knapp zum Überleben, aber es gilt: es ist ein Tauschgeschäft. Ohne den Willen zu schlecht bezahlter Arbeit, ohne ständigen Verweis auf die eigene finanzielle Lage ist die Minimalteilhabe an der Gesellschaft nicht gewährleistet. Es ist eher ein Fürsorgeprinzip als ein Prinzip des Rechts auf Mündigkeit und aktive Teilhabe. Doch warum ist das überhaupt relevant? Castel: Weil ein „Grundbestand an Mitteln und Rechten“ dem „modernen Individuum die Möglichkeit verschafft, zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu werden“ (Castel 2008: 208). Nur eine universale Verteilung von Sozialeigentum kann die Kluft zwischen Vermögenden und Lohnabhängigen – um in einer im weitesten Sinne traditionellen marxistischen Bezeichnung zu bleiben – schließen. „Sozialeigentum ist die Voraussetzung sozialer Unabhängigkeit“ und „Grundvoraussetzung sozialer Bürgerschaft“ (Castel 2008: 208).

An sich sind wir perfekt individualisiert; umgeben von Neiddebatten und Leistungsanforderungen haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, an unserer Misere selbst Schuld zu tragen. Statt Systemkritik üben wir Kritik an Einzelpersonen, die eventuell mehr haben, mehr Einkommen, den schöneren Urlaub, die größere Wohnung. Dennoch: Lohnarbeit selbst ist zwar die Leistung, nach der ein Mensch in Bezug auf seinen Wert bemessen wird, doch durch die Arbeitsbedingungen reicht sie als sozialer Integrationsfaktor nicht aus. „Eine wirkliche soziale Sicherung ist damit die Grundvoraussetzung einer ‚Gesellschaft von Gleichen‘. Eine Gesellschaft von Gleichen ist eine Gesellschaft, deren Mitglieder nicht in jeder Hinsicht gleich sind, aber zumindest über einen ausreichenden Grundbestand an Mitteln und Rechten verfügen würden, um in der Gesellschaft ihrer Mitmenschen zu leben (...), in einer Gesellschaft, die niemanden ausschießt. Das ist eine recht gute soziologische Kennzeichnung dessen, was man in der Politik als Demokratie bezeichnet.“ (Castel 2008: 209) Zweifelsohne lassen sich mit Castel nicht alle Fragen nach der Ausgestaltung eines politischen Systems klären (beispielsweise sagt er nichts aus über das Zustandekommen spezifischer Muster politischer Kultur oder Orientierungen von Regierungen), ebenso wenig stellt Castel die Mechanismen kapitalistischer Produktion und Konsum infrage. Dazu bedarf es einer Zusammenschau mit anderen Theoretiker_innen. Aber dennoch lässt sich feststellen, dass sich Demokratie nicht mit Fiskalpakten garantieren lässt, sondern vielmehr eine universale Sozialleistungspolitik Voraussetzung für Emanzipation und politische Teilhabe ist. Literatur: Castel, Robert (2008): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg 2011 Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2008

23


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.