UNIQUE #05/12

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Aber hier leben, nein Danke!

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//Editorial Alles neu macht der Mai, ... natürlich auch die Unique. Auch diesmal liefern wir euch die volle Bandbreite literarischer Ablenkung von Familienbesuchen und von Langeweile während der Pfingstferien – aber was wird da eigentlich gefeiert? Unter anderem der „Geburtstag der Kirche“ – sagt Wikipedia und die müssen es ja wissen. Von dieser tragischen Erkenntnis geschockt, fühlen wir uns nicht mehr im Stande weiter an diesem Editorial zu schreiben, sondern widmen uns lieber der Aufgabe, dem christlichen Verein die Party zu vermiesen. Und so hat uns kurzer Hand eine ehemaligen Redakteurin*, die mal schnell für uns dem Diplomarbeitsstress entflohen ist, ein GastEditorial zukommen lassen: „Das Editorial schreibt sich ja bekanntlich immer zwischen Tür und Angel, am letzten Tag der Produktion, während Bilder fehlen, Artikel im Lektorat sind und die Redaktion froh um eine nervenstarke Layouterin* ist. Es ist meist eine Kurzzusammenfassung der Stimmung, die die aktuelle Ausgabe vermittelt, und gleichzeitig ein therapeutischer Ersatz für die Redaktion. Das Editorial wird der Ort, an dem Lieblingsartikel über versteckte Hints gelobt werden können und an dem interne Konflikte über den Inhalt durch gemeinsame (grundsätzlich unlustige) Insider_innen-Jokes wieder gekittet werden. Was aber passiert, wenn das Editorial leer bleibt, wenn das blinkende Cursorzeichen eine tragisch und fordernd anblickt und verlangt, witzig (oder auch unwitzig) zu sein? Wenn das Editorial wieder einmal warten muss, wenn es hin und her geschoben, von mehreren Menschen gleichzeitig geschrieben wird, die Zeilen einfach nicht mehr werden und die Layouterin* sich absolut weigert, das Editorial diesmal – und nur diesmal – kleiner zu gestalten? Dann bleiben zwei Optionen: frau* gibt diesem Hin und Her nach, lässt den Frust der Produktion an schlechten Sätzen aus und hofft, dass am Ende eine der anderen Redakteurinnen* einen kreativen Moment hat, oder man lagert es aus. Lässt Ex-Redakteurinnen* in Erinnerungen an zu viel Schokolade und schlechten Kaffee schwelgen, hofft das sie sich noch richtig an die zu füllende Zeichenanzahl erinnern können und frau* am Ende des Tages doch nicht ohne Editorial dasteht.“

S. 2 ÖH Kommentar // Eine Karriere auf Schiene S. 3 öh-fonds // dem geiste abgeschworen S. 4 love and care S. 5 Auf des Glaubens Felsengrunde ... // österreichische keller S. 6 Über den Unterschied zwischen Ideologie und Kritik // Österreich, befreit wie nie S. 7 Überall nur ‚Opfer‘? S. 8 Gewinnspiel // Termine S. 9 Asphalt & Neonlicht // Termine S. 10 Ankunft des Osteuropäischen Kinos in Wien // Feminismus und die Snare auf zwei und vier S. 11 Das „Lechzen nach authentizität“ // The Cyborg and the Beast S. 12 Das irakische Kurdistan und die ‚Sicherheitsrente‘ S. 13 Kuma … anders betrachtet // War on Women S. 14 Der österreichische Verfassungsschutz und seine Befugnisse // Der Fiskalpakt S. 15 Bohème unserer Zeit / Ein Haus für Ute Bock S. 16 Real und verkehrt Schwerpunkt ab s. 17: im zeichen der krise S. 18 Die Lebenslüge der EU S. 19 Maastricht – das neue Versaille S. 20 Bilder Griechischer Zustände S. 22 Krise und Revolutionserwartung S. 23 Keine Pflichten ohne Rechte! S. 24 Auswirkungen der Krise auf das kapitalistische Geschlechterverhältnis Zeitung

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ÖH

Uni

Wien

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Nr.

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Österreichische

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Eure Unique-Redaktion – diesmal in extended version – deren Charme leider all zu oft verkannt wird ...

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E-Mail:

unique@reflex.at

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ÖH

Uni

Wien

Website:

w w w.oeh.univie.ac.at


unileben Autonome Studiengebühren.....................................

ÖH-Kommentar

In einer demokratiepolitisch irrsinnigen Sitzung­ führte der Senat der Universität Wien am 26. April Studiengebühren ein. Anders als geplant wurde über ihre Wiedereinführung nicht einmal diskutiert, auch Argumente konnten nicht ausgetauscht werden. Stattdessen folgte der dritte Polizeieinsatz in sieben Tagen: Studierende, die gegen die Einführung von Studiengebühren protestierten, wurden brutal aus der Universität befördert.­Diese Situation wurde geschickt genutzt, um in einer Ruckzuck-Aktion die studentische Kurie im Senat niederzustim men und das Rektorat machte­sich bereitwillig zum Spielball des Wissenschaftsministers Töchterle. Wie Rektor Engl im ersten Gespräch im U10 am Juridicum, zu dem er einlud, bestätigte, hat das Rektorat nicht einmal darüber nachgedacht, einen geringeren Studienbeitrag einzufordern. Stattdessen will sich das Rektorat die Hochschüler_innenschaft nutzbar machen und von uns verklagt werden – unter dem Vorwand der Rechtssicherheit.

//Bildstrecke Natürliche Verbindungen von Sheri Avraham

Die ÖH Uni Wien hat die ersten zwei Individual­ klagen beim Verfassungsgerichtshof bereits eingereicht. Hier muss aber auf zwei Szenarien aufmerksam gemacht werden, die beim Klagen bevorstehen können: Wird die Regelung der Uni Wien aufgehoben, bedeutet das für die Universität ein Minus, das ihrer finanziellen Situation nicht gerade zuträglich wäre, da sie die Verfahrenskosten tragen müsste. Wird die Regelung allerdings bestätigt, bedeutet dies für die Universitäten in Österreich freie Hand bei der Einhebung von ­ Studiengebühren; und ebenso den ­ Beginn einer Abhängigkeit vom Wissenschafts­ ministerium, das den Unis mit ihrer so genannten Autonomie ein ganz schönes Schnippchen geschlagen hat. Einer stetigen Erhöhung der Gebühren würde dadurch nichts mehr im Wege stehen. Ganz im Gegenteil: die Studiengebühren sind aktuell ein wichtiges Druckmittel in der Hand des Ministeriums zur Ausfinanzierung der Universitäten. Diese würde durch zuvor genanntes Szenario vom Staat auf die einzelnen Studierenden verlagert werden.

Die Arbeit Natürliche Verbindungen stellt den Prozess in Frage, durch den wir Definitionen aufstellen, wie wir Wissen internalisieren und mittels Generalisierungen und scheinbar logischer Schlussfolgerungen der Realität Sinn ­geben. Die fotografierten Objekte sind aus der Natur genommen, aber als Aliens, als etwas Unnatürliches dargestellt. In dieser Arbeit stehen soziale Verbindungen im Fokus. Wie werden Dinge zu- und eingeordnet? Welche Assoziationen und Vorannahmen spielen dabei eine Rolle? Welche Realität kreieren wir täglich, wenn wir ständig unbewusst Ton, Bilder oder Objekte einem schon vorhandenen Wissen zuordnen? Die Arbeit soll zeigen wie Verbindungen zu Gewohntem aufgebaut werden, wenn wir Ungewohntes sehen und wie wir uns dabei in unserer Freiheit einschränken. Sheri Avraham ist Künstlerin, geboren in Bait Dagan, Israel. An der Open University in Israel studierte sie Psychologie, heute betreibt sie an der Akademie der Bildenden Künste Wien das Studium Post-Conceptual Art.

Kübra Atasoy

Eine Karriere auf Schiene

Doris Neumann für DISKO

Eine DissertantInnen-Konferenz stellt sich vor ...

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//IMPRESSUM Herausgeber und Medieninhaber: Verein für Förderung studentischer Medienfreiheit; Unicampus AAKH, Hof 1, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien; Tel. 01-4277-19501 Redaktion: Soma Mohammad Assad, Dorothea Born, Oona Kroisleitner, Tamara Risch Mitarbeiter_innen dieser Ausgabe: Christoph Altenburger, Kübra Atasoy, Julian B., Elena Barta, Philipp Brugner, Das kleine Ich bin Ich, Flora Eder, Anne Marie Faisst, Matthias Falter, Michael Fischer, E. G., Julia Gaugelhofer, Kathrin Glösel, Minna Großneig, Carlos Hernandez, Norberta Hood, Martin Konecny, Martin Krammer, Fridolin Mallmann, Doris Neumann, Günay Ö., Rechtsinfokollektiv, Richard Sattler, Natascha Strobl, Jan Tövla, Alessandro Volcich Layout: Iris Borovčnik Lektorat: Karin Lederer, Birgitt Wagner Bildstrecke: Sheri Avraham Illustrationen: Arno Bauer (Büro Alerta) Anzeigen: Wirschaftsreferat ÖH Uni Wien, inserate@oeh.univie.ac.at, Tel. 01-4277-19511 Erscheinungsdatum: 25. 5. 2012 Kritisch den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet – aber hier leben, nein Danke!

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er sich fürs Doktorat entscheidet, entscheidet sich zumeist auch für ein Leben zwischen Stipendienanträgen, befristeten Stellen und ständigem Beweiszwang; dafür, zu jenem schwer greifbaren, ausgefransten und sehr schmalen Segment zu zählen, mit dem in Zukunft in der Wissenschaftslandschaft gerechnet werden muss. Wer auch immer die „WissenschaftlerInnen von morgen“ sind – sie sind jedenfalls angehalten, ihrem Lebenslauf eine kompetitive Form nach den Spielregeln des Feldes zu geben. Wer sich das nicht mit einem fachfremden und schlecht bezahlten Nebenjob finanzieren muss, darf sich zu den ganz Glücklichen zählen. Wer sich daneben mit dem Gedanken an Kinder trägt, traut sich einiges zu! Wer wieder einmal nicht weiß, wie es beruflich weitergehen soll, ist ein Regelfall. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen: Was den Nachwuchs nicht umbringt, macht ihn härter! Was die einen für ‚Qual‘ halten, ist für die anderen nur der Anfang von Qualitätssicherung. Bei all der gesunden Heraus­forderung scheint dem Nachwuchs aber auch etwas zu fehlen: der Mut zur Eigeninitiative. Gewiss zeigt jedeR Doktoratsstudierende ‚Eigeninitiative‘ dabei, sich für die spärlichen Stellen und Stipendien zu bewerben, aber die bestehenden Rahmen der institutiona-

lisierten Wissenschaft werden als die Grenzen der Welt angesehen. Keine Frage, es gibt institutionalisierte Einrichtungen für JungwissenschaftlerInnen: Stipendien, Praktika, TutorInnenstellen, befristete Stellen, Fellowships, Graduiertenkonferenzen, politisches Mitspracherecht und Transparenz unipolitischer Entscheidungen – aber entschieden zu wenig. Trotz dieser Mangelerscheinungen bilden sich erstaunlich selten Eigeninitiativen, die Abhilfe zu schaffen versuchen. Ohne den Versuch zu starten, die Gründe dafür zu erörtern, soll auf eine DoktorandInneninitiative hingewiesen werden, die versucht, etwas auf die Beine zu stellen: Eine Konferenz für DissertantInnen, die sich durch Offenheit und Gestaltungsbedürftigkeit auszeichnet. Sie richtet sich an Jungwissen­schaftlerInnen, deren Lebenssituation zwischen Anstellung und Stellensuche schwankt. Die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Arbeitens sind oft eingeschränkt; oft fehlen die Mittel, an Konferenzen teilzunehmen. Gleichzeitig wird im ersten Fall die Kompetenz zu kreativem, eigeninitiativen Handeln zu wenig gefördert. Die VertreterInnen des akademischen Prekariats können diese aber gerade gut gebrauchen.

Von und für Studierende Die offene und öffentlich zugängliche Organisation der DissertantInnen-Konferenz (DISKO) zielt auf die Schaffung einer Plattform für

Doktoratsstudierende, die Infos, Vernetzung und Einblick in Organisationsstrukturen des Wissenschaftsbetriebs suchen und auf die Initiierung einer Konferenz für Doktoratsstudierende von Doktoratsstudierenden ab. Durch und mit der Initiative der Teilnehmenden nimmt sie jene Form an, die am zweckmäßigsten ist. Dadurch erhalten die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, Erfahrungen im Gestalten von Konferenzen zu sammeln. Die Erfahrung der Selbstorganisation, Selbstvertretung und Selbstermächtigung, die durch eine solche studentische Initiative ermöglicht wird, ist eine wertvolle Ergänzung des Studiums. Nicht zuletzt wird durch die offene und partizipative Struktur der Organisation Raum für Erprobung neuer Ideen geschaffen und ‚Zugangsbeschränkungen‘ wie fehlende institutionelle Einbindung, fehlende finanzielle Mittel oder sonstige Beeinträchtigungen fallen weg. Durch die hohe Interdisziplinarität werden breitgefächerte Vernetzungsmöglichkeiten geschaffen, wobei auch die Bildung fach- und themenspezifischer Gruppen ermöglicht werden soll. Das Sammeln von Präsentationserfahrung und Feedback soll durch die Konferenz ebenso ermöglicht werden wie Diskussionen über Wissenschaftsentwicklung und institutionelle Erfordernisse der Doktoratsstudierenden. Links: http://diskonferenz.wordpress.com/ http://www.facebook.com/Diskonferenz


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Das Sozialreferat informiert ...........................................................................................

ÖH-Fonds

Die Mittel der ÖH-Fonds stammen zu je einem Drittel vom Wissenschaftsministerium, der ÖH-Bundesvertretung und deiner Universitätsvertretung. Sozialfonds? Der Sozialfonds ist für Studierende gedacht, die ohne eigenes Verschulden in große finanzielle Schwierigkeiten geraten sind; sie können eine Unterstützung von höchstens 1.200 EUR pro Studienjahr erhalten. Wohnfonds? Studierende mit hohen Wohnkosten können eine Unterstützung aus dem Wohnfonds erhalten. Die Unterstützung für Studierende mit Beeinträchtigungen sowie mit Kind beträgt maximal 1.299 EUR im Studienjahr, für andere Studierende höchstens 1.000 EUR. Kinderfonds? Der Kinderfonds ist für Studierende gedacht, denen unerwartet einmalige Ausgaben für die Versorgung eines Kindes erwachsen. Studierenden Vätern

und Müttern soll es so erleichtert werden, ein begonnenes Studium fortzusetzen bzw. zu beenden. Voraussetzungen? Du musst Mitglied der ÖH sein. Du musst ein (außer)ordentliches ­Studium betreiben. Du musst sozial bedürftig sein. Du musst einen adäquaten Studienerfolg vorweisen. Du darfst von keiner anderen Stelle eine ausreichende Unterstützung erhalten. Sozial bedürftig? Bist du, wenn du nicht bei deinen Eltern wohnst und deine monatlichen Ausgaben die monatlichen Einnahmen übersteigen. Als Einkünfte gelten hier z. B. jene aus Erwerbstätigkeit, Leistungen aus dem Arbeitslosenversicherungsgesetz, dem Karenzurlaubsgesetz und anderen Gesetzen, W ­ohn-, Familien-, Studienbeihilfe sowie sonstige Zuwendungen von Seiten der Eltern und/oder Verwandten.

Dem Geiste abgeschworen Wie die gegenseitige Anbiederung von Lehrpersonal und Studierenden die Hoffnung auf ­ Reflexionsvermögen, Individualität­und Wissen in gedankenloser Konfusion ersäuft.

weder Geist noch individuelles Begehren nach Wissen. Stattdessen fühlt man sich zurückversetzt in den Aktionismus der ersten Schuljahre, nimmt an einem pädagogischen Ereignislauf teil, der bei sogenannten Murmelrunden beginnt und über Gruppendiskussionen hin zu Assoziationsketten führt. Es wirkt fast so, als müsse schon einmal alles auf die endgültige Erach wie vor erscheint vielen Studierenden ledigung des Gehirns, von welchem man ohnedie im Wintersemester 2011 eingeführte­ hin bereits weiß, dass es einzig zum lustig wie ­Studieneingangs- und Orientierungsphase willkürlichen Neuronenreigen in der Lage ist, (STEOP) als eine willkürliche Lotterie. Mit de- eingeschworen werden. Dass sich gegen derlei Albernheiten keine ren Hilfe versuche sich die Universitätsleitung überfüllter Lehrveranstaltungen sowie nicht Stimme erhebt, aber ein Ausschluss davon den ausreichend motivierter StudienanfängerInnen BildungsprotestlerInnen nach wie vor wütend zu erwehren. Nach über einem Jahr Verwirrung aufstößt, verdeutlicht einmal mehr, dass die und Ärger lässt sich aber auch eine ganz ande- Verewigung der gedankenlosen Konfusion, die re These aufstellen: Die STEOP ist den Studie- Karl Marx einst als absolutes Interesse der herrrenden nicht feindlich gesonnen, sie ist einfach schenden Klasse ausmachte, bereits traurige 1 die adäquate Einführung in den bildungsfeind- Alltäglichkeit geworden ist. lichen Universitätsalltag. Die STEOP erscheint so vor allem als freundIn den Einführungsveranstaltungen der licher Versuch, den sich in ihrer UnmündigSTEOP zeichnet sich bereits zur Genüge die keit suhlenden Studierenden ein weiteres vorkommende Anbiederung an das zu belehren- gewärmtes Schlammbecken zur Verfügung zu de Objekt ab. Eine Anbiederung, welche in den stellen. Daher ist das, was sich in diesem Becken folgenden Jahren jeden Ansatz von Frontalun- zuträgt, auch nicht nur Maßnahme zur Austerricht seitens der Lehrenden durch eine Flut dünnung der Jahrgänge, nicht bloß kaltes Kalvon Entschuldigungen ob dieser schrecklichen, kül wider die Erstsemester, es ist vielmehr auch autoritären Methode begleiten wird. Eine An- das Angebot zur Rettung der gedankenlosen biederung, der auch fast jegliche Hoffnung hin Konfusion von der Schule hin zur Universität. zu einer Bildung des Geistes auf dem OpferalDie immer wieder aufflackernde Klage über tar der kuscheligen Vermittlungsebenen darge- die Verschulung der Universitäten schickt sich boten wird. Die STEOP sei daher im Folgenden aber nicht an, hier Licht ins Dunkel zu bringen. nicht für ihre Existenz als Abtropfsieb der an- Vielmehr richtet sie sich bloß gegen die ersten gehenden Studierenden kritisiert, stattdessen Strahlen der zeitlichen Regulation des Arbeitssei auf sie als exemplarisches Beispiel für das lebens, die in Anwesenheitspflicht, gar dem verfertige Gericht, das Studium an der Universität einzelten Zwang, auch einmal vor neun aus dem selbst, einzugehen. Bett zu kriechen, zu finden geglaubt werden. So kommt in der STEOP bereits nach kurzer Keine Kritik wird laut an der InstitutionalisieZeit jeder Glaube an ein selbstständiges Denken rung der Regression, der permanenten Zurückerforderndes Studium zum Erliegen. Die An- drängung des Geistes. Stattdessen erfreut man forderungen scheinen anderer Natur, erfordern sich der Möglichkeiten, sich mit Tutor­ Innen

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Adäquater Studienerfolg? Ein adäquater Studienerfolg liegt vor, wenn du aus den letzten beiden Semestern zumindest Prüfungen im Ausmaß von acht Wochenstunden (bei Studierenden mit Kind vier Wochenstunden) nachweisen kannst. Du darfst die doppelte gesetzliche Mindeststudiendauer nicht überschreiten. Verzögerungsgründe wie Kinderbetreuung oder Krankheit werden berücksichtigt. Außerordentliche Studierende? Außerordentliche Studierende können im zweiten Semester zur Vorbereitung eines ordentlichen Studiums Unterstützung erhalten, wenn sie aus dem ersten Semester Prüfungen im Ausmaß von mindestens acht Wochenstunden vorweisen können. Antragsformulare? Das Antragsformular bekommst du im Sozialreferat der ÖH Uni Wien (Hof 1, UniCampus) oder du kannst es unter www.oeh.univie.ac.at/studieren/oehfonds/ herunterladen.

Fridolin Mallmann

oder ProfessorInnen über seine Meinungen und Interessen auszutauschen, sich im Proseminar in wissensfernem Geschwätz, das statt mit vernichtendem Tadel auch noch mit ermutigendem Kopfnicken honoriert wird, verlieren zu können.

Jenseits humboldtscher Gestade Dort wo bereits die meisten Familien bei der Bildung eines mündigen Ichs versagten, scheitert die Universität erneut. Als würde das langsam in der zähen Brühe seiner Selbst treibende, junge menschliche Wesen durch sinnfreie Motivationsreden plötzlich beginnen, sich an den eigenen Haaren ans Ufer der Subjektwerdung zu zerren, und nicht weiter regungslos in dem trägen, aber wärmenden Schlammbad des Infantilismus schlummern, perpetuiert die anbiedernde Pädagogik die regressive Sehnsucht in der Hoffnung, das Kind möge losziehen und spielerisch erwachsen werden. Aber genau so wie es in der Kindheit des Jungen nicht der fürsorgliche, komplizenhafte Vater ist, an welchem sich das Subjekt aufrichtet, sondern der Konflikt zur väterlichen Autorität, die, da sie Lust versagt, zum FeindInnenbild avancieren muss, wäre es der Konflikt mit der Lehrautorität, der Prozess von Reflexion und Rebellion, der dem jungen Menschen eine weitere Möglichkeit gäbe, sich zum Subjekt, zum selbständigen Wesen zu entwickeln. Indem aber die Grenzen zwischen Lehrautorität und Studierenden scheinbar aufgehoben werden, mit der/m ProfessorIn während der Vorlesung per Du und auf gleicher Augenhöhe geredet werden kann, verliert sich nicht nur jegliche individuelle Regung im Strom der konformistischen KomplizInnenschaft, sondern auch das bisschen Bildung, das vom bürgerlichen Bildungsidealismus des späten 18. Jahrhunderts noch übrig ist, versickert im scheinbar gleichwertigen Austausch. Wo

von Seiten der Lehrenden, jenseits der auf bloßer Gedächtnisleistung beruhenden Prüfung zu Semesterende, keine Wertung mehr stattfindet, wo die Studierenden in Gruppendiskussionen und im selbstständigen Gestalten von Lehreinheiten auf dieselbe Stufe erhoben werden, muss auch das Wissen der Lehrenden als gleichwertig angesehen werden, als genauso banal und unsinnig wie das reproduzierte Halb- bis Unwissen der Studierenden. Aber die Vermittlung von Wissen, dieses Ideal, ob dessen die Universität ja eigentlich gegen ihre FeindInnen noch in Schutz genommen sei, hat mit der, in wohlige Selbstfindung getauchten, Wertsteigerung der eigenen Arbeitskraft ohnehin soviel zu tun wie Wilhelm von Humboldt mit Rudolf Steiner. Wer nach drei bis zehn Jahren Universität in die Berufstätigkeit übergeht, wird sich daher wohl seiner markttauglichen Basiskompetenzen erfreuen, die wilden Jahre des Studierendendaseins betrauern und sich vermutlich dem Pöbel reichlich überlegen fühlen. Wo die Erotik bei Charles Baudelaire zu finden ist, warum Sigmund Freud aus der Psychologie verbannt wurde oder welche Ideologien unser aller Leben zurichten, wird er/sie genauso wenig wissen wie er/sie seiner/ihrer selbst als Individuum gewahr geworden sein wird. Anmerkung: 1 „Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen. Und wozu anders werden die sykophantischen Schwätzer bezahlt, die keinen andern wissenschaftlichen Trumpf auszuspielen wissen, als daß man in der politischen Ökonomie überhaupt nicht denken darf!“ Karl Marx: Brief an Louis Kugelmann; London 11.7.1868 (MEW 32, S. 552)

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gesellschaft

LOVE AND CARE Über die Verknüpfung der romantischen Zweierbeziehung mit Reproduktionsarbeit und mögliche Alternativen – Ein Kommentar.

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ird, wie im letzten Schwerpunkt der Unique, von Reproduktion(sarbeit) gesprochen, bezieht sich dies meist auf heterosexuelle, monogame Zweierbeziehungen. Dabei werden Probleme der Aufteilung von Reproduktionsarbeit kritisiert, ohne das Konzept der Beziehungsform in den Blick zu nehmen, das jedoch maßgeblich mit ihr verbunden ist.

Back to the roots Es ist sinnvoll, den Entstehungskontext der heutigen Lohn- und Reproduktionsarbeit zu betrachten und nach den historischen Beziehungsformen zu fragen. Dabei schreibe ich über den europäischen Raum, weil es einerseits jener ist, in dem ich mich selbst bewege und in dem andererseits Reproduktionsarbeit in diesem Medium bisher diskutiert wurde. In einem vor-industriellen Wirtschaftssystem, das auf landwirtschaftlichen und selbsterhaltenden Arbeitsmethoden basiert, in dem Arbeit also vordergründig von einer groß-familiären Einheit geleistet wird, stellt sich die Frage der Beziehungsformen anders als im neoliberalen Kapitalismus. Sowohl Männer* als auch Frauen* tragen als ökonomische Einheit zur Erhaltung des Haushaltes bei, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist damit auch nicht ,notwendig‘. Die rechtliche und soziale Verbindung zweier Menschen durch Ehe ist dabei keine emotionale, romantische, sondern eine ökonomische, strategische Frage. Mit dem Aufkommen der Industrialisierung ändert sich die Form der Arbeit, Lohnarbeit ermöglicht es einzelnen Individuen, die vorherige Einheit zu verlassen und mit anderen Menschen Formen von Beziehungen einzugehen, die auf emotionale Verbindungen, soziale Kompatibilität etc. bauen. Gleichzeitig entstehen durch Lohnarbeit andere Möglichkeiten im Umgang mit Kindern, denn diese wird nun nicht mehr in derselben Form als Arbeitskraft notwendig. Steigender Wohlstand führte zur Möglichkeit,

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Elena Barta

Kindern Schulbildung zu ermöglichen – Kindheit wird neu konzipiert. Parallel zu dieser Entwicklung beginnen sich geschlechtsspezifische Sphären anhand der Aufteilung in Lohnarbeit und Reproduktionsarbeit herauszubilden. Dabei ist eine Menge diskursiver Veränderungen notwendig, um die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Gesellschaftsform zu setzen, die, so die Argumentation, an die natürlichen Eigenschaften von Männern* und Frauen* angepasst ist. Liebe spielt dabei eine Schlüsselrolle. Die Erziehung von Kindern, die Pflege von Jungen und Alten, die Erhaltung der Familie durch Waschen und Kochen, die Bebauung des Gartens – all diese Tätigkeiten werden zu unbezahlten Liebesdiensten, die Frauen* aus Zuneigung und Liebe aufopfernd für ihre Kinder und Partner* machten und machen.

Monogamy strikes again Die Monogamie dieser heterosexuellen romantischen Beziehung ist dabei kein Zufall, sondern ein wichtiger Faktor, denn sie sichert die Exklusivität und bedingungslose Liebe. Eine Exklusivität, die beide Partner_innen sozial, ökonomisch und vor allem emotional voneinander abhängig macht. So wird Unterstützung (emotionale wie reproduktive) von der Gesellschaft in den privaten, exklusiven Raum des Paares gedrängt. Einen Raum, in dem Ungleichgewichte (z. B. in der Reproduktionsarbeit), Verletzungen, Gewalt, aber auch Unzufriedenheit auf Grund der vielen Abhängigkeiten schwer artikulierbar sind und Außenstehende „nichts angehen“. Diese Abhängigkeiten sind dabei oft nicht bewusst gewählt, sondern orientieren sich an gesellschaftlich gesetzten Normen von echten Beziehungen und wirklicher Liebe: Es gibt nur eine andere Person, die dir wichtig sein kann! Wenn du nicht die volle Erfüllung bei deiner_m Partner_in findest, liebst du ihn_sie nicht genug! Die Liebe zueinander muss bedingungslos, in guten wie in schlechten Zeiten und für immer sein! Diese Grundregeln romantischer Beziehungen sind tief in uns eingeschrieben, sie hören sich für uns nicht per se falsch an. Legen wir sie aber gedanklich beispielsweise auf alle anderen Formen sozialer Beziehungen um (z. B. Freund_

innen, Kinder etc.), wird klar, wie absurd die Fokussierung auf eine Person ist, wie viel wir dafür in Kauf nehmen, dauerhaft perfekt für eine andere Person sein zu wollen. Denn perfekt und gut sein zu wollen führt genau zu jener Art Liebesdiensten, die ich als Reproduktionsarbeit von Frauen* in heterosexuellen Beziehungen beschrieben habe. So sollten wir uns fragen: Schon mal die Wäsche gemacht, um den_die Andere_n zu überraschen und zu zeigen, wie wichtig deren Wohlergehen für einen selbst ist?

Alternatives? Homosexuelle Beziehungen, die auf dieser monogamen, romantischen Form basieren, können daher gar nicht als alternative Form der Aufteilung von Reproduktionsarbeit dienen. So mögen zwar weibliche und männliche Rollenbilder in nicht-heterosexuellen Beziehungen anders greifen, das Role-Model einer perfekten, glücklichen Familie wird dabei jedoch nicht nur nicht kritisiert, sondern internalisiert 1 und zur Homonormalität. Gleichzeitig führen unterschiedliche Einkommen oder Arbeitslosigkeit für den_die Partner_in, der_die weniger Geld nach Hause bringt in die Reproduktionsfalle, hier sei auf das Interview des schwulen Paares in der letzten Unique-Ausgabe verwie2 sen. Die Alternative ist auch nicht das, was viele Menschen als „offene Beziehung“ verstehen, also zu der eigentlichen romantischen Beziehung hinzukommende Sexpartner_innen, sondern eine ganz grundlegende andere Konzeption von Sexualität, Liebe, Beziehungen und auch Reproduktionsarbeit. Der Fokus von polyamourösen Konzepten liegt darin, verschiedene Bindungen zu Menschen aufzubauen und diese erst einmal als Freund_innen und nicht als exklusive Sexoder Liebespartner_innen anzusehen. Es geht nicht darum, alle Menschen gleich gern zu haben, sondern emotionale Bindungen nicht mit einem Paket von Erwartungen zu überfrachten. Vorstellungen darüber, wie oft man sich sehen oder hören muss, wie man sich öffentlich verhält, wie Alltag organisiert ist etc. werden erst einmal über Bord geworfen. Die jeweilige Beziehung wird sich prozesshaft über die eigenen

Bedürfnisse klar, wobei diese auch als instabil, im Sinne von veränderlich wahrgenommen werden. Dies ist natürlich nur ein Teilaspekt polyamouröser Beziehungsformen, dessen Ausführung das Thema (und die Zeichenanzahl) dieses Kommentars sprengen würde. Reproduktionsarbeit ist in ihnen jedoch nicht in einer primären Beziehung organisiert, sondern vielfältig möglich. Ein konkretes Beispiel sind alternative Hausprojekte, in denen Reproduktionsarbeit Gemeinschaftsarbeit ist, die über die Grenzen von Kernfamilien hinweg gemeinsam organisiert und zum Teil auch entlohnt wird. Dies soll nicht bedeuten, dass polyamouröse Beziehungen und Hausprojekte die einzig wahre und emanzipatorische Lebensform sind, sondern einen Anstoß bieten, darüber nachzudenken, warum sich eine kapitalistische Gesellschaft monogame romantische Zweierbeziehungen wünscht und wie die Normierung von Sexualität und emotionalen Verbindungen eigentlich unser Leben einschränkt. Zur Ergänzung siehe Seite 24: „Auswirkungen der Krise­auf das kapitalistische Geschlechterverhältnis“ Anmerkungen: 1 Als offensichtliches Beispiel dafür dienen Kampagnen zur Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Partner_innenschaften, z. B. die US-amerikanische „Get to know us first“ – http://www.youtube.com/ watch?v=bGqBqFM_1uQ&list=UU-pzHWXvo2eJv0w qXmoDuXQ&index=4&feature=plcp 2 „Jetzt, wo er Vollzeit arbeitet und ich nur einen Nebenjob habe, mache ich fast den ganzen Haushalt alleine.“ http://www.univie.ac.at/unique/ uniquecms/?p=1394 Literatur: Capitalism and the Family, Steven Horwitz, 2007, www.thefreemanonline.org/featured/capitalismand-the-family/print/1/5 Capitalism and Gay Identity, John D‘Emilio, in: The Lesbian and Gay Studies Reader, Henry Abelove, Michèle Aina Barale, David M. Halperin (Hrsg._innen), 1993, New York/London, S. 467–476 For Lovers and Fighters, Dean Spade, http://makezine. enoughenough.org/newpoly2.htm


gesellschaft

Auf des Glaubens Felsengrunde …1 Der Cartellverband ist die mitgliederstärkste Verbindung an Österreichs Universitäten. Die Auseinandersetzung mit ihm endet meist in einem Beisatz im Zuge der Beschäftigung mit Burschenschaften – ein Fehler.

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in brennender Molotowcocktail ziert die Titelseite der letzten Ausgabe des Couleur, der Zeitschrift des Mittelschüler-Kartell-Verbands (MKV). Thema: „Linker Straßenkampf. Gewalt 2 gegen Studentenverbindungen.“ Mit Verweis auf Schmierereien, linke Parolen und den Verfassungsschutzbericht wird behauptet, Linke würden sich „Lynchjustiz und HJ-Methoden“ 3 bedienen, um gegen Studentenverbindungen vorzugehen. So weit, so wirr. Zwischen den nationalsozialismusrelativierenden Ausschweifungen läuft der_die Leser_in jedoch beinahe Gefahr, die Hauptsorge der Autoren zu überlesen: „Waren bis vor kurzem nur die Burschenschaften Objekt der Aggression, trifft die Wut nun auch die christlichen Verbindungen.“ 4

unterzogen werden, wird dem katholischen Korporationswesen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Angesichts der Ausprägung des Phänomens ist dies verwunderlich: Der MKV zählt rund 20.000 Mitglieder.5 Sein akademisches Pendant, der Österreichische Cartellverband (ÖCV), vereint etwa 12.500 Studenten und ‚Alte Herren‘.6 Im Gegensatz zur Debatte in Deutschland fehlt in Österreich jedoch weitgehend eine kritische Thematisierung studentischer Verbindungen als Phänomen an sich. Katholische Korporationen werden meist nur im Nachsatz der Kritik an völkischen Verbindungen erwähnt: sie seien weder deutschnational noch schlagend. Der Anspruch einer differenzierten Analyse wird jedoch zu selten um eine Auseinandersetzung mit der Kritik katholischer Verbindungen ergänzt. Dem ÖCV und MKV wird so ermöglicht, sich auf die Position einer ‚harmlosen Studentenverbindung‘ zurückzuziehen.

Reaktionäre Männerbünde

Mit alleinigem Fokus auf schlagende Verbindungen wird meist der ebenfalls grundsätzlich reaktionäre Charakter der katholischen Männerbünde übersehen. Die Katholische Wertegemeinschaft verbietet zwar das Fechten, ‚Harmlose‘ Verbindungen? bildet aber den Hintergrund für sexistische Was nach einer Reduktion der paranoiden Fan- Forderungen wie die nach Verankerung eines tasien von linker Gewalt zurückbleibt – also dass Schwangerschaftsabbruchsverbots in der Bun‚die Linke‘ auch gegen die katholischen Studen- desverfassung.7 Der Österreichnationalismus tenverbindungen vorgehen würde – ist real eine der katholischen Korporierten drückt sich im interessante Einschätzung: Während die schla- Prinzip Patria aus, welches trotz begrifflicher genden Verbindungen einer weitgehenden Kritik­ Abgrenzung (Patriotismus) ein identitätsstif-

tendes Konzept bleibt, das als nichtzugehörig definierte Personen ausschließt. CV und MKV sind Lebensbünde, die keinen Austritt vorsehen und deren strenges Regelwerk (Comment) die verbindungsstudentische Sozialisation kennzeichnet. Dazu schreibt Stephan Peters, früher Mitglied einer deutschen CV-Verbindung: „Befehl und Gehorsam, dafür Anerkennung durch die Gemeinschaft, ist der Grundgedanke des korporierten Zwangssystems, dem sich der Korporierte zu fügen hat und den er ohne zu hinterfragen verinnerlichen muss.“ 8 Die autoritären Strukturen gehen mit der Konstitution als Männerbund einher. Dieser hat seine Wurzeln im deutschen und österreich-ungarischen Kaiserreich und beschreibt mehr als eine homosoziale Männergruppe. Der Männerbund „zeichnet sich durch Exklusionen als Eliteorganisation aus. Der Anspruch einer Gesellschaftserneuerung oder einer Führungsschichtposition geht mit dem Zeichnen von Feindbildern einher.“ 9 Das Männerbundprinzip impliziert also nicht nur die Unzugänglichkeit des korporierten Karrierenetzwerks für Frauen, sondern wurzelt in einem antiemanzipatorischen und sexistischen Frauenbild: Die Korporation soll ihre Mitglieder zu Eliten im öffentlichen Leben heranbilden – diese Sphäre ist im verbindungsstudentischen Weltbild eine ausschließlich männliche, Frauen werden ins ‚Private‘ verwiesen. Für Antifaschist_innen sollte es nicht von erster Priorität sein, allen Verbindungsangehörigen nachzuweisen, dass sie zu 100% Nazis sind. Vielmehr ist es wichtig darauf hinzuweisen,­

Julia Gaugelhofer

dass sie in ihrer ‚Normalität‘ mithin schon zahlreiche Gründe und Anlässe dafür bieten, sie zu kritisieren und anzugreifen. Wenn eine Verbindung harmlos sein möchte, soll sie sich auflösen! Anmerkungen: 1 Titel des CV-Bundesliedes, Gesamttext: http://www.musicanet.org/robokopp/Lieder/aufdesgl.html 2 Couleur 1/2012, http://www.mkv.at/?sys=website& seite=22 (06.05.2012) 3 Ebd., S. 5 4 Ebd., S. 4 5 Vgl. http://www.mkv.at/?sys=website&seite=15 (06.05.2012) 6 Vgl. ebd. 7 dieStandard.at, 16.06.2004: Cartellverband fordert Abtreibungsverbot in der Verfassung, http://diestandard.at/1623526?seite=2 (16.05.2012) 8 Peters, Stephan (2000): Soziale Funktionen studentischer Korporationen. In: Projekt „Konservatismus und Wissenschaft“ e. V. (Hg.): Verbindende Verbände. Ein Lesebuch zu den politischen und sozialen Funktionen von Studentenverbindungen. Marburg 9 Schuldt, Karsten (2005): Das charismatische und das strukturelle Männerbundprinzip, http://karstenschuldt.milten.lima-city.de/gender/DasCharismatischeUndDasStrukturelleMaennerbundkonzept.htm (16.05.2012) Veranstaltungshinweis: Am 8. Juni 2012 findet im Rahmen der Kampagne „Kritische Uni Wien“ ein Vortrag über den Österreichischen Cartellverband statt: 19.00 Uhr / Hörsaal 3 / NIG

ÖSTERREICHISCHE KELLER ... // Der Prozess um NS-Wiederbetätigung, in dem die zehn Angeklagten wegen der Vorfälle während eines WM-Public-Viewings und eines Angriffs auf ein Studi-Beisl 2010 angeklagt sind, zieht sich noch weiter. Die ZeugInnen mussten vor den Angeklagten aussagen, obwohl zuvor Gegenteiliges vereinbart worden war und diese ihre Ängste vor den Neonazis geäußert hatten. Weitere Details, wie „Heil Hitler“ und „Heil H.C.“-Rufe, die in der besagten Nacht von den Nazis gegrölt worden seien, wurden durch die Aussagen bekannt. // Mitte April wurde in Oberösterreich ein 17-Jähriger wegen gefährlicher Drohung und Verhetzung zu insgesamt sechs Monaten Haftstrafe verurteilt und bekannte sich schuldig. So bedrohte er mehrere AusländerInnen mit Aussagen wie „Wegen euch sperren wir Mauthausen wieder auf und verga-

sen euch lebend!“. Laut Berichten soll eine enge Vernetzung zu einer RFJ-Gruppe bestehen. // Anlässlich der Eröffnung des Flüchtlingsheims in der Zohmanngasse 28 in Favoriten durch den Verein Ute Bock, luden die FPÖ unter Anwesenheit ihres Klubchefs Johann Gudenus im April zu einem „blauen Stammtisch“. Unter dem Motto, der „Sorgen der Anwohner­Innen“ hetztendie FPÖ gegen Ute Bock und das Flüchtlingsheim. Die ressentimentgeladenen und vollends von Projektionen durchzogenen Aussagen der Teilnehmenden gingen von „Drogendealer“, „Scheinasylanten“ bis hin zu „Neger“, welche alleinstehende Frauen belästigen und Lärm und Dreck verursachen würden. Doch nicht nur gegen das Flüchtlingsheim im Spezifischen, sondern ganz allgemein wurde agitiert. So raunzt ein Stammtischbesucher, dass es eine „Verar-

sche“ sei, dass 7er-BMWs bestellt würden, während seine Oma nicht mal genug Pension bekomme. // Am 8. Mai, dem offiziellen „Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus“ bzw. der Kapitulation NS-Deutschlands, fand das vom Wiener Korporationsring, wie in den Jahren zuvor begangene „Totengedenken“ am Heldenplatz statt. // Am selben Tag fand im Bundeskanzleramt eine 8.-Mai-Gedenkveranstaltung unter dem Motto „Umbruch – Aufbruch – Europa“ statt. Wie ‚neu‘ das „neue Österreich“ ist, zeigt nicht nur die Duldung des Aufmarschs der Burschenschafter, sondern ein Blick in die Anwesendenriege, in der auch H. C. Strache ein paar Sitze neben Eva Glawischnig anzutreffen war. // FPK-Chef Uwe Scheuch befürwortet passend zu seiner Partei-Ideologie autoritäre Pädagogik, indem er sich für eine „klane

Tetschen“ in der Schule ausspricht. FPÖ-Chef Strache ist hingegen für einen Entzug der Familienbeihilfe. // Anlässlich einer polizeilichen Schwerpunktaktion in Sachen Jugendschutzgesetz in der Steiermark wurden ortsübliche männliche Initiationsriten offenbart. Das Ergebnis: Steirische Jugendliche bekommen nach ihrer Firmung von ihren Eltern einen Bordellbesuch geschenkt. // Hassan Mousa, Mitglied des Schurarats, des legislativen Organs der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ), darf weiterhin sein Amt ausüben, obwohl er in einem im Internet kursierenden Video zum Töten von israelischen Soldaten in Gaza aufrief. Die IGGiÖ nimmt ihn weiterhin in Schutz und gibt als Begründung an, keinen Zugang zum entsprechenden Originalbeitrag, der im iranischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, zu haben.

05


gesellschaft

Über den Unterschied zwischen Ideologie und Kritik Antikommunismus ist eine ideologische Reaktion auf vermeintliche oder tatsächliche Versuche politischer und gesellschaftlicher Emanzipation. Der historische und gegenwärtige Antikommunismus war und ist eine Integrationsideologie, die sowohl Monarchist_innen und Aristokrat_innen, Bürgerliche und Faschist_innen, Konservative, Liberale und Sozialdemokrat_innen ohne Rücksicht auf weitere Differenzen zusammenschweißt und so das Bestehende kritiklos (und oftmals autoritär) verteidigen lässt. Während antikommunistische Ideologien mit dem Gegenstand des Abgewehrten nichts zu tun haben, konfrontiert die Kritik des Kommunismus dessen gescheiterte Realisierungsversuche mit ihren eigenen Ansprüchen. Zwei Neuerscheinungen thematisieren einerseits die Karriere antikommunistischer Ideologie und andererseits die notwendige Reformulierung einer Kritik des Kommunismus. In seinem Buch Heilige Hetzjagd rekonstruiert Wolfgang Wippermann eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, insbesondere des deutschen Antikommunismus. Ausgehend vom Kommunistenprozess 1852 in Köln skizziert Wippermann Karriere und Modernisierung antikommunistischer Politik, die sich nicht nur in Deutschland mit antisemitischen Motiven zu einem wirkmächtigen Verschwörungsdiskurs amalgamierte. Nach 1945 wurde der Antikommunismus vor dem Hintergrund von deutscher Teilung und Kaltem Krieg schließlich zur Staatsideologie in der BRD, die sich im Verbot der KPD niederschlug und sich aktuell im Konzept des Antiextremismus materialisiert. Die weiteren Kapitel sind antikommunistischen Manifestationen in den USA, in Europa allgemein und in der sogenannten Dritten Welt gewidmet. Beeinträchtigt wird der Überblick über die Ideologiegeschichte allerdings teilweise von ärgerlichen Pauschalisierungen.

Matthias Falter

Ein explizit politisches Interesse liegt dem empfehlenswerten von der Leipziger Gruppe INEX herausgegebenen Sammelband zugrunde. Im Zentrum steht dabei die kritische Auseinandersetzung mit Stalinismus und Realsozialismus als Folgen einer gescheiterten Durchsetzung kommunistischer Politik. „Der Verlockung, Kommunismus als abstrakte Idee zu behandeln, um ihn damit von der Geschichte abzuschneiden, sollte also nicht nachgegeben werden – schon weil die befreite Gesellschaft ohne ihre wirkliche Bewegung ein Traum bliebe.“ (S. 9) Dementsprechend kritisieren die ersten Beiträge des Bandes die staatsozialistische autoritäre Glorifizierung von Partei, Staat, Nation und Lohnarbeit sowie die ideologische Abwehr des Geschlechterverhältnisses als Nebenwiderspruch. Die folgenden Artikel setzen sich mit der Kritik des Stalinismus durch Rätekommunist_innen, den Literaten Arthur Koestler und die sogenannte ‚Neue Linke‘ auseinander. Den Abschluss bildet ein Plädoyer für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Staatsozialismus, an dessen Ende nicht die Verteidigung der Marktwirtschaft steht, sondern das Nachdenken über ihre herrschaftsfreie Abschaffung. Anspruch dieser Form emanzipatorischer Kritik am Kommunismus ist es, das Kritisierte zu retten und damit die historische Möglichkeit einer freien Assoziation freier Individuen zu bewahren. Gruppe INEX (Hg.): Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus. Unrast Verlag. Münster 2012. 15,30 EUR Wolfgang Wippermann: Heilige Hetzjagd. Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus. Rotbuch Verlag. Berlin 2012. 10,30 EUR Gruppe INEX – Gegen jeden Extremismusbegriff: http:// inex.blogsport.de/

Österreich, befreit wie nie Es könnte so einfach sein: Dort Österreich ist befreit! die traurigen Burschis, hier die kritische Partycrew. Nur: Wer Satte 40 Jahre gelang die nationale Verschwörung gegen die Geschichte: Österreich war das Opfer wurde am 8. Mai befreit?
 des Nationalsozialismus, seine Bevölkerung ge-

V

iel Neues ließ man sich nicht einfallen, um den trauernden Schmissgermanen auch dieses Jahr an den Deckel zu werfen, dass sie eigentlich Nazis sind, deshalb den Heldenplatz doch bitte freigeben mögen und, wie könnte es anders sein, wer nicht feiert, den Krieg verloren hat. Das Script kannte man schon von 2011: Ein „breites Bündnis“, so die geläufige Selbstbezeichnung, marschiert zum Heldenplatz und pflanzt sich neben die Verbliebenen der nachmittäglichen Kundgebung. Nach langem Warten tauchen zwischen den Helmen der PolizistInnen die ‚ersehnten‘ Säbelnazis auf, man brüllt ein paar altbackene Parolen, informiert die staatliche Ordnungsgewalt, dass sie mal wieder Faschisten schützt (was die Uniformierten jedoch wenig beeindruckt) und hält den Auflauf zu allem Überfluss für eine Feier. Dann ist der Spuk auch schon vorbei, die Burschibagage in den Gassen Wiens verschwunden und die Aufgabe guten Gewissens erfüllt. Doch irgendetwas war dieses Mal anders: Denn im Unterschied zu früheren Jahren, in denen der 8. Mai nur bei auserlesenen linken Gruppen im Kalender stand, nimmt inzwischen sogar das offizielle Österreich dieses Datum für sich in Anspruch, um 67 Jahre nach der Kapitulation der Wehrmacht in aller Form die Befreiung Österreichs zur nationalen Selbstverständlichkeit zu erklären.

06

schlagen und getreten und die heimischen Soldaten haben in der Armee des deutschen Besatzers die Heimat verteidigt – Ideologie, erst recht die postnazistische, legt nicht sonderlich viel Wert auf innere Kohärenz. In den 1980ern begann das mühsam gepflegte Selbstbild jedoch zu bröckeln, die Vergangenheit schlug zurück: Auf offene Opferrhetorik folgte Betroffenheitsgestus, auf infantile Verweigerung der Realität ihre neutralisierende Archivierung. Einige ÖsterreicherInnen, so musste man einsehen, waren wohl doch stramme Nazis gewesen, aber das neue, andere Österreich hatte aus der Geschichte gelernt und jedes Residuum der gestorbenen Ideologie „aufgearbeitet“ oder zumindest an den gesellschaftlichen Rand – zur Krypta am Heldenplatz hin – gedrängt. Die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit ermöglichte nach bundesdeutschem Vorbild die Rede über die Verbrechen, ohne sich deren gesellschaftlicher Bedeutung für die Gegenwart gewahr werden zu müssen. Denn dem postnazistischen Zustand, dass Elemente des Nationalsozialismus unter demokratischen Verhältnissen fortwesen, tat jene Umkehr im österreichischen Selbstverständnis freilich keinen Abbruch. Unberührt von der Transformation des Geschichtsbewusstseins blieb vorerst der 8. Mai. Allzu sehr verwundert diese langjährige Igno-

Minna Großneig

ranz jedoch nicht, erinnert doch jenes Datum nicht nur an die militärische Niederlage des Nationalsozialismus, sondern auch an den Beginn der Besatzung durch die Alliierten, daran also, „daß militärische Überlegenheit durch eine De1 mokratie errungen werden kann“  und das völkische Kollektiv unter die fremde rechtsstaatliche Ordnung gezwungen wurde. Indem die versammelte Politprominenz nun jedoch den 8. Mai als österreichischen Tag der Befreiung umzudeuten versucht, wiederholt sich der Salto mortale der 1990er, als die Opferthese ihre zeitgemäße Adaption erfuhr. Befreit konnten sich an jenem Tag allein die überlebenden Opfer des nationalsozialistischen Wahns fühlen, die wankenden Gespenster der Konzentrationslager; in der österreichischen Bevölkerung die legitime Feiergesellschaft des 8. Mai zu erkennen, vollbringt das perfide Kunststück, die Nachfolgegesellschaft der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft mit den Opfern der völkischen Raserei zu identifizieren. Aus den TäterInnen der Ostmark, den Subjekten des Nationalsozialismus werden in der aktualisierten Version des Postnazismus die vom Nationalsozialismus Befreiten; aus den Subjekten postnazistischer Ideologie wird die nationale Feiergemeinschaft, die sich endlich von der Geschichte und ihrer Erscheinung in der Gegenwart befreit wähnen darf.

„Ihre Niederlage, ­Be­freiung!“2

unsere

Während die Nation am neuen Mythos bastelt, gefällt sich die lokale Linke in der Rolle

der ideologischen Avantgarde. Statt die aktuellen Entwicklungen im Sumpf des nationalen Bewusstseins zum Anlass zu nehmen, die postnazistische Normalität in diesem Land zu reflektieren, unterlegt man den von PolitikerInnen vorgetragenen erneuerten Opfermythos mit den passenden Sprüchen: Kein Zweifel soll daran entstehen, dass es am 8. Mai „unsere Befreiung“ zu feiern gelte, und es fällt schwer, im supponierten ‚Wir‘ jemand anders als die österreichische Volksgemeinschaft zu vermuten. Wahrscheinlich ohne es zu wissen und zu wollen, wurde in einem Standard-GastKommentar die maßgebliche Rolle der Empörten vom Heldenplatz im nationalen Treiben erkannt. Im Gleichschritt mit den RepräsentantInnen dieses Staates haben sie sich eigenständig zu jenen müßigen Gestalten degradiert, „die an diesem 8. Mai wieder einmal das internationale Ansehen Österreichs durch ihr Auftreten gerettet haben“.3 Anmerkungen: 1 Neumann, Franz: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1945 (1944). Frankfurt/ Main: Europ. Verl.-Anst. 1977, S. 17f 2 Offensive gegen Rechts: Rechtsextremen Aufmarsch verhindern. Flyer zur Demonstration am 8. Mai 2012 3 Zawrel, Peter: 8.-Mai-Gedenktag: Schreiben wir wirklich das Jahr 2012? In: derstandard.at (9.5.2012). Online 
 verfügbar: http://derstandard. at/1336563037398/Peter-Zawrel-8-Mai-GedenktagSchreiben-wir-wirklich-das-Jahr- 2012


gesellschaft

Überall nur ‚Opfer‘? Ein Nachruf der Aufrufe zum 8. Mai Aufruftexte werden oft zu Orten des Phrasendreschens – das ist nichts Neues. Dass es zum 8. Mai Mobilisierungsversuche voll mit ebendiesen gibt, mittlerweile auch nicht mehr. An dieser Stelle soll ein Blick auf die dem Anlass zugrundeliegende Phraseologie geworfen werden.

Innen am deutschen Vernichtungskrieg für einen nicht unwesentlichen Teil der österreichischen Öffentlichkeit ein wichtiger Bestandteil nationalen Gedenkens. So wird am Österreichischen Heldendenkmal am Heldenplatz sowohl Wehrmachtsangehörigen als auch Angehörigen der SS gedacht. Seit 2002 trauern ebendort jedes Jahr am 8. Mai Burschenschafter und die angeschlossene FPÖ um ihre ‚Helden‘. Dieser österreichische Normalzustand wäre nun nicht besonders überraschend, wenn sich nicht infolge der Proteste gegen den Ball des Wiener Korporationsrings eine pannend an Phrasen ist, dass sie scheinbar veritable Gegenveranstaltungskonkurrenz entwieindeutig daherkommen, aber in ihrer Am- ckelt hätte und die oben genannten zwei Initiatibivalenz alles, nichts und noch weniger aussa- ven getrennt zu Protest aufriefen. An und für sich wäre das ja auch begrüßensgen können. Das führt zur Frage, was das Bündnis Offensive gegen Rechts (OGR), die Plattform wert, es kommt ohnehin viel zu selten vor, dass Jetzt Zeichen Setzen und Michael Spindelegger in Österreich unterschiedliche Formen von Engagemeinsam haben. Um die Frage gleich vor- gement nebeneinander existieren und sich nicht weg zu beantworten: Offensichtlich wurden eine Seite beleidigt zurückzieht. Problematisch sie alle befreit! In der obigen Reihenfolge klingt wird es an dem Punkt, an dem jenseits von histodas dann jeweils so: „der 8. Mai ist kein Tag der rischen Fakten, politischen Rahmenbedingungen Trauer, sondern der Tag der Befreiung und des und purer Vernunft der Anlass benutzt wird, um Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialis- Phrasen zu dreschen, und in diesem Fall, schlim1 mus“  , „Wir feiern am 8. Mai die Befreiung vom mer noch, die eigene Exkulpation4 zu betreiben. 2 nationalsozialistischen Verbrechensregime“  Damit wären wir auch wieder bei den Eingangsund zu guter Letzt „[...] den 8. Mai als Tag der zitaten angelangt. Und an diesem Punkt sollte Befreiung von der Nazi-­Diktatur am Helden- klar gestellt werden: Der 8. Mai ist zunächst der platz feierlich begeh[en]“ 3. Tag der Niederlage des Dritten Reiches. Es ist der Tag, an dem die Deutschen besiegt wurden. Alle jene auf dem Gebiet des sogenannten Altreichs So weit, so Banane ebenso wie in Österreich, Tschechien, Südtirol Wie kommt es also dazu, dass Gruppen und und den anderen besetzten Gebieten, in denen ‚Einzelpersonen‘, die eigentlich wenig bis gar zuvor den einmarschierenden deutschen Trupnichts gemeinsam haben, sich so vergleichbarer pen zugejubelt wurde – alle diese Menschen wurTextbausteine bedienen? Warum benutzen alle, den besiegt und nicht befreit. Wenn nun die Rede wenn auch verschieden plakativ und in unter- von ,Befreiung‘ ist, dann bietet das den heutigen schiedliche Geschichtserzählungen eingebet- ZeitgenossInnen Raum, sich selbst als die besseren Menschen zu sehen. Als eineN von jenen, ‚die tet, das Schlagwort ,Befreiung‘? Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapi- damals nicht dabeigewesen sind‘. Die Notwentulation der deutschen Wehrmacht in Kraft, wo- digkeit, sich selbst als Objekt der Kritik zu sehen, mit der Zweite Weltkrieg in Europa und in Kon- tritt zurück vor der ungleich leichteren Möglichsequenz die nationalsozialistische Herrschaft keit, sich selbst aus dem TäterInnenkontext zu beendet wurden. In der DDR wurde der 8. Mai nehmen und stattdessen die TäterInnen anderslange als staatlicher Feiertag, eben als „Tag der wo zu suchen. Befreiung“, begangen, nicht aber in den ‚westlich‘ orientierten Nachfolgestaaten des Dritten Rei- Wer nicht feiert, der hat was? ches, also in Österreich und der BRD. Gerade in Österreich war die staatliche Motivation gering, Wenn nun, wie im Fall der OGR, der 8. Mai an das Ende des Zweiten Weltkrieges zu erinnern: zu einem weiteren aktivistischen Pflichtterschließlich wären dabei unangenehme Details min ,gegen rechts‘ gemacht wird und Slogans zur Rolle von ÖsterreicherInnen im Dritten Reich wie „ihre Niederlage, unsere Befreiung“ oder zur Sprache gekommen. Allerdings war etwa „wer nicht feiert hat verloren“ bemüht werden, die massenhafte Beteiligung von Österreicher­ darf mit gutem Recht bezweifelt werden, ob die

S

Das kleine Ich bin Ich

­Beteiligten ihren Part zu Ende gedacht haben – auch in Anbetracht der Tatsache, dass sich ein beträchtlicher Teil des Aufrufes nicht um den Termin und den Anlass, sondern um die FPÖ dreht. Zweifelsohne notwendig; ob jedoch die im Text behandelte „Krise“ ursächlich etwas mit dem Termin und dem burschenschaftlichen „Heldengedenken“ zu tun hat, darf bezweifelt werden. Ähnliches gilt für die inflationäre Verwendung des Terminus „rechtsextrem“. Dass der Extremismus-Begriff vollkommen ungeeignet ist, um jenseits von verfassungsschützerischen Interessen angewendet zu werden, sollte zumindest politisch linken Gruppen klar sein. Im Gegensatz dazu muss dem Aufruftext der zivilgesellschaftlichen ‚Konkurrenzveranstaltung‘ zugestanden werden, dass er auf dem schmalen Grat zwischen politischem Kampagnensprech und historisch-politischer Richtigkeit zu balancieren versucht. Nichtsdestotrotz macht die Teilnahme der Israelitischen Kultusgemeinde und verschiedener Verfolgtenverbände weder die Grünen noch die ÖH-Bundesvertretung zu Opfern des NS-Regimes. Ebenso muss angemerkt werden, dass der positive Bezug auf ein „privates Andenken“ an Wehrmachtssoldaten oder die Floskeln vom „Leid der Bevölkerung in Österreich“ die Grenze zur Anbiederung an rechte und revisionistische ZeitgenossInnen klar überschreiten.

Gut gemeint ist auch daneben! Aber auch Kritik an den oben erwähnten Konzepten, die allesamt bereits vor dem 8. Mai bekannt waren und seit Jahr(zehnt)en diskutiert werden, hat es gegeben. Problematisch wird es allerdings, wenn eine sich selbst als linksradikal definierende Gruppe wie die autonome­ ­antifa [w] ihren Aufruf zu einer Diskussion über Interventionen und Inhalte von Anfang an so formuliert, dass es schwer fällt, sie politisch ernst zu nehmen. „Österreich, du Opfer“ 5 ist einfach nicht lustig. Mag sein, dass damit der österreichische Umgang mit der Geschichte, vielleicht auch die Reetablierung des „Opfermythos“ auf individualisierter Ebene, gemeint war, aber alles das ändert nichts daran, dass diese Formulierung schlicht und ergreifend MackerInnenscheiß ist. Dieser Gestus zelebriert die eigene Erhöhung und stellt gleichzeitig die Abwertung des Gegenübers zur Schau. Die inflationäre Verwendung der Bezeichnung „Opfer“ verharmlost die Situation von Personen, denen real Gewalt widerfahren ist. Sie reproduziert­

Verhaltensweisen und Rollenbilder, die zu kritisieren und zu bekämpfen sind. In diesem Kontext muss die Formulierung auch als Herabwürdigung der Opfer des Nationalsozialismus verstanden werden, vor allem dann, wenn die Begriffsbedeutung der Jugendsprache auf den historischen Fall übertragen wird. Im Übrigen sollte es mittlerweile auch bis zur autonomen­ ­antifa­ [w] durchgedrungen sein, dass unter den TäterInnen des NS auch Frauen waren – auch wenn laut Text nur „Volksgenossen“ beteiligt scheinen. Zu guter Letzt muss noch, und diese Kritik geht auch an die bagru powi, die in den Jahren zuvor die Nationalfahnen der Alliierten geschwenkt hat und sich dieses Jahr nur in Form eines Interventionstextes an der Diskussion beteiligte6, die etwas süffisante Frage gestellt werden, ob die unbedingte Identifikation mit den Aliierten nicht nur als positive Referenz, sondern ebenso als in diesem Fall akklamierende Exkulpationsstrategie verstanden werden kann? Auch dieses Verhalten mag sich aus dem problematischen Wunsch erklären, außerhalb der TäterInnengemeinschaft zu stehen – jedenfalls wenn es unreflektiert passiert.

Meint ihr das wirklich ernst? Schlussendlich kann nur an alle beteiligten Gruppen die Frage gestellt werden, ob sie das wirklich ernst meinen. Ist es der autonomen ­antifa­ [w] wirklich ernst mit einer Intervention, die erst inhaltlich ins Klo greift und dann daraus besteht, auf der Demo mit Transparenten aufzutauchen und Fahnen zu schwingen? Will Jetzt Zeichen setzen sich allen Ernstes begrifflich mit dem österreichischen Vizekanzler und Coleurbruder Spindelegger ins Boot setzen, um den 8. Mai in das staatliche Selbstverständnis zu inkorporieren? Und wollen die AktivistInnen der OGR ernsthaft behaupten, dass sie den Slogan „ihre Niederlage – unsere Befreiung“ für politisch vertretbar halten. Hoffentlich nicht! Anmerkungen: 1 www.offensivegegenrechts.net/?p=767 2 www.jetztzeichensetzen.at/ 3 http://derstandard.at/1324501121435/8-Mai-Tag-derBefreiung-statt-Heldengedenken 4 Unter der Exkulpation wird in der Rechtswissenschaft die Schuldbefreiung einer Person verstanden. 5 http://antifaw.blogsport.de/2012/05/04/vortrag-unddiskussion-der-8-mai/ 6 www.bagrupowi.at/docs/texte/2012/achtermai.html

07


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feuilleton

Asphalt & Neonlicht

E. G.

... was wurde eigentlich aus den FreeTekRevoluzzerinnen? 1

Martin ist ein DJ-Freund. Anders als ich hat er den Aufstieg der österreichischen FreeTekno-Szene erlebt und mitgetragen. Einmal saßen wir auf der Donauinsel mit ein paar Dosen Bier und er erzählte von der romantisch-revolutionären Verklärung, dem EntdeckerInnen-Geist und der späteren Ernüchterung, die dieses Erleben mit sich brachte. „Ein Haufen Jugendlicher, die selbst frisch geduscht aussahen, als hätten sie seit Wochen keine Seife mehr gesehen und permanent nach Diesel rochen. Wir kleideten und fühlten uns wie Guerillamilizen und hatten einen Auftrag.“ Der Auftrag lautete: Party. Doch nicht nur um des Hedonismus Willen, sondern „um einen Platz zu besetzen, eine antikapitalistische Party zu feiern, mit lauter Musik gegen die herrschenden Zustände zu protestieren“. Die Zahl

und Größe der illegalen Raves ist heute beträchtlich kleiner als damals. Über diejenigen, die die Partys organisieren, die Soundsysteme, erzählt Martin: „Das ist der etwas militante und chaotisch wirkende Haufen, bewaffnet mit einer 15-KW-Anlage, mehreren Litern Diesel, einer Bar, selbstgemachten T-Shirts, Schallplatten und einem veralteten Fuhrpark.“ Die Partys sind durchweg unangemeldet, werden spontan binnen weniger Stunden aufgebaut, oft mit Hilfe anderer Soundsysteme und in Sorge, polizeilich aufgelöst zu werden – die Szene ist familiär, hält zusammen. Jedes Wochenende machen sich Hunderte Gleichgesinnte auf den Weg ins Ungewisse, um gemeinsam zu feiern. „Dieser Raum ist besetzt und jetzt gelten hier die Regeln des Soundsystems, nämlich keine

Regeln, sei frei und denke frei. Geld hat hier fast keine Bedeutung“, schildert Martin das Selbstverständnis von FreeTek-Partys. „Wir glaubten, ein Funken genüge, um eine Revolte auszulösen. Das FeindInnenbild für FreeTekno war ganz klar der faschistische Kapitalismus, der Kommerz, die ungerechte Aufteilung der Macht sowie die Ausbeutung der Schwachen und der Natur. Das Ziel: ,Power to the people‘!“ Heute sagt Martin: „Dieses Schwarz-Weiß-Denken stärkte sicher auch den Zusammenhalt.“ Jahre der intensiven Polizeirepression, der systematischen Auflösung von Partys, Hausbesuche, Geld- und Haftstrafen, aber auch massiven sozialen und gesundheitlichen Abstürze sowie zahlreichen Todesfälle veränderten die Szene. Tekno wich zunehmend in legale Loca-

tions aus, die szenetypischen Ideale traten in den Hintergrund: „Jetzt ist die Musik, die damals ein Zeichen des Protests war, nur mehr Hintergrundmusik für den mittlerweile vordergründigen Rausch. Die BesucherInnen sehen sich als KonsumentInnen, zahlen hohe Eintrittsgelder, wollen eine Garderobe und eisgekühlte Getränke. Die damals so sinnvolle Tarnkleidung dient heute nur mehr der modischen Zugehörigkeit. Welch eine Ironie, dass der antikapitalistische Grundgedanke, welcher diese Szene großmachte, zum Verkaufsschlager wurde“, seufzt Martin, der mit den einst erlernten Skills heute ebenfalls sein Geld verdient. Anmerkung: 1 Name von der Redaktion geändert.

FILM ** Freitag, 25. Mai, ab 18:30 Uhr: Film-Screening: Konkret-Kongress 1993 mit Input und Kommentaren von Stephan Grigat In der HuS – Fakultätsvertretung an der Uni Wien (1010, Rathausstraße 19-21) https://www.facebook.com/hus.wien

** 1. bis 7. Juni: Filmreihe Real America beschreibt auf eindringliche innovative und lakonische Weise die Lebensverhältnisse der Menschen in den USA. Im Stadtkino (1030, Schwarzenbergpl. 7) www.stadtkinowien.at/

** Freitag, 25. Mai, 20:00 Uhr: Filmscreening: W.R. – Misterije organizma­ (Mysteries of the Organism), 1971 (USA, YU). Kulturkritischer Science-FictionPorno. Freier Eintritt! Im C1, Uni Campus, (1090, Spitalgasse 2)

** 5. Juli bis 23. August, täglich 21:30 Uhr: Viennale wie noch nie – Kino im Grünen Wiens Im Augarten (1020, Obere Augartenstr. 1) www.kinowienochnie.at/

** Freitag, 2. und Samstag, 3. Juni, 19:00 Uhr: Theater: reALIC – Zwischen Normalität und ihrer eigenen Realität beginnt Alice ihre Reise ins Wunderland. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) www.med-user.net/~ekh

** Täglich, 16:00/18:00/20:00 Uhr: TOMBOY. Ein Film über Laure, ein Mädchen, das sich nicht für die ihr zugewiesene Geschlechterrolle entscheidet. Im Votivkino (1090, Währingerstraße 12) www.votivkino.at/

TREFFPUNKTE ** Einmal im Monat: Die Thewi lädt alle Frauen, Lesben, Transgender- und Intersex-Personen zum *Frauenraum. Im Bagru-Thewi-Raum (1080, Berggasse 11) www.thewi.at/ ** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00 bis 20:00 Uhr: Kostnixladen, Café, Anarchistische Bibliothek & Archiv, Theoriebüro. In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) www.umsonstladen.at/ ** Jeden Mittwoch und Freitag, 17:00 bis 20:00 Uhr: Die Biliothek – von unten. read – resist – rebel – revolt In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) http://wipplinger.blogspot.com/ http://bibliothek-vonunten.org/

** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Uhr: Politdiskubeisl Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) http://med-user.net/~ekh ** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Uhr: Subversives Freiräumchen zum Abschalten und Revolutionen planen mit Stil – links, subversiv, mit Flirtfaktor. In der Rosa Lila Villa, 1. Stock (1060, Linke Wienzeile 102) www.villa.at/ ** Jeden 1. Donnerstag im Monat, 20:00 Uhr: Volxlesung – mensch kann lesen, singen, rappen, stricken oder einfach nur zuhören, pausen werden angenehm beschallt. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) www.1bm.at/

** Jeden 3. Mittwoch im Monat: FRAME_in: Screening queer-feministischer, do-it-yourself, low-budget Dokumentarfilme. Eintritt frei, freie Spende. Im Schikander (1040, Margaretenstr. 24) www.schikander.at/

AUSSTELLUNG ** Bis 31. Mai: Bilder der Sprache – Sprache der Bilder. Eine Auseinandersetzung der Künstlerin Ilse Wolf mit dem Werk Ingeborg Bachmanns. Im Kunsthaus Wien (1030, Untere ­Weißgerberstraße 13)

** bis 12. August: Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern. Jeden ersten Sonntag im Monat: Eintritt frei! Im Wienmuseum (1040 Wien, Karlsplatz) www.wienmuseum.at/

Der Kultur- und Sozialverein

dasbäckerei

ist eröffnet! http://dasbaeckerei.net/

** bis 2. September: Parallelwelt Zirkus. In der KUNSTHALLE Wien, Halle 1 (1070, Museumsplatz 1) www.kunsthallewien.at/

Tagescafe mit Infobereich, Veranstaltungen, Textilwerkstatt, Küche. Wir wollen mit Das Bäckerei das solidarische Zusammenleben im Grätzl, im Bezirk und letztlich überall fördern. Dabei ist uns ein zwischenmenschlicher Umgang, der ohne Diskriminierungen und Stereotypen auf Grund von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, Klasse, und sexueller Orientierung auskommt sehr wichtig.

** Bis 2. September: „Schmatz Mampf Schlürf“ – Mitmachausstellung für Kinder, weil essen schön & lustvoll ist. Im Zoom-Kindermuseum (1070, Museumsplatz 1)

Derzeitige Öffnungszeiten: Montags ab 13:00 Uhr Donnerstags ab 15:00 Uhr Adresse: Tannengasse 1, 1150

** Bis 28. Februar 2013: Schaufenster – Ulrike Lienbacher. Kartenhaus (Fotoarbeit) Bei der Kunsthalle Wien (1070, Museumsplatz 1) ** Jeden Donnerstag und Freitag, 18:00 bis 24:00 Uhr: Frauencafé Wien geöffnet! Plenum jeden ** Donnerstag, 24. Mai, ab 20:00 Uhr: ersten Donnerstag im Monat. Im Frauencafé (1080, Lange Gasse 11) ETHNOFEST. The End Band, Maracatu, www.frauencafe.com/ Mr. White, Ants, Basbakery (DJ), KlarHorn (DJ). Eintritt: 3 EUR. ** Jeden Freitag, 16:00 bis 19:00 Uhr: Im Fluc (1020, Praterstern 5) www.fluc.at/ Kindercafé – offen für alle! Im Kindercafé Lolligo (1010, Fischerstiege 4–8) ** Jeden 2. Samstag im Monat, ab 19:00 Uhr: www.lolligo.net/ 1bm Freestylesession – An der improvi** Jeden Samstag, ab 20:00 Uhr: sierten Darbietung rhythmischer Texte SilentBar – Freie Preise, selber denken! erfreuen + beteiligen. Im PerpetuuMobile 2.3 Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) (1150, Geibelgasse 23) www.1bm.at/ http://kukuma.blogsport.eu/ ** Mittwoch, 6. Juni, ab 16:00 Uhr: D-Day Parkfest: Entspanntes Parkfest am Jahrestag des D-Days. Mit elektronischer

MUSIK & FEIERN Musik, Picknickatmosphäre und leckeren Getränken. Auf dass die Notwendigkeit von Befreiungsinterventionen dereinst obsolet werden mag. Am Reithofferplatz, 1150 Wien ** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 19:00 Uhr (gemeinsam kochen ab 16:00 Uhr): TÜWIs JAMSESSION. Im Tüwi (1190, Peter-Jordan-Straße 76) http://tuewi.action.at/ ** Freitag, 22. Juni 2012, 23:00 Uhr: Bretterbodendisko. Eintritt: 3 EUR. Foyer, Bar im Künstlerhaus (1010, Karlsplatz 5a) www.brut-wien.at/

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feuilleton

Ankunft des osteuropäischen Kinos in Wien Philipp Brugner

D Wenn am 28. Mai 2012 um 19:30 Uhr mit In Darkness – eine wahre Geschichte Agniezska Hollands jüngstes und Oscar-nominiertes Werk als erster Film des Let’s CEE (Central and Eastern European) Filmfestivals über die Bühne geht, erlebt Wien eine Premiere: Noch nie zuvor wurde ein ausschließlich dem zentral- und osteuropäischen Film gewidmetes Filmfestival in der Stadt abgehalten.

rehen wir die Zeit ein wenig zurück. Bereits vor mehr als einem Jahr begannen die Planungen für das erste Let’s CEE Filmfestival. Hauptverantwortlich dafür zeichnete mit Magdalena Żelasko eine Person, die auch schon am Institut für Slawistik der Universität Wien Film unterrichtet hat. Durch ihre Arbeit konnte sie viele Kontakte zu osteuropäischen Filmschaffenden aufbauen, welche immer auch gerne nach Wien gekommen wären, um ihre Filme selbst vorzustellen, so Żelasko. Was fehlte, war lediglich der institutionelle Rahmen. Mit dem Let’s CEE Filmfestival wurde dieser nun geschafften. Es liegt auf der Hand, dass Wien als Knotenpunkt zwischen West- und Osteuropa ein solches Festival braucht (oder besser: immer schon gebraucht hat). Mehr als 750.000 Menschen aus den CEE-Ländern leben in Österreich, die meisten davon im Großraum Wien. Doch nicht nur sie soll das Filmfestival ansprechen, es sei „allen

Österreicher_innen gewidmet, die sich für guten Film interessieren“, sagt die Festivalgründerin. Und es kommt einiges auf das Publikum zu: Gespielt werden aktuelle Arthouse-Filme, Kassenschlager sowie Klassiker verschiedener Genres. Es gibt einen Spiel- und Dokumentarfilm-Wettbewerb, wie auch verschiedene Programmschienen. Insgesamt wird es mehr als 30 der aktuell besten Spiel- und Dokumentarfilme aus Zentral- und Osteuropa zu sehen geben. Als Highlights dürfen sicher der bereits erwähnte In Darkness, Siberia, Monamour, ­Zenne – Dancer, oder Everybody in Our ­Family gelten. Siberia, Monamour ist die zweite, viel beachtete Kino-Regiearbeit Slava Ross’, Z ­ enne – Dancer stammt von den beiden bekannten türkischen Regisseuren M. Caner Alper und Mehmet Binay und Everybody in Our Family des Rumänen Rade Jude lief sogar als Berlinale-Beitrag. Die Festivalwoche vom 28. Mai bis zum 3. Juni wird darüber hinaus von einem breit

aufgestellten Rahmenprogramm begleitet. Auf ihre Kosten kommen nicht nur Theoretiker_innen bei einem Filmsymposium, Schulkinder in der Schulkino-Reihe oder Kunst-Liebhaber_innen bei einer Fotoausstellung, sondern auch alle Partywütigen, die mit musikalischen Highlights im Ost Klub und der Strandbar Herrmann verwöhnt werden. Die Festival-Tickets kosten für Student_innen 6,50 EUR, regulär 7,50 EUR. Und der Kauf zahlt sich gleich doppelt aus: Viele der Regisseur_innen und Schauspieler_innen werden während des Festivals in Wien und damit aus nächster Nähe zu bestaunen sein. Info: Karten für alle Filme sind ab sofort auf der Website letsceefilmfestival.com und bei oeticket.com erhältlich. Und in der Festivalwoche wird es natürlich auch Tickets an den Abendkassen der Festival-Kinos Urania und Apollo geben.

Feminismus und die Snare auf Zwei und Vier Jan Tölva

Auch im linken Hip Hop herrscht sein sollten. Doch solange wir davon so weit nach wie vor Männerdominanz. entfernt sind, wie wir es leider sind, ist es halt Sookee und Lena Stoehrfaktor doch ein Thema. spielen dennoch ganz vorne mit. Berlin Calling Jan Tölva sprach mit ihnen.

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or mittlerweile 14 Jahren rappte Cora E. schon „... und der MC ist weiblich“, doch auch heute noch sind weibliche oder generell nicht-männliche MCs eine relative Ausnahmeerscheinung im Hip Hop. Natürlich gab und gibt es immer wieder auch Ausnahmen wie Missy Elliott, Lady Sovereign und Speech Debelle oder auch Pyranja, Nina und Fiva MC im deutschsprachigen Raum. Doch auf jede von ihnen kommen Dutzende male MCs, und es macht nicht den Anschein, als ob sich an diesen Proportionen sehr bald etwas in drastischer Weise ändere. In der linken bis linksradikalen Subszene des Hip Hop, jenem Genre, das von manchen gerne ‚Zeckenrap‘ genannt wird, sieht es leider nicht viel anders aus. Auch hier dominieren MCs, die männlich, cis und hetero sind. Doch anders als in der Mehrheitsgesellschaft wird hier von vielen zumindest in der Theorie das Durchbrechen von Patriarchat und heteronormativer Matrix angestrebt. In der Praxis sind es dann aber allen Ansprüchen zum Trotz doch wieder vor allem die Jungs, die das Mikro in die Hand nehmen. Natürlich sollten female MCs eigentlich kein Thema sein, weil sie etwas ganz Alltägliches

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Das gilt auch für Berlin, das vermeintliche Mekka des Zeckenrap. Zwei female MCs aus der Szenemetropole an der Spree, die auch ganz ohne Frauenquote in der allerersten Liga des linken Hip Hop ganz weit oben mitspielen, sind Sookee und Lena Stoehrfaktor. Es wäre leicht und billig, beide aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten in Sachen Gender, politischer Grundausrichtung und geografischer Herkunft einfach in einen Topf zu schmeißen, „Frauenrap“ draufzuschreiben und es dabei bewenden zu lassen, doch damit würde mensch beiden nicht im Geringsten gerecht. Es ist interessant und spannend, wie beide mit der Aufgabe, sich als weibliche MCs in einer männlich dominierten Szene zu behaupten, sehr unterschiedlich umgehen. Während Sookee auf ihrer aktuellen Platte­ Bitches Butches Dykes & Divas einen großen Schritt hin in Richtung Pop gemacht hat, liegt der Fokus bei Lena Stoehrfaktors vor kurzem erschienenen Album Die Angst vor den Gedanken verlieren ganz klar auf klassischem Hip Hop im Stil ihrer Crew Conexión Musical mit Kopfnickerbeats und weitestgehend ohne Refrains. Bei Sookee dagegen finden sich allerlei dancefloorkompatible Electrobeats gepaart mit k ­ lassischen Popsongstrukturen und

gelegentlichen­Ausflügen in Richtung Dubstep. „Musikalisch hat sich da tatsächlich einiges getan, das hat aber auch mit den Produktionsvorlieben meiner Beatmenschen zu tun. Die entwickeln sich ja auch“, meint Sookee dazu, „Ansonsten verstehe ich es aber immer noch als Rap.“

Inhalt und Form der Schublade

sagt sie eindeutig, „für mich ist ganz klar, dass Feminismus sein muss und dass alle feministisch sein sollten, solange es Ungleichheiten gibt.“ Wenn es um die Frage nach den Unterschieden zwischen beiden geht, geht es also weniger um Zielsetzung oder Schlagrichtung als viel mehr um Taktik und Setzung von Prioritäten. Die unterschiedlichen Ansätze beider Künstlerinnen können dabei durchaus als exemplarisch angesehen werden für die unterschiedlichen Möglichkeiten, die einer_m da offenstehen. Lena Stoehrfaktor betont ihre ‚realness‘, tritt damit in direkte Konkurrenz zu male MCs und beweist so exemplarisch, dass Gender für die Qualitäten als MC völlig irrelevant ist. Sookee dagegen weigert sich, sich auf das für Hip Hop so typische Kräftemessen einzulassen, indem sie statt dabei mitzuspielen einfach die Regeln neu formuliert und ihr eigenes Ding macht. Wie so oft ist keiner der beiden Wege besser oder schlechter als der andere. Im Kampf um eine emanzipatorische Hip-Hop-Szene können sie sich vielmehr sehr gut ergänzen. Lena hat sicher die größere Strahlkraft nach innen, während Sookee ein Ansatzpunkt für all jene ist, die sich vom ‚machismo‘ der klassischen Hip-Hop-Szene abgestoßen fühlen.­Wichtig ist beides.

Auch auf inhaltlicher Ebene gibt es bei beiden durchaus Unterschiede. Sookees Fokus liegt klar auf Message. Auch wenn es in vielen Songs vordergründig um ganz andere Themen geht, so schimmern Thematiken wie Gender und Queer doch immer irgendwann irgendwo durch. Bei Lena Stoehrfaktor dagegen tauchen Geschlecht und Sexualität zwar auch auf, aber weniger als Themen an sich als vielmehr in Form von persönlichen Erfahrungen, die sie als Frau und Lesbe in dieser Gesellschaft macht. „Eigentlich sind mir Labels gar nicht wichtig“, erklärt sie selbst dazu, „aber da viel gelabelt wird, bin ich wenn schon denn schon eine Lesbe, und wenn queer cool ausgelegt wird, dann bin ich auch queer.“ Sookee dagegen sind derlei Labels durchaus wichtig, weil „es sich ja immer noch um Hip Hop handelt und die reguläre Szene weder feministisch noch queer ansatzweise respektiert Diskographie: oder überhaupt zulässt.“ „Die Angst vor den Gedanken verlieren“ von Lena Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluss zu Stoehrfaktor ist Ende 2011 im Selbstverlag erschienen. ziehen, dass dieses Thema für Lena keine Rol- „Bitches Butches Dykes & Divas“ von Sookee ist Ende le spielen würde. „Feminismus ist mir wichtig“,­ 2011 bei Springstoff erschienen.


feuilleton

Das „Lechzen nach Authentizität“ Tendenzen im Dokumentarfilm Martin Krammer

BeobachterInnen in Medien und Filmwissenschaft sind sich weitgehend einig – bereits seit einigen Jahren erlebt „das Dokumentarische“ eine Renaissance.1 Gerne wird diesen Bewegungen ein zugrundeliegender „Hunger nach Realität“ oder ein „Lechzen nach Authentizität“ attestiert. Doch was steckt hinter diesen Worthülsen?

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ie steigende Anzahl an Dokumentarfilmproduktionen sowie deren Repräsentation und Auszeichnung in Cannes, Venedig oder bei eigens dafür ins Leben gerufenen Festivals wie etwa dem International Documentary Film Festival in Amsterdam (IDFA) scheinen einen dokumentarischen Trend zu bezeugen. Daneben sind schon seit geraumer Zeit das Fernsehen – mit journalistischen Reportagen, aber auch Dokusoaps und anderen Realityshows – sowie neuerdings auch das Internet mit Produkten von Dokumentarfilmkollektiven und Videoportal-AmateurInnen von Realitätsversprechen durchzogen. Woher kommt aber die aktuelle Konjunktur des Dokumentarfilms? Oft wurde sie an der Resonanz auf Michael Moores Serie von Kassenschlagern wie Bowling for Columbine oder Fahrenheit 9/11 bei Publi-

kum und Filmkritik festgemacht. Lässt aber der Erfolg Moores als selbstinszenierter, satirischer ‚Volksaufklärer‘ auf einen plötzlichen Schub an breitem politischen Interesse schließen? Zweifellos haben die Filme Wellen geschlagen; ob verklärender Fan oder zynischeR KritikerIn, sich der Debatte in Medien und Öffentlichkeit zu entziehen fiel schwer. Trotz verbreiteter Politikverdrossenheit, nicht nur in den USA, eröffneten Moores Filme kurzzeitig einen Raum für das eigentlich Politische, die „Intervention in das Sichtbare und 2 das Sagbare“  . Daher sind natürlich auch filmische Verhandlungen anderer populärer Problemkomplexe unserer Zeit politisch – so etwa globalisierungskritisches Kino (Workingman’s Death), auf die hypertrophierte Finanzwirtschaft gerichtete Produktionen (Inside Job) oder das Foodwatch-Genre (We Feed The World).

„Anwesenheit von Abwesenheit“ Sie alle widmen sich weltumspannenden Phänomenen; der sich unaufhörlich weiterdrehenden Globalisierungsspirale, vor allem der medialen, verlieh die Geburt des Films zusätzlichen Schwung. Das steigende Interesse an jenem dem eigenen (geografischen) Lebensbereich Entlegenen und das Zirkulieren des kinematografischen Bildes – im realen Warenaustausch und im kollektiven Bewusstsein – scheinen sich gegenseitig zu befördern. Der Dokumentarfilm ist eben nicht nur Gegenstand und Projektionsfläche des

Begehrens nach Wissen und Wahrheit, sondern auch der Identifikation mit dem ‚Anderen‘. 3 Von anderen Ausdrucksformen, etwa dem geschriebenen Wort, hebt ihn zudem das Vermögen ab, seinen Gegenstand zu zeigen und konkret erfahrbar zu machen anstatt ihn lediglich zu beschreiben. Das bewegte Bild aktualisiert, haucht Geschichte Leben ein.4 Oft wird sein sinnliches Erlebnis daher mit dem Hervorrufen der „Anwesenheit von Abwesenheit“ 5 nach Walter Benjamins Definition der Spur beschrieben.

Vorherrschaft von Visual Effects, die Manipulation und Neubearbeitung von Informationen zum Zweck der Einpassung in Argument oder Story sind Bewegungen, die die Kommerzialisierung von Non-Fiction-Produktionen exemplifizieren.“ 7 Offenbar befriedigt ein formloses Dokument das Lechzen nach Authentizität und Wahrheit heute nicht leichter als damals. Noch immer stiftet Fiktion den Sinn, der dem Stoff der Realität nicht von sich aus innewohnt.

Der Kostenfaktor

Anmerkungen: 1 Bereits Anfang der 1990er Jahre wird vermehrt darauf hingewiesen, etwa von Linda Williams in: Eva Hohenberger / Judith Keilbach (Hg.innen): Die Gegenwart der Vergangenheit. Vorwerk 8. Berlin 2003 2 Jaques Rancière zitiert nach Thomas Bedorf in: Ders. / Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik. Suhrkamp. Berlin 2010 3 Vgl. Elisabeth Cowie: Recording Reality, Desiring the Real. University of Minnesota Press. Minneapolis 2011 4 Vgl. Jacques Rancière: Die Geschichtlichkeit des Films in Drehli Robnik / Thomas Hübel / Siegfried Mattl (Hg.): Das Streitbild. Turia+Kant. Wien 2010 5 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Suhrkamp. Frankfurt a. Main 2006 6 Wobei es zu bedenken gilt, dass der Dokumentarfilm seit jeher mit fiktionalisierenden und narrativierenden Verfahren arbeitet. 7 Frei übersetzt nach Stella Bruzzi: New Documentary. Routledge. New York 2006

Am Ende ist jedoch auch wieder das Kapital eine Konstante in der Rechnung, die über das Durchsetzungsvermögen des Dokumentarfilms entscheidet. Einerseits sind es die technischen Voraussetzungen, die Entwicklungen der digitalen Wende, die deutlich kosteneffizientere Wege der Produktion und Distribution eröffnet haben. Zum anderen ist eine zunehmende Dramatisierung und Fiktionalisierung der Form festzustellen, die im Zusammenhang mit einer verstärkt ökonomischen Ausrichtung steht.6 Während das inszenierte Spiel der Rockmusiker in Spinal Tap, maskiert als realer Einblick hinter die Kulissen in den 1980ern, lediglich als Randerscheinung wahrgenommen wurde, herrscht mittlerweile ein eher abgeklärter Umgang mit Filmen wie Brüno und anderen Vertretern des wachsenden Genres der ­Mockumentary. „Die

The Cyborg and the Beast Fiktive Figuren wie das Alien aus Alien und der Terminator verweisen auf soziale Realitäten. Sie referieren auf alltägliche Grenzziehungen und Normvorstellungen, die sie mitunter überschreiten und dadurch beim Publikum Irritation erzeugen können.

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opulärkulturelle Figuren wie diese haben einen hohen Wiedererkennungseffekt, was auch in ihrer Eigenart liegt, festgeschriebene Selbstverständlichkeiten unserer Alltagswahrnehmung aufzuzeigen, indem diese symbolisch überschritten werden. Sie lassen sich als Beispiele zum Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen. Dahingehend bieten Überlegungen zum Begriff Cyborg eine theoretische Reflexionsmöglichkeit über filmische Darstellungen von Stereotypen und die Wirkung dieser Darstellungsformen.

Cyborg Neben der ursprünglichen Bedeutung als Kunstwort und Kurzform für kybernetischen Organismus, womit eine Verbindung von Organischem

und Maschinellem bezeichnet wird, verweist Cyborg metaphorisch auf die tiefgreifenden Veränderungen, die eine solche Integration mit sich bringt. Ein Beispiel hierfür liefern Science-Fiction-Filme, worin die neuen Realitäten oft überspitzt symbolisch dargeboten werden. Donna Haraway spricht von der optischen Illusion von sozialer Realität und Fiktion. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Aufhebung von Grenzziehungen und damit verbundenen Dichotomien, die unser Verständnis durchdringen, wozu etwa die Gegensatzpaare Mensch-Maschine, MenschTier und Mann-Frau zählen. Die Metapher des Monsters symbolisiert und überschreitet diese vorgestellten Grenzziehungen im Denken, indem sie auf die Entstehung neuer Existenzformen verweist, die durch die Kombination neuer Techniken (z. B. künstliche Befruchtung) und globaler Informations- und Kommunikationssysteme zustande kommen.

Alien und Terminator Die Figur des Aliens spiegelt mit der phallischen Kopfform und androgynen Erscheinungsform geschlechtsspezifische Körpersymbole wider. Gleichzeitig lässt sich dieses metaphorische Monster jedoch weder als männlich noch als weiblich charakterisieren. Zusätzlich fließen in

Richard Sattler

die Gestaltung biomechanische Elemente ein, wodurch die Grenze zwischen organischer und künstlicher Lebensform in der ästhetischen Kreation des Aliens aufgelöst wird. Die Bedeutung der Überschreitung biologistischer Geschlechterbilder wird durch die parasitäre Fortpflanzungsmethode des Aliens hervorgehoben, insofern im Film der Akt der Geburt auf einen männlichen Charakter übertragen wird. Neben dieser Vermischung geschlechtlicher Symboliken werden der Figur animalische Verhaltensmuster zugeschrieben. Im Gegensatz zu Alien wird der Terminator in der Handlung des Films explizit als kybernetischer Organismus bezeichnet insofern es sich um ein metallisches Endoskelett umgeben von menschlichem Gewebe handelt. Hierbei werden jedoch die geschlechterstereotypischen Zuschreibungen nicht in der Gestaltungsästhetik aufgelöst, sondern bewusst hervorgehoben. Der Terminator als Sinnbild für männlichen Körperkult spiegelt die Bodybuilding-Bewegung wider, die zum Zeitpunkt des Erscheinen des Films in den frühen 1980er Jahren eine Trendwelle in westlichen Industriestaaten darstellte. Das zugeschriebene Verhaltensmuster ist rationalistisch und betont entemotionalisiert. Anders als bei Alien ist bei der Figur des Terminators die dekonstruktivistische Komponente weniger ausgeprägt

und die Irritation beruht auf der Verschmelzung von organischer und maschineller Lebensform. Sowohl Alien als auch Terminator bestechen durch die Kombination verschiedener Merkmale von Mensch, Maschine und Tier, was sie zu Cyborgmetaphern macht. In ihrer populärkulturellen Darstellung führen sie die Konstruiertheit und Wirkungsmächtigkeit unserer eigenen Wahrnehmungs- und Denkkategorien auf unterschiedliche Weise vor Augen: der Terminator als populärste Darstellung eines kybernetischen Wesens und Symbol des Männlichkeitskults, das Alien als symbolische Überschreitung zugeschriebener geschlechterstereotypischer Erscheinungs- und Handlungsformen und damit Ikone des Horror-Science-Fiction-Genres. Literatur: M. Fernholz: HR Giger – Zeitgenössischer Künstler des Phantastischen Realismus, PageWizz, 2011, in: http://pagewizz.com/hr-giger-zeitgenoessischerkuenstler-des-phantastischen-realismus/ Chris Hables Gray: Cyborg Citizen. Politik in posthumanen Gesellschaften, Wien: Turia + Kant, 2002 Donna Haraway: A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the late Twentieth Century, in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women: Reinvention of Nature, New York: Routledge, 1991, S. 149–181

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internationales

Das irakische Kurdistan und die ‚Sicherheitsrente‘ Im Norden des Iraks werden ganze Städte aus dem Boden gestampft, von Terror ist in der durch Checkpoints abgegrenzten Region unmittelbar überhaupt nichts zu bemerken.

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ie Entwicklung des lokalen, sub-nationalen Staates, der kurdischen Autonomiezone, verläuft dabei jedoch nicht einfach wegen endogener Faktoren scheinbar ‚friedlicher‘ als im Rest des Landes, sie ist nur im Zusammenhang mit der spezifischen Position des Nordiraks im Mittleren Osten und v. a. im Irak zu begreifen. Dazu ist es notwendig, auf die Situation im Rest des Landes einzugehen. Als das vormalige Regime Saddam Hussein al-Tikritis 2003 durch die US-Intervention gestürzt wurde, herrschte die Gewissheit, dass der irakische Staat hoch zentralisiert mit Hussein an der Spitze organisiert sei. Tatsächlich aber ging mit der in Folge 1 des Embargos katastrophalen ökonomischen Lage in den 1990er Jahren eine Retribalisierung und Feudalisierung einher. Um nach den beinahe das ganze Land erfassenden Aufständen nach Ende des zweiten Golfkriegs die eigene Machtposition zu erhalten, werteten die herrschenden Kräfte gezielt traditionelle Eliten wie z. B. ‚Clanführer‘ auf, die seit dem Ende der früheren Monarchie relativ marginalisiert gewesen waren. Ihnen wurden Renteneinnahmen aus Monopolen im Handel mit bestimmten Lebensmitteln wie auch die Kontrolle von Schmuggelrouten eingeräumt. Das selbe galt auch für die beiden großen kurdischen Parteien, die besonders mit dem

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Schmuggel von Erdöl hohe Einnahmen erziel2 ten. Zusammen mit der Abhängigkeit des größten Teils der Bevölkerung von Lebensmittelrationen, der Unerschwinglichkeit einfachster Dinge und massivster Überwachung der Öffentlichkeit durch diverse Geheimdienste sorgte dies für die Minimierung aller autonomen zivilgesellschaftlichen Momente außerhalb enger, fragmentierter Gruppen.3 Mit dem Sturz Saddam Husseins stellten diese traditionellen Eliten wie auch die neu ins Land zurückgekehrte Exilopposition im Namen partikularer Gruppen Ansprüche auf Teile des Staates. Bewaffnete Milizen und Paramilitärs unter der zentralisierten Kontrolle dieser partikularistisch agierenden AkteurInnen wurden in die jeweiligen Ministerien wie auch Unternehmen integriert. Die militärisch geführte Auseinandersetzung zwischen ihnen wurde zurückgefahren und die Subalternen diszipliniert. Gleichzeitig verschaffte dies jenen AkteurInnen auf blutige Weise politische Basen, ohne dabei eine hegemoniale Auseinandersetzung zu führen.4 Die so „zur Beute“ 5 gewordenen staatlichen Institutionen ersetzen die früher über Monopole abgeschöpften Renten durch massive Korruption und die paramilitärische Kriegsführung die Repressionsapparate des früheren Regimes.

Zwischen Desorganisation und Wiederaufbau Die autonome kurdische Zone ist in diesem Kontext kein abgekapseltes Gegenbeispiel. Während aber im Rest des Iraks ein Kampf zwischen der

A. P.

von den Besatzungsmächten unterstützten vormaligen Exilopposition und diversen oben genannten, v. a. auf Renten angewiesenen, ProfiteurInnen des Embargos ausbrach, blieb es in Kurdistan ‚sicher‘. Denn die kurdischen Parteien, die anders als alle anderen AkteurInnen im Rest des Iraks von den Repressionsapparaten des Regimes weniger abhängig waren und auch keine Ansprüche durch mit den Besatzungstruppen wieder ins Land gekommene Exilkräfte zu befürchten hatten, konnten ein unvergleichlich höheres Maß an persönlicher Sicherheit gewährleisten. Aus diesem Grund konnten sich große Teile der ökonomischen Aktivitäten dort bündeln. Neben der Ölrente profitiert der kurdische Lokalstaat also auch von einer ‚Sicherheitsrente‘. Dazu gehören einerseits die Vertretungen der meisten größeren Firmen, die im Land aktiv sind, der modernste Flughafen des Landes, der auch als erster Linienflüge nach Europa anbot, und die in den zahlreichen neuen Hotels logierenden Wirtschaftsdelegationen. Daneben profitiert die Region noch von einer Vielzahl von TouristInnen aus dem restlichen Irak und auch von spekulativen Dynamiken in vielen wirtschaftlichen Bereichen, besonders am Immobilienmarkt. Dies wird zur ökonomischen Basis einer notwendig partikularistischen Eigenlogik, die einen Faktor in der Erhaltung einer entlang ethnisierter Differenzen fragmentierten Gesellschaft darstellt. Gleichzeitig werden aber auch Risse innerhalb der kurdischen Autonomiezone sichtbar. So wurde diese von einem mehrwöchigen Aufstand in Atem gehalten. Der Protest richtete sich dabei v. a. gegen das zum Teil schlicht

freche Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft der beiden großen Parteien.6 Diese Selbstbedienung wurde bisher eher unter einem Schleier der Quasi-Legitimität ermöglicht, die durch den ständigen Verweis auf die unsicheren Verhältnisse erreicht wurde. Darunter aber bestehen auch eine ganze Reihe anderer sozialer Probleme, wie hohe Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung bei jüngeren Menschen im öffentlichen Sektor, die der ‚Sicherheit‘ mittlerweile vertrauen und sie nicht als ständig von allen Seiten bedrohtes Geschenk der Regionalregierung betrachten, die sich dafür jetzt im Gegenzug einmal wirklich fürchten muss. Anmerkungen: 1 Nach dem zweiten Golfkrieg (1990–1991) wurde über den Irak bis März 2003 ein Embargo verhängt. Die Importe waren auf nicht-kriegsrelevante Güter beschränkt, was dennoch katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung hatte. 2 Vgl. Lawrence, Quil (2002): A Shaky de facto Kurdistan. In: Merip 215.30 3 Vgl. Cockburn, Andrew / Cockburn, Patrick (2002): Saddam Hussein: An American Obsession. London: Verso. S. 223 ff. 4 Vgl. Alnasseri, Sabah (2007): Governance im Zeitalter des Terrors: Der Fall Irak. In: Prokla 148.3. S. 447ff. 5 Ebda. S. 439 6 Siehe Unique #04/2012 Zusätzliche Literatur: Alnasseri, Sabah (2003): Irak und die Nachkriegs(un) ordnung: Präzendenzfalle Irak. Kantonisierung oder Demokratisierung. Unter: http://www.links-netz. de/K_texte/K_alnasseri_irak3.html


internationales

Kuma … anders betrachtet

Julian B. und Günay Ö.

Kuma (übersetzt: Zweitfrau) handelt von der Beziehung zwischen zwei türkischen Frauen in Wien. In einer vorgetäuschten Hochzeit in Anatolien wird Ayse mit Hasan verheiratet. Tatsächlich wird sie nun die Zweitfrau Mustafas, der Hasans Vater ist. Doch es ist nicht der Mann, der sich eine Zweitfrau genommen hat. Die Ehe wurde auf Initiative von Mustafas Frau Fatma geschlossen, die an Krebs erkrankt ist und ihre Familie versorgt wissen will. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Freundinnenschaft, während die Töchter Fatmas Ayse zunächst sehr ablehnend gegenüberstehen. Regisseur Umut Dağ erzählt die Geschichte in ansprechenden Bildern und mit unaufdringlicher, spärlicher musikalischer Untermalung. Bei genauerem Betrachten stellt sich allerdings rasch heraus, dass die Figuren recht schematisch angelegt sind. Die eingebauten Twists sollen dies wohl kaschieren, wirken aber mitunter arg konstruiert. Obwohl der Regisseur den fiktiven Charakter des Films betont, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, eine wichtige Tatsache außen vor zu lassen beziehungsweise ins Gegenteil zu verkehren: Das Phänomen der Zweitfrau in türkischen oder kurdischen Familien geht aus patriarchalen Strukturen hervor und wird nach wie vor nahezu ausschließlich von Männern am Leben erhalten. Dass es sich um ein (auch in der Türkei) bloß marginales Phänomen handelt, gelingt dem Film ebensowenig zu vermitteln. Umut Dağ sagte in einem Interview, dass er keinen Film über Integration drehen wollte. Ein Film mit diesem Inhalt kann sich dem Integrationsdiskurs jedoch nicht verwehren. Im Film werden eine Reihe vorurteilsbehaf-

War on Women Der Vorwahlkampf der republikanischen Partei in den USA hat einen Präsidentschaftskandidaten hervorgebracht: Mitt Romney. Auch wenn er noch nicht zu Ende ist. Das heißt, dass jetzt vor allem versucht wird, Themen zu platzieren. Bis jetzt ging es im Vorwahlkampf vor allem um Frauen, deren Rollenbilder und deren Rechte. Eigentlich ging es aber vielmehr gegen Frauen.

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ieses Thema lässt konservativ-reaktionäre Kreise weltweit nicht zur Ruhe kommen. Im republikanischen Vorwahlkampf geht es vor allem um die sogenannten ‚personhood‘Gesetze, die bestimmen, wann aus den befruchteten Zellen eine Person wird und wann diese die Rechte einer Person bekommen. Mit Kampagnen wird versucht, die Entscheidung des obersten Gerichtshofs im Fall Roe 1 vs. Wade aufzuheben. Dieses Urteil stellte Schwangerschaftsabbruch unter das Recht auf Privatsphäre und machte ihn damit legal. Soweit, so bekannt. Neu ist allerdings die Vehemenz und die gesetzliche Schützenhilfe, die

teter Probleme dargestellt. Dağ bemüht sich, diese ohne erhobenen Zeigefinger zu zeigen, aber es bleibt fraglich, ob die Vorurteile damit nicht noch bestätigt werden, da gerade die gewalttätigen Szenen in den Köpfen des Publikums haften bleiben. Der Film reproduziert auch jene Stereotypen, die im Integrationsdiskurs durch Homogenisierungsprozesse hergestellt werden: Unterdrückungs- bzw. Machtverhältnisse von und zwischen Frauen/Männern in der Familie durch patriarchale, konservative und heteronormative Modelle. Spannender wäre es jedoch, so scheint uns, die Grenzen des (Un-)Möglichen aufzuzeigen, indem gewissermaßen der Widerstand der einzelnen Protagonist_innen gegen diese Lebenskonzepte aufgezeigt wird – auch dies ist Teil der Realität und verändert den konditionierten „homogenisierenden“ Blick des Publikums. Ungeachtet dieser Kritik fällt die affirmative Haltung gegenüber zwei widerständigen Momenten positiv auf: die Entscheidung, das Sprach-Code-Switching-zwischen Türkisch, Wienerisch und Deutsch im Spannungsverhältnis zu gegenwärtigen Integrationsdiskursen darzustellen und gleichzeitig in einer sensiblen Weise ihre ausgrenzende Funktion aufzuzeigen. Außerdem werden Frauen in Szene gesetzt und nicht als Nebendarstellerinnen in einer Inszenierung abgewertet. Dass noch viel über den Film geschrieben und diskutiert werden kann, zeigt uns, dass ein Kinobesuch in jedem Fall empfehlenswert ist. Kuma läuft seit 27. April im Kino. In Wien u. a. im Votivkino.

Natascha Strobl

diese Kampagne bekam. E ­ inige Staaten wie 2 Virgina verabschiedeten Gesetze, die den Schwangerschaftsabbruch erschweren sollten, indem z. B. ein Ultraschall vor dem Eingriff vorgeschrieben wurde. In Arizona wurde ein Gesetzesvorschlag angenommen, der besagt, dass Ärzt_innen legal ihre Patientinnen belügen dürfen, wenn sie damit einen Schwangerschaftsabbruch verhindern, auch wenn sie damit die Gesundheit der Patientinnen gefährden.3 Frauen werden also als irrationale Wesen gesehen, die, wenn schwanger, keine eigenständigen und für sie guten und richtigen Entscheidungen ­treffen können.

Slut-shaming und Verhütung Der Kampf gegen Frauen endet aber nicht beim Thema Schwangerschaftsabbruch. Die Neokonservativen haben ein neues Feld für sich entdeckt: Verhütungsmittel. Diese verhindern die Befruchtung der Eizelle und somit Reproduktion. Reproduktion ist in einer (neo)konservativen Logik aber der einzige Grund, um überhaupt Sex zu haben. Zumindest gilt das für Frauen. Frauen, die aber verhüten, haben Sex aus anderen Gründen, etwa weil es Spaß macht, und sind dementsprechend „Schlampen“. Eine sexuell aktive „Schlampe“ gehört aber nicht

­ nterstützt. Vorausgegangen ist dem eine lange u Diskussion über freie Verhütungsmittel als Teil der Krankenversicherung und wer dies bezahlen sollte, da sich vor allem katholische Arbeitgeber_innen diesem Vorschlag der Krankenversicherung verweigerten.4 In einer öffentlichen Rede sprach sich Sandra­ Fluke, eine Studentin der Universität Georgetown, für den Zugang zu Verhütungsmitteln aus, woraufhin sie von Rush Limbough, einem einflussreichen neokonservativen Radiomoderator, heftig beschimpft wurde.5 Seitdem meinen auch immer weitere Kreise der republikanischen Partei, sich über dieses Thema profilieren zu müssen, und fordern, Frauen den Zugang zu Verhütungsmitteln zu verwehren. Das zeigt sich auch in dem Versuch, die Subventionen für Planned Parenthood auf allen Ebenen zu streichen. Planned Parenthood ist eine der renommiertesten Organisationen, die in den gesamten USA über Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbruch aufklärt, aber auch generelle Sexualerziehung anbietet.

Krieg gegen arme Frauen Bei diesen und vielen, vielen weiteren Maßnahmen6 geht es vor allem darum, sozial schwachen und armen Frauen den Zugang zu medizini-

scher Betreuung zu verwehren. Die Verknüpfung von Klasse und Geschlecht ist evident in der Ideologie der republikanischen Partei, insbesondere ihres extrem konservativen Flügels, der Tea-Party. Diese Ideologie findet sich aber nicht nur in den USA. Frauen wie Barbara ­Rosenkranz, Eva Herman, aber auch die deutsche Frauenministerin Kristina Schröder beteiligen sich am Antifeminismus und vertreten ­misogyne und klassistische Ansichten. Anmerkungen: 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Roe_vs._Wade 2 http://www.washingtonpost.com/local/dc-politics/ virginia-senate-passes-bill-requiring-women-to-undergo-ultrasound-before-abortion/2012/01/30/gIQAW3MviQ_story.html 3 http://www.rawstory.com/rs/2012/03/08/arizonasenate-approves-lying-to-women-to-prevent-abortions/ 4 Ein umfassender Nachbericht: http://topics.nytimes.com/top/news/health/diseasesconditionsandhealthtopics/health_insurance_and_managed_care/ health_care_reform/contraception/index.html 5 http://abcnews.go.com/Politics/OTUS/sand ra - f l u ke - r u s h - l i m b a u g h - a p o l o g y - c h a n g e / story?id=15849793 6 Die schlimmsten sind hier nachzulesen: http:// stopthewaronwomen.com/whats_at_stake/

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politik

Der österreichische Verfassungsschutz und seine Befugnisse Rechtsinfokollektiv

In Deutschland wird der Verfassungsschutz wegen seiner Verbindungen zur rechtsextremen Szene thematisiert und stark kritisiert. In Österreich hingegen werden die Befugnisse der ­Sicherheitspolizei scheinbar kritiklos erweitert.

I

m Jahr 2000 wurde die „erweiterte Gefahrenerforschung“ eingeführt. Bis dahin konnten Ermittlungen erst bei Verdacht auf eine schon begangene Straftat aufgenommen werden. Seit 2000 reicht dafür der Verdacht auf eine bevorstehende Gefahr aus. Wer oder was eine solche Gefahr darstellt oder möglicherweise in der Zukunft darstellen könnte, liegt im Ermessen der Polizeibehörden. Kein Wunder also, dass bei der Beurteilung Vorurteile und Gesinnungsfragen eine große Rolle spielen. Ein Zitat von Peter Gridling, damals Chef der Einsatzgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus (EBT) und heute Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), legt allerdings nahe, dass

schon vor der Reform ähnlich ermittelt wurde, wenn auch ohne gesetzliche Absicherung: „Die Verankerung der Aufgabe der erweiterten Gefahrenerforschung war ein wichtiger Schritt, eine Rechtsgrundlage für Vorfeldarbeit, die der Staatspolizei in der Vergangenheit immer als 1 rechtswidrig angelastet wurde.“  Schon in der großen Koalition vor 1999 gab es Pläne von SPÖ und ÖVP, das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) zu reformieren. Die ÖVP machte ihre Einwilligung von einer Zustimmung der SPÖ zur Reform des Militärbefugnisgesetzes abhängig. Bis zu den Wahlen konnte keine Einigung erzielt werden. Unter FPÖVP wurden dann beide Reformen im Eilverfahren, also ohne Begutachtungsverfahren im MinisterInnenrat, beschlossen. Die SPÖ stimmte nun auch dagegen. Seit ihrer Einführung im Jahr 2000 wurde die „erweiterte Gefahrenerforschung“ ständig ausgeweitet, zuletzt in der SPG-Novelle 2011. Heute darf die Polizei nicht nur in Zivil an öffentlichen Orten observieren, sondern auch verdeckt: also unter falscher Identität ermitteln, Film-, Fotound Tonaufnahmen machen, bei anderen Behörden Daten abfragen und auf Handy- und Internetdaten zugreifen.

Im Zuge der großen Polizeireform 2002, seit der das BVT in seiner heutigen Form existiert, wurde außerdem die Polizeispitze ‚umgefärbt‘. Verschiedene hohe SPÖ-nahe Polizeikader wurden unter Innenminister Ernst Strasser abgesetzt und durch ÖVP-nahe ersetzt. Es kam zu einem großen öffentlichen Aufschrei und einem Misstrauensantrag der Opposition gegen Strasser. So hieß es auch, dass das BVT vor allem schwarz besetzt werde, während das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) an die Blauen abgetreten worden sei. Heute erzielt die FPÖ bei den Gewerkschaftswahlen des LVT in Wien 40%.

Das deutsche Trennungsgebot In Deutschland hat das sogenannte Trennungsgebot Verfassungsrang. Demnach dürfen polizeiliche und nachrichtendienstliche Befugnisse nicht vermischt werden. Berechtigungen der erweiterten Gefahrenerforschung, also alle Ermittlungen, die ohne tatsächlichen strafrechtlichen Anlass passieren, gehören zum Nachrichtendienst. Polizeiliche Befugnisse wären z. B. die Anwendung von Zwangsgewalt, wie die Festnahme eines Verdächtigen etc. In Deutschland müs-

sen diese Dinge getrennt bleiben; wenn also eine Einheit zur Gefahrenerforschung eingesetzt wird, kann sie nicht zugleich polizeilich wirken und umgekehrt. Tatsächlich bedeutet das, dass der deutsche Verfassungsschutz (der wohlgemerkt noch mehr Befugnisse hat als der österreichische) bei einem konkreten Verdacht seine Erkenntnisse den Polizeibehörden mitteilen muss und erst diese weiter einschreiten können. Dahinter steht der Gedanke, die Gesellschaft vor einer übermächtigen, getarnt agierenden und mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Behörde zu schützen. In Österreich gibt es das Trennungsgebot nicht: Das BVT darf also zusätzlich zu den ‚erweiterten Ermittlungsmethoden‘ auch normale Polizeimethoden anwenden. Die Befugnisse des Verfassungsschutzes werden ständig ausgeweitet, seine Kontrolle und die rechtlichen Möglichkeiten, sich zu wehren, sind bei weitem nicht hinreichend. Bei all dem Gerede der Regierung über ‚Sicherheit‘ ist Sicherheit vor dem Staat kein Thema. 1 Interview mit Peter Gridling, in: Öffentliche Sicherheit. Das Magazin des Innenministeriums, Nr. 05-06/2002 (http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_OeffentlicheSicherheit/2002/05_06/Artikel_05.aspx, Abruf 18.05.2012)

Der Fiskalpakt

oder wenn das Sparen zwanghaft wird Der Fiskalpakt stellt die jüngste Initiative in einer Reihe von Vorhaben dar, auf europäischer Ebene die Sparpolitik festzuschreiben. So weitreichend die möglichen Konsequenzen sind, so erschreckend leise ist die öffentliche Debatte darüber.

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er Fiskalpakt, der nach nur zweimonatigen Verhandlungen in der aktuellen Fassung vorlag, hat zum Ziel, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte durch harte und bindende Auflagen zu senken und dauerhaft niedrig zu halten. Es handelt sich dabei nicht um einen neuen EU-Vertrag oder eine Änderung der bestehenden Verträge, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag, der an sich parallel und unabhängig zum europäischen Recht steht, gleichzeitig aber mit der EU-Kommission und dem EUGH (Europäischer Gerichtshof) EU-­ Institutionen miteinbezieht. Durch diese Kons­ truktion wird sichergestellt, dass er auch ohne die Zustimmung aller Eurostaaten in Kraft treten kann und möglichst keinen langwierigen Ratifizierungsprozess nach sich zieht. Im Kern sieht der Vertrag vor, dass die teilnehmenden Staaten eine nationale Schuldenbremse einführen, vorzüglich im Verfassungsrang und inklusive Durchsetzungsmechanismus, die vorschreibt, dass die nationalen Haushalte ein strukturelles Defizit von 0,5% des BIP nicht

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überschreiten. Die konkreten Vorgaben sollen dabei von der Kommission erarbeitet und die Umsetzung vom EUGH überwacht werden. Darüberhinaus wird im Fiskalpakt vorgeschrieben, dass jene Staaten, die eine staatliche Gesamtverschuldung von mehr als 60% des BIP aufweisen und damit den gerade zuvor verschärften Stabilitäts- und Wachstumspakt verletzen, den Schuldenstand jährlich um 1/20 verringern müssen. Staaten, die sich aufgrund der Verletzung dieser Regel im sogenannten „korrektiven Arm“ des Stabilitäts- und Wachstumspaktes befinden, werden schließlich darauf verpflichtet, ein „Haushalts- und Wirtschaftsprogramm“ vorzulegen. Dieses soll im Detail die Strukturreformen ausweisen, mit denen die Regeln des Fiskalpakts und des Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder eingehalten werden sollen.

Dauerhafte ­Demokratie

„Lösung“

ohne

Wie bereits bei den zuvor durchgesetzten Vor1 haben (European Economic Governance) , wird der Fiskalpakt als die diesmal langfristige Lösung der Staatschuldenkrise präsentiert, deren Umsetzung notwendig sei, um den Euro zu retten. Die politische Debatte wird dabei nicht von einer grundlegenden Auseinandersetzung über die langfristige Ausrichtung Europas bestimmt, sondern von der ständigen Dringlichkeit, ‚die Märkte‘ zu beruhigen. Auch in Österreich wurde der Pakt vorerst nur vom Minister_innenrat ohne große Debatte beschlossen.

Martin Konecny

Der Fiskalpakt ist dabei sowohl in demokratiepolitischer wie auch sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht äußerst problematisch. Demokratiepolitisch ist nicht nur zu kritisieren, dass er in kurzer Zeit ohne breite Debatte zustande gekommen ist, sondern auch seine Ausgestaltung. Die Entscheidungen über die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten werden bestehenden demokratischen Verfahren weitgehend entzogen, während mit der EU-Kommission ein demokratisch wenig legitimierter Apparat gestärkt wird. Problematisch daran ist nicht ein vermeintlicher nationaler Souveränitätsverlust, sondern, dass die aktuellen nationalen Regierungen durch den Fiskalpakt zentrale Entscheidungen auf für breite Interessen weniger zugängliche Ebenen verlagern. Wirtschafts- und sozialpolitisch bedeutet der Fiskalpakt, dass die verheerende Austeritätspolitik, deren Auswirkungen wir gerade von Portugal bis Griechenland beobachten können, dauerhaft verankert wird. Dabei geht es gerade darum, in einer Situation, in der der Konsens für neoliberale Politik zunehmend brüchig wird, diese auch gegen Widerstand durchzusetzen. Dazu ist es notwendig, wesentliche Politikbereiche demokratischen Entscheidungsverfahren zu entziehen.

innen zu sichern. Das drückt sich jetzt als Staatsschuldenkrise aus. In diesem Zusammenhang ist der Fiskalpakt als Versuch zu verstehen, diese Ansprüche dauerhaft durch die Senkung der Staatsschuld zu sichern und gleichzeitig die europäischen Industrien durch umfassende Angriffe auf die Lohnabhängigen und ihre Organisationen wettbewerbsfähiger zu machen. Auch wenn der eben gewählte französische Präsident François Hollande eine Änderung des Fiskalpaktes unter Bezugnahme auf eine notwendige Wachstumskomponente fordert, ist nicht zu erwarten, dass es dadurch zu einer grundlegenden Änderung europäischer Krisenbearbeitung kommt. Entscheidend sind schließlich nicht nur Wahlergebnisse, sondern die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Ob sich an der europäischen Krisenpolitik etwas Wesentliches ändert, hängt vor allem davon ab, ob es (weiterhin) massenhaften Widerstand gegen die herrschende Krisenbearbeitung gibt und dieser es trotz aller Entdemokratisierungstendenzen schafft, sich durchzusetzen.

Anmerkung: 1 Das European Economic Governance Paket wurde im Herbst 2011 beschlossen und besteht aus sechs legislativen Akten, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärfen, sowie einen makroökonomischen Überwachungsmodus schaffen. Im Kern geht es dabei darum, dass Sanktionen gegen Staaten die die Sparziele Die bisherige Krisenpolitik war bisher darauf verfehlen quasi automatisch verhängt werden könausgerichtet, durch die Sozialisierung von Vernen. Der Fiskalpakt kann als eine weitere Verschärlusten die Ansprüche der Vermögensbesitzer_­ fung dieser Initiative gesehen werden.

Kein Wandel in Sicht?


politik

Bohème unserer Zeit

Das alte neue Phänomen der Piratenpartei Mit der Piratenpartei  ist eine neue Playerin in der politischen Landschaft aufgetaucht. Die P ­iraten geben sich frech und radikal – ein Bild, das einer näheren Betrachtung nicht ganz standhält.

Spannender gestalten sich Streifzüge durch das für alle zugängliche Forum. Einerseits freut man sich, dass Diskussionen um Basisdemokratie und Hierarchie anscheinend auch in Gruppierungen jenseits des linken Umfeldes angekommen sind. Andererseits kann man sich der Übelkeit nicht erwehren, wenn es um brenzlige Fragen wie Zuwanderung, FPÖ, Wirtschaft etc. as Phänomen Piratenpartei bereitet vielen geht. Der charakteristische Satz „Die Linken Leuten Kopfzerbrechen: Glaubt man den sind mir zu links ... die Rechten (mit denen ich Wahlumfragen in der BRD, rangieren sie derzeit persönlich viel mehr Erfahrung habe) sind mir bei über 10%, also knapp unter den Grünen, und oft ein bisschen zu rechts ... und einen Mittel1 verweisen somit die FDP und Die Linke auf Plät- weg scheint es nicht zu geben.“  fasst die Stimze weit hinter ihnen. Auch in der Alpenrepub- mung des Forums treffend zusammen. Genau diesen Mittelweg zu beschreiten lik ist ihr Schwung mittlerweile angekommen. Nachdem sie in den Gemeinderat Innsbruck scheint das Programm der Piratenpartei zu eingezogen sind, bescheren ihnen auch bun- sein. Dass sie dabei weder neue Ideen ans Tadesweite Umfragen glänzende Aussichten – mit geslicht befördert noch irgendetwas fordert, prognostizierten 7% würden sie im nächsten das nicht bereits zuvor anderen eingefallen wäre, scheint weder sie noch ihre UnterstütJahr in den Nationalrat einziehen. zerInnen sonderlich zu interessieren. VielDie Avantgarde der Internet­ leicht ist aber auch diese Mischung genau das Schmiermittel ihres rasanten Erfolges. Was gesellschaft ihnen gelingt, ist eine Synthese unterschiedNicht nur Robert Menasse macht sich positive­ licher Forderungen, freilich nichts ,Extremes‘, Gedanken zur Frage, ob die Piratenpartei eine um Personen aller Strömungen und RichtunBereicherung für das österreichische Parla- gen anzusprechen. Dass es sich in der Regel um ment wäre. Auch Linksliberale scheinen end- Männer handelt, ist ihnen mittlerweile auch lich ihre revolutionäre Avantgarde gefunden aufgefallen, nichts Schlimmes für sie – man(n) zu haben. ist eben „postgender“. Die Suche nach den Forderungen der PiraChrista Zöchling, Redakteurin des Profil, tenpartei Österreichs ist indes eine ziemlich hat harte, aber nicht ganz unwahre Worte geschwierige. Ein Blick auf ihre Website verrät funden: „Diese Nerds, die rund um die Uhr, uns: Alles soll frei sein – freilich ohne zu er- so scheint es, im Netz hängen, nicht allein aus klären, was genau denn diese Freiheit bedeute.­ beruflichen Gründen, sind die Bohème des

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­ igitalen Zeitalters. Ihresgleichen hat die Welt d programmiert, in der wir leben. Sie kennen die Welt der Konzerne aus den EDV-Abteilungen, 2 für die sie arbeiten.“  Dass sich dann doch eher rechte Personen als radikale Linke in den Reihen der Piratenpartei finden, ist kein Wunder. Die Tiroler Piraten haben schon einigen Zoff mit der Bundespartei hinter sich: Im ‚Land des Heiligen Andreas‘ ist das Verbotsgesetz wieder einmal ein Dorn im Auge der FreiheitsritterInnen. In Deutschland reihen sich seit Monaten die Meldungen über Neonazis, die man nicht so ganz in den Griff bekommt. Die ehemalige Geschäftsführerin der deutschen Piratenpartei, Marina Weisband, bekam antisemitische Hassmails von den eigenen AktivistInnen. „Die Juden erobern die deutsche Parteienlandschaft“ 3, donnerte das deutsche Herz der FreibeuterInnen. Auch Personen, die ihre Gesinnung durch Thor-Steinar-Klamotten zur Schau stellten, konnten ungehindert bei den ACTA-Protesten in Österreich mitmarschieren, unter massiver Beteiligung der PiratInnen. Der Hinweis, dass sich der Protest antisemitischer Stereotypen bediente, hat ­wenige bekümmert – ein wachsamer Blick auf Antisemitismus oder Sexismus scheint wohl schon zu links zu sein.

Was die Piratenpartei auszeichnet, ist eine vermeintlich linke Variante der FDP mit manchen gesellschaftlichen Forderungen, die nicht unsympathisch wirken, etwa nach bedingungslosem Grundeinkommen oder gleichgeschlechtlicher Ehe. Das alles natürlich nur unter der Bedingung klassischer neoliberaler Wirtschaftsforderungen. Der Staat ist ihnen ein Dorn im Auge – aber auch nur dann, wenn er in klassisch bürgerliche Rechte eingreift. Ihn selbst in Frage zu stellen, käme ihnen nicht in Sinn. Der Spuk der Piratenpartei ist so recht keiner. Sie kanalisiert nichts anderes als jene Gefühle des vom Neoliberalismus gerüttelten Subjektes, das sich nach vermeintlicher Radikalität ‚gegen die da oben‘ sehnt, also jener Personen, die meinen, man brauche etwas ‚ganz Neues‘, was freilich nichts Neues, sondern eher ein Sammelsurium an rechten und liberalen Ideologiemustern ist. Die Forderung nach Transparenz ist unzweifelhaft keine unsympathische – sie erlaubt jedoch auch Einblicke in Abgründe, die hinter Diskussionen zurückfallen, die schon vor Jahrzehnten wesentlich spannendere Ergebnisse hervorbrachten. Eines steht jedoch fest: Die Bohème unserer Zeit hat ein neues Zuhause in der Parteienlandschaft gefunden.

Das seltsame Fortleben des Neoliberalismus

Anmerkungen: 1 https://forum.piratenpartei-wien.at/ 2 www.profil.at/articles/1213/560/323220/piratenpartei-oesterreichs-piratenpartei 3 www.bz-berlin.de/thema/piraten/piratin-marinaweisband-erhaelt-hassmails-article1374185.html

Silvio Gesell hätte seine Freude mit ihnen. Der Zins, von vielen als das Hauptproblem der Wirtschaft ausgemacht, gehöre abgeschafft.

Ein Haus für Ute Bock Mitten in Favoriten liegt die Zohmanngasse. Im Haus Nummer 28 zieht das neue Ute-Bock-Projekt ein. In einem Bezirk, in dem die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) bei den letzten Wien-Wahlen über 30% der Stimmen erringen konnte.

S

chon von 1976 bis 1999 leitete Ute Bock in eben dieser Straße, in eben diesem Haus ein Jugendheim für die Stadt Wien. Ab Anfang der Neunzigerjahre wurden zunächst Kinder aus Gastarbeiter*innenfamilien, später auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Kriegsgebieten aufgenommen. Mit dem umstrittenen und rassistisch motivierten Lauschangriff ­Operation Spring und den dazugehörigen Raz­ zien­in der Zohmanngasse fand das Projekt 1999 vorerst sein Ende. Ute Bock wurde wegen

Drogenhandels und Bandenbildung angezeigt; zwar wurde die Anklage schnell fallen gelassen, die Stadt Wien untersagte ihr jedoch, weiterhin Asylwerber*innen im Haus unterzubringen. Dieser Tage ziehen Bock und ihr Verein wieder in das Haus ein und geben damit 80 Personen die Möglichkeit auf einen Schlaf- und Lebensraum. Vor allem alleinstehenden Asylwerber*innen und ebensolchen Flüchtlingen, die vor dem Nichts stehen, soll damit geholfen werden.

Zwei Straßen weiter Im April lud die FPÖ ins Gasthaus Nepomuk. Rund 100 Anwohner*innen folgten der Einladung. Dort proklamiert Johann Gudenus, Klubobmann der Wiener FP, das Haus als „Drogenumschlagplatz“ und spricht von einer „Asylantenmafia aus Vereinen, Rechtsanwälten und Gutmenschen“. Er zeichnet ein Bild von grundsätzlich kriminellen Flüchtlingen – eine Verbindung mit Drogen wird immer wieder vor-

Christoph Altenburger

Anne Marie Faisst

geworfen. Die unbegründeten Ängste vor dem ‚Unbekannten‘ werden auf die Spitze getrieben, Vorurteile bestärkt und zum Instrument rassistischer Hetze. Die Anwohner*innen fürchten vor allem Müll- und Lärmbelästigung und im Nepomuk ist man sich sicher: Lediglich die Bewohner*innen des Ute-Bock-Hauses können dafür verantwortlich gemacht werden. Warum diese so viel lauter sein sollen als andere, können sie nicht beantworten. Das Schema ist jedoch einfach: Das hierarchische Verhältnis der Anwohner*innen zu den Asylwerber*innen kann von ersteren recht einfach ausgenutzt werden. Beschwert man sich ansonsten über die laute Nachbarin, kann sie sich wehren oder es ist ihr einfach egal. Die Situation der Asylwerber*innen ist eine prekärere, denn ein Polizeibesuch kann ihre Abschiebung bedeuten. Die FPÖ nimmt die fremdenfeindlichen Ressentiments der Anrainer*innen gerne auf; sie gibt den ihnen das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Sie hat gern ein offenes Ohr für all

diejenigen, die sich von den anderen Parteien nicht verstanden fühlen – als einzige Partei, die sich aktiv mit dem Hausprojekt Zohmanngasse auseinandersetzt konstruiert sie genauso aktiv rassistische FeindInnenbilder. Einige der Menschen im Gasthaus Nepomuk haben vor der Veranstaltung vielleicht nicht unbedingt FPÖ gewählt, danach tun es sicher mehr. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) schweigt zum Thema. Sie plant, das Zohmanngassen-Projekt im Herbst in die Wiener Charta aufzunehmen. Dabei wäre es wichtig, jetzt mit den Menschen zu sprechen, um ihre rassistischen Vorurteile abzubauen. Bei dieser Aufgabe lassen Stadt und politische Parteien jedoch aus. Einzig Bock selbst versucht bei Infoabenden, die Ängste der Anrainer*innen zu entkräften und wird dessen auch nicht müde. Sie plant weitere Veranstaltungen, öffnet dabei für alle ihre Türen. Um ein klares Zeichen zu setzen, zogen Bock und ihre Katze mit den ersten 30 Bewohner*innen gemeinsam in das Haus.

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wissenschaft

Real und verkehrt Die einen beziehen sich auf die Fetischkritik, um ihr Ansehen in linken Gruppen zu steigern, die anderen sehen in ihrer Ablehnung eine seltsame Art der ‚coolen‘ Identitätsbildung – die nächsten fragen gar nicht erst nach, was sie denn bedeute, und bestreiten ihr politisches Engagement lieber ohne den Begriff, um sich die Blöße des Nicht-Bescheidwissens nicht geben zu müssen. Dabei sollten Überlegungen zu Waren-, Geld- und Kapitalfetisch als grundlegenden Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft im Zentrum linker Gesellschaftskritik stehen, wenn diese etwas an bestehenden Unterdrückungsund Ausbeutungsverhältnissen ändern möchte.

U

m zu verstehen, was Karl Marx mit dem Begriff des Fetischismus meinte, ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass dieser Terminus mittlerweile gänzlich anders gebraucht wird als noch zu seinen Zeiten. Denn durch Sigmund Freud wurde die Bedeutung von Fetisch stark verändert. Davor war Fetischismus die abwertende, rassistisch konnotierte Bezeichnung für die Verehrung eines heiligen Dinges durch ‚primitive‘ Völker. Marx verwendete es in ebendiesem Sinne – und ganz bewusst, um der sich besonders aufgeklärt wähnenden bürgerlichen Gesellschaft zu zeigen, dass auch sie einem solchen Fetischismus unterliegt: dem der kapitalistischen Produktion, der dazu führt, dass gesellschaftliche Verhältnisse verdeckt werden.

Ware. Marx fragte nach der entscheidenden gesellschaftlichen Struktur, die dem Kapitalismus zu Grunde liegt – er stellte sich also eine ganz andere Frage als bürgerliche ÖkonomInnen, als jene, die in der VWL beispielsweise diskutiert werden, und eine Frage, die auch heute gleichermaßen aktuell ist. Dabei kam er zu dem Schluss, dass das markanteste Merkmal kapitalistischer Produktion die Warenproduktion sei: Und er hält die Eigenschaften der Warenproduktion für besonders tückisch, weil er in der Ware den Ausdruck der Arbeitszeit der Menschen sieht, die ‚am Markt‘ in Beziehung zueinander gesetzt werden. Wenn Waren getauscht werden, dann werden, so Marx, nicht Topfpflanzen und externe Festplatten gegeneinander und gegen Geld gehandelt – denn der Gebrauchswert einer Topfpflanze und einer externen Festplatte ist für jede Person und jede Verwendung ­unterschiedlich und nicht allgemein messbar. Sondern: es wird die Arbeitszeit jener Menschen

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Flora Eder

in Beziehung gesetzt, die die Festplatte hergestellt und sich um die Orchidee gekümmert haben. Dabei zählt jedoch nicht, ob die Festplattenwerbedesignerin faul war und sich lange Zeit für das Design der Produktverpackung genommen hat, sodass dann insgesamt die Kosten und der Wert der Festplatte steigen – sondern: Es zählt die Arbeitszeit, die gerade gesellschaftlich durchschnittlich notwendig ist, um die Festplatte herzustellen, zu verpacken, zu vermarkten etcetera. Nahezu nebenbei wird also in der Ware so einiges verschleiert. Denn: Einerseits sind es nicht die Äpfel und die Taschentücher, die von sich aus Wert besitzen, wenn sie gekauft werden, sondern es ist umgekehrt: Der Wert der Ware ist der unsichtbar gemachte gesellschaftliche Aushandlungsprozess, der definiert, was denn überhaupt Arbeit ist, auf welche Art und wie schnell sie zu verrichten ist, und wer welchen Anteil an Gütern zur Verfügung bekommt. Im Warentausch verstecken sich also die gesellschaftlich nicht bewusst ausgehandelten Bedingungen, um in dieser Gesellschaft (über-)leben, arbeiten und ‚Freizeit haben‘ zu können. Also: gesellschaftliche Verhältnisse – Produktionsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse – werden komprimiert, gleichgesetzt, unsichtbar gemacht und im Warentausch ‚vermittelt‘. Diese Tatsachen nennt Marx „Warenfetisch“, oder den „Fetischcharakter der Ware“. Der Ware wird in der bürgerlichen Gesellschaft eine unheimliche, fast schon religiös-übermächtige Fähigkeit als Vermittlungsinstanz zwischen den Menschen zugesprochen, die jeden Tag aufs Neue ihre materielle und eiskalte Wirkmächtigkeit entfaltet, sodass sich ihr keineR von uns entziehen kann. Dabei ist leider festzuhalten, dass es noch nichts an der Welt verändert, wenn wir uns dieser Verschleierung durch die Waren1 produktion nur gedanklich bewusst werden. Wir müssen an den ökonomischen Verhältnissen selbst etwas ändern, damit dieses Auf-denKopf-Stellen der Gesellschaft, bei dem es so wirkt, als würden die Dinge über uns herrschen, und bei dem gesellschaftliche Machtverhältnisse unbewusst und kapitalförmig ausgehandelt werden, beendet werden kann.

Geld. Als weitere fetischistische Kategorie führt Marx das Geld an: Geld ist als allgemeines Äquivalent aller Waren eine spezielle Ware und ermöglicht 2 der Warenform, sich bewegen zu können. Der Fetischcharakter des Geldes besteht nun darin, dass es nicht selbst als eine Ware unter vielen erscheint, der die Eigenschaft als allgemeines Äquivalent zukommt. Sondern: es scheint so, als wäre es das Geld selbst, das überhaupt erst die Werte der Waren hervorbringt.3 Verdeckt wird dadurch, dass eigentlich Waren gegeneinander getauscht und über Geld in Beziehung zueinander gesetzt werden. Auch dies erscheint umgekehrt: Als würde Geld selbst die Beziehung zwischen Waren herstellen. In Geld sind

somit „die Productionsverhältnisse selbst in ein Ding verwandelt“, wie Marx in dem Text Die Trinitarische Formel schreibt.4

Kapital. Als dritte Form des Fetisches entwickelt Marx die Kategorie des Kapitalfetischs. Das Kapital ist vergegenständlichte Mehrwertarbeit mit dem Ziel, mehr Wert zu erzielen.5 Es ist ein Quantum Mehrwert, das wieder in die Produktion hineinfließt. Für das fetischistische Bewusstsein erscheint das Kapital auf der Oberfläche der Zirkulation als Geld heckendes Geld, als sich selbst verwertender Wert, der aus sich selbst heraus mehr wird. Der Mehrwert, der durch die Differenz zwischen dem Wert der erschaffenen Produkte und dem Lohn der ArbeiterInnen entsteht, wird nicht als Ausbeutung der menschlichen Arbeit begriffen, sondern als ‚natürliche‘ Eigenschaft des Kapitals selbst gesehen. Dabei erlischt der Mehrwert in der Ware, und es ist hier, wie bereits gezeigt, nicht mehr sichtbar, dass menschliche Arbeitszeit überhaupt verausgabt wurde. Und so scheint bei der mystifiziertesten Form des Kapitalfetischs, dem Zins, das Geld ausschließlich selbst zu arbeiten. Das Kapital ist daher die Sphäre, in der die Verhältnisse der ursprünglichen Wertproduktion komplett verdeckt sind und „völlig in den Hintergrund treten“, wie Marx schrieb.6 Wert und Mehrwert scheinen im Zirkulationsprozess zu entstehen, anstatt aus der Arbeit zu entspringen. Dadurch scheine es auch, als ob der Profit aus der Produktion von „Prellerei, List, Sachkenntniß, Geschick der Käufer und Verkäufer und tausend Marktconjuncturen“ abhänge sowie von der „Circulationszeit“, so Marx.7 Zusammenfassend: Die Ware verwandelt die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie als Trägerin dient, in Eigenschaften der Waren selbst, das Geld verwandelt die Produktionsverhältnisse „noch ausgesprochener“ selbst in ein Ding und im Kapital, der herrschenden Kategorie des Kapitalismus, „entwickelt sich dieß noch viel weiter in eine verzauberte und verkehrte Welt“, so Marx.8 Die „Einheit des unmittelbaren Productionsprocesses und des Circulationsprocesses“ (Marx) wird hier komplett verdeckt und die sich gegeneinander verselbständigten Wertbestandteile „verknöchern“ sich in scheinbar selbständige Formen.9

Herrschaftsstrukturen einerseits als Eigenschaften von Dingen und andererseits als Eigenschaften von Einzelpersonen wie ‚Spekulanten‘ oder ‚Bankerinnen‘ erscheinen. Wer also den Kapitalismus grundlegend kritisieren und aufheben möchte, sollte sich besser seinen komplexen grundlegenden Dynamiken und Prozessen annähern als vorschnell mit dem Finger auf seine objektiven Erscheinungsformen zu zeigen. Die Auseinandersetzung mit der Marxschen Fetischkritik offenbart also nicht nur die Ansatzpunkte einer antikapitalistischen Gesellschaftskritik, sondern genauso die Fallstricke des Antikapitalismus. Und zeigt einmal mehr: Die Herrschaft des Werts über die Menschen, der Kapitalismus, ist kein Naturgesetz. Weiterhelfen kann diese Erkenntnis allerdings erst dann, wenn ihr Taten folgen.

Anmerkungen: 1 Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie, Eine Einführung, theorie.org, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009, S. 69 ff. 2 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Gesamtausgabe (MEGA) II, Ökonomische Manuskripte 1863–1867, Band 4, Teil 2, Dietz Verlag, Berlin 1992; Trinitarische Formel, S. 850 3 Vgl.: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: MEW 23, Das Kapital, 39. Auflage, Dietz Verlag, Berlin 2008, S. 118 4 Trinitarische Formel, S. 849 5 Wenn ArbeiterInnen den KapitalistInnen ihre Ware Arbeitskraft verkaufen, dann bestimmt sich ihr Tauschwert an jener Zeit, die es gebraucht hat, die eigene Arbeitskraft herzustellen und zu pflegen: Um diesen Wert kauft die Kapitalistin die Arbeit. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft liegt aber notwendigerweise höher als ihr Tauschwert (Arbeiter­ Innen, die 150 Sternfrüchte am Tag ernten, erhalten nie mehr als 150 Sternfrüchte am Tag Lohn) – die Differenz, den sogenannten Mehrwert, behält sich die Kapitalistin ein. Sie kann ihn entweder selbst nutzen oder aber beispielsweise weitere Arbeitskraft ankaufen, um noch mehr Mehrwert zu erzielen: Dann wird das Geld, das mit dem Ziel, mehr Geld zu erzielen, eingesetzt wird, zu Kapital. 6 Das Kapital, 39. Auflage, S. 109 7 Trinitarische Formel, S. 850 8 ebda., S. 849 9 ebda., S. 850

Literaturhinweise: Grigat, Stephan: Fetisch und Freiheit, ça ira Verlag, Freiburg 2007 Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie, Eine Einführung, theorie.org, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009 Beim Fetisch handelt es sich also nicht nur um falsches Bewusstsein, sondern um eine real Marx, Karl: Das Kapital, Erster Band, ident mit MEW 23, 39. Auflage, Dietz Verlag, Berlin 2008 existierende Verkehrung der Verhältnisse durch ihre Verdeckung in der Ökonomie. Es geht also Marx, Karl: Das Kapital, Dritter Band, ident mit MEW 25, 33. Auflage, Dietz Verlag, Berlin 2010 um ein daraus entspringendes dialektisches Verhältnis zwischen Sein, Schein und Bewusst- Marx, Karl/ Engels, Friedrich, Gesamtausgabe (MEGA) II, Ökonomische Manuskripte 1863–1867, Band 4, Teil sein auf der Basis der ideellen und materiellen 2, Dietz Verlag, Berlin 1992, S. 834–853 Verkehrung der Verhältnisse. Verkehrt wird dabei unter anderem, dass unpersönliche, nicht Schiedel, Heribert: Fallstricke des Antikapitalismus, in: bewusst gestaltete und abstrakt-vermittelte­ Context XXI, 1/2004

Sein und Schein.


im zeichen der krise Krise. Würden wir eine Statistik in Auftrag geben, die eruieren soll, wie häufig das Wort Krise seit Beginn dieser im Jahr 2008 in den Medien kolportiert wurde, lehnen wir uns mit dem zu erwartenden Ergebnis mal weit aus dem Fenster: unter den Top 3. Doch nicht nur in den Medien oder in der Politik ist die Krise (immer noch) das Thema. Die Krise­ – sie ist in aller Munde. Doch warum diese Krise entstanden ist und wie, ist den wenigsten wirklich bewusst. Und was dagegen tun? Aus diesen Gründen steht unser Schwerpunkt dieses Mal ganz im Zeichen der Krise. Nicht nur diese Fragen brennen uns schon länger unter den Nägeln, sondern auch die Auswirkungen der Krise: je länger sie anhält, desto verrückter wird die Welt – könnte man meinen. Ein Beispiel, wo man vielleicht denkt: „Was geht denn hier ab?“ ist Griechenland. Griechenland steht für viele wahrscheinlich für den Inbegriff der Krise. Griechenland reite die gesamte EU immer weiter rein, ‚die Griechen’ seien einfach nur ‚zu faul’ zum Arbeiten und Ähnliches sind Reaktionen von nicht direkt Betroffenen, die ressentimentgeladener nicht sein könnten. Doch nicht nur in Deutschland, Österreich oder anderen Krisengewinnerinnen ticken die Subjekte der Krise vollkommen aus, sondern auch in den stark von der Krise betroffenen Staaten. Es bleibt zu hoffen, dass die Tendenzen zur Barbarei ein schlechter Traum sind, aus dem man bald wieder erwacht. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in Europa sollte sich diese Naivität jedoch nicht durchsetzen: Rassismus, Antisemitismus und Sozialchauvinismus – sowie die unterschiedlichsten sexistischen Stereotype – sind die ideologischen Reaktionen auf die Krise, eine Krise, die nicht von irgendwelchen ‚gierigen Spekulanten’, ‚Managern’ oder ‚Bankern’ verursacht wurde. – Aber, wer hat denn nun diesen Schlamassel verbrochen? Die Antwort lautet: das System. Denn der Kapitalismus ist die Krise!

Bevor wir nun die einzelnen Beiträge unseres Krisen-Schwerpunktes vorstellen, möchten wir noch kurz auf zwei Artikel hinweisen, die zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu empfehlen sind: Zur Aufgabe von Kritik – In der Krise und darüber hinaus in der letzten Unique (04/12) sowie der Artikel Real und verkehrt auf Seite 16. Einleitend zum Thema beginnen wir mit einem Interview als Appetithäppchen: über ‚falsche’ Bewusstseinsformen zur Krise und ihre Ursachen unterhalten sich unsere Autorin und Gerhard Scheit auf Seite 18 in Die Lebenslüge der EU. Was die EU mit der Krise zu tun hat und wie es sich mit ihrer Souveränität verhält, wird ebenso diskutiert wie die Rolle der BRD als „Meister der Krise“. An dem darauf folgenden Artikel merkt man schnell, dass die Europäische Union und Deutschland so eng mit dem Thema Krise verknüpft sind wie Henne und Ei Phone. Dabei beschäftigt sich der Artikel Maastricht – das neue Versailles? mit den historischen Komponenten der Entstehung der Staatengemeinschaft: im Besonderen mit der NSZeit und was davon in die Post-Ära ‚gerettet’ wurde. Welche (ideologischen) Auswirkungen das in Zeiten der Krise hat, könnt ihr auf Seite 19 nachlesen. Auf Seite 20 angekommen, wird euch ein Hauptgericht präsentiert, das es in sich hat. Griechenland ist in aller Munde – auch bei uns. Doch wir möchten euch einen etwas anderen Blick in ein Land bieten, das von der Krise bisher am stärksten erfasst wurde. Und den man erst einmal verdauen muss. Die zweiseitige Doku Bilder griechischer Zustände ist sozusagen eine Inside-Story und bietet Informationen, die eins in den deutschsprachigen (Mainstream-)Medien nicht finden wird.

Mit der Krise kommen auch neue Perspektiven, was nicht immer etwas Gutes zu bedeuten­ hat. Der theoretische Ausflug auf Seite 22 versucht die hoffnungsvollen Erwartungen mancher Linken an einen progressiven Umbruch auf den Boden der (schrecklichen) Realität zu holen. In Krise und Revolutionserwartung geht es zurück in die Vergangenheit, in die Zeit Marxens: seine kritischen Überlegungen zur politischen Ökonomie und – ja auch seine – Hoffnungen auf den revolutionären Umbruch. Der goldenen Regel ‚Ohne Theorie keine Praxis!’ folgend ­beschäftigt sich der Beitrag Keine Pflichten ohne Rechte! mit der Regulationstheorie von Robert Castel. Diese ist bei weitem – man kann es ruhig aussprechen – nicht so radikal wie die Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx, was vermutlich im soziologischen Vorgehen Castels’ und dem daraus resultierenden systemverhaftenden Denken begründet ist. Doch bietet der Artikel auf Seite 23 interessante Einblicke in die theoretische Welt von politischen Systemen,­Demokratien, Partizipationsmöglichkeiten und sozialer U ­ mwelt. Was wäre unser Schwerpunkt zur Krise ohne die Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses? Richtig: nicht vollständig. Der abschließende Beitrag fragt nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Kapitalverhältnis und wie sich dies in der heute vorherrschenden Form ­herausgebildet hat. Die Autorin nimmt sich der Situation von Frauen in der Krise an, und zeigt auf wie sich diese systematisch verschlechtert: Frauen als Verliererinnen der Krise. Ihr findet den Artikel Auswirkungen der Krise auf das kapitalistische Geschlechterverhältnis auf Seite 24. Unsere abschließenden Worte, ganz im Sinne der begleitenden Illustration: (Lohn-)Arbeit ist auch keine Lösung!

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im zeichen der krise

Die Lebenslüge der EU Gerhard Scheit ist freier Autor in Wien und hat sich in seinen Werken immer wieder mit der Krise aus Sicht der Kritischen Theorie beschäftigt (z.B. Die Meister der Krise, 2001). Die Unique sprach mit ihm über falsche Formen der Kapitalismuskritik, die spezifische Situation der Europäischen Union und deren Zusammenhang mit der europäischen Vergangenheit und dem Nationalsozialismus. Der Autor arbeitet gerade an einem Aufsatz zu diesen Themen für die im Herbst zum ersten Mal erscheinende Zeitschrift für Ideologiekritik sans phrase. Von Marx ausgehend müsste man doch eigentlich sagen, dass das Kapital selbst die Krise ist. Kann man denn überhaupt von Krise sprechen? Natürlich ist das Kapital selbst die Krise und Ideologie besteht darin, darüber hinwegzutäuschen – so als wäre Krise etwas, das dem Kapital ab und an, aus äußeren Umständen heraus, passiert und durch irgendwelche Krisenbewältigungsmaßnahmen funktioniert es dann wieder ‚normal‘. Wie könnte man dann die jetzige Situation fassen? Nun, man könnte zwischen manifester und latenter Krise des Kapitals unterscheiden. Wenn dann die Krise, die das Kapital ist, manifest wird, ist es für die Kritik entscheidend, das Subjekt, das die Krise wahrnimmt, nicht als sich außerhalb der Krise befindend zu begreifen. Die Art und Weise, wie die Krise von den Bürger­Innen und EigentümerInnen wahrgenommen wird, ist Teil der Krise. Wie die Individuen auf die Krise reagieren, ist selbst bereits Moment ihres Verlaufs. Es ist also gar nicht möglich, die Krise von außen zu betrachten und die Ökonomie zu analysieren, ohne die Frage nach dem politischen Subjekt zu stellen. Oft hört man Slogans wie „Wir zahlen nicht für eure Krise“, z.B. in der Occupy-Bewegung, die ja die Wall Street besetzen will. Wieso greift diese Art der Kritik zu kurz? Charakteristisch für diesen Antikapitalismus ist, in den Finanzmärkten die Ursache für die Krise zu suchen. Die AkteurInnen der Finanzmärkte sind dann die Schuldigen, auf die projiziert wird. Dadurch erspart man sich, darauf zu reflektieren, dass man selbst in den Finanz-

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markt eingebunden ist, mit Versicherungen, Pensionsfonds etc. Bereits Karl Marx hat die Finanzwelt als die „Mutter aller verrückten Formen“ bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die AkteurInnen der Finanzmärkte viel freizügiger mit Vermögen umgehen können, weil das Geld nur in ihre Obhut gegeben wurde. Der Finanzmarkt ist aber, und das ist der Kern der Marxschen Analyse, gerade darin bloß Teilprozess einer allgemeinen Krise, einer Verwertungskrise des Kapitals, die sich auf den Finanzmärkten eben besonders drastisch ausdrückt. Keine Bankengesetzgebung und keine Finanzmarktregulierung kann daran etwas ändern. Neu ist jetzt, dass der Staat in einem viel größeren Ausmaß sich nicht nur durch Steuern, sondern eben auch durch private Kredite finanziert. Damit hält das Kapital im Grunde immer mehr Schuldscheine auf zukünftige Steuereinnahmen in der Hand, Schuldscheine also auf den Mehrwert, den es erst noch zu realisieren gilt, was wiederum an der mangelnden Kaufkraft scheitert, die ein derart zum Sparen gezwungener Staat nicht heben kann. In Europa gibt es ja nicht einen Souverän, sondern viele verschiedene Staaten. Wie stellt sich denn die Eurokrise politisch dar? In Europa wurde eine Währungsunion geschaffen ohne gemeinsamen Souverän, das ist abstrakt ökonomisch gesehen eigentlich eine Fehlkonstruktion. Denn es gibt keinen Staat, der diese Währung deckt und garantiert. Diese Situation spitzt sich nun in der Krise sehr konkret zu. Warum fordert dann aber niemand einen europäischen Staat? Die Frage nach dem Souverän wird ja immer nur implizit aufgeworfen ... Ich glaube, dass die pro-europäischen Eliten unter anderem deshalb nicht von einem europäischen Staat sprechen, um auf die Mehrheit der europäischen BürgerInnen Rücksicht zu nehmen, die ja diesen Staat ablehnen. Das machen sich die rechtspopulistischen Parteien der verschiedenen Staaten zunutze. Die FPÖ, der Front National, Jobbik und Fidesz – und wie sie alle heißen, treiben die staatstragenden Parteien vor sich her, weil sie auf die Souveränität des jeweiligen Staats pochen. Aber ihr Souveränitätsbegriff grenzt sich vom westlichen Souveränitätsbegriff ab und ist getragen von FeindInnenbildern, einerseits dem ‚gierigen Finanzkapitalisten‘ und andererseits dem FeindInnenbild der EU, die als „Servicebehörde des globalisierten Finanzkapitals“ (Junge Freiheit) bezeichnet wird. Beide FeindInnenbilder teilt man übrigens mit den LinkspopulistInnen, was schon vieles ­darüber sagt, wie es um die Proteste gegen die EU steht. Diese Parteien wollen den Staat als Racket gegenüber der EU.

Norberta Hood

Auf der anderen Seite steht eine Europäische Union, die für sich in Anspruch nimmt, rechtsstaatliche Normen zu verteidigen, aber per Satzung darauf verzichtet, dazu die Gewalt des Souveräns auszuüben, stattdessen indirekt mit harmlosen ökonomischen Sanktionen oder im schlimmsten Fall mit dem temporären Entzug des Stimmrechts im EU-Rat droht. Aber warum wurde denn nicht gleich ein europäischer Staat gegründet? Man könnte das wohlwollend als eine hilflose Reaktion auf den Nationalsozialismus sehen. Der NS wurde als die extremste Form des Nationalstaats begriffen, weshalb der Nationalstaat prinzipiell abgelehnt wurde. Die europäische Ideologie basiert so betrachtet darauf, eine Ordnung jenseits des Nationalstaats zu schaffen. Es ist aber natürlich eine kapitalistische Ordnung, von der Abschaffung von Staat und Kapital war ja nie die Rede. Und hier beginnen die Lügen und Unaufrichtigkeiten. Als ob es möglich wäre, auf kapitalistischer Grundlage zu produzieren und gleichzeitig die Frage des Souveräns unter den Teppich zu kehren. Das ist die Lebenslüge der EU und die wird in der Krise virulent. Was für eine Rolle spielt denn der Nationalsozialismus in der heutigen Krise? In der Art und Weise, wie auf die Krise reagiert wird, kann man etwas vom Nachleben des NS erkennen. Denn hier zeigt sich, dass Europa sich eben nicht selbst vom NS befreit hat. Das wäre die Voraussetzung für einen einheitlichen europäischen Staat nach Hitler gewesen. Ein solcher Staat wurde ja von Amerika eigentlich nahegelegt, also jener Macht, die Europa vom Westen her befreit hatte und im Kalten Krieg die Rolle eines Ersatz-Souveräns übernahm. In Europa selbst wurde die Idee nicht wirklich angenommen – das ist das Nachleben des NS durch ein Wirtschaftswunder hindurch, das sich seinerseits dem NS verdankt. Der westliche Begriff des Souveräns wird abgewehrt. Ist heute Deutschland wieder der „Meister der Krise“? Es wäre eine Verkennung der wirklichen Herrschaftsstruktur, anzunehmen, Deutschland übernehme jetzt die Leerstelle des Souveräns. Aber innerhalb der EU etabliert sich Deutschland als Hegemon, und das tritt in der Krise stärker hervor. Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) Geld ausschüttet, profitiert die deutsche Ökonomie, weil sie in dieser Weise ihren Export finanzieren kann. Es verwertet sich aber darin nicht mehr Wert, und irgendwann fliegt das auf. Im Grunde staut sich hier ein weiteres

­ risenpotential auf, das politisch betrachtet ein K Vernichtungspotential ist. Wie stellt sich dieses Vernichtungspotential dar und wie könnte es sich äußern? Wenn Deutschland auf diese Weise seine Produktion finanziert, funktioniert das wie ein großer Kredit, der irgendwann zurückgezahlt werden muss. Aber wie und durch welche politische Aktion? Wie diese Aktionen aussehen könnten, davon kann man sich noch kein Bild machen. Aber ich sehe hier ein großes Potential an Destruktivität. Wie könnte eine Kritik der Krise aussehen, die alle diese Punkte mit in Betracht zieht? Der Ausgangspunkt der Kritik muss eigentlich das Leid der Menschen sein. Jene Proteste, die mit FeindInnenbildern operieren, um der Frage der abstrakten Herrschaftsformen auszuweichen, zeigen, dass sich in der Mehrheit der Bevölkerung noch überhaupt kein Bewusstsein über die wirklichen Widersprüche herausgebildet hat. Wie könnte dieses Bewusstsein denn herausgebildet werden? Es gibt beispielsweise die völlig berechtigte Forderung, Deutschland möge erst Entschädigung für die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland zahlen. Im Bezug zur Vergangenheit liegt da ein Wahrheitskern, an den man anknüpfen könnte, indem man versucht, diesen Zusammenhang jenseits personalisierender Projektionen zu entfalten. In welchem Maß hat Deutschland vom Vernichtungskrieg profitiert, aber inwieweit ist die jetzige Herrschaftsstruktur in Europa nicht mit der Ausbeutung Griechenlands im NS zu vergleichen? Anders gesagt: es ist von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden in der Vergangenheit und vom Antisemitismus der Gegenwart zu sprechen, der durch die erwähnten FeindInnenbilder ständig neue ­Nahrung erhält. Was deutlich gemacht werden muss, ist also das Potential an Destruktivität, das in der Krise steckt, und dass die kapitalistische Form der Ausbeutung immer dieses Vernichtungspotential aus sich selbst heraus produziert. Die Frage ist dann, ob und wie die Individuen bereit sind, das umzusetzen und zu realisieren. Die Herrschaft von Staat und Kapital kann nur beendet werden, wenn die Individuen nicht mehr gewillt sind, sich das Ganze der Verwertung des Kapitals anzutun, und solange es dafür kein Bewusstsein gibt, gibt es auch keine ‚finale‘ Krise. Anmerkung: Das Interview wurde nachträglich von der Redaktion geschlechtergerecht formuliert.


im zeichen der krise

Maastricht – das neue Versailles? Die europäische Krisenpolitik offenbart die der Europäischen Union (EU) zugrundeliegende ­politische Rationalität.

E

iner der Gründungsakte der Europäischen Union war die Vergemeinschaftung der Schlüsselindustrien für die Rüstungsproduktion – also Kohle und Stahl. Durch diese ökonomische Integration sollte eine von Deutschland ausgehende Kriegsgefahr gebannt werden. Dieses ‚Friedensprojekt‘ war die Antwort auf die beiden vorhergehenden Weltkriege, die aus dem Prinzip der Staatssouveränität abgeleitet wurden. Wenn aber das nationalsozialistische System laut Franz Neumann ein „Unstaat“ war, das auf den Staatszerfall setzte und so die Dynamik für den antisemitischen Vernichtungskrieg schuf, dann geht die Kriegsgefahr nicht vom Staat als solchen aus, sondern einem je spezifischen politischen Willen. Das spielt aber in der Geschichte der europäischen Einigung keine Rolle, wie auch der Holocaust erst relativ spät eine überhaupt nur deklamatorische Funktion erfüllte. Obwohl maßgeblich auch von antifaschistischen Kräften vorangetrieben, zeigte sich die Relativierung eines antifaschistischen Charakters Europas sehr bald. So kam Winston Churchill in seiner berühmten Rede über die „United States of Europe“ nicht ohne den Zusatz aus, man müsse auch einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Trotz all seines geschichtsträchtigen Pathos ist dieses Europa eine „Gemeinschaft ohne Erinnerung“ (Gerhard Stapelfeldt) und ermöglicht so „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ (Theodor W. Adorno).

Die europäische Identität Dabei wurde an alte antiliberale Vorstellungen eines kontinentalen ‚Wirtschafts- und Lebensraumes‘ angeknüpft, die vor allem Stellung bezogen gegen den Individualismus und Universalismus des klassischen Liberalismus. Friedrich List gegen Adam Smith. Während die Letzteren versuchten, ein vernünftiges System der Bedürfnisbefriedigung zu finden, postulierten Erstere­die Vorrangigkeit der kulturellen Umstände und damit eine Relativierung

des allgemeinen Anspruches der Vernunft. Nicht der einzelne ist hierin Ausgangs- und Endpunkt des polit-ökonomischen Systems, sondern das Volk, das als eine vorpolitische Einheit mystifiziert wird. Die europäischen Vereinigten Staaten waren immer schon als ein Staatenbund gedacht und nicht als ein Bundesstaat, wie es die amerikanischen sind. Als Imperativ für die politische und ökonomische Rationalität gelten daher die kollektiven Identitäten und nicht die einzelnen BürgerInnen. Statt Egalität herrscht im „kulturellen Biotop Europa“ (Jürgen Habermas) Subsidiarität als Prinzip und die einzig relevanten lebendigen Organismen, auf die es ankommt, scheinen die politischen zu sein, also die Staaten, anstatt die Leiber der Menschen. Und das ist genau das Autoritäre an dieser Konzeption, vor allem wenn sie als Krisenlösung zur Geltung kommt. Ökonomischen Krisen kommt hierin keine systemische Bedeutung zu, vielmehr wird die politökonomische Einheit als ahistorische und anthropologische Konstante, als ‚Ordnung‘, unreflektiert vorausgesetzt, an deren Anforderungen sich blind angepasst werden muss. Diese Form der Identität bedeutet für die einzelnen, sich individuelle Krisenlösungsstrategien anzueignen und ihre je besonderen Interessen dem vorgestellten Gemeinwohl zu opfern. Die Selbstmordwellen in Griechenland und Italien sind extreme Zuspitzungen dieser Ra­ tionalität. So berichtet eine Hinterbliebene über einen italienischen Unternehmer, der sich aufgrund von Schulden umgebracht hat: „Mein Vater war nicht verrückt, war nicht depressiv. Er hat auf seine zwei größten Werte verzichtet, auf die Familie und die Arbeit.“ (www.serviziopubblico.it 26.4.) „Der Euro ist eine Willensgemeinschaft“, erklärt der EU-Parlamentspräsident (Frankfurter Allgemeine 13.4.) und meint damit, dass weil die Sache an sich gut sei, bei schlechtem Funktionieren böse Absicht dahinterstecken müsse. In aktuellen Debatten um die Krisenbewältigung spiegelt sich dies in zwei großen Lagern wieder. Zum einen ist da die Position der deutschen Regierung, die auf die Einhaltung der Euro-Stabilität pocht. Unterfüttert wird diese Position durch die rassistische Projektion von den faulen und unproduktiven ‚Pleitegriechen‘, die dem Rest der EU auf der

Tasche lägen. Auf der ­anderen Seite steht die oppositionelle Verschwörungstheorie, dass die reichen Staaten der EU, vor allem Frankreich und Deutschland, die Länder des Südens mittels einer Diktatur ausbeuten würden. Sowohl die deutschen EuronationalistInnen als auch die antideutschen AntiimperialistInnen blenden dabei den Gesamtzusammenhang aus, der zwischen den Ländern der Eurozone besteht. Denn der Maastrichtvertrag war kein aufgezwungenes Diktat, sondern eine freiwillige Erklärung der Mitgliedsstaaten, sich an die Stabilitätskriterien des Euros zu binden und diese auch umzusetzen.

Das Modell Deutschland „Much of the rich world is fascinated by Germany“,­ schreibt der Economist am 14.4. In der Tat übt das Modell Deutschland auf sämtliche politische Lager weltweit eine Faszination aus. Sei es nun die englische wirtschaftsliberale Zeitung oder das italienische kommunistische Blatt Il Manifesto, das am „modello tedesco“ die Einbindung der Gewerkschaften lobt. Das stärkste Argument ist wohl der ökonomische Erfolg in Zeiten der allgemeinen Krise. In der Nachahmung versuchen sich nun einige europäische PolitikerInnen, doch fällt es ihnen nicht leicht. So beschuldigt Daniel Cohn-Bendit Sarkozy, das deutsche Modell „nicht verstanden“ zu haben, denn er „pestet“ zu sehr gegen die Gewerkschaften, wo man diese doch integrieren müsse (Die Zeit 19.4.). Worin besteht nun aber das ‚Geheimnis‘ des deutschen Modells? „Wer Marktwirtschaft sagt, der sagt auch Staat. Wer Kapitalismus sagt, der sagt auch Staat, aber er sagt es in verächtlichem Ton.“ (Handelsblatt 17.12.) Es ist diese Verstaatlichung des Bewusstseins, die den sozialpartnerschaftlichen Korporatismus ermöglicht. Dieser Ideologie kommt man am besten mit der Kategorie des Postnazismus auf die Schliche, die die Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der Demokratie beschreibt. Um die sozialen Gruppen von Kapital und Arbeit auf den Staatserhalt zu verpflichten, bedarf es immer auch einer Negativfolie, die erst die integrierende Wirkung schafft. Am effektivsten erweist sich dabei die Vorstellung von Verschwörungen internationaler Gruppen, gegen die der ‚nationale Schulterschluss‘ in

Alessandro Volcich

Anschlag gebracht werden soll. So ist in der Wahrnehmung des Finanzsektors als allmächtig, der – wie es Giorgio Agamben ausdrückt – „allen Glauben und alle Zukunft, alle Zeit und alle Erwartungen“ beschlagnahmt hätte (La ­Repubblica, 16.2.), der antisemitische Wahn, diese Krise trage „die Handschrift der ‚US-Ostküste‘“ (Kronen Zeitung, 7.12.) – was die ‚jüdische Hochfinanz‘ meint – mehr als anschlussfähig. Diese Übersetzung ökonomischer Kategorien in politische, also der Glaube an einen quasi-militärischen Belagerungszustand durch Ratingagenturen, ist eine überparteiliche Möglichkeit eines Auswegs aus der Schuldenkrise, falls Spar- oder Wachstumspakete nicht den gewünschten Effekt bringen werden, was zu erwarten ist, denn „keine Art Bankengesetzgebung kann die Krise beseitigen“ (Karl Marx). Die jetzt schon geforderte Opferbereitschaft lässt in Verbindung mit dermaßen abstrakten FeindInnenerklärungen und dem Ruf nach dem starken Staat nichts Gutes erahnen. Wohin eine solche ‚Bändigung des Marktes‘ treibt, demonstrieren schon mal die Nazis von Jobbik und Chrysi Avgi in Ungarn und Griechenland, die im Kampf gegen die ‚Plutokratien‘ des Westens auf die Solidarität des Irans setzen und zur Krisenbewältigung mit ihren Garden Pogrome gegen Roma und ‚Fremde‘ veranstalten.

Gesellschaftsvertrag und Sozialpakt Durch den bloß oberflächlichen Bruch mit dem Nationalsozialismus und dessen Auslagerung in konsequenzlose Gedenkveranstaltungen verdeckt das europäische Modell das Fortleben nazistischer Ideen in und durch die Demokratie. Linke Kräfte, die gegen die Europäische Zentralbank (EZB) oder ‚den Kapitalismus‘ agitieren, tragen dazu bei, die Unterschiede der politischen Logik des Gesellschaftsvertrags einerseits und des „postfaschistischen Sozialpakts“ (Ulrich Enderwitz) andererseits zu ignorieren und so die Verallgemeinerung des Letzteren zu fördern. Weiterführende Literatur: Gerhard Stapelfeldt: Die Europäische Union – Integration und Desintegration. Hamburg 1998 Stephan Grigat (Hg.): Transformation des Postnazismus. Freiburg 2003

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im zeichen der krise

Bilder griechischer Zustände Von Armut, der Rückkehr des Faschismus und der linken Bewegung in einem Land vor der Staatspleite Carlos Hernandez

In Griechenland unter unerträgli- Sich ein Bild von der Geschichte parolen mit Verweis auf den ,Stolz‘ und die ,Ge- von SYRIZA die Parteien des Memorandums schichte des leidgeprüften griechischen Volkes‘ abgestraft.­Trotz des Rechtsrucks in der Gesellchen gesellschaftlichen Zustän- machen sind einer rassistischen und sozialchauvinisti- schaft eröffnet sich vorerst die Perspektive einer den die politische RadikalisieAm Beispiel Griechenlands präsentiert sich der schen Hetze gegen Menschen gewichen, die aus ,Regierung der radikalen Linken‘ statt einer farung zu. Während das Land auf ideologische Charakter der Demokratie in ihrer anderen Krisengebieten der Erde illegal nach schistisch-rechtspopulistischen Front. den Bankrott zusteuert, kippen bürgerlich-kapitalistischen Form: Die Politik Griechenland gekommen sind. die nationalen Ressentiments der muss sich der Logik des Kapitals unterordnen, Ein differenziertes Bild der linken Mehrheitsgesellschaft längst um das Politische wird zugunsten der Verwaltung Bilder der Regression Bewegung ... in offene Aggression gegenüber von verwertungsbedingten Sachzwängen verImmigrant_innen und befördern drängt und bei zunehmendem Widerstand im- Durch seine sich rapide beschleunigende Ver- Die medienwirksame Bezeichnung der SYRIZA­ die allgemeine Verrohung: Nähr- mer direkter unterdrückt. Das treibt die poli- elendung sieht sich das griechische Bürger_­ als „radikale Linke“ sollte aber nicht darüber boden für den Faschismus, aber tische Radikalisierung der Gesellschaft voran, innentum nun materiell mit all jenen auf ­einer hinwegtäuschen, dass die Partei ein reformistidie stetig autoritärer durchgesetzten Stufe, auf die es zuvor herunterblickte. Die sches Sammelbecken von Anhänger_innen begleichzeitig auch eine Chance für während Sparmaßnahmen zu immer größerer Verar- Koordinaten, innerhalb derer diese Kränkung liebiger linker Strömungen ist, über welche die die Linke, es dieses Mal ‚richtig‘ mung führen. Dass in einer solchen „Proleta- des nationalen Egos bisher auf die Immigrant_­ Geschichte längst hinweggegangen ist. Dem, zu machen. risierung der Massen“ revolutionäres Potential innen projiziert wurde, haben sich in Richtung was im deutschsprachigen Raum als ‚radikale

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ie Lage in Griechenland ist kritisch. Die Bevölkerung ist nach drei Jahren Sparmaßnahmen tief in Armut und soziale Verelendung geschlittert. Der markttragende Sektor privater Kleinunternehmen ist drastisch zusammengeschrumpft, die Löhne im öffentlichen und privaten Sektor wurden um 20% bis 50% gekürzt, während die Steuern um 50 bis 80% anstiegen. Das Gesundheitswesen ist zusammengebrochen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu. Die Parlamentswahlen am 6. Mai haben keine Partei als eindeutige Gewinnerin hervorgebracht oder Mehrheitsverhältnisse für eine regierungstragende Koalition geschaffen. Angesichts der Zustände ist der Aufstieg der linksreformistischen SYRIZA („Bündnis der Radikalen Linken“) ein Erfolg. Diese wurde mit 16,78% die zweitgrößte Kraft hinter den Konservativen der Nea Dimokratia („Neue Demokratie“) und verwies die Sozialist_innen der PASOK („Griechische Sozialistische Bewegung“) weit abgeschlagen auf den dritten Platz. Aktuelle Umfragen räumen der SYRIZA bei den Neuwahlen am 17. Juni die größten Chancen auf einen Wahlsieg ein. Einer Partei, die bisher mit kompromisslos anti-neoliberaler Rhetorik für ein Ende der Sparmaßnahmen um Stimmen bei der krisenmüden griechischen Bevölkerung geworben hat und an der die Koalitionsgespräche letztlich auch gescheitert sind. Dem Szenario einer linken Regierung in Athen, die sich weigert, den Sparauflagen der Troika nachzukommen, wird in Europa mit einer Vielzahl widersprüchlicher Prognosen be1 gegnet. Gleichzeitig werfen Wahlverlierer_innen den linken Politiker_innen Opportunismus vor: beteiligen sie sich nicht an einer Koalition zur weiteren Durchsetzung des Sparprogramms, stellen sie „die Partei über das Land“.

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steckt, ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen droht eine fortschreitende Faschisierung der Gesellschaft. Der vehemente gesellschaftliche Protest der griechischen Bevölkerung in den letzten Jahren führte von Demonstrationen, Streiks und Blockaden schließlich zur Bewegung der griechischen Empörten im Sommer 2010. Menschen jeden Alters und jeder politischen Strömung besetzten zentrale Plätze und suchten über Plena basisdemokratisch die Artikulation und Aushandlung ihrer Anliegen ohne parlamentarische Repräsentanz. Die Erfahrung einer freien öffentlichen Assoziation spielte auf individualund sozialpsychologischer Ebene eine wichtige Rolle: sie gab den Menschen das Gefühl der Überwindung ihrer Vereinzelung. Trotzdem wurde und wird der „apolitische“ Charakter der Bewegung mit Recht kritisiert – schließlich bleibt sie der ideologischen Konstitution ihrer Subjekte und den eigenen regressiven Tendenzen gegenüber blind. Durch die erhöhte Repression und die Bildung einer sogenannten ,Technokrat_innenregierung‘ im Mai 2011, die die Sparmaßnahmen der Troika losgelöst von jeglichen politischen Legitimationsprinzipien umsetzen sollte, flaute der Widerstand ab. Im anschließenden Wahlkampf betrat eine Vielzahl neuer Parteien – meist ‚radikalere‘ Abspaltungen der zwei großen Parteien der ‚Mitte‘ – die politische Landschaft. Manche von ihnen buhlten mit teils offen rassistischen Parteiprogrammen um die Gunst der Wähler_innen. Selbst die Sozialist_innen der PASOK warben offen mit dem Bau von Internierungslagern (!) zur massenhaften Isolierung von Immigrant_innen fernab urbaner Ballungszentren. Nationale Ressentiments werden in Griechenland schon seit Jahren systematisch geschürt, um angesichts der Krise den nationalen Zusammenhalt zu fördern. Selbst die Durchhalte­

Barbarei verschoben. Die illegalisierten Menschen, die über Jahre hinweg unter miserablen Bedingungen leben mussten, werden zum ,Problem für die nationale Gesundheit‘ (!) stilisiert. Ärztliche Untersuchungen und Impfungen wurden zwangsverordnet und in einem zusätzlichen Gesundheitspass registriert. Bis heute weitet die Polizei die sogenannte ,Operation Besen‘, mit der sie seit den 1990er Jahren Jagd auf Einwanderer_innen im öffentlichen Raum macht, auch auf die Privatsphäre ihrer Wohnungen aus: gewaltsame Massenräumungen und Verhaftungen sind die Folgen. Die kriminellen Neofaschist_innen der Organisation Chrysi Awgi („Goldene Morgendämmerung“), die mit 7,8% ins Parlament gewählt wurden (!), greifen unter dem Schutz der Staatsmacht gezielt illegale Straßenhändler_innen an, nachdem sie über speziell eingerichtete ,Infotelefone‘ von ,Einwohner_innenkomitees‘ der jeweiligen Stadtteile benachrichtigt wurden. Eine seltene Verschränkung von Nationalismus, Rassismus, Sozialchauvinismus und Sexismus zeigt sich im prominenten Fall einer Gruppe von Immigrantinnen, die in der Sexarbeit ausgebeutet wurden: Per Zwangsuntersuchung wurden sie positiv auf HIV getestet. Ihre Fotos und Namen wurden unter dem Vorwand der ,nationalen Gesundheit‘ zur Veröffentlichung an die Medien weitergegeben, um Freier_innen zu informieren und potentielle Kund_innen zu schützen. Der Staat reagierte mit der Verhaftung der Frauen. Die Propaganda gegen Immigrant_­innen als ,gesundheitliche Zeitbomben‘ flammte dadurch erneut auf. Während sich die Zustände im Land verschlimmern und Pogrome gegenüber Einwander_innen (wie z. B. im Mai 2011 in Athen) bereits Normalität sind, hat die Bevölkerung mit ihrer Wahl der Reformsozialist_innen

Linke‘ oder fälschlicher Weise ‚linksextremis2 tische Szene‘ bezeichnet wird, entspricht in Griechenland nichts Einheitliches. Inoffiziell wird von „Bewegung“ oder dem „Bewegungsbereich“, der parlamentarischer Politik gegenübersteht, gesprochen. Der ,Bewegungsbereich‘ besteht aus ,der Linken‘: diversen Teilen linker Parteien (mit Ausnahme der Stalinist_innen der Kommunistischen Partei Griechenlands), verschiedenen grünen Parteien und der anarchistischen/anti-autoritären Szene, deren Selbstverständnis der linksradikalen Szene im deutschsprachigen Raum am nächsten kommt. Der große Nachteil des ,Bewegungsbereichs‘ ist sein schwacher Einfluss auf die Arbeiter_innen und Angestellten und damit die fehlende Möglichkeit, zu Streiks aufzurufen. Nur etablierte Gewerkschaften, von denen die meisten politisch der sozialistischen PASOK nahestehen, und die in den Arbeitskämpfen über


im zeichen der krise

Forderungen­ für einzelne Arbeits­ bereiche nicht hinausgehen, können in diese Sphäre dringen. Zwar haben sich vor allem im Bereich der prekär Beschäftigten (Motorradkuriere und Beschäftigte im Gastronomiebereich) und der Kleinbetriebe (wie dem Buchhandel) in den letzten Jahren einige Basisgewerkschaften nach dem Modell des Anarchosyndikalismus gebildet, ihr Einfluss blieb bisher jedoch marginal. Die anarchistische Szene, die während des Aufstands im Dezember 2008 zum ersten Mal geschlossen als politische Einheit ins öffentliche Bewusstsein drang, war bis Ende der 1990er Jahre weder groß noch besonders politisch aktiv. Ihre wichtigsten Kennzeichen waren die Zurückweisung bürgerlicher Lebensformen und ein militantes Auftreten innerhalb von sozialen Kämpfen. Seither hat sich ihre Organisierung jedoch weiterentwickelt. Als Beispiel dafür kann die Antiautoritäre Bewegung (Antieksusiastiki ­Kinisi, abgekürzt einfach Alfa-Kappa) gesehen werden. Ihre Vorläuferinnen waren verschiedene autonome Gruppen, die zwischen den Globalisierungsprotesten 1997 in Seattle und 2001 in Genua aktiv waren. Als Ergebnis dieser Erfahrungen bauten sie ein griechenlandweites Netz offener Plena auf, um 2003 zum EU-Gipfel in Thessaloniki zu mobilisieren. Danach gründete sich die Alfa-Kappa als überregionales Bündnis, um Aktionen und Proteste zu koordinieren. Strukturell besteht die anarchistische Szene aus einem vielfältigen Kosmos an Gruppen und Hausbesetzungen, deren Plena überwiegend öffentlich zugänglich sind.

… und ihrer inhaltlichen Positionen Die Kritik der politischen Ökonomie und ihr Stellenwert innerhalb linksradikaler Theorie und Praxis scheint für die Anarchist_innen in Griechenland zunehmend an

Bedeutung zu gewinnen. Lange Zeit wurden ihre Aktivitäten durch ungenügende inhaltliche Vertiefung und der Fetischisierung von Gewalt beeinträchtigt. Allerdings wäre es falsch, diesen Umstand einem mangelnden Bewusstsein über die Notwendigkeit der theoretischen Auseinandersetzung zuzuschreiben. Vielmehr sind die Maßstäbe für eine Reflexion der eigenen theoretischen Positionen lange unterentwickelt geblieben. Dafür spricht z. B. die immer noch verbreitete einseitige Fokussierung auf Klassenkämpfe und deren operaistische Interpretation.3 Die Beschränkung auf diesen engen Interpretationsrahmen, die viele Widersprüche einer antikapitalistischen Praxis ausblendet, hat eine Reihe äußerst problematischer inhaltlicher Positionen in der gesamten griechischen Linken hervorgebracht. Da eine Kritik der griechischen Nation mit der Kritik am griechischen Staat verwechselt wird, bleibt der ideologische Begriff des ,Volkes‘ von einer kritischen Betrachtung ausgenommen. Der positive Bezug auf ‚das Volk‘ im antikapitalistischen Kontext führt auf transnationaler Ebene zu einem verkürzten Anti-Imperialismus alter Schule. Ebenso enthüllt die Nicht-Thematisierung der nationalen Identität als herrschende Ideologie im Kapitalismus eine skandalöse Ignoranz bezüglich des existenten (strukturellen) Antisemitismus in der griechischen Gesellschaft. Beide Momente erklären im Zusammenspiel die Israel-Feindschaft und unreflektierte Solidarität aller politischen Richtungen mit dem ,antiimperialistischen Befreiungskampf des palästinensischen Volkes‘. Dadurch wird erklärbar, warum die Linke den grassierenden Rassismus in der griechischen Gesellschaft lange Zeit herunterspielte. Selbst die anarchistische Szene empfand, trotz aufrichtiger „Solidarität mit den Immigrant_innen“, Verweise auf eine strukturell rassistische Verfasstheit des ,griechischen Volkes‘ als ‚Nestbeschmutzung‘ und wies sie zurück.

Erste Bilder eines griechischen Antinationalismus Alltäglicher Antisemitismus, Rassismus und Sexismus, eingebettet in völkisch blau-weißen oder proletarisch roten Nationalstolz (manchmal auch in rot-schwarz), strukturieren die griechische Realität wie jede andere bürgerliche Gesellschaft unter den Bedingungen ihrer spezifisch historischen Genese.

Im Jahr 2004 kam es nach einem Spiel zwischen der griechischen und der albanischen Fußballnationalmannschaft in verschiedenen Teilen des Landes zu massiven Ausschreitungen von Griech_innen gegen öffentlich feiernde albanische Fans. Die Übergriffe forderten einen Toten und viele Verletzte. Die Gruppe der albanischen Migrant_innen in Griechenland ist sehr groß und wurde in den letzten Jahren weitgehend von der griechischen Mehrheitsgesellschaft akzeptiert. Die plötzliche Heftigkeit des Gewaltausbruchs offenbarte sich als Exzess eines gesellschaftlichen Normalzustandes, in dem der kapitalistische Zivilisationsfortschritt sein verdrängtes Gewaltpotential innerhalb von Ideologien beständig mitführt. Als Ergebnis der Auseinandersetzungen mit den Pogromen gründeten sich in den Folgejahren die ersten Antifa-Gruppen in Griechenland. Auf theoretischer Ebene stellen diese autonomen Antifaschist_innen die völkisch-griechische Identität in den Mittelpunkt ihrer Kritik kapitalistischer Verhältnisse. Dadurch decken sie einen blinden Fleck des anarchistischen Antikapitalismus auf. Aufgrund ihrer Herkunft aus der anarchistischen Szene befinden sich die Positionen der griechischen Antifa aber weiterhin in unmittelbarer Nähe zu deren Auffassungen von Klassenkämpfen. In diesem Rahmen interpretieren sie großteils den griechischen Nationalismus als Gedankenform, innerhalb derer die griechischen Kleinbürger_innen sich mit dem Kapital, das sie durch die Ausbeutung der Immigrant_innen materiell absichert, identifizieren könnten. Je mehr das Kapital ihre eigene materielle Grundlage angreife und sie derselben Verelendung aussetze, versuche das Kleinbürger_innentum diese Identifikation über zunehmende Aggression gegen Immigrant_innen aufrechtzuerhalten. Andere antifaschistische Deutungen sehen in der Mobilisierung nationaler Gefühle eine Taktik zur Unterminierung des internationalistischen proletarischen Klassenbewusstseins durch das Kapital und die Spaltung des Widerstands. Die zentrale Schwäche beider Ansätze liegt darin, dass sie den Kapitalismus nicht als umfassendes Herrschaftsverhältnis begreifen, dessen Ideologien ein ‚falsches‘ Bewusstsein seiner Verhältnisse produzieren, das klassenunabhängig besteht. Die Praxis antifaschistischer Gruppen in Griechenland ist denen im deutschsprachigen Raum ähnlich: Infoveranstaltungen, Konzerte und Demonstrationen, bei denen sie äußerst militant mit Motorradhelmen und Knüppeln bestückt auftreten.4 Außerdem weisen sie einen regen Output an Broschüren, Zeitungen

und Texten auf. Schließlich ist es antinational argumentierenden Gruppen wie dem Autor_innenkollektiv Terminal 119 zu verdanken, dass der Antisemitismus in der griechischen Gesellschaft gezielt thematisiert wird,5 womit ein langjähriges Tabu der radikalen Linken durchbrochen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass sich der junge Antinationalismus in Griechenland von seiner griechischen Spezifik löst und beginnt, die Barbarei als der kapitalistischen Totalität immanent zu begreifen. Seine Entwicklung birgt die Hoffnung, dass ideologiekritische Momente, die den systemischen Zusammenhang von Staat, Kapital und Nation begreifbar machen,6 sich in zukünftiger antikapitalistischer Praxis widerspiegeln werden. Es könnte sich für die kommenden Aufstände in Griechenland als existentiell herausstellen, diesen Zusammenhang theoretisch besser zu erfassen als bisher, um historische Fehler nicht zu wiederholen. Um es mit den Worten der griechischen Anarchist_innen zu sagen: Letztendlich wird alles auf der Straße entschieden. Die Quellen für diesen Artikel stammen aus Interviews und Aufrufen, die im Internet einsehbar sind. Die folgende Linkliste ist nicht vollständig. Besonderer Dank geht an Genoss_innen aus Griechenland für die Bereitstellung von Informationen, Übersetzungen und Erläuterungen. Anmerkungen: 1 http://tagesschau.de/wirtschaft/staatspleitegriechenland100.html 2 Siehe hierzu: Standpunkte 2/2010: Wolfgang Wippermann – „Politologentrug“, Broschüre „Auf ein Wort: Extremismus“. Beide als PDF unter http://rosalux.de/ 3 http://de.wikipedia.org/wiki/Operaismus, http://ugkongress.blogsport.de/ 4 http://autonomeantifa.tumblr.com/ 5 http://www.cafemorgenland.net/archiv/2009/2009. 08.16_greek_mythology_de.htm/; http://www.cafemorgenland.net/archiv/2009/2009. 09.29_greek_mythology_2_de.htm/ 6 http://umsganze.org/historie/2009-grundsatzbroschuere-teil1/ Links: http://www.resistance2003.gr/ http://efimeridadrasi.blogspot.de/ http://suneleusianarxikwn.blogspot.de/ http://grassrootreuter.wordpress.com/ http://www.terminal119.gr/ http://autonomeantifa77.wordpress.com/ http://acdc.espivblogs.net/ http://autonomia.gr/autonomia/community/­ community.html

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im zeichen der krise

Krise und Revolutionserwartung Michael Fischer

Groß waren die Hoffnungen­Einmal umgesetzt, blamierte sich die liberale der Linken, als 2008 die Krise Vernunft-Utopie jedoch an der Realität der ge‚hereinbrach‘ 1 und die Agitation sellschaftlichen Ungleichheit und Ausbeutung. konnte die sozialistische Kritik am Libefür eine andere Welt oder mehr Hier ralismus und seinem adäquaten Wirtschaftsysstaatliche Eingriffe in die Wirt- tem des Kapitalismus ansetzen und ihm seine schaft begann. Schnell stell- Unfähigkeit allgemeines Glück herzustellen vor te man jedoch enttäuscht fest, Augen führen. Gegen den Liberalismus trat die dass aufgrund gesellschaftlicher Arbeiter_innenbewegung und die Kritik der poKräfteverhältnisse nicht der So- litischen Ökonomie seine Erbschaft an.4 Aber bereits mit der Durchsetzung des Libezialismus durch die Krise auf der Tagesordnung stand, sondern ralismus wandelte sich seine vernünftige Kriam Merkantilismus in eine gesellschaftliche krisenpolitische Eingriffe wie die tik Mythologie, die die Gesetze der Gesellschaft diBankenrettung. rekt aus der menschlichen Natur ableitete – wo-

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abei hatte bereits Karl Marx auf den Zusammenhang von Krise und Revolution aufmerksam gemacht. Ab einer gewissen Stufe der Entwicklung geraten die Produktivkräfte in Konflikt mit den Verteilungsverhältnissen, wie den ihnen entsprechenden Produktionsverhältnissen – die Krise offenbart sich. Wenn sich eine historische Form der Produktionsverhältnisse überlebt, mache sie einer höheren 2 Form Platz. Von diesem Zusammenhang war Marx dermaßen überzeugt, dass er 1857 an Engels schrieb: „Ich arbeite wie toll die Nächte durch an der Zusammenfassung meiner Ökonomischen Studien, damit ich wenigstens die Grundrisse im Klaren habe vor dem déluge.“ 3 Marx hatte ehrliche Angst davor, dass seine Jahre in der Bibliothek von London umsonst wären und die Krise den Kapitalismus hinwegfegen würde, bevor er seine ökonomischen Studien beendet hätte. 1858 flaute die Krise ab und Marx konnte nicht nur seine Grundrisse, sondern 1863 auch noch den ersten Band des Kapitals veröffentlichen. So lächerlich diese Krisenhoffnung heute erscheint, im 19. Jahrhundert war sie bis zu einem gewissen Grad begründet.

Der Liberalismus als Utopie Marx und andere Kommunist_innen des 19. Jahrhunderts kritisierten eine Ideologie, die selbst mit dem Anspruch angetreten war, Freiheit, Gleichheit und ewigen Frieden zu realisieren. Die liberale Ideologie des Bürger_innentums und deren wissenschaftliche Ausprägung in der Politischen Ökonomie waren selbst eine Utopie. Der Liberalismus hatte sich auf die Fahnen geschrieben, eine vernünftig eingerichtete Welt zu schaffen. Dabei sollte die Gesellschaft frei von persönlicher Herrschaft und Willkür sein, je nach Geschmack glaubten die liberalen Ideologen, dies würde sich durch die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith oder die „volonté générale“ von Jean-Jaques Rousseau realisieren.

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durch sie unüberschreitbar wurden. Mit dem Abschied der bürgerlichen Gesellschaft von der Utopie verschlechterte sich jedoch auch die Agitationsmöglichkeit der kommunistischen Kritiker_innen. Denn wie sollte man eine Gesellschaft kritisieren, die von sich aus gar nicht mehr den Anspruch hatte, allgemeines Glück herzustellen. Die Wissenschaft begleitete diese Entwicklung mit der Herausbildung des Positivismus, der mit naturwissenschaftlichen Prinzipien sowohl die Gesellschaftsphilosophie als auch die aufklärerische Politische Ökonomie in der Gesellschaft ablöste. Das Forschungsobjekt der neu entstandenen Fachwissenschaften war das Individuum als solches, das als vorgesellschaftlich wie auch natürlich galt. Damit wurde die bis dahin vorherrschende bürgerliche Gesellschaftstheorie durch eine naturalistische An­thropologie ersetzt. Zwar fanden sich im Liberalismus schon immer naturalisierende Tendenzen, zur Entfaltung kamen sie jedoch erst mit der Preisgabe utopischer und an der Vernunft ausgerichteter Ziele. Die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, die bei Adam Smith einfach als vorausgesetzt hingenommen wurde, verdinglichte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Rassentheorie.5 Gerhard Stapelfeldt bemerkt zu diesem Übergang von Liberalismus zum Imperialismus im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise 1873: „Die postliberale, imperialistische bürgerliche Politik-Ökonomie ist ein im ganzen irrationaler, in seinen Teilsystemen rationaler sozialer Kosmos, der die Welt integriert-desintegriert: durch einen politischen, ökonomischen und militärischen Weltbürgerkrieg, der rational den Rassismus legitimiert und mit wissenschaftlich-technischen Mitteln geführt wird.“ 6

Marxens Hoffnung Die Abwendung des Bürger_innentums von der Utopie war jedoch auch ökonomischen Entwicklungen geschuldet, denn polit-ökonomisch war der klassische Liberalismus der ka-

pitalistischen Gesellschaft nicht mehr adäquat. Die in Konkurrenz liegenden Mittel- und Kleinbetriebe, die die liberalen Theoretiker bei der Abfassung ihrer Werke vor Augen hatten, waren Kartellen und Monopolen gewichen. Zudem setzten immer mehr Staaten im Gefolge der Weltwirtschaftkrise, allen voran Deutschland, auf Staatsintervention. Karl Marx ahnte dies im Krisenjahr 1873 noch nicht und schrieb noch überaus optimistisch: „Die widersprüchliche Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in dem Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt – die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußischen-deutschen Reichs Dialektik einpauken.“ 7 Es kam jedoch anders: Die Krise 1873 war vor allem in Deutschland kein Einspruch der Vernunft gegen den Widerspruch des Kapitalismus mehr. Den ehemaligen Glückspilzen des preußischen-deutschen Reiches war der Antisemitismus als Erklärung für die Krise einleuchtender als die Dialektik und Überwindung des krisenhaften Kapitalismus. Der Vernunft entledigt und die unsichtbare Hand des Marktes durch den festen Griff des Staates ersetzt, erschien die Krise nun als Sabotageakt Einzelner an einer ansonsten beherrschten und durchgeplanten krisenfreien Gesellschaft. Fatalerweise hielt es ein Großteil der Arbeiter_innenbewegung in der Folge mehr mit Ferdinand Lassalle als mit Marx und begleitete den Staatsinterventionismus wohlwollend. Bereits in den 1930er Jahren wies Erich Baumann in der Zeitschrift für Sozialforschung auf den Zusammenhang von Staatsinterventionismus und autoritären Gesellschaftsvorstellungen hin. Über den vor allem in grünen und sozialdemokratischen Kreisen sehr geschätzten John Maynard Keynes schrieb Baumann: „Die Verwandtschaft der Keynes’schen Gedankengänge mit den autoritären Theorien lässt sich noch an vielen anderen Einzelheiten zeigen. Hierher gehören seine Sympathien mit der merkantilistischen Wirtschaftspolitik, die man bisher arg verkannt habe, die Forderung großer öffentlicher Arbeiten als Konjunktur-Regulator, die Verteidigung der mittelalterlichen Wuchergesetze und die pathetische Denunziation des raffenden Kapitals.“ 8

Doch die kritischen Sätze Baumanns fanden in der Linken keinen Anklang. Als hätte sich nicht schon vor 140 Jahren im Verhältnis von Krise und Revolution etwas fundamental verändert, propagiert die Mehrheit der Linken weiterhin die Staatsintervention und hofft auf die Krise. Dabei gelte es, in der Krise das Schlimmste zu verhindern. Heute fahnden Volksbewegungen, die mit einer befreiten Gesellschaft überhaupt nichts am Hut haben, nach den Schuldigen an der Krise und landen, wie amerikanische Marxist_innen im Fall der Wall-Street-Proteste dokumentiert haben, nicht selten bei antisemitischen Verschwörungstheorien.9 Die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts, in der die Krise der gewaltsame Einspruch der Vernunft gegen den Kapitalismus war, sind dahingeschieden – unwiderruflich. Statt an alten Revolutionshoffnungen in der Krise festzuhalten, wäre danach zu fragen, wie Gesellschaftskritik unter diesen Verhältnissen noch möglich ist. Eines ist aber klar: In Zeiten der Krise steht es nicht gut um sie. Anmerkungen: 1 Die Krise kann nicht hereinbrechen, denn sie ist im Kapitalismus allgegenwärtig: Der Kapitalismus ist die Krise, weil Produktion und Konsumtion auseinanderfallen. 2 Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band, 32. Auflage; Karl Dietz Verlag Berlin 2008, S. 891 3 Karl Marx: Marx an Engels vom 8. Dezember 1857, in: MEW Bd. 29, 6. Auflage; Karl Dietz Verlag Berlin 1987, S. 225 4 Vgl. Gerhard Stapelfeldt: Der Liberalismus, ca iraVerlag Freiburg 2006, S. 453 – 456 5 Ebd., S. 461 6 Ebd. S. 461 7 Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, 38. Auflage; Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 28 8 Erich Baumann: Keynes´ Revision der liberalistischen Nationalökonomie, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jahrgang 5 1936, Deutscher Taschenbuch Verlag München 1980, S. 402 9 www.marxisthumanistinitiative.org/news/wallstreet-protests-marred-by-anti-semitism.html, Zugriff 13.5.2012


im zeichen der krise

Keine Pflichten ohne Rechte! Warum ein freier Markt nicht demokratisch und eine universale Verteilung von gesellschaftlichem Eigentum die klügere Alternative ist. Ein Überblick über die Krise politischer Systeme nach Robert Castel.

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ie Erhaltung des freien Marktes und einer stabilen Währung gelten als oberste Prämisse politischer Entscheidungen – zumindest gewinnt mensch den Eindruck bei Lektüre morgendlicher Presseartikel zum Umgang der Europäischen Union bzw. ihrer Mitgliedsländer mit der Regierung und Bevölkerung in Griechenland. Es scheint, wenn nur diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, steht einem finanziellen Überleben und einer staatlichen Stabilität nichts mehr im Weg. Und überhaupt: Finanzpolitik ist doch wohl wichtiger als Demokratie- und Sozialpolitik, denn was gibt es schon Demokratischeres als den freien Markt? Die Fragen, die dabei nicht gestellt werden – vor allem weil sie unbequem sind – lauten: was passiert, wenn Menschen nicht am Markt teilhaben können, weil sie ohne Einkommen oder nur mit prekärem Einkommen ausgestattet sind? Und welche Folgen hat diese Zunahme an sozialer Unsicherheit und Prekarität für die Stabilität eines politischen Systems und seine Institutionen?

Wer nicht entbehrt, hat schon verloren Robert Castel, ein Soziologe aus Frankreich, der sich u. a. mit der Transformation von Lohnarbeitsverhältnissen in Frankreich und Europa beschäftigt, kam in seinen Analysen zur „Krise der Arbeit“ zu der Schlussfolgerung, dass die Teilhabe an der sozialen Umwelt verunmöglicht wird, wenn die Frage nach der Aufrechterhaltung der eigenen Existenz überwiegt. Denn wenn Konsum, Gesundheitsvorsorge, Partizi-

pation an Bildung, Wohnen, aber auch Freizeit nicht möglich sind, kommt es nicht nur zur Isolation betroffener Personen sowie zu breiten Spannungsverhältnissen innerhalb der Gesellschaft, sondern auch zu einem Verlust an Vertrauen in Regierungen oder die Regierungsform generell. Die Antwort auf Protest lautet gegenwärtig vor allem Restriktion und Einsatz von Exekutivgewalt, wie sich beispielsweise an der Tagespolitik in Griechenland ablesen lässt. Häufige Regierungswechsel, Rückgänge in der Partizipation an Wahlen sowie in Interessensorganisationen selbst (seien es Parteien oder Nichtregierungsorganisationen) sind Symptome für eine zunehmende Instabilität eines politischen Systems. Da reicht die bloße Existenz von demokratischen Institutionen nicht aus. Ergebnisse hierzu finden sich in Erhebungen wie dem Pew Global Attitudes Project zur „Demokratiezufriedenheit“ in Staaten Osteuropas. Sie zeigen – mit einem Jahrzehnt Abstand –, dass trotz anfänglicher Euphorie über ein institutionalisiertes Mehrparteiensystem und regelmäßige Wahlen durch die vermehrten Privatisierungen, Arbeitsplatzkürzungen und Eindämmung einer umfassenden Sozialpolitik der allgemeine Zuspruch zu einem demokratischen politischen System abnimmt. Auch in europäischen Ländern des ehemaligen westlichen Blocks hat es eine Umgestaltung der Sozialsysteme gegeben. Es fanden eine Abkehr von einem „universalen Versicherungsmodell“, wie es Castel bezeichnet, und ein Richtungswechsel hin zu einem „minimalistischen Modell“ statt, das nur noch jene auffangen soll, die am Existenzminimum leben müssen. Diese zunehmende Individualisierung, also Selbstverantwortung, geforderte Risikobereitschaft – und häufig Isolierung – im Wettkampf um Existenzsicherung steht quer zu Vertrauen in große Parteien, Regierungen oder auch emanzipative Selbstorganisation mit anderen, sei es in NGOs, Gewerkschaften oder autonomen politischen Räumen. Und tatsächlich ist eine Parallele zu beobachten:­

Kathrin Glösel

mit zunehmender Ausdifferenzierung­von Spaltungen zwischen Menschen (Alter, Geschlecht, Beruf, Sexualität, Wohnort …), mit vermehrten prekären Beschäftigungsverhältnissen, gesteigerten Lebenskosten, Abbau von Transferleistungen und Privatisierung von Versicherungssystemen und mehr haben auch Mitgliedschaften in Vereinen/Parteien und Wahlbeteiligungen abgenommen. Häufige Regierungswechsel, knappe Mehrheiten und noch mehr Restriktionen durch das Mantra des Sparens waren die Folge. Zweifelsohne ist das nicht zusammenhangslos zu betrachten, denn auch politische Organisationen haben sich verändert und sich durch Personalisierung und Professionalisierung am Produkt-Marketing orientiert. Die Motivation, zu partizipieren, schnellt dadurch nicht in die Höhe.

Ohne Leistung keine Belohnung In diesem Wirrwarr an Ereignissen haben, so Castel, Sozialleistungen in ihrer Ausgestaltung nur noch „Anreizcharakter“ (Castel 2008: 202), sie reichen knapp zum Überleben, aber es gilt: es ist ein Tauschgeschäft. Ohne den Willen zu schlecht bezahlter Arbeit, ohne ständigen Verweis auf die eigene finanzielle Lage ist die Minimalteilhabe an der Gesellschaft nicht gewährleistet. Es ist eher ein Fürsorgeprinzip als ein Prinzip des Rechts auf Mündigkeit und aktive Teilhabe. Doch warum ist das überhaupt relevant? Castel: Weil ein „Grundbestand an Mitteln und Rechten“ dem „modernen Individuum die Möglichkeit verschafft, zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu werden“ (Castel 2008: 208). Nur eine universale Verteilung von Sozialeigentum kann die Kluft zwischen Vermögenden und Lohnabhängigen – um in einer im weitesten Sinne traditionellen marxistischen Bezeichnung zu bleiben – schließen. „Sozialeigentum ist die Voraussetzung sozialer Unabhängigkeit“ und „Grundvoraussetzung sozialer Bürgerschaft“ (Castel 2008: 208).

An sich sind wir perfekt individualisiert; umgeben von Neiddebatten und Leistungsanforderungen haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, an unserer Misere selbst Schuld zu tragen. Statt Systemkritik üben wir Kritik an Einzelpersonen, die eventuell mehr haben, mehr Einkommen, den schöneren Urlaub, die größere Wohnung. Dennoch: Lohnarbeit selbst ist zwar die Leistung, nach der ein Mensch in Bezug auf seinen Wert bemessen wird, doch durch die Arbeitsbedingungen reicht sie als sozialer Integrationsfaktor nicht aus. „Eine wirkliche soziale Sicherung ist damit die Grundvoraussetzung einer ‚Gesellschaft von Gleichen‘. Eine Gesellschaft von Gleichen ist eine Gesellschaft, deren Mitglieder nicht in jeder Hinsicht gleich sind, aber zumindest über einen ausreichenden Grundbestand an Mitteln und Rechten verfügen würden, um in der Gesellschaft ihrer Mitmenschen zu leben (...), in einer Gesellschaft, die niemanden ausschießt. Das ist eine recht gute soziologische Kennzeichnung dessen, was man in der Politik als Demokratie bezeichnet.“ (Castel 2008: 209) Zweifelsohne lassen sich mit Castel nicht alle Fragen nach der Ausgestaltung eines politischen Systems klären (beispielsweise sagt er nichts aus über das Zustandekommen spezifischer Muster politischer Kultur oder Orientierungen von Regierungen), ebenso wenig stellt Castel die Mechanismen kapitalistischer Produktion und Konsum infrage. Dazu bedarf es einer Zusammenschau mit anderen Theoretiker_innen. Aber dennoch lässt sich feststellen, dass sich Demokratie nicht mit Fiskalpakten garantieren lässt, sondern vielmehr eine universale Sozialleistungspolitik Voraussetzung für Emanzipation und politische Teilhabe ist. Literatur: Castel, Robert (2008): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg 2011 Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2008

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im zeichen der krise

Auswirkungen der Krise auf das kapitalistische Geschlechterverhältnis

Kübra Atasoy

Geschlecht wirkt über Epochen hinweg als eine unveränderliche Kategorie zur Einteilung von Menschen, die den Boden für Ungleichbehandlung bereitet. Welche kapitalistischen Mechanismen wirken auf die unreflektierte Konstruktion von Geschlecht – und wie wirken Krisen auf sie?

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it Beginn des Kapitalismus hat sich eine Sphärentrennung durchgesetzt, die das Geschlechterverhältnis grundlegend neu strukturiert hat. Die Unterteilung in verschiedene Lebens- und Arbeitsbereiche wird mit einer Natürlichkeit begründet, die konstruierter nicht sein könnte. Frauen* und Männern* werden kategorisch gegenteilige Attribute zugeordnet: beginnend bei Leistungsschwäche bzw. -stärke, Empathie bis hin zu Teamfähigkeit. Durch die Teilung in weiblich* geprägte Arbeitsbereiche, die – egal ob bezahlt oder unbezahlt – Mehrwert für die Gesellschaft produzieren, kommt es zu einer so genannten Abspaltung des männlich geprägten ‚Werts‘. Männer* werden eher in den Bereich der Produktionsarbeit (meist entlohnte Arbeit, die Produkte oder Dienstleistungen erzeugt) und Frauen* in den Bereich der Reproduktionsarbeit (meist unbezahlte, scheinbar unsichtbare Arbeit zur Erhaltung menschlichen Lebens und der Produktionsarbeit) verwiesen. Diesen Widerspruch zwischen den Sphären hat der Kapitalismus zwar nicht erfunden, jedoch gänzlich verändert.

Was hat Geschlecht mit Kapitalismus zu tun? Schon ab der bürgerlichen Moderne waren Frauen* aus fundamentalen Bereichen der Gesellschaft – im Besonderen von der Konstituierung dieser – ausgeschlossen. Während Bildung nur langsam, aber dennoch Frauen* zugänglich gemacht wurde, blieben sie aus der öffentlichen Späre ausgeschlossen, z. B. von höher qualifizierter Erwerbstätigkeit. Der sich durchsetzende Kapitalismus führte zu einer weitgehenden Trennung von Repro-

duktions- und Produktionsarbeit, die es zuvor in dieser Form nicht gab. Zum einen führte die Entstehung von Lohnarbeit zur Trennung in ‚öffentliche‘ und ‚private‘ Bereiche, wo vorher noch Menschen allerorts ähnliche Arbeiten verrichteten. Zum anderen wendet sich auch bürgerliches Denken nicht von der ‚natürlichen‘ Andersartigkeit der Geschlechter ab. Ganz im Gegenteil: Die bürgerliche Gesellschaft führte für manche Frauen* zu einer klaren Verschlechterung ihrer Stellung und Teilhabe im gesellschaftlichen Leben. Für adelige Frauen* teilweise selbstverständliche Partizipation an politischen Prozessen erschien fürs Erste wieder in weite Ferne gerückt. In neoliberalen Ausprägungen des Kapitalismus ist aber auch eine scheinbare Umkehrung zu beobachten. Diese führt dazu, dass Frauen* aufgrund ihnen zugeschriebener Eigenschaften eher eingestellt werden können. Ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung sind Erwerbstätigkeiten im Pflege- und Erziehungsbereich. In diesen Bereichen arbeiten mehrheitlich Frauen*, Führungspositionen sind allerdings öfter männlich besetzt. Die Bezahlung ist in diesem Sektor geringer als in den meisten anderen, vor allem männlich* geprägten, Sektoren wie Industrie. Die Bezahlung von Frauen* ist selbst bei mehrheitlich von Frauen* ausgeübten Tätigkeiten wieder geringer als die von Männern*.

Was hat die Krise damit zu tun? Auf den ersten Blick sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede in Arbeitsbereichen, Bezahlung und sozialer Absicherung offensichtlich. Während 2011 44% aller erwerbstätigen Frauen* teilzeitbeschäftigt waren, sind es nur 8,9% der 1 Männer* gewesen. Zwei von drei geringfügig 2 Beschäftigten sind Frauen*. ‚Gerettet‘ wurden während der Krise vor allem männlich besetzte Branchen wie die Automobilindustrie, wobei es auch dort in den untersten Etagen zu massiven Entlassungen bzw. Umstrukturierungen in

Kurz- oder Leiharbeit gekommen ist. Weiblich geprägte Arbeitsdomänen wie der Gesundheitsund Bildungsbereich überstehen einzelne Krisen oft besser als andere Bereiche. Eine Investition in diese hat aber auch nicht stattgefunden, obwohl ein großer Bedarf herrscht und dieser Sektor besonders schlecht bezahlt wird. Besonders in den Aktionen, die nicht gesetzt wurden, ist die patriarchale Verfasstheit besonders ersichtlich. Laut einer Umfrage der Statistik Austria sind 7% der Frauen von Armut betroffen, 13% sind armutsgefährdet. Dies betrifft vor allem Migrantinnen* und Alleinerziehende.3 Eine höhere Vermögens- und Einkommensbesteuerung könnte Frauen* dienen, da diese öfter unter der Armutsgrenze leben als Männer. Dafür müsste allerdings das Sozialsystem ausgebaut, nicht beschnitten werden. Ein häufiger Trugschluss, bei der Analyse dieser Daten, ist, dass sich Frauen komplett in den kapitalistischen Produktionsprozess einordnen sollten – und sich dieses Problem somit auflösen würde. Dabei wird übersehen, dass es sich hierbei um ein strukturelles Problem handelt. Eine tiefergehende Beschäftigung mit den Entwicklungen der Krise zeigt, dass es zwischen Arbeitslosenquoten von Frauen* und Männern* nur geringfügige Schwankungen in beide Richtungen gibt. Sie pendeln sich in beiden Kategorien etwa bei 9% ein. Die Arbeitslosenquoten der letzten zehn Jahre zeigen keine eindeutige geschlechtliche Zuweisung.4 Die niedrigere Bezahlung von Frauen*, und damit ihre Erwerbstätigkeit, scheinen eine stabilisierende Wirkung auf den Kapitalismus zu haben. Und dieser wirkt wiederum stützend für das patriarchale Geschlechterverhältnis: indem geschlechterspezifische Unterschiede als vermeintliche Qualifikationen konstruiert und kapitalistisch verwertet werden. Sei es die ‚natürliche‘ Fürsorgebereitschaft in der Pflege oder die angesprochene Teamfähigkeit im Management-Bereich. Je höher der soziale Status, desto stärker findet eine Annäherung im Anteil an Produktions- und Reproduktionsarbeit zwischen Männern* und Frauen* statt. Sei es durch staatliche Interventionen wie Elternteilzeit und Papamonat oder einen oberflächlichen Feminismus. Eine scheinbare Emanzipation im Arbeitsbereich funktioniert aber nur auf Kosten der Ausbeutung anderer! Die Reproduktionsarbeit der Frauen* und Männer* mit höherem sozialen Status wird mehrheitlich an Frauen* mit Migrationshintergrund und niedrigerem Status ausgelagert, während diese ihre Reproduktionsarbeit weiterhin unsichtbar und unbezahlt ­leisten (müssen).

Was tun? Seit Beginn der Krise findet eine stärkere Auseinandersetzung mit alternativen Modellen zum

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Kapitalismus – besonders in seiner neoliberalen Ausprägung – statt. So bietet z. B. Frigga Haug mit der dialektischen Forderung „Teilzeit für alle“, also einer radikalen Arbeitszeitverkürzung, zwar keine Lösung, aber einen Ansatz, der zumindest nicht die Vollzeiterwerbstätigkeit aller Menschen als emanzipatorische Handlung propagiert, oder bei realitätsferner Theoriearbeit verharrt. Aus ihrer Vier-in-einem-Perspektive (Arbeit, Reproduktion, Kultur, Politik) bietet die radikale Arbeitszeitverkürzung eine Möglichkeit Raum zu schaffen für die kulturelle und politische Emanzipation aller Menschen. Diese sollen nach der Tätigung gesellschaftlich notwendiger Arbeit Zeit und Kraft für Weiterbildung und politischen Aktivismus finden.5 Das ändert nichts daran, dass die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse dem Kapitalismus inhärent sind und umgekehrt. Eine ausreichend weite Kritik des Arbeitsbegriffs, besonders in Zusammenhang mit Lohnarbeit findet nicht statt, ebenso wenig hat der Ansatz systemüberwindenden Charakter. Diese These überwindet nicht den ‚Wert‘ und seine Abspaltung, und führt im Gegenteil zur Zementierung von Geschlechterverhältnissen, auch bei verkürzter Arbeitszeit. Aber die Arbeitszeitverkürzung könnte dem Trend der Ausbeutung anderer auf Kosten der eigenen individuellen Emanzipation entgegensteuern, die mit der Auslagerung der Reproduktionsarbeit stattfindet. Und sie bietet das Potenzial zur Weiterentwicklung von praktischen Ansätzen nicht nur in Arbeitskämpfen, sondern allgemein im politischen Aktivismus. „Es genügt nicht, weltweit oder regional die Hälfte vom schimmligen Kuchen zu fordern. Wir werden einen anderen Kuchen backen müssen und wir werden neu darüber nachdenken müssen, mit wem, für wen und unter welchen Arbeitsbedingungen und mit welchen Ressourcen und Energien wir backen wollen.“ (Gisela Notz)6 Zur Ergänzung siehe Seite 4: „Love and care“ Quellen: 1 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitszeit/teilzeitarbeit_teilzeitquote/index. html 2 http://derstandard.at/1325485533207/Nahezu-verdoppelt-Immer-mehr-Frauen-geringfuegig-beschaeftigt 3 EU SILC 2008 4 http://www.statistik.at/web_de/statistiken/arbeitsmarkt/arbeitslose_arbeitssuchende/arbeitslose_internationale_definition/index.html 5 Haug, Frigga: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, Argument Verlag 6 http://www.leibi.de/takaoe/89_07.htm Empfehlung: www.heinzjuergenvoss.de/


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