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Aber hier leben, nein Danke!

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//Editorial Liebe verschnupfte Leser_innenschaft,

S. 3 ÖH-Kommentar // Mehr als ein Taschengeld S. 4 „Ja, aber …“ // eine Projektvorstellung – ‚Hochschulen in der NS-Zeit‘ S. 5 Der K(r)ampf um Demokratie // Der Papst fährt SUV S. 6 Die Bewegung der Muslimbruderschaft in Westeuropa S. 7 Ungarische Einfalt in der Vielheit S. 8 Termine // Gewinnspiel I // Gewinnspiel II S. 9 Termine // Kobys Kulinarium S. 10 Das utopische landgut und der Traum vom Café // „One should either be a work of art, or wear a work of art“ S. 11 Modernes Wohnen, aber wie? // „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ S. 12 Sexismus im Web und in Hacker Spaces S. 13 Call to Action S. 14 Debord statt Fawkes S. 15 Homöopathie – nur ein harmloses Placebo? // ÖSTERREICHISCHE KELLER S. 16 „Wir kommen wieder“ Schwerpunkt Ab S. 17: Stars ‘n‘ stripes S. 18 We the people ... S. 19 Land des unbegrenzten Eigentumsschutzes S. 20 Im Namen der Freiheit S. 21 Mit und gegen Amerika S. 22 Der pathologische Anti­amerikanismus der Linken S. 23 Wahlkampf für obama S. 24 Gentrifizierung in New York City Zeitung

der

ÖH

Uni

Wien

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Nr.

10/12

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Österreichische

Post

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E-Mail:

Gehuste und rinnende Nasen begleiten das Produktionswochenende eurer Lieblingszeitung; und auch weil der Herbst immer vehementer an die Fenster klopft, steht diesmal Tee statt Bier auf der Getränkekarte der UniqueRedaktion. Zur schnelleren Genesung vom herbstlichen Unwohlbefinden zaubert Koby in seinem Kulinarium auf Seite 9 eine Zwiebelsuppe auf den Tisch. Globuli zur homöopathischen Behandlung der Schnupfnasen finden sich jedoch nicht in unserem Medikamentenschränkchen – warum erfahrt ihr auf Seite 15. Um euch den Sommer und etwaige Urlaubserinnerungen noch ein letztes bisschen zu konservieren, schickt euch diese Ausgabe auf Reisen. Zurück aufs Land und zu dessen Verflechtung mit dem utopischen Traum, ein Café zu eröffnen, bringt euch der Kommentar auf Seite 10. Ebenfalls auf dieser Seite: wie es der Herbst mit der Mode und dem Einfluss der Krise auf ebendiese hält. Weiters verschlägt euch diese Ausgabe ins World Wide Web – und nicht nur, weil wir seit Kurzem den Versuch des regelmäßigen Twitterns gestartet haben (an dieser Stelle ein bisschen Werbung: unique_magazine freut sich über neue Follower). Über Sexismus im Web und in Hacker Spaces sowie über Protestformen im Netz geht es auf der Doppelseite 12/13. Feuilletonistisch besucht diese Ausgabe auch noch die Ausstellung zur Werkbundsiedlung und erzählt auf Seite 11 über deren Geschichte. Aber auch die altbewährten Buchrezensionen sollen mal wieder zum Lesen abseits der Unique anregen. Schlussendlich überquert der Schwerpunkt dieser Ausgabe mit euch die große See und befördert euch ins ‚Neue Land‘: nach Amerika – genauer gesagt in die Vereinigten Staaten. Den Präsidentschaftswahlkampf zum Anlass nehmend, erzählen euch unsere Autor_innen u. a. von Demokratie, Parteienlandschaft oder auch Gentrifizierung. Viel Spaß beim Lesen, und auf dass ihr der aktuellen Grippewelle entkommt,

eure Unique P. S.: Wenn der Schnupfen und das Fieber euch doch schon plagen sollten, greift zu ‚richtiger‘ Medizin und werdet bald gesund.

unique@reflex.at

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ÖH

Uni

Wien

Website:

www.oeh.univie.ac.at


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unileben Die Uni als politischer Raum?....................

ÖH-Kommentar

Politik ist überall dort, wo Einfluss genommen und mitgestaltet wird, wo Forderungen und Ziele durchgesetzt werden – zunächst einmal unabhängig davon, von wem und in welchem Rahmen. An der Universität Wien sind die institutionalisierten Mittel, die Studierenden zur Verfügung stehen, um bei wichtigen Entscheidungen (etwa bei der Nichtabschaffung eines Studiengangs) mitreden und mitbestimmen zu können, verhältnismäßig gering. Obwohl die Studierenden von Entscheidungen in Bezug auf ihren Studienplan oder Finanzierungsangelegenheiten wohl am stärksten betroffen sind, liegen Mitspracheund Entscheidungsrecht hauptsächlich bei der Unileitung und der ProfessorInnenkurie.

­Senat. Der Zugang zu diesen Gremien erfolgt über ein Engagement in Studienvertretungen, IGs, bagrus oder in der ÖH Uni Wien (und ihren Fraktionen). Die Arbeit in diesen Gruppen bringt sowohl harte Enttäuschungen als auch gewisse Erfolgserlebnisse mit sich. Abseits von Sitzungen, Arbeitsgruppen und konspirativen Auf-dem-Flur-G esprächen spielt sich zugleich ein Alltag ab, der von manchen gerne als ‚unpolitisch‘ wahrgenommen wird. Ein Trugschluss – denn die Uni ist ein Ort, an dem sich gesellschaftliche Verhältnisse und alles, was an diesen nervt oder als erfreulich wahrgenommen wird, widerspiegeln. Der Alltag ist keine unpolitische Zone: ob es nun um die Anwesenheit von deutschnationalen oder katholischen Durch die unter Schwarz-Blau durch- Burschenschaft ern in deiner Lehrveranstalgeführten Universitätsreformen (Stich- tung geht, um sexistische Äußerungen oder wort UG 2002) wurden die Rechte­ um die Diskrim inierung psychisch oder phyder Studierenden besonders stark be- sisch beeinträ chtigter Studierender. Solche schnitten. Der Universität bleibt nur Situationen und Erlebnisse sollten nicht einmehr ein gewisser demokratischer Restfach hingenommen werden . Es ist sinnvoll , anspruch: Beschlüsse über verschiedenste diese Gegebe nheiten und Vorfälle zu hinterGremien prüfen und genehmigen zu lassen. fragen und zu kritisieren – und den vorherrSolche Gremien sind etwa Studienkonferen- schenden ‚Norma lzustand‘ nicht einfach zu zen, bei denen StudierendenvertreterInnen akzeptieren. die ihnen zugeteilten Plätze wahrnehmen, oder Arbeitskreise wie jener für Gleichbehandlungsfragen und nicht zuletzt der Jasmin Rückert

//BILDSTRECKE von Daria Kirillova

Die Serie ist Teil eines im Jahr 2008 entstandenen Fotoprojekts über die Umwelt und Umgebung der Moskauer Parks oder der sogenannten ‚Naturschutzgebiete‘. Durch unterschiedliche menschliche Aktivitäten wird die Umgebung dieser früheren Wälder aufgewertet. Doch trotz der offensichtlichen aktuellen Gentrifizierung der „Naturschutzgebiete“ von Moskau finden sich Spuren der ParkbewohnerInnen, die immer noch sichtbar bleiben.

Das Sozialreferat informiert .....................................

Mehr als ein Taschengeld

//IMPRESSUM Herausgeber und Medieninhaber: Verein für Förderung studentischer ­Medienfreiheit; Unicampus AAKH, Hof 1, Spitalgasse 2–4, 1090 Wien; ­­ Tel. 0043-(0)1-4277-19501 Redaktion: Soma Assad, Dorothea Born, Oona Kroisleitner, Tamara Risch Mitarbeiter_innen dieser Ausgabe: Claudia Aurednik, Julian Bruns, Lukas Caterpillar, Koby Cramer, Michael Fischer, David Fließer, Stephan Grigat, Mathias Haas, Sarah Kanawin, Oona Kroisleitner, Hanna Lichtenberger, Doris Maierhofer, Fridolin Mallmann, Florian Markl, Marvin Müller, ­Thomas Murau, Bernhard Pisecky, Laurin Rosenberg, Jasmin Rückert, ­Simon Sailer, Daniel Schukovits, Martha Testovich, Matthias Vigl, ­Alessandro Volcich, Florian Wagner, Franz Wilding Layout: Iris Borovčnik Lektorat: Karin Lederer, Maria Rausch Illustrationen: Daria Kirillova Anzeigen: Wirtschaftsreferat ÖH Uni Wien, inserate@oeh.univie.ac.at, Tel. 0043-(0)1-4277-19511 Erscheinungsdatum: 12.10.2012 Kritisch den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet – aber hier leben, nein Danke!

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Der_die durchschnittliche Studienanfänger_in hat ein monatliches Gesamtbudget von 850 EUR zur Verfügung. Gut die Hälfte davon kommt von der Familie. Dass es sich bei der finanziellen Unterstützung durch die Eltern weniger um liebevolle Großzügigkeit, sondern vielmehr um eine gesetzliche Unterhaltspflicht handelt, ist sowohl Eltern als auch Studierenden viel zu oft unbekannt. Die Gründe, weshalb sich Eltern davor drücken (wollen), ihren studierenden Nachwuchs finanziell zu unterstützen, sind vielfältig. Auf der einen Seite gibt es Eltern, die finanziell kaum in der Lage sind, das Leben ihrer Kinder mitzufinanzieren. In diesen Fällen sollte die Studienbeihilfe die Lücke füllen. Häufig stecken jedoch andere Motive hinter der fehlenden Unterstützung: Rachefeldzüge; der Umstand, dass die Eltern selbst auch nicht studieren durften; oder dass sie Frank Stronach unterstützen und dieser ja sagt, wer Sozialwissenschaften studiere, solle das Studium selbst bezahlen. Wer zahlt? Zunächst steht der Unterhalt in Naturalleistungen zu: Das bedeutet, wenn der_die Studi im gleichen Haushalt wie beide Elternteile wohnt, so haben diese Wohnraum, Nahrung und andere notwendige Dinge zur Verfügung zu stellen. Anspruch auf Geldunterhalt entsteht dann, wenn nicht mehr beide Eltern im selben Haushalt wohnen oder man zum Studieren an einen ande-

ren Ort gezogen ist. Wenn der_die Studi etwa noch bei der Mutter lebt und der Vater nicht mehr im gleichen Haushalt wohnt, so muss der Vater einen Geldunterhalt leisten. Wohnt man mit keinem Elternteil mehr in einem Haushalt, so können beide unterhaltspflichtig werden. Wie lange? Der Unterhalt steht im Grunde so lange zu, wie das Studium im Durchschnitt dauert. Wie lange das im konkreten Fall ist, kann auf der Homepage des Wissenschaftsministeriums im Hochschulbericht nachgelesen werden. Zudem muss das Studium „ernsthaft und zielstrebig“ betrieben werden. Was das genau bedeutet, lässt sich leider nicht in ECTS-Punkten ausdrücken. Innerhalb eines Jahres kann das Studium gewechselt werden. Wechselt man später, verkürzt sich die Anspruchsdauer um so viele Semester, wie man länger als die zulässigen zwei Semester „Überlegungszeit“ im Erststudium studiert hat. Macht man nach dem Bachelorstudium noch ein Masterstudium, so hat man auch in diesem einen Anspruch auf Unterhalt. Bei einem Doktoratsstudium ist der Anspruch hingegen an Voraussetzungen geknüpft. Hier müssen ein überdurchschnittlicher Studienerfolg sowie bessere Chancen auf einen Berufserfolg durch das Studium gegeben sein. Eine Altersgrenze gibt es für den Unterhalt nicht.

finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern andererseits. Anhand des Lohns eines Elternteils wird eine Unterhaltsbemessungsgrundlage gebildet: Hierfür nimmt man die Jahresbruttobezüge und subtrahiert davon die Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnsteuer. Anschließend dividiert man diese Zahl durch 12. Das Ergebnis ist nicht das monatliche Nettoeinkommen des Elternteils, sondern ein höherer Betrag. Für die Bemessungsgrundlage werden nämlich Zulagen und das 13. und 14. Monatsgehalt mitberücksichtigt. Vom Ergebnis stehen einem_einer Studi dann 22% zu, sofern keine anderen Unterhaltspflichten zu leisten sind; diese verringern nämlich den Anteil (etwa um 2% für ein weiteres unterhaltspflichtiges Kind). Die absolute Obergrenze für den Unterhalt liegt beim Zweieinhalbfachen des sogenannten Regelbedarfs, das sind etwa 1.300 EUR. Böse Zungen behaupten, die alten Richter des Obersten Gerichtshofs hätten diese Grenze erfunden, um ihren eigenen Kindern dann doch nicht zu viel zahlen zu müssen. Freilich ist es in den allerseltensten Fällen eine feine Sache, seine eigenen Eltern zu verklagen. Daher gibt es auch andere Möglichkeiten, als gleich vor das Bezirksgericht zu ziehen. Ein Mediationsverfahren könnte beispielsweise Abhilfe schaffen. Die ÖH unterstützt dich dabei – auch finanziell. Und das ÖH-Sozialreferat berät dich gerne.

Wie viel? Wie hoch der Unterhalt ist, den Eltern ihren Kindern zahlen müssen, bemisst sich am Bedarf der Studierenden einerseits und an der

Infos: Auf der Homepage http://oeh.ac.at findest du die Broschüre Unterhalt für Studierende zum Download.

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unileben

„Ja, Aber …“

.........................................Zugangsbeschränkungen

„In stark nachgefragten Fächern“ führt für Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle (ÖVP) kein Weg mehr an Zugangsbeschränkungen vorbei. Dass er mit der Wissenschaftssprecherin der SPÖ, Andrea Kuntzl, gerade an einem Studienplatzfinanzierungsmodell für ‚Massenfächer‘ arbeitet, kommt dem natürlich zugute. Zugangsbeschränkungen unter dem Deckmäntelchen der Studienplatzfinanzierung einzuführen ist eben auch für die SPÖ ein gangbarer – weil argumentierbarer – Weg: Anstatt Bildungspolitik als Sozial- und Gesellschaftspolitik zu begreifen, steigt sie auf die ÖVP-Argumentationslinie ein. Schließlich ginge es um eine Verbesserung des Betreuungsverhältnisses, um bessere Planbarkeit der Studierendenströme und nicht darum, den Zugang zu den Unis zu beschränken. Die mit den Zugangsbeschränkungen einhergehenden Auswirkungen auf die Studierendenlandschaft blendet die SPÖ dabei einfach aus. So ist weder die soziale Selektion Thema noch der Umstand, dass Zugangsbeschränkungen *Frauen diskriminieren, wie der EMS-Test bewiesen hat. Auch die abschreckende Wirkung des PublizistikAufnahmeverfahrens interessiert wenig. Dass die SPÖ mal wieder ‚umfällt‘, ist jedoch weder neu noch überraschend, sondern lediglich die konsequente Weiterführung jener politischen Haltung, die sie seit geraumer Zeit an den Tag legt. Ein „Nein“ zu Zugangsbeschränkungen seitens der Sozialdemokrat_innen kann spätestens seit der Einigung mit der Koalitionspartnerin ÖVP auf die Studieneingangs- und Orientierungsphase (StEOP) nicht mehr für bare Münze genommen werden. Vor einem Jahr in allen Fächern eingeführt, dient die StEOP dazu – natürlich nur inoffiziell –, in den ersten Semestern das ‚Zuviel‘ an Studierenden auszuselektieren. Dass dem früher oder später ein offizielles „Ja“ zu Zugangsbeschränkungen folgen musste, ist traurig, aber einleuchtend; jetzt sind wir bei einem „Ja, aber …“ angelangt. Architektur, Pharmazie, Biologie, Informatik und Wirtschaftswissenschaften – diese Studienrichtungen sind laut der Tageszeitung Die Presse die Kandidatinnen für Zugangsbeschränkungen ab dem nächsten Studienjahr. Die Fakultät für Informatik an der Technischen Uni Wien hat sich bis dahin schon eigenständig entschlossen, den Zugang zum Studium quantitativ zu beschränken: Nach den ersten vier Wochen StEOP sollen nur die – durch einen Test ermittelten – 375 ‚besten‘ Studierenden weiterkommen. Bestanden oder nicht ist dabei egal. Dass es dafür gar keine rechtliche Grundlage gibt, scheint ebenso wenig zu kümmern – aber das spielte ja auch schon bei den autonom eingehobenen Studiengebühren keine Rolle. Das „Ja, aber …“ der SPÖ sieht ähnlich aus: Nur keine Verantwortung übernehmen, lautet das Credo. Also einfach eine Studienplatzfinanzierung für eine bestimmte Studierendenanzahl einführen, und wenn sich mehr Studierende anmelden, das weitere Vorgehen den

lokalen Senaten überlassen – es lebe die Uniautonomie. Zum weiteren rechtlichen Rahmen geben die Koalitionspartnerinnen keine Auskunft: Ob durch die Einführung eines neuen Paragrafen oder durch die Erweiterung des sogenannten ‚Notfallparagrafen‘ 124b die Zugangsbeschränkungen durchgesetzt werden sollen, bleibt noch offen. Einzig: Es sollten für die SPÖ nur nicht weniger Studierende als aktuell werden; mit Studierenden sind hier wohl Erstsemestrige gemeint. Dass die Hochschulreife von Jahr zu Jahr durch immer mehr Schüler_innen erreicht wird, ist für die Regierung in ihrer Berechnung irrelevant. Und dass nicht immer gleich viele Anfänger_innen ein bestimmtes Fach beginnen wollen und die Nachfrage nach einzelnen Studienfächern nicht vorhergesehen werden kann, wohl ebenso – schließlich stehen Studierende schon lange nicht mehr im Zentrum der Universitätspolitik.

Oona Kroisleitner

eine Projektvorstellung – ‚Hochschulen in der NS-Zeit‘ Ein Forschungsseminar zur Universität Wien im Austrofaschismus und Nationalsozialismus

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er Stellenwert, den öffentliche Erinnerungsund Geschichtspolitik im Moment einnehmen, ist, gelinde gesagt, immens. Allerdings bleibt es abseits des fachakademischen Feldes diesbezüglich meist bei Willensbekundungen und oberflächlichen Zeichensetzungen. Jüngstes Beispiel ist die Umbenennung des Dr.-KarlLueger-Rings in Universitätsring. Der Name des antisemitischen Wiener Bürgermeisters hat der vermeintlich neutralen Benennung nach dem Hauptgebäude der Universität Wien weichen müssen. Eine Reflexion vonseiten der Initiator_innen darüber, dass gerade die Universität von historischer Unbedenklichkeit weit entfernt ist, unterblieb jedoch und unterbleibt nach wie vor. Dabei waren es gerade die Universitäten, und hier wiederum nicht zuletzt Leh-

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rende und Studierende der Universität Wien, die den Nährboden für die massenhafte Zustimmung zu Faschismus und Rassismus – nicht nur im letzten Jahrhundert – bereiteten. Das Wissen darüber fehlt jedoch sowohl in der breiten Öffentlichkeit als auch bei einem Großteil der Universitätsangehörigen.

Projekt der ÖH-Bundesvertretung und Universitäten Gerade aufgrund des fehlenden Wissens und Bewusstseins ist das Projekt, das die Bundesvertretung der österreichischen Hochschüler_innenschaft in Kooperation mit mehreren österreichischen Universitäten durchführt, zu begrüßen. Das Projekt soll erstmals einen österreichweiten Vergleich zwischen den Hochschulen hinsichtlich ihrer Vergangenheitsaufarbeitung ermöglichen und vor allem Student_innen aktiv einbinden. Um dieses Ziel zu erreichen und verschiedene Blickwinkel einfließen zu lassen, wird

Matthias Vigl

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es an den neun teilnehmenden Universitäten Lehrveranstaltungen geben, die sich mit folgenden Themenbereichen beschäftigen werden: – Umbrüche und deren Auswirkungen (Austrofaschismus 1933/1934, Nationalsozialismus 1938/1939 bzw. Dis-/Kontinuitäten 1945/1946) – Studierende und Studierendenvertretungen (Politisierung von Studierenden, Strukturen, Einflüsse und Dynamiken) – Hochschulen und ihre Funktion in der Gesellschaft (Geschlechterverhältnisse, Hochschulen und Krieg, Kollaboration und Widerstand, Wissenschaftsverständnis und Lehre während der NS-Zeit)

1945 legen wird. Vor allem aber wird den Teilnehmer_innen die Möglichkeit gegeben, Einblicke in projektorientiertes wissenschaftliches Arbeiten zu erhalten und ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Die Lehrveranstaltung steht sowohl allen Student_innen der Universität Wien als auch interessierten Student_innen anderer Wiener Universitäten offen.

Lehrveranstaltung an der Uni Wien

Nähere Informationen unter: http://zeitgeschichte.oeh.ac.at

An der Universität Wien werden Linda Erker, Maria Mesner und Herbert Posch am Institut für Zeitgeschichte ein Forschungsseminar anbieten, das neben den österreichweiten Zielsetzungen auch einen besonderen Fokus auf die Zeit nach

Maria Mesner, Linda Erker, Herbert Posch FS Forschungsmodul Zeitgeschichte – Universität Wien im Austrofaschismus und Nationalsozialismus – Vorgeschichte und Nachwirkungen 4 Stunden, 10 ECTS

Anmerkung: 1 Universitäten Wien, Salzburg, Innsbruck, Graz, TU Wien, BOKU Wien, Angewandte (Wien), Mozarteum Salzburg, WU Wien


politik

Der K(r)ampf um Demokratie Im Jahre 2013 schreitet der öster- Nicht die Schachfiguren … reichische Normalbetrieb zum Die Forderung nach einer linken ProgrammaUrnengang. Viel Spaß verspricht tik soll hier erhoben werden – nicht mit dem das bereits begonnene Wahl- Anspruch, die Revolution auszulösen oder den kampfgetöse: Von den kuriosen Staat mit Steinwürfen und radikaler Rhetorik in Knie zu zwingen. Vielmehr mit der Einsicht, Piraten bis zum begnadeten Rhe- die dass es so nicht weitergehen kann. toriker Frank Stronach haben Der durch die ökonomische wie auch polisich neue Parteien ins Spektakel tische Krise ausgelöste Abbau der Sozialsysteund die offene Aufkündigung des Klasseneingebracht. Wie immer versinkt me kompromisses von oben führen in erster Linie die Linke schulterzuckend in ihrer zu massiven Einschnitten bürgerlich-demokraeigenen Bedeutungslosigkeit – tischer Mitbestimmungsmöglichkeiten. Diese spiegeln sich im Bewusstsein all jener Bewedarüber sollten wir reden. gungen wider, die in Dutzenden Ländern Eu-

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aturgemäß gäbe es viel zu den aktuellen ProtagonistInnen der parlamentarischen Demokratie zu sagen. Dass die FPÖ rechtsextrem ist, die Grünen eine Bobo-Partei, die SPÖ sowieso scheiße, die Piratenpartei die Boheme unserer Zeit und die Frank-Stronach-Partei einen wildgewordenen Teil des BürgerInnentums verkörpert, sollte den meisten einleuchten. Perspektiven einer gemeinsamen, linksradikalen Programmatik ersticken im universitären und revolutionären Kampfgebelle, nur um dann allzu schnell die Flucht in ideologische Staatsapparate zu suchen, ohne diese Bewegung selbst zu reflektieren.

ropas auf die Straße gehen. Diesen Impuls gibt es auch in Österreich, in dessen Nebel sich alle Parteien als die RetterInnen der Demokratie aufspielen. Dieses Bedürfnis reflektierend, ohne sich auf das öffentliche Spielchen einzulassen, müsste sich die Linke auf einige Eckpunkte konzentrieren, die eine gemeinsame Bestimmung des Begriffs Demokratie erst wieder ermöglichen. In Auf verlorenem Posten wie auch in Ein Plädoyer für die Intoleranz bringt der marxistische Philosoph Slavoj Žižek nicht nur eine aufschlussreiche Analyse unserer „postpolitischen Zeit“ wie auch des „Endes der Ideologie“, ­sondern zeigt Anknüpfungspunkte auf, die sich eine Linke im oben erwähnten Zusammenhang

Der Papst fährt SUV Was Geländewägen in der Stadt und Bahnhöfe unter der Erde gemeinsam haben.

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eit sie auf allen Straßen sind, sind sie auch in aller Munde: SUVs – Sport Utility Vehicles. Nicht nur bevölkern immer mehr davon den Wiener Verkehr, sondern sogar der Papst hat schon einen: einen Mercedes M-Klasse mit aufgebautem, kugelsicherem Glasthron. Natürlich bieten sich die für den Straßenverkehr ausgelegten Geländewägen für jemanden an, dessen Beruf ein überdurchschnittliches Anschlagsrisiko mit sich bringt, aber wieso entscheiden sich auch so viele Normalsterbliche für die Limousine mit Allradantrieb? Wohl nicht, weil in heutigen Tagen auch Managerinnen um ihr Leben zittern müssen. Und sicher auch nicht, weil sie sich beliebt machen wollen, denn SUVs werden allerorts gerügt. Sie würden die Umwelt mit ihrem hohen CO2-Ausstoß und Benzinverbrauch belasten und wären eine Gefahr für die anderen Straßenteilnehmerinnen.

Sind sie so mies? Das mit der Umweltbelastung ist aber recht zweifelhaft. SUVs sind üblicherweise mit hoch entwickelter, effizient arbeitender Technologie

ausgestattet. Darüber hinaus sollen sie gerade an eine Zielgruppe verkauft werden, der Ökonomie und Ökologie sehr wichtig sind. Deshalb gibt es zahlreiche Modelle, die nur geringe Emissionen ausstoßen und im Verbrauch sehr sparsam gefahren werden können; einige Diesel-SUVs verbrauchen unter fünf Liter auf 100 Kilometern. Jedenfalls weniger als der freundliche alte VW-Bus, ein im Allgemeinen gern gesehener Verkehrskumpane. Aber wie ist es mit den Unfällen, SUV-Fahrerinnen sind doch fies und rücksichtslos und können aus ihrer Kutsche nichts sehen? Tatsächlich dürften SUVs, soweit sich das bislang sagen lässt, nicht in mehr Unfälle verwickelt sein als PKWs. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie hauptsächlich von gutverdienenden und damit oft auch älteren Fahrerinnen gelenkt werden. Darüber hinaus verfügen SUVs, nicht zuletzt aufgrund des Allradantriebs, über ein ausgezeichnetes Fahrverhalten. Es stimmt allerdings – wer hätte das gedacht –, dass SUV-Fahrerinnen in Unfällen mit PKWs meist weniger Schaden nehmen, während die gepanzerte Masse von über zwei Tonnen, die ein SUV auf die Fahrbahn bringt, schwerere Schäden bei Fußgängerinnen und anderen Fahrzeugen verursacht. Freilich würde auch bei einem Unfall mit LKWs oder Kleinbussen der PKW den Kürzeren ziehen. Übrigens

Lukas Caterpillar

zu Herzen nehmen könnte. Der banalen Einsicht, dass, „solange jedoch diese fundamentale Entpolitisierung des ökonomischen Bereichs akzeptiert wird, […] all das Gerede über aktive Bürgermitbestimmung, über öffentliche Diskussionen, die zu verantwortungsvollen gemeinsam getroffenen Entscheidungen führen und so weiter, auf die ‚kulturell‘ limitierten Anliegen der religiösen, sexuellen, ethnischen und anderen Lebensformen begrenzt bleiben [wird]“, folgt der Appell zu einer „radikalen 1 Repolitisierung der Ökonomie“. Für Žižek heißt diese Repolitisierung nicht die „Rückkehr zum Primat der Ökonomie, nicht um den Anliegen, die durch die postmodernen Formen der Politisierung aufgeworfen wurden, zu schaden, sondern um die Bedingung zur effektiven Realisierung eben dieser Forderungen 2 zu schaffen“ .

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… sondern das Spiel bekämpfen.

Macht, Ausdruck einer „bourgeoisen“ Logik ist.“ Diese Logik gilt es infrage zu stellen. Ist das Proletariat bei Žižek mit dem Begriff ‚Anteil der Anteilslosen‘ gemeint, so ist die Aufgabe einer Linken, für die Emanzipation nicht nur ein subkulturelles Anliegen ist, vorgezeichnet. Der Einsatz emanzipatorischer Politik kann nicht darin liegen, ein bisschen Reformismus zu betreiben, weil der ,Anteil der Anteilslosen‘ alles andere nicht verstehen kann, sondern Einsätze gemeinsam zu bestimmen, die unter das alte Diktum gestellt werden, dass der „Kapitalismus als Kind schon scheiße war“. Dies würde freilich bedeuten, die postmoderne Spielwiese zu verlassen und gerade diese in ihrer Funktion zu begreifen – als ideologisches Korrelat eines autoritären und neoliberalen Kapitalismus. Alles andere würde ja mit Brecht bedeuten: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge 4 nennt, der ist ein Verbrecher.“

Mag Žižeks Versuch der Wiederbelebung der ,Diktatur des Proletariats‘ einen altmodischen und dogmatischen Geruch hinterlassen, so stellt er in Anlehnung an Lenin fest, dass es sich hier nicht um „die simple Vorstellung, die Demokratie werde in Wahrheit manipuliert, sie sei bloße Fassade, hinter der eine geheime Clique stecke“, handelt, sondern gemeint ist die „Form des bürgerlich-demokratischen Staates, die ideologischpolitische Voraussetzung der Souveränität seiner

Literatur: 1 Žižek, Slavoj: Auf verlorenem Posten. Frankfurt am Main: edition suhrkamp 2009, S. 96. 2 Ebd. 3 Žižek, Slavoj: Ein Plädoyer für die Intoleranz. Wien: Passagen Verlag 1998, S. 240. 4 Brecht, Bertholt: „Leben des Galilei“. in: Berthold Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. S. 248.

Simon Sailer

heißt das auch, dass ein SUV wirklich sicherer ist; einer der Hauptgründe, weshalb viele zum SUV greifen, der übrigens – entgegen manchem Klischee – von überdurchschnittlich vielen Frauen gefahren wird.

Stuttgart X21 An den Stuttgarter Plänen, den Bahnhof unter die Erde zu verlagern, hat einmal jemand scharfsinnig bemerkt, werde die Abstiegsangst der Menschen manifest. Bei Stuttgart 21 bekämpften sie ihre eigene Angst, den Kürzeren zu ziehen. So betrachtet, ist der SUV eine Art verkehrtes Stuttgart 21: Wer keinen hat, hat schon verspielt. Im SUV manifestieren sich soziale Unterschiede, im Verkehr gibt es nun im wahrsten Sinne des Wortes die Oberen und die Unteren; jene, die sich nicht fürchten müssen, und jene, die um ihr Leben kämpfen. Um nämlich zu wissen, dass sich die Reichen in der Megakarosse sicherer fühlen, braucht niemand eine Studie, und mit dem Gefühl, die ständige Tretmühle der Lohnarbeit nicht mehr lange zu ertragen, sind viele nur allzu vertraut. Beim vorgestellten Unfall mit dem SUV wird also Soziales, das normal nur diffus und unkonkret gespürt wird, greifbar: Die einen steigen herab von ihrem Thron, und die ande-

ren werden ins Krankenhaus eingeliefert. Die tagtägliche Zermürbung, die Verstümmelung des Denkens und Fühlens, die Kapitalismus für viele bedeutet, wird körperlich und kann nun in dieser greifbaren Gestalt scheinbar bekämpft werden. Nach dem Motto: Wenn ich schon im Leben die Arschkarte gezogen habe, sollen zumindest im Auto alle gleich sein, soll das Leben aller gleichermaßen von den Launen der Verkehrsgöttin abhängen. Blasphemie, sich im demokratisierten Papamobil zu verkriechen und dem Schicksal ein Schnippchen schlagen zu wollen. Tatsächlich ist es irgendwie ungerecht, dass es sich manche leisten können, in Sicherheit umherzukutschieren und ihr Risiko nach unten umzuverteilen, während die Mehrheit in ihren fragilen Karossen, Mopeds und auf ihren Fahrrädern bei jeder Fahrt um ihr Leben zittern muss. Aber was dabei so schwer wiegt, ist die soziale Ungerechtigkeit, ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaft, und nicht der Umstand, dass manche Menschen sich gewissermaßen freikaufen können. Dass einige vom allgemeinen Unheil verschont bleiben, ist nicht Ungerechtigkeit, sondern das letzte bisschen Gerechtigkeit, das in einer ungerechten Welt noch bleibt. Oder das bliebe, würde ein SUV es auch vermögen, vor den Wunden zu schützen, die für dessen Erwerb erlitten werden mussten.

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politik

Die Bewegung der Muslimbruderschaft in Westeuropa Thomas Murau

Die Muslimbruderschaft (MB) hat ihren Ursprung in Ägypten, wo sie 1928 von Hassan al-Banna als eine der ersten modernen islamistischen politischen Organisationen gegründet wurde. Von Beginn an zeichnete sie sich durch eine extremistische und ideologisierte Interpretation des Islam und durch einen virulenten Antisemitismus aus.

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ereits ab den 1930er Jahren wurden Organisationen der MB auch in anderen arabischen Ländern gegründet. Nach Lorenzo Vidino, Autor von The New Muslimbrotherhood in the West (2010), ist die MB in Europa keine zentralistische, einheitliche Organisation, sondern eine ideologische Bewegung bzw. ein politisches Netzwerk, das durch personelle, finanzielle und organisatorische Verbindungen zusammengehalten wird. Im Zentrum dieses Netzwerks agieren europaweit die Federation of Islamic Organisations in Europe (FIOE), der ­European Council for Fatwa and Research (ECFR) und das Institut Européen des Sciences Humaines (IESH).

„Göttliche Strafe“ Der ECFR mit Sitz in Dublin ist eine der bedeutendsten Institutionen innerhalb des Netzwerks

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der MB in Europa und wurde 1997 auf Initiative der FIOE gegründet. Präsident des ECFR ist Yusuf al-Qaradawi, ein Ideologe und Rechtsgelehrter der MB, der vielen als eine der höchsten Autoritäten im sunnitischen Islam gilt. Seine wöchentliche TV-Sendung ash-Shariah wal-Hayat („Die Scharia und das Leben“) auf Al Jazeera wird von geschätzten 60 Millionen MuslimInnen mitverfolgt. In Ansprachen, Fatwas und Interviews hat Qaradawi wiederholt antisemitische Stereotype propagiert, Terrorismus glorifiziert und die Verfolgung von Homosexuellen und ApostatInnen gerechtfertigt. Im Januar 2009 erklärte Qaradawi während einer Rede auf Al Jazeera, „Allah hat den Juden Menschen aufgebürdet, die sie für ihre Korruption bestrafen werden. Die letzte Strafe wurde von Hitler vollstreckt. […] Es war ihre göttliche Strafe. So Allah will, wird sie das nächste Mal durch die Hand der Gläubigen vollzogen werden.“ In einer Freitagspredigt am Tahrir-Platz in Kairo im Februar 2011 beschwor Qaradawi die Wiedereroberung der Al-Aqsa-Moschee durch die Muslime (d. h. Krieg gegen Israel). Über die Einrichtungen des MB-Netzwerks nimmt der ECFR Einfluss auf islamische Gelehrte und Bildungseinrichtungen in Europa. Seine Aufgabe ist die Propagierung der Scharia (bzw. der extremistischen Interpretation der Scharia durch die MB) als höchste Instanz der Rechtsprechung auch unter MuslimInnen in Europa. Die Mehrheit der Fatwas betrifft die Beziehungen der Geschlechter innerhalb der islamischen Familie und reicht bis hin zu Themen wie der Gefahr der Verletzung des Jung-

fernhäutchens beim Radfahren. Nach Ian Johnson, Autor von A Mosque in Munich. Nazis, the CIA, and the Rise of the Muslim Brotherhood in the West (2010), zitierte Mohammad Hawari, Mitglied des ECFR, während einer Sitzung des ECFR in London 2004 die Protokolle der Weisen von Zion, ein antisemitisches Pamphlet, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst wurde, als Beweis für eine jüdische Weltverschwörung. Salah Sultan, Mitglied des ECFR, erklärte im August 2011 auf Al Jazeera, „jeder Zionist – Tourist oder nicht –, der Ägypten betritt, muss ermordet werden“. In der gleichen Sendung rief er auch dazu auf, den israelischen Botschafter zu ermorden.

„Auseinandersetzung um die Ehre“ Die FIOE wurde 1989 von europäischen MB-Organisationen gegründet und hat heute ihren Sitz in Brüssel. Sie setzt sich aus nationalen Mitgliedsorganisationen zusammen, die ihren Präsidenten gemeinsam wählen. Chakib Ben Makhlouf ist der derzeitige Präsident der FIOE und tritt regelmäßig bei Hamas-Veranstaltungen in Europa auf. Ende 2011 traf er bei einem Besuch in Gaza mit Hamas-Funktionären zusammen und pilgerte zum Grab des von der israelischen Armee getöteten ehemaligen Führers der Hamas, Ahmed Yassin. Die FIOE reproduziert in ihren Stellungnahmen regelmäßig zentrale Elemente der Hamas-Propaganda in moderater Formulierung. Zuletzt sprach sie im März 2012 mit Bezug auf die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem

von der „abscheulichen Schändung dieses allen Muslimen weltweit heiligen Platzes“ durch die „israelische Okkupationsmacht“. Damit wird die Hamas-Propagandalinie, wonach der Nahostkonflikt eine Auseinandersetzung um die Ehre des Islam sei, auch unter MuslimInnen in Europa verbreitet. Im Juni 2012 würdigte die FIOE den verstorbenen Holocaustleugner ­Roger ­Garaudy­ als „ausgezeichneten Philosophen“. Das IESH ist eine europaweit angesehene islamische Bildungseinrichtung mit Zweigstellen in Paris und Wales, die 1992 gegründet wurde und über zahlreiche personelle und organisatorische Verbindungen zur FIOE verfügt. Die inhaltliche Ausrichtung des IESH wird von einem wissenschaftlichen Beirat geprägt, dem Qaradawi vorsitzt. StudentInnen und AbsolventInnen der IESH sind nicht nur in Frankreich, sondern unter anderem auch in der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD) und in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) tätig. Die Existenz und Verbreitung der Jihad-Ideologie unter europäischen Muslimen ist keine abstrakte Bewegung. Neben sozialen Strukturen und islamischen bzw. arabischen Massenmedien sind es vor allem Organisationen wie die MB, welche mit den Mitteln moderner politischer Mobilisierung und Propaganda arbeiten, um ihre AnhängerInnenschaft zu erweitern und eine dominante Position innerhalb der Community zu etablieren. Die Dokumentation von und Kritik an deren Aktivitäten und Ideologie ist unabdingbarer Bestandteil der Kritik des islamischen Antisemitismus.


politik

Ungarische Einfalt in der Vielheit In Ungarn schreitet die Transfoma- r­Innen aus Europa ist dort bereits höher als jetion zur völkischen Einheit unter ner aus Asien oder Afrika. geringem Widerstand voran. Antiziganismus als Produktivkraft

E

in bekannter Staatsmann sagte einmal, dass es zwei Dinge gäbe, die Menschen vereinen: gemeinsame Ideale oder gemeinsames Verbrechen. Dem unbewusst folgend, beschwört auch die ungarische Regierung Erfurcht gebietende Werte, um die schwierigen Zeiten zu überstehen. Das in parlamentarischen Demokratien übliche Vertrauen in die bürgerliche Freiheit wird in der neuen Verfassung Ungarns durch ein „nationales Bekenntnis“ zu „Treue, Glaube und Liebe“ ersetzt. Ein Ausdruck von Sentimentalität vonseiten des Souveräns? Gegenüber den „Fremdherzigen“ (Viktor ­Orbán) jedenfalls hält sich die Nächstenliebe in Grenzen. Dafür sorgt ein Terror, der von Blutgeld gegen Antifas über Attacken auf Rabbiner bis hin zu Pogromen gegen Roma reicht – wobei Letztere bislang sechs Todesopfer forderten. Vor allem der omnipräsente Antiziganismus löst unter den Roma eine Fluchtbewegung in Richtung Kanada aus; der Anteil der Asylwerbe-

Die ‚Rassifizierung‘ der ökonomischen Verhältnisse – der Glaube, dass ‚ZigeunerInnen‘ prinzipiell arbeitsscheu seien – hat sogar einen integrierenden Effekt auf die Mehrheitsgesellschaft: vor allem im kurz vor dem Bankrott stehenden Ungarn. Bevor der soziale Abstieg eineN selbst trifft, erwischt es zuerst Roma. Das beginnt schon damit, dass es aufgrund des Widerstands von Eltern gegen einen gemeinsamen Schulbesuch entweder zu ethnisch getrennten Schulklassen kommt oder dass Roma-Kinder zu geistig Behinderten erklärt werden, um sie in Sonderschulen stecken zu können. Das Resultat ist eine Arbeitslosenrate von 70% unter Roma, wohingegen der nationale Durchschnitt bei 11% liegt. Die soziale Lage der Roma wird so nach dem Konstrukt des Feindbilds ‚ZigeunerIn‘ überhaupt erst geschaffen. Gleichzeitig bedient man sich der Arbeitsmoral, die den Roma zugeschrieben wird, als Drohbild, mit dem etwaige Arbeitsverwei-

gerInnen konfrontiert werden, um sie davor zu warnen, ja nicht so zu enden. In der sich verschärfenden ökonomischen Lage reicht es aber nicht, Feindbilder zu schaffen. Die Individuen ziehen sich Uniformen an und bilden Banden, sogenannte Bürgerwehren. Schönere Zukunft, Wehrmacht oder die Ungarische Garde terrorisierten früher hauptsächlich die Roma im Süden und Osten des Landes; seit diesem Sommer sind sie auch im Westen aktiv geworden. Durch das antiziganistische Ressentiment ermächtigen sich diese Gruppen selbst und schaffen es, ihre Bandengewalt vor der Staatsgewalt durchzusetzen.

Brothers in Crime Staat und Straße liegen im Wettstreit miteinander um die autoritärere Politik. Während man den Neonazis von Jobbik die Dörfer überlässt, fühlt sich die christlich-konservative Regierung legitimiert, das so entstandene ‚Zigeunerproblem‘ aufzugreifen – und nicht etwa das Problem des Antiziganismus. Für viele überraschend, machte Ungarn während seiner EU-Ratspräsidentschaft eine ‚Roma-Strategie‘

Alessandro Volcich

zur sozialen Integration zum Schwerpunkt. Wie das aussehen könnte, demonstrierte man mit der Einführung eines Zwangsarbeitsprogramms, das hauptsächlich Roma betrifft, die dabei oftmals von Bandenmitgliedern überwacht werden. Diese Maßnahmen sind zum Scheitern verurteilt, wie überhaupt der Antiziganismus eine unlösbare Situation schafft: Einerseits fordert er Arbeitszwang und Sesshaftigkeit, andererseits verursacht er Vertreibung und Diskriminierung. Weil diese Synthese nur im Tod enden kann, wurde eine Roma-Garde zum Schutz von Roma, Jüdinnen und Juden und anderen Minderheiten gegründet. Auf diesen hilflosen Versuch, die bürgerliche Freiheit zu bewahren, wurde blitzschnell mit einem Antiterrorkommando reagiert. Die Ungarische Garde hingegen ist zwar seit 2009 verboten, darf aber weiterhin ungehindert aufmarschieren und Todesdrohungen verbreiten. Dieses Nebeneinander von Gewaltmonopol und Bandengewalt bildet das „zentrale Kraftfeld“ (Orbán) der völkischen Krisenbewältigung Ungarns. Der zu Beginn erwähnte Staatsmann war ­übrigens Hitler.

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feuilleton

V12_Ins_unique 25.09.12 14:08 Seite 1

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(dt.) 1

1,2,8,9,10

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sans phrase Zeitschrift für Ideologiekritik Erstes Heft, Herbst 2012 Beiträge von Jean Améry, Manfred Dahlmann, Werner Fleischer, Till Gathmann, Renate Göllner, Stephan Grigat, Alex Gruber, Birte Hewera, Tjark Kunstreich, Niklaas Machunsky, Esther Marian, Florian Markl, Joel Naber, Robert Redeker, Florian Ruttner, Gerhard Scheit, Christian Thalmaier und Carl Wiemer. Themen u. a.: Adornos “Vorrang des Objekts”; Kitsch, Utopie und Grauen bei Siegfried Kracauer; Analer Charakter und Werkkrise; Über die Liebe zum Recht; Alain Badiou und der Antisemitismus; 20 Jahre Friedensprozess gegen Israel; Boualem Sansal und die Phrasen des Friedens; Arabische Aufstände und westliche Revolutionsromantik; Obamas Außenpolitik ; Finanzkrise und deutsche Kriegskasse; Souveränität in Europa und RechtsLinks-Populismus; Feindbild Ratingagenturen; Berlin Biennale 2012 und ihr Kampf gegen Israel; Michel Onfrays manichäische Litaneien über Freud und Camus; Postmoderne Affirmation bei Judith Butler; Martin Walsers Hass auf den Kritiker; Zum 100. Geburtstag Jean Amérys …

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** Jeden Freitag, 9:00–17:00 WUK-Wochenmarkt Lebensmittel, Pflanzen, Samen, Erde – kontrolliert biologisch, regional, nachhaltig und engagiert einkaufen. Im WUK Hof (1090, Währingerstraße 59) wuk.at/ ** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 14:00 Weiberfrühstück! Mit leckerem veganem Buffet gegen Staat, Patriarchat und (Hetero-)Sexismus. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med-user.net/~ekh ** Jeden 3. Sonntag im Monat, Kochen ab 17:00, Essen ab 20:00 FoodcoopVokü – Auseinandersetzung mit Lebensmittelversorgung bei gutem Essen, offen für alle! Im uoqbon (1150, Geibelgasse 23) uoqbon.obda.net/

AKTIONEN ** Mittwoch, 10. Oktober, 13:00–18:00 Nichts tun ist auch keine Lösung – Workshop zur kulturellen Zwischennutzung. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.at/ ** Dienstag, 18.Oktober, 17:30 Offenes Treffen im Kulturreferat. Wir freuen uns auf eure Ideen und helfen gerne bei der Umsetzung! Im Büro des Kulturreferats der ÖH Uni Wien (1090, AAKH Hof 1)

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FILM/THEATER/PERFORMANCE ** Ab 28. September Mama Illegal: Aurica, Raia und Nataa, drei Mütter aus einem kleinen moldawischen Dorf, riskieren auf ihrer Reise nach Westeuropa ihr Leben. Im Gartenbaukino (1010, Parkring 12) gartenbaukino.at/

** Donnerstag, 18. Oktober, 19:00 Empire Me (Paul Poet): Roadmovie über Leute, die Utopien als zu realisierende soziale und politische Wunschträume begreifen. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.at/

** Ab 9. September „See you soon again“: Leo, 1921 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren und 1938 geflüchtet, bezeichnet sich selbst als „over-holocausted“. Im Top Kino (1060, Rahlgasse 1) und in den Village Cinemas (1030, Landstraßer Hauptstraße 2A) topkino.at/ seeyousoonagain.at/ villagecinemas.at/

** 19., 20., 21. und 22. Oktober, 20:00 reALICe: Die Geschichte von Alice im Wunderland, inszeniert von einer 22-köpfigen Varietégruppe. Soli für selbstorganisierte Zirkusstrukturen: Workshops ab Ende Oktober. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med-user.net/~ekh/

** Ab 5. Oktober Die Wand: Die Frau, der Marlen Haushofer keinen Namen gab, scheint darauf gewartet zu haben, von Martina Gedeck gespielt zu werden (Berliner Zeitung). Im Gartenbaukino (1010, Parkring 12) gartenbaukino.at/

** Mittwoch, 31. Oktober, 18:00 Antikapitalistische Demoparade – „Gegen den Horror des Kapitalismus!“ Treffpunkt Europaplatz / Westbahnhof 31oktober.antifanet.at/

** Samstag 20., Sonntag 21. Oktober, 11:00–17:00 Wissenschaftliche Schreibwerkstatt für Frauen*. Nächste Termine im November und Jänner. Im UFO Uni-Frauen-Ort (1090, Berg­gasse 5/24)

** Jeden Donnerstag, ab 16:00 ReparierBAR – Werkstatt offen bis 20:00, danach community. In der Bikekitchen (1150, Goldschlagstraße 8) bikekitchen.net/

** Freitag 26. bis Sonntag 28. Oktober, 9:00–12:30 und 14:00–17:00 Partizipative Videotrainings (PVT) für soziale Veränderung – Train the Trainer. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) amerlinghaus.at/

** Jeden Dienstag, ab 20:00 Fohlen-flitzen: die offene STUTHE-Impro – einfach vorbeikommen! Im Initiativen-Raum des WUK (1090, Währingerstraße 59) www.stuthe.com/page.php?id=49

** Bis 31. Oktober, Montag bis Freitag, 8:00–17:00 Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945. Im Foyer der ÖBB Infrastruktur (1020, Praterstern 3) ** Zweiwöchentlich am Freitag, 16:00 Kinderkino. Aktuelle Infos: auf der Homepage des Kindercafés. Im Lolligo Kindercafé (1010, Fischerstiege 4-8) lolligo.net/

** Jeden 1. Mittwoch im Monat, 15:00–19:00 Selbsthilfe-Werkstatt – ein Fahrrad reparieren! Im WUK Hof (1090, Währingerstraße 59) wuk.at/ ** Jeden 3. Freitag im Monat, 16:30 CRITICAL MASS – Rad fahren ist ökologisch, leise, lebenswert, platzsparend, lustig, ökonomisch, sexy und engagiert! Treffpunkt: Schwarzenbergplatz, pünktlich ;) criticalmass.at/ ** Regelmäßig: Der Chor der Uni Wien sucht singende Männer. Schau vorbei. unichor.at/


feuilleton Kobys Kulinarium:

Weil die knausrige Redaktion der reichlich auf den Magen schlagenden Politik mal wieder so viel Platz einräumt und diese Rubrik damit platztechnisch quasi auf Diät gesetzt hat, diesmal nur eine kleine Vorspeise: leicht säuerliche Suppe von Frühlingszwiebeln. ***

Zwei bis drei Bund der juvenilen Dinger putzen und klein schneiden. Ganz nach Geschmack einer bis fünf Knoblauchzehen selbige Behandlung angedeihen lassen. In eine Mischung aus Butter und Olivenöl ordentlich schwarzen Pfeffer geben (frisch gemahlen, dieses Niespulver braucht kein Mensch, und eine schicke Mühle mit ordentlichem

Koby Cramer

Heute:

Frühlingszwiebelsuppe

Peugeot-Mahlwerk ist eine Anschaffung fürs Leben, mal abgesehen davon, dass die in den besseren Lokalen eh zuhauf herumstehen) und Salz, am besten ebenfalls frisch gemahlen. Ja, das macht einen Unterschied; und nein, nicht jedes Salz schmeckt gleich. Also möglichst nicht das Zeug nehmen, mit dem man sonst das Spaghettiwasser salzt, sondern zum Beispiel grobkörniges Meersalz. Zunächst Zwiebeln, später Knoblauch dazu. Beides darf nicht dunkel werden, also rechtzeitig mit einem sehr ordentlichen Schuss Weißwein ablöschen. Dieser Schritt ist für das Endergebnis maßgeblich entscheidend: Guter Wein macht gute Suppe. Vernünftigen und für studentische Budgets gerade noch bezahlbaren Welschriesling, Sauvignon und angenehm unlieblichen Muskateller aus Österreich gibt es für alle, die nicht regelmäßig am Land gute und günstige Vorräte einkaufen, in der Regel bei Hofer (um fünf bis sieben Euro).

Mit eineinhalb bis zwei Liter Hühner­brühe aufgießen. Die Faulen nehmen Würfel, die Schlauen kochen angesichts des Wetterumschwungs ohnehin gerade beständig Hühnersuppe, die aufgrund ihrer wärmenden und entzündungshemmenden Wirkung völlig zu Recht als ‚jüdisches Penicillin‘ bekannt ist. Das Ganze circa 40 Minuten köcheln lassen. Mit Pürierstab sehr gut mixen. Nun durch ein feines Haarsieb gießen und den Zwiebelschlatz dabei sehr gut auspressen. In 20 dag Sauerrahm einen guten Esslöffel Mehl glatt rühren und in die passierte Suppe geben. Wer’s nicht gar so säuerlich mag, nimmt halb Sauerrahm, halb Schlagobers. Nochmals mit dem Pürierstab aufmischen. Je nach Wunsch einkochen. Mit frisch gepresstem Zitronensaft abschmecken. Wie fast alle Suppen wird auch diese besser, wenn sie einen Tag steht und dann wieder aufgewärmt wird. Puristen reicht das völlig, und dem Stand der akademischen Besitzlosen muss es ohnehin rei-

chen. Wer aber Suppen ohne Einlage nicht mag und zudem liquide ist: Shrimps oder irgendwelche in mundgerechte Stücke geschnittene Fischfilets mit Haut in Olivenöl mit gepresstem Knoblauch sehr kurz anbraten, in der Suppe nachziehen lassen und, weil wir schon beim Salz waren, mit Fleur de Sel bestreuen. Vegetarische Alternative? Ist doch bloß Fisch. Für jene, denen das alles zu unkompliziert ist, bieten sich Fischnockerln als Option an: 15 dag Hecht- oder Lachsfilet ohne Haut klein schneiden, unter Zugabe von 1/8 Liter Schlagobers im Mixer langsam zu Farce verarbeiten. Salz, Pfeffer, Zitrone dazu (eine Freundin von mir schwört auf Martini statt der Zitrone, ich halte das allerdings für verrückt). Mit einem Löffel kleine Nockerln formen. In kochendes Wasser legen und am Siedepunkt gut fünf Minuten ziehen lassen. In der Suppe servieren.

***

THEORIE/LESUNG/INFORMATION ** Montag, ab 8. Oktober, wöchentlich, 19:30 Lesekreis: Robert Kurz „Geld ohne Wert“ Im Theoriebüro (1080 Wien, Pfeilgasse 33, Durchgang „Schenke“) theoriebuero.org/ ** Donnerstag, 18. Oktober, 19:00 Politdiskubeisl: Vortrag, Diskussion von und mit Robert Foltin (Grundrisse) - 5000 Jahre Schulden. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med-user.net/~ekh/

** Mittwoch, 24. Oktober, 19:00 Vortrag Hans Christian Voigt (Soziologe) Social Media und soziale Bewegungen. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.at/ ** Jeden 1. Dienstag im Monat, ab 20:00 Prekär Café – Veranstaltungen zur Auseinandersetzung mit dem Thema Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) prekaer.at/

** 18. Oktober–5. November Moderne Fotografie: Ze’ev Ramiel. The Vision of Colors. Visualizing chaos as a „Strange-Attractor“. In der Galerie Steiner (1010, Kurrentgasse 4) ramielzeev.com/ ** Ab 23. Oktober „Vienna’s Shooting Girls. Jüdische Fotografinnen aus Wien“ beleuchtet die Arbeiten von 30 Künstlerinnen. Im Jüdischen Museum Wien (1010, Dorotheergasse 11) jmw.at/

** Dienstag, 30. Oktober, 19:00 Lesung & Musik: „Heimat ist dort, wo man sich einbringt“. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) amerlinghaus.at/

TREFFPUNKTE

Ausstellung ** Tägl. 10:00–18.00, Sa 10:00–21.00 „Körper als Protest“ gegen gesellschaftliche, politische, aber auch kunstästhetische Normen. In der Albertina (1010, Albertinaplatz 1) albertina.at

** Samstag 26., Sonntag 27. Oktober Kritische Literaturtage 2012 – „Bücher statt Panzer“. Eröffnung am 26. um 18:00. Freier Eintritt. Im KunstSozialRaum Brunnenpassage (1160, Brunnengasse 71 / Yppenplatz) krilit.wordpress.com/

** Bis 21. Oktober, tägl. 11:00–19:00, Do 11:00–21:00 „World Press Photo 2012“ Ausstellung der besten Pressefotos des Jahres. In der Galerie WestLicht (1070, Westbahnstraße 40) westlicht.com/ ** Bis 22. Oktober, tägl. 9:00–18:30, Fr 9:00–16:30 Frauenmuseen über Grenzen hinweg. Im Rahmen des Symposions „Frauen:Museum“. In der Wienbibliothek, Rathaus (1010, Eingang Felderstraße) elkekrasny.at/archives/238 ** Bis 28. Februar 2013 Schaufenster – Ulrike Lienbacher. Kartenhaus (Fotoarbeit): Irritation und Endlosigkeit im öffentlichen Raum. Bei der Kunsthalle Wien (1070, Museumsplatz 1)

** Montag – Freitag, 10:00–18:00, Samstag 10:00–15:00 Belesen sein in der ersten feministischen Buchhandlung. ChickLit (1010, Kleeblattgasse 7) chicklit.at/ ** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00–20:00 Offen in der Schenke. Jeden Dienstag für Trans- & Intersex-Personen und Frauen. In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) dieschenke.org/ ** Jeden Montag/Donnerstag/Freitag, 15:00–20:00 Kostnixladen: Bring Dinge vorbei, und nimm dir welche mit. Im V.E.K.K.S (1050, Zentagasse 26) umsonstladen.at/ ** Jeden Montag 13:00–19:00, Freitag 15:00–23:00 Baekerei. Café, Barbetrieb, Plena,

­Diskussionen. Textilwerkstätte & Veranstaltungsbereich geplant. Im Baekerei (1150, Tannengasse 1 / Ecke Felberstraße 30) ** Sonntag, 14. Oktober, 21:00 dasbackerei.net/ BeMyDelay a.k.a. Marcella Riccardi. Composer, singer, guitarist and multi** Jeden Mittwoch 18:00–22:00 nstrumentalist. DJs: Iko Nori & Margaret Bahoemagasin: Austauschort, kinder- Unknown. freundlich, rauchfrei, hundefrei, ab 20:30 Im Fluc (1020, Praterstern 5) meistens Programm. Im Kindercafé Lolli- fluc.at/ go (1010, Fischerstiege 4–8) bahoemagasin.blogsport.de/ ** Freitag, 26. Oktober, 21:00 lolligo.net/ Party gegen die Nation! Minimal, Techno, Electro, House. Mit PINK LEG, KRAN** Jeden Mittwoch & Freitag, 17:00–20:00 KYPANKY, KAI KANI, DJ* CINNAMON Die Bibliothek – von unten. read – resist – Ort wird noch bekanntgegeben. rebel – revolt Facebook: „autonome party aktion“ In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) oder E-mail: apartyaktion@riseup.net bibliothek-vonunten.org/ wipplinger.blogspot.com/ ** Mittwoch, 31. Oktober, 21:00 Halloween Party – „Gegen den Horror des ** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Kapitalismus!“ – Minimal, Techno. Mit Subversives Freiräumchen zum Abschal- PhilHarmonics (Tirol), Pink Leg (Braunten und Revolutionenplanen mit Stil – schweig), AHOI BOI! (ultrnx / audiolith, links, subversiv, mit Flirtfaktor. Braunschweig) + 1 Überraschungsact! In der Rosa Lila Villa, 1. Stock (1060, Linke Ort wird noch bekannt gegeben. Wienzeile 102) Facebook: „autonome party aktion“ villa.at/ oder E-mail: apartyaktion@riseup.net

MUSIK & FEIERN

** Jeden 1. Donnerstag im Monat, 20:00 Volxlesung – mensch kann lesen, singen, rappen, stricken oder einfach nur zuhören, Pausen werden angenehm beschallt. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen) 1bm.at/

** Jeden 2. Samstag im Monat, ab 19:00 1bm Freestylesession –‚ An der improvisierten Darbietung rythmischer Texte erfreuen + beteiligen. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) 1bm.at/

** Jeden Donnerstag und Freitag, 18:00–24:00 Baröffnungszeiten des Frauencafés Wien! Im Frauencafé (1080, Lange Gasse 11) frauencafé.com/

** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 19:00 (gemeinsam kochen ab 16:00): TÜWIs JAMSESSION. Im Tüwi (1190, Peter-Jordan-Straße 76) tuewi.action.at/

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feuilleton Das utopische Landgut ........................................

und der Traum vom Café

Der Traum von Selbstbestimmtheit und Freiheit, der nicht aufgegeben werden kann. Immer wieder offenbaren mir Freund_innen ihre Träume von einem kleinen Bauernhof am Land oder von einem eigenen netten Café. Auch ich kenne diese fixen Ideen, allerdings eher die von einem Café als von einem Landgut. Beides ist wohl der Versuch, sich ein besseres Leben vorzustellen, auch wenn den meisten gleichzeitig bewusst ist, dass in der Erfüllung dieser Träume auch keine ‚Erlösung‘ liegt. Das Café ist letztendlich doch großteils mit Dienstleistungen verbunden und bietet in den meisten Fällen nur eine bescheidene Lebensgrundlage. Die Probleme eines Bauernhofs und wie wenig dieser mit Freiheit zu tun hat, ­beschreibt beispielsweise Alice Herdan-Zuckmayer in ­­Die Farm­in den grünen Bergen (1949) – ein sehr empfehlenswertes Buch über die Zeit ihrer Emigration in die USA. Sie schildert, wie die Tiere und nicht sie selbst den Tagesablauf bestimmten, wie schwer es war, etwas Zeit zu haben, um in die nächste Bibliothek zu fahren, und wie sehr sie Wetter und Natur ausgeliefert war. Viele sind sich dieser Probleme durchaus bewusst, halten aber trotzdem an ihrer Idee fest, auch wenn sie meist nie umgesetzt wird. So kann auch ich nicht ganz davon lassen und weiß doch, dass ich beide Ideen niemals realisieren möchte. Dazu habe ich viel zu lange in Cafés gearbeitet und auf dem Land gelebt. Ich kenne also alle Nachteile viel zu gut – Vorteile sind mir kaum bekannt. Es geht vielleicht eher um eine Utopie, die gar nicht real umgesetzt werden kann. Für mich ist es die Idee eines selbst­ bestimmten Lebens, verbunden

damit, dass ich eben nicht davon abhängig bin, was andere gerade wollen; es geht um ein Entfliehen aus dieser Gesellschaft in einen kleinen geschützten Raum mit gemütlichen Sofas, guter Musik, leckerem Essen, aufmunternden Getränken und netten Menschen. Ein kleiner Freiraum, in dem ich mich nicht immer wieder durchsetzen muss, in dem ich nicht auf all die Vorurteile und Widerlichkeiten der patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft stoße. Der Idee eines eigenen Bauernhofs liegt ebenso der Wunsch zugrunde, zu fliehen und frei zu sein, wie der Vorstellung, ein Café zu eröffnen. Letzteres ist nur etwas urbaner, zumindest in den meisten Vorstellungen. Es ist noch eher ein Ort der geistigen Auseinandersetzung und des kulturellen Austauschs. Der Traum gibt mir also Kraft, den Alltag, die politischen Kämpfe und mein Leben zu bewältigen. Er ist eine Art modernisiertes Paradies, das unerreichbar bleibt – das aber doch auf ein mögliches besseres Diesseits verweist und die Erlösung nicht ins Jenseits verschiebt. Also eine Motivation, die Gegenwart zu verändern, bis die Utopie Wirklichkeit wird. Ein Café aufzumachen kann ich also vergessen, das wird mir keine Erleichterung bringen, solange sich die Gesellschaft nicht radikal verändert hat. Es wäre schlimmer als viele andere Möglichkeiten. Auch der Rückzug in die ach so schöne Natur wird mir nichts bringen, solange ich ihr ausgeliefert bleibe und mich der ländlichen Idylle, wie sie in genügend Anti-Heimat-Filmen allzu trefflich dargestellt ist, unterwerfen muss. Träumen sei erlaubt, die Umsetzung des Traums in diesem Fall nicht empfohlen.

Sarah Kanawin

„One should either be a work of art, or wear a work of art“1 Fridolin Mallmann

Der Mensch bedarf der Mode Im Konsumrausch nicht, das Individuum aber sehr Der Kleidungseinkauf stellt sich für Studierenwohl. Gedanken über zu beheben- de zusehends als genauso lästig und unumde Missstände in studentischen gänglich heraus wie die Nahrungsaufnahme, nur dass es hier statt des Glutamatfraßes vom Kleiderschränken.

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ie aktuellen Herbstkollektionen der einschlägigen Modediscounter verheißen wieder mal nichts Gutes. Zwar kommt selbst bei New Yorker ab und an noch ein Glanz dessen zum Vorschein, was an Glücks- und Stilverheißungen in den noblen Modehäusern Englands oder Schottlands produziert wird, aber den schlecht fabrizierten Replikaten haftet nicht nur das Elend des asiatischen Proletariats an, sondern auch das tragbare Eingeständnis, trotz der Gnade, in Mitteleuropa geboren worden zu sein, nicht an dem schönen Schein des Kapitals teilhaben zu können. Das heißt freilich nicht, dass allein der Mangel an Geld und Zeit daran Schuld trägt, dass die gemeinen Studierenden betont schlecht und auf gleiche Art uniformiert herumlaufen; dies ist vor allem dem eigenen Versagen geschuldet, so etwas wie Stil entwickeln zu können.

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Asiaimbiss die Fertigladung Hipster aus dem H&M-Schaufenster gibt. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der nach dem Kassengang einsetzende Begeisterungssturm ob der neuen Winterjacke, die natürlich auch ein Schnäppchen war, nicht der Schönheit des erworbenen Objekts geschuldet ist, sondern vor allem der aufkommenden Erleichterung, auch diesen Pimkie-Besuch lediglich mit geringen seelischen Schäden überstanden zu haben. Es geht schließlich schon lange nicht mehr darum, sich bei der Kleidungswahl wohlzufühlen, in aller Ruhe die Ware zu prüfen und zu schauen, wie der Stoff beschaffen ist oder gar wie sich das Kleidungsstück in den eigenen Stil einfügt. Es geht vielmehr darum, die Kleidung zu akkumulieren, sie im Kleiderschrank anzuhäufen, wie man gerne das Geld auf der Bank anhäufen würde. Nicht im Besitz einiger schöner und liebevoll ausgewählter Stücke zeigt sich mehr der individuelle Stil, sondern vielmehr wird dessen

Nichtexistenz durch die Hoffnung kaschiert, man könne sich ihn erfahrungslos durch einen Berg von Schnäppchen und Trendcodes aneignen. Dem Warentausch an den Lippen hängend, verzehrt man sich einerseits nach den ununterscheidbaren Tauschobjekten; andererseits hofft man, doch noch aus ihnen herauszustechen und ihnen durch das fleißige, aber wahllose Kombinieren einen Inhalt abzuringen, der sich dann auf einen selbst übertragen soll.

Geld bringt noch keinen Stil Das alles heißt freilich nicht, dass man sich, wenn nur die nötige Finanzkraft vorhanden ist, in den Club der Schicken und Schönen einkaufen kann. Zwar öffnen sich mit dem Vorhandensein des nötigen Geldes die Türen von Burberry und Stone Island und mit ein wenig Glück sogar jene zu einem Verkäufer oder einer Schneiderin, die sowohl Geschmack als auch Beratungsgeschick haben – einen Garant für Stil stellt aber selbst die größte Kreditkartensammlung noch nicht dar. So reicht der interessierte Blick auf die Klientel, die sich an Samstagen in den Modehäusern am Wiener Graben herumtreibt, um herauszufinden, dass die Suche nach Stil hier

beim unmotivierten Abklappern der als edel betrachteten Geschäfte endet. Im Vergleich zum Einkauf bei Modediscountern ist hier neben der Qualität der angebotenen Ware einzig noch das Ambiente als Unterschied zu nennen. Dieses zeichnet sich vor allem durch das durchaus als zivilisatorische Errungenschaft anzusehende Ausbleiben von musikalischer Folter aus, die man bei Pimkie oder Forever 21 ertragen muss. Von derlei Kaufumständen abgesehen, ähneln sich die ästhetischen Unfälle von Arm und Reich nur allzu sehr, seien es die bereits existenten oder jene, die uns nun wieder die Herbstmode bescheren wird. Wo die kapitalgebundene Indifferenz das Individuum klassenübergreifend abgelöst hat, können leider weder die ansehnlichen Identitätsangebote von Barbour noch die gehobene Stangenware von Zara dem Menschen, der sich weiter blind in der Negation von Erfahrungen übt, dabei helfen Stil zu entwickeln. Anmerkung: 1 Oscar Wilde, „Phrases and Philosophies for the Use of the Young“, in: J. B. Foreman (Hg.), The Complete Works of Oscar Wilde: Stories, Plays, Poems, and Essays, Harper & Row, New York 1989, S. 1206.


feuilleton

Modernes Wohnen, aber wie? Im Jahr 1932 wurde die Werkbund- die, angeordnet um große Höfe, viele kleine siedlung in Wien der Öffentlichkeit Wohnungen auf mehreren Stockwerken enthalten, prägen bis heute das Stadtbild. Nepräsentiert. Eine aktuelle Ausstel- ben Kostengründen sprachen politische Arlung im Wien Museum widmet gumente gegen kleinteilige Siedlungen. So sich nun diesem ‚Manifest des hatten die Sozialdemokrat*innen Angst, dass in kleinen Häusern mit Garten neuen Wohnens‘ und verdeutlicht, Arbeiter*innen ‚verbürgerlichen‘ könnten. Zudem konnte mit wie die Architekt*innen der Werk- dem Superblock ein stärkerer Kontrast zum bundsiedlung versuchten, auch in kaiserlichen Stadtbild Wiens erzeugt werden. Zeiten des Fließbands hohe WohnWohnqualität in Serie qualität zu schaffen.

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iedler*innenbewegung, Superblocks und Werkbundsiedlung – zur Zeit der Ersten Republik war Wohnen ein wichtiges Thema in Wien. Aufgrund der Wohnungsnot begannen zahlreiche Wiener*innen zu Beginn der 1920er Jahre, auf den freien Flächen am Stadtrand Siedlungen für sich zu bauen. Ohne Genehmigung und nur mit der eigenen Arbeitskraft schufen sie neuen Wohnraum. Nach anfänglicher Unterstützung dieser Initiativen durch die Stadt hatte das ‚Rote Wien‘ jedoch bald eigene Pläne zur Linderung der Wohnungsnot. Die daraus entstandenen Gemeindebauten wurden zum Symbol und Aushängeschild für die sozialdemokratischen Reformen in Wien. Die bevorzugte Bauform war der Superblock: Festungs- oder palastartige Gebäude,

Kritik am Superblock wurde zum Beispiel 1 von Otto Neurath und dem Architekten Josef Frank geübt, die beide zu den Unterstützer*­innen der Siedler*­innenbewegung zählten und dem Österreichischen Werkbund angehörten. Dieser wurde 1912 nach dem deutschen Vorbild gegründet und versuchte, die hohe Qualität des Handwerks mit der industriellen Produktion zu verbinden. Ähnlichen Überlegungen folgend, war das Ziel der Werkbundsiedlung, Modellhäuser zu zeigen, die einzelne Einheiten einer Reihenhaussiedlung sein könnten. Die Architekturausstellung in Lainz, die im Juni 1932 unter großem Aufsehen eröffnet wurde, umfasste 70 Häuser. 31 Architekt*innen – darunter Margarete Schütte-Lihotzky als einzige Frau* – entwarfen vor allem mehrstöckige Quader mit hellen Räumen, schnörkelloser Einrichtung und Kleingärten. In vielen Städten wurden

zu dieser Zeit Architekturausstellungen gezeigt; das Besondere an der Wiener Werkbundsiedlung war der Anspruch, möglichst hohen Wohnkomfort auf kleinem Raum zu verwirklichen. Obwohl die Häuser in erster Linie für Kleinfamilien aus dem Mittelstand vorgesehen waren, unterstützte auch die Arbeiter*innenbewegung die Ausstellung. Otto Neurath sah darin beispielsweise eine Wohnform für Arbeiter*innen im Sozialismus. Auch die Arbeiter-Zeitung sparte nicht mit Lob: „Ein Markstein in der Geschichte 2 der modernen Baukunst.“  Die einzelnen Häuser der Werkbundsiedlung sollten nach der Ausstellung im Sommer 1932 an Private verkauft werden. Aufgrund der Wirtschaftskrise gelang dies jedoch nur teilweise. Die verbliebenen Wohneinheiten wurden schließlich von der Stadt Wien vermietet.

tierung für Lai*innen zu erleichtern. Politische Fragen schneidet die Ausstellung nur ansatzweise an, auch wenn ein gewisser historischer Kontext vermittelt wird. In dieser Hinsicht füllt der Ausstellungskatalog einige Leerstellen, der ausführlicher die geschichtlichen Hintergründe erörtert. Die Kurator*innen Eva-Maria Orosz und Andreas Nierhaus konzentrierten sich auf die Werkbundsiedlung als Architekturausstellung. Die Zeit danach thematisieren sie bewusst erst im letzten Raum, wo der Blick der Bewohner*innen auf ihren Wohnraum und ihr Umgang mit dessen architektonischer Bedeutung behandelt wird. Beim Verlassen der Ausstellung bleibt schließlich nicht nur ein Eindruck von der Werkbundsiedlung, sondern auch von der Ästhetik und den Fragen der Moderne allgemein.

Nur ausgestellte Architektur?

Die Ausstellung Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des neuen Wohnens ist im Wien Museum am Karlsplatz bis zum 13. Jänner 2013 zu besichtigen.

Die Außen- und Innenarchitektur steht im Mittelpunkt der Ausstellung Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des neuen Wohnens im Wien Museum. Neben Modellen der Siedlung werden auch zahlreiche Möbelstücke der Ausstellung von 1932 gezeigt. Von der Gemütlichkeit einiger Sitzgelegenheiten können sich die Besucher*innen auch selbst überzeugen. Gerade die architektonischen Ausstellungsstücke hätten wohl die eine oder andere zusätzliche Erklärung verdient, um die Orien-

„Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“1 „Gedenkt / Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht […] / Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / konnten selbst nicht freundlich sein / Ihr aber, wenn es soweit sein wird […] / Gedenkt unsrer / mit Nachsicht.“2 Dieses Zitat von Bertholt Brecht steht am Anfang von Hendrik Wallats umfangreicher Arbeit Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik über linke Kritik am bolschewistischen Experiment. Die Thematik wurde in den letzten Jahren bereits öfter behandelt.3 Aber Wallat geht es darum, die Kritik am orthodoxen ‚MarxismusLeninismus‘ nicht den Bürgerlichen und Reaktionären zu überlassen. Darüber hinaus ist es

sein Anliegen, diese Kritik als Voraussetzung für gegenwärtige und zukünftige kommunistische Betätigung zu begreifen. Wallats ideengeschichtliche Vorgehensweise beginnt nicht erst bei der Kritik an Josef Stalin, sondern nimmt mit der Suche nach Ursprüngen späterer Fehlentwicklungen bereits bei Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin ihren Anfang. Im Gegensatz zu den Zumutungen aktueller Totalitarismustheorien geht es jedoch nicht um die Verurteilung jeglicher revolutionärer Gewalt, sondern darum, Momente aufzuspüren, die zur späteren Festigung autoritärer Herrschaft führten. Kritiker_innen kommen dabei ebenso zu Wort: Rosa Luxemburg und Leo Trotzki mit ihren ambivalenten Beiträgen zur Organisationsdebatte – Letzterer auch als Befürworter der Methoden der Oktoberrevolution. In dieser Debatte gab es darüber hinaus Beiträge von Karl Kautsky und Nikolai Bucharin. Nachgezeichnet wird zudem Georg Lukács’ Entwicklung vom moralischen Kritiker

David Fließer

Anmerkungen: 1 Der Volkswirt und Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath beschäftigte sich unter anderem mit Siedlungspolitik und engagierte sich im ‚Roten Wien‘ in der Arbeiter*innenbildung. Bekannt ist Neurath vor allem für seine Methode der Bildstatistik. 2 Arbeiter-Zeitung am 4. Juni 1932, zitiert nach der Ausstellung Werkbundsiedlung Wien 1932 – Ein Manifest des neuen Wohnens im Wien Museum.

Daniel Schukovits

der Revolution zum Anhänger der Partei, deren Vorherrschaft er geschichtsphilosophisch legitimiert und die Notwendigkeit dazu doch zugleich aus der Totalität der Warenförmigkeit im Kapitalismus heraus versteht. Abschließend wird ein Überblick über die räte- und linkskommunistische sowie die anarchistische Bolschewismuskritik gegeben, wobei Positionen von Karl Korsch und Simone Weil besonders hervorgehoben werden. Im Resümee diskutiert Wallat die Frage nach der Zukunft revolutionärer Theorie und Praxis wie auch des Kommunismus, wobei sich das Koordinatensystem früherer Emanzipationsbestrebungen nach dem Scheitern des Realsozialismus und dem Epochenbruch des Nationalsozialismus grundlegend verschoben habe. Die Antworten darauf und die Revolution stehen noch aus. Für Wallat ist jedoch klar: „Hinter der Kritik an diesem Befreiungsmodell gibt es für den Kommunismus kein Zurück mehr; er hat mit dem bolschewistischen Paradigma ge-

brochen oder ist schon tot, bevor er überhaupt wieder Anstalten macht, sich reanimieren zu lassen.“ 4 Hendrik Wallat, Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik, Edition Assemblage, Münster 2012. 29,80 EUR Quellen und Anmerkungen: 1 Wladimir I. Lenin, „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (1904), in: Werke, 40 Bde., Berlin (Ost) 1961–1965, Bd. 7, S. 197–430. 2 Bertholt Brecht, „An die Nachgeborenen“ in: Gesammelte Werke 9, S. 724f., zitiert nach Wallat 2012, S. 8. 3 Besonders hervorzuheben: Bini Adamczak, Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Unrast, Münster 2007. Eine Rezension findet sich in der UNIQUE 01/2008. 4 Hendrik Wallat, Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik, Edition Assemblage, Münster 2012, S. 260.

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gesellschaft

Sexismus im Web und in Hacker Spaces

Martha Testovich

Diesen Sommer gab es jede Menge Wirbel um Sexismus im Web und in Hacker Spaces. Und das ist auch ganz gut so. Aber was ist eigentlich genau passiert?

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mmer noch glauben viel zu viele Menschen, Sexismus wäre ein eher nebensächliches Phänomen. Genau diese ignorante Haltung ist aber Teil des Problems: Sie gibt so erst sexistischen ‚Ungustln‘ die Legitimation, nach Belieben zu belästigen, wen und wo sie wollen – und das ist nicht nur im Web der Fall. Ohne darüber hinwegtäuschen zu wollen, dass entsprechende Vorfälle leider ein Dauerbrenner sind, möchte ich hier drei besondere Vorfälle erwähnen.

„Me? Sexist? Don’t be such a sissy!“ – Sexismus auf den Punkt gebracht Am 17. Mai 2012 stellte Anita Sarkeesian auf der Crowdfunding-Plattform kickstarter.com das Projekt Tropes vs. Women in Video Games vor, um eine Serie von feministischen Videobeiträgen zu produzieren. Innerhalb von 24 Stunden wurden ihr die angepeilten 6.000 US-Dollar an Spenden zugesagt. Bis zum Ende der FundingPhase am 16. Juni wurden es dann sogar 158.922 US-Dollar. Sarkeesians Plattform feministfrequency.com wurde breit rezipiert. Die Ankün-

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digung ihres neuen Projekts lockte allerdings auch sofort Horden von sexistischen und antifeministischen Trollen an. Seither ist Sarkeesian massivem Online-Harassment ausgesetzt. Nur durch ihren mutigen Schritt, hier nicht klein beizugeben, sondern all die sexistischen und agressiven Kommentare und Zusendungen sowie die unverblümten Gewaltandrohungen auch öffentlich zu dokumentieren, wurde dieses Thema in immer breiteren Kreisen diskutiert, und verschiedenste Medien nahmen sich dieser Problematik an. So toll der Funding-Erfolg ist, so unmenschlich sind auch die Umstände, denen sich Sarkeesian aussetzen muss. Wer nun meint, hier solle nicht zu sensibel reagiert werden, lese sich einfach einmal Helen Lewis’ Artikel This Is 1 What Online Harassment Looks Like durch.

Übergriffe und Trolle – nicht nur online Die bisher geschilderte Form des Harassments widerfährt sehr vielen feministischen OnlineAktivist*innen. Sie richtet sich insbesondere aufgrund des explizit feministischen Anspruchs der Aktivist*innen gegen konkrete Personen – zumeist Frauen*. Ganz im Gegensatz zu lapidaren Kommentaren misogyner Blogger, die meinen, ‚die Feminist*innen‘ würden die Meinungsfreiheit von Trollen einschränken wollen, wird hier die Freiheit von Feminist*innen eingeschränkt, indem ihnen aufgrund ihrer Äußerungen Gewalt angedroht wird.

Ein weiterer Fall sexistischer Übergriffe richtet sich jedoch prinzipiell gegen Frauen* in männlich dominierten oder männlich codierten Kontexten. Dies schilderte beispielsweise Valerie Aurora Anfang August in ihrem Blog auf der 2 Webseite der ADA Initiative. Sie beschreibt dort den grassierenden Sexismus und sexuelle Belästigungen auf der DEFCON, einer der weltweit bedeutendsten Hacker*innen-Konferenzen. Seither haben verschiedene Hacker*innenZusammenschlüsse auch tatsächlich an dem Problem gearbeitet, aber nach wie vor wird diesem Thema oft mit Ignoranz begegnet. Auch in anderen ‚Geek-Zusammenhängen‘ besteht das Problem. Einen eindrucksvollen, wenn auch erschütternden Überblick verschafft die Timeline Of Sexist Incidents In Geek Communities am Geek Feminism Wiki.3

Organisierter Antifeminismus in der deutschen Wikipedia Eine dritte Debatte, fernab vermeintlich geschlossener Geek-Communitys, ist jene über Sexismus und Antifeminismus auf Wikipedia. Denn nun hat eine weitere engagierte Wikipedianerin das Handtuch geworfen und ihren Account sperren lassen, da sie sich nicht mehr dem sexistischen Mobbing aussetzen wollte. Dies führte – gepaart mit noch mehr sexistischem Trolling und Harassment – zu intensiven Debatten. Inzwischen versucht auch Wikimedia Deutschland aktiver dagegen vor-

zugehen. Der Frauen*anteil unter den aktiven Autor*innen in der deutsprachigen Wikipedia liegt zurzeit bei etwa 8%. Von Diversität kann also nicht gesprochen werden. Während gut recherchierte Beiträge von Frauen* oder gar feministische Kritiken konstant infrage gestellt werden, organisieren sich Antifeminist*innen und sehen Wikipedia von einer ideologisch feindlichen Übernahme bedroht. Eine detailliertere Analyse dazu haben die femgeeks Ende August präsentiert.4 Also wozu immer über Sexismus reden, wo wir doch ohnehin alle dagegen sind? Weil das Nicht-darüber-Reden den grassierenden Sexismus – online und offline – verleugnet und so den sexistischen Trollen Raum zum Austoben bietet. Anstatt sie auszuschließen, wird dabei zugeschaut, wie sich Betroffene und deren Verbündete nach und nach aus den betreffenden Kontexten verabschieden. Insofern: Keep up the fuzz! Redet über Sexismus, ob in Foren, sozialen Netzen oder auch in euren persönlichen und politischen (Offline-)Kontexten. Anmerkungen: 1 http://www.newstatesman.com/blogs/internet/2012/ 07/what-online-harassment-looks 2 http://adainitiative.org/blog/2012/08/01/defconwhy-conference-harassment-matters 3 http://geekfeminism.wikia.com/wiki/Timeline_of_ incidents 4 http://femgeeks.de/die-deutsche-wikipedia-unterder-lupe


gesellschaft

Call to Action

Franz Wilding

Als mit der Selbstverbrennung dennoch, dass die Organisierung der Proteste Mohammed Bouazizis1 am 17. De- durch Neue Medien unterstützt und teilweise erst durch sie ermöglicht wurde. zember 2010 die Proteste in Tunesien gegen die Regierung von Ben Protestkommunikation Ali – eine der größten politischen Protestwelle braucht einen guten KomUmwälzungen der letzten Jahre – Eine munikationskanal – geht es doch darum, eine ausgelöst wurden, war für einige breite Öffentlichkeit auf politische Missstände Medien vielmehr das Protestmittel aufmerksam zu machen und bestenfalls gegen zu mobilisieren. als der Protest an sich interessant. diese Das Web hat in den letzten Jahren in vielen Innerhalb kürzester Zeit wurde Ländern explosionsartig zu einer Umgestalder Begriff ‚Facebook-Revolution‘ tung der Kommunikation geführt. Dabei spielt technische Konzeption, die es erlaubt, mit geprägt, und so manche_­ r Jour- die jedem Menschen gleichberechtigt und unabnalist_­in sah in dem sozialen Netz- hängig mithilfe des Internets zu kommuniziewerk das Potenzial, in Tunesien und ren, eine wesentlich Rolle. Das Internet ist das Ägypten einen Demokratisierungs- erste Medium, das nicht nur eine klassische One-to-many-Kommunikation, sondern auch prozess einzuleiten. eine Many-to-many-Kommunikation ermöglicht

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er sogenannte ‚Arabische Frühling‘ war weder eine ‚Facebook-Revolution‘ noch ein Internetaufstand. Es war der Aufstand von Unterdrückten gegen eine repressive Machtherrschaft. Neu war allerdings, dass viele User_­innen weltweit via Twitter und mittels anderer Onlinedienste ‚live‘ an dem Geschehen teilhaben konnten. Nicht zu leugnen ist

und so von allen User_innen gestaltet werden kann. Daher könnte man auch sagen, dass das Internet allen User_innen gehört. Mit der raschen Verbreitung des Internets kam es weltweit zu kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie unter anderem das Beispiel des arabischen Chat-Alphabets Arabizi­ zeigt. Durch seine einfache Handhabung ist es auch bildungsfernen Schichten zugänglich.

Dass es möglich ist, gemeinschaftlich ein eigenes Alphabet zu entwickeln, verdeutlicht die Chancen, die durch Selbstorganisation entstehen können. Der wichtigste Aspekt des Internets als Kommunikationskanal ist aber viel rudimentärer. Nahezu alle Bereiche der Gesellschaft wie Bildung, Gesundheit oder Sicherheit sind in Klassen unterteilt und je nach finanziellem Status für manche zugänglich und für manche nicht. Das Internet ist so gesehen klassenlos, und es gibt auch kein paralleles Internet für eine Upperclass. Fast jede Information, die jede_r Einzelne täglich im Internet sucht, ist auch anderen Personen zugänglich. Zumindest theoretisch – praktisch gibt es dennoch Einschränkungen. Als während der Proteste in Ägypten ein Internetausfall drohte, wurde mithilfe eines Onlineforums nach alternativen Wegen gesucht, damit der Protest online weiterleben kann. An der Diskussion partizipierten sowohl Student_innen aus verschiedenen Teilen Europas als auch Protestierende vor Ort.

ten Entwicklung: Das Internet verbreitete sich auch in jenen Regionen der Erde rasant, die beinahe nur durch Kriegsberichterstattung oder Spendenaufrufvideos bekannt sind. Mobiltelefone sind zu einem Wegwerfprodukt geworden. Jedes Jahr kommen neue Produkte auf den Markt, was dazu führt, dass die Preise der Vorgängermodelle sinken. So sind seit einigen Jahren ältere Handys für wenig Geld verfügbar, und Mobiltelefone sind auch für Menschen, die an den entlegensten Orten leben und kaum etwas besitzen, ein unverzichtbarer Bestandteil des Alltags geworden. Weltweit hatten 2011 durchschnittlich 85% aller Menschen (41% 1 in least developed countries ) ein Mobiltelefon. Zum Vergleich: Der Zugang zu Strom in least de2 veloped countries lag 2009 bei nur circa 25%. Bald werden es nicht mehr nur simple Mobiltelefone, sondern auch ältere Smartphones sein, durch die das Internet in Haushalten, wo es an allem fehlt (so etwa auch an Strom und Wasser), Einzug halten – und so weltweit eine Perspektive für eine neue Form des Widerstands eröffnen.

Verbreitung

Anmerkungen: 1 Ein einfacher Gemüsehändler aus Tunesien. 2 UN-Klassifizierung (http://unstats.un.org/unsd/methods/­m 49/m49­ regin.htm#least) 3 Alle Daten von http://data.worldbank.org.

Bis vor Kurzem war das Internet eine Ressource, die hauptsächlich in den kapitalistischen Zentren weite Verbreitung gefunden hat. Doch in den letzten Jahren kam es zu einer interessan-

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gesellschaft

Debord statt Fawkes

es gibt einen richtigen Guy im Falschen Was die Guy-Fawkes-Masken so attraktiv macht, und warum eine Wiederentdeckung Guy Debords lohnender wäre als die Uniformierung politischer Bewegungen.

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ie grinsende Fratze des römisch-katholischen Terroristen, der gegen den protestantischen Jakob I. kämpfte und ihn, seine Familie sowie sämtliche Parlamentarier am 5. November 1605 mithilfe von zweieinhalb Tonnen Schießpulver töten wollte, avancierte in den letzten Jahren zum Symbol mehrerer Protestbewegungen. In die Popkultur aufgenommen und aus der bisherigen Tradition herausgelöst wurde die Maske durch die 1982 1 gestartete Graphic-Novel-Reihe V for Vendetta , die von einem Anarchisten handelt, der sich zur Verschleierung seiner Identität dieser Maske bedient. Die Handlung der dystopischen Graphic Novel ist in einem vom Faschismus beherrschten Vereinigten Königreich angesiedelt, dessen Machthaber eine rassistische, homophobe und antisemitische Agenda verfolgen und jeglichem Widerstand mit brutaler Repression begegnen.

Postideologie ist auch Ideologie Das Drehbuch zur 2006 veröffentlichten 2 Kinoadaption wurde von den Wachowski-Geschwistern verfasst, die auch für Drehbuch und Regie der an Verschwörungsideologien durchaus anschlussfähigen Matrix-Trilogie verantwortlich sind. Allerdings entradikalisierten die Wachowskis den Stoff in mehrfacher Hinsicht. Aus dem faschistischen Regime wurde eine kon-

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servativ-autoritäre Mediokratie, und die Eltern von Evey Hammond, die V in seinem Kampf unterstützt, wurden nicht ermordet, weil sie SozialistInnen waren, sondern gegen ‚America’s war‘. Die Art, wie der Film die autoritäre Machtübernahme darstellt, korrespondiert mit gängigen 9/11-Verschwörungstheorien. Der konservative Verteidigungsminister (und spätere Diktator) inszenierte einen Terroranschlag, den er IslamistInnen in die Schuhe schiebt, um damit eine Kriegsbeteiligung und die Errichtung eines totalitären Staates zu legitimieren. Die Occupy-Bewegung und Anonymous docken sowohl mit ihrer vermeintlich ‚postideologischen‘ Gesellschaftsanalyse als auch durch die Anfälligkeit vieler AktivistInnen für Verschwörungstheorien viel eher an den Film als an den Comic an. Der Film war es auch, der die Masken zu einem Symbol eines Massenaufstands machte, während sie im Comic eine andere Rolle spielen und nicht – wie am Ende des Films – bei einer Großdemonstration kollektiv getragen werden. Die kollektive Anonymisierung durch GuyFawkes-Masken auf Demos ist nicht einfach der neueste Stand autonomer Vermummungsstrategien. Sie verweist, indem sie das Ende des Films zitiert, auf einige ideologische Implikationen von Protestbewegungen, für die die Masse kein zeitlich begrenztes Zusammenwirken von Individuen, sondern ein überzeitliches Kollektiv Gleichgesinnter ist – die ominösen 99%. Die uniforme Maskierung täuscht ebenso wie der Slogan „We are the 99%“ eine Gemeinsamkeit an Interessen vor, die in dieser Form einfach nicht existiert. Eine politische Bewegung, die größtenteils aus weißen Angehörigen der Mittelklasse besteht, generiert sich als Stellvertreterin von 99% der Weltbevölkerung, von

Florian Wagner

deren Ausbeutung und Entrechtung sie selbst in hohem Maße profitiert. Selbstreflexion in Bezug auf genau diese – nämlich die eigenen – Privilegien sucht man vergebens. Verschuldete, klein- bis bildungsbürgerliche, mehrheitsösterreichische ‚HäuslbauerInnen‘ sind – auch wenn sie sich gerne als ‚Systemtrotteln‘ selbst bemitleiden – sicher nicht die am meisten Betrogenen. Denn die von ihnen gewählte, hochgradig ineffiziente Wohnform wird letztlich durch die Steuern der StadtbewohnerInnen – nicht zuletzt jene der migrantischen ArbeiterInnen – querfinanziert. Den Irrationalismus der weißen Mittelschicht für die Immobilien- und Finanzkrise verantwortlich zu machen wäre wohl um einiges plausibler als das Herbeizitieren der üblichen Sündenböcke.

Spektakulärer Protest und Kritik des Spektakels Gemeinsam haben der Film und der Comic V for Vendetta, dass beide sich des zu hinterfragenden Motivs bedienen, Isolationshaft und Folter würde Menschen nicht brechen und traumatisieren, sondern zu perfekten WiderstandskämpferInnen formen. V verlangt Evey hier wie dort eine unnötige Bereitschaft zum Selbstopfer ab. Am Ende stirbt V, um ‚uns‘ zu erlösen und so eine bessere Gesellschaft, die nur ohne ihn funktionieren könne, zu ermöglichen: ein genuin christliches Motiv, das ein letztes Mal auf das historische Vorbild – den katholischen Terroristen – verweist. Um nicht in eine derart moralische Form von Gesellschaftskritik zu verfallen, in der man selbst immer auf der richtigen Seite steht und alles Böse in das eine – nicht spezifizierte – Pro-

zent auslagert, bietet sich der Rückgriff auf einen anderen Guy an. Der 1994 verstorbene Situationist Guy Debord stellt im Unterschied zu seinem bereits lange toten Namensvetter weder einen theoretischen noch einen symbolischen Bezugspunkt für aktuelle politische Bewegungen dar. In seinem Hauptwerk Die Gesellschaft des Spektakels kritisiert er nicht zuletzt die ‚Kulturindustrialisierung‘ politischer Dissidenz, die „den lokalen Revolutionären die falschen Vorbilder von Revolutionen“ 3 zeige. Eine Kritik, die sich auf die Graphic Novel und den Film anwenden ließe und mit der sich nicht zuletzt Occupy, Piratenpartei und Anonymous auseinandersetzen sollten. Die herrschenden Vorstellungen von Soziologie hinterfragend, merkt Debord an, dass „der entrüstete gute Wille“ es als solcher nicht weiter bringe, „als die äußere Form des Systems zu tadeln“ 4. Selbiges ist bei den WutbürgerInnen unterschiedlichster Couleur zu beobachten. Zur Frage, wie radikale Gesellschaftskritik, die ihre eigenen Voraussetzungen und ihre gesellschaftliche Verortung reflektiert, aussehen könnte, klafft bei allen genannten Bewegungen eine große Lücke. Der spektakuläre Protest scheint attraktiver zu sein als die Suche nach der Möglichkeit einer radikalen antikapitalistischen Kritik an der Gesellschaft des Spektakels. Quellen: 1 Alan Moore / David Lloyd, V for Vendetta, Vertigo, New York 2005. 2 V for Vendetta, Regie: James McTeigue, Warner Bros. Pictures 2006. 3 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Edition Tiamat, Berlin 1996 [frz. Original 1967], S. 46–47. 4 Ebd., S. 168.


gesellschaft

Homöopathie – nur ein harmloses Placebo?

Mathias Haas

die Menge der verarbeiteten Substanz (was Homöopathie ist heute ein weit- Krankheitsbild und Heilmittel – 2 vom Gift der Buschmeisterschlange bis zu Gold verbreitetes Phänomen. In fast similia similibus curentur ziemlich viel sein kann) entscheidend, sondern jeder Apotheke werden Globuli Ein Blick in das Skriptum Grundlagen der klas- die Stärke der „Information“. „Man kann davon verkauft, und auf der Medizini- sischen Homöopathie (SIHG) der StudentInnen ausgehen, dass durch den Schüttelvorgang Inschen und Veterinärmedizinischen Initiative Homöopathie (SIH), einer Initiative an formation [Herv. im Original] der Arznei im MedUni Wien, bringt so einiges ans Licht. Lösungsmittel gespeichert wird, die bei der Universität Wien werden Lehrver- der In diesem Skriptum wird meist auf den Orga- Verabreichung des Mittels Funktionen im Oranstaltungen zum Thema Homöo- non der Heilkunst (ORG) von Samuel Hahne- ganismus reguliert.“ 6 pathie angeboten. Was ruft dieses mann (1755–1843) Bezug genommen.3 Die Anamnese wird im SIHG als ein ganzheit- Ideologische Grundlagen Bedürfnis nach alternativen Heil- licher Ansatz beschrieben, mithilfe dessen vermethoden hervor? sucht werden soll, „die PatientInnen mit all ihren Um zu beantworten, warum Homöopathie auch

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b Homöopathie nun wirksame Mittel herstellt oder nicht, wurde bereits von naturwissenschaftlicher Seite untersucht. Dieser Aspekt soll hier nur kurz erwähnt werden. Bei hohen homöopathischen Verdünnungen und ‚Potenzierungen‘ ist die ursprüngliche Subs1 tanz chemisch nicht mehr nachweisbar. Das ändert allerdings nichts daran, dass Menschen weiterhin der homöopathischen Lehre anhängen. Die Homöopathie naturwissenschaftlich zu widerlegen ist also nicht ausreichend. Es steckt scheinbar mehr hinter ihr als nur eine Placebo-Heilmethode.

Beschwerden vor dem Hintergrund ihrer Biographie und ihrer gesamten Konstitution zu verstehen“ 4. Im ORG wird dann deutlich, was „Krankheit“ in der Homöopathie bedeutet: „[…] was die Krankheiten erwiesenermaßen nicht sind und nicht sein können, […] mechanische oder chemische Veränderungen der materiellen Körpersubstanz und nicht von einem materiellen Krankheitsstoffe abhängig – sondern bloß geistartige, dynamische Verstimmung des Lebens.“ 5 Die ‚Heilmittel‘ in der Homöopathie funktionieren nach dem Ähnlichkeitsprinzip: Dem zufolge soll ein homöopathisches Mittel bei gesunden Menschen gleiche – oder ähnliche – Symptome hervorrufen wie jene der Krankheit, die geheilt werden soll. Das Mittel erhalten die PatientInnen in unterschiedlicher Verdünnung und ‚Potenzierung‘. Hierbei ist jedoch nicht

als Ideologie existiert, ist ein ideologiekritischer Ansatz vonnöten, der das Gesundheitssystem im Spätkapitalismus untersucht. Aus dieser Perspektive lässt sich sagen, dass im Kapitalismus nichts in erster Linie dafür gemacht wird, dass es Menschen besser geht, sondern dass es entweder unmittelbar der Kapitalverwertung oder deren Gewährleistung dient. Krank sein im Kapitalismus heißt: aufgrund kurierbarer Umstände gerade nicht oder schlechter verwertbar zu sein. Da sich das Kapital um die gesundheitliche Situation seiner ‚Arbeitskraftbehälter‘ nicht kümmert, diese aber in gesundem Zustand gebraucht werden, wurde in Europa zumeist der Staat als ‚Wahrer der Ordnung‘ mit dieser Aufgabe betraut. Aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungen erahnen die Menschen diesen (schlechten) Zustand –

auch wenn er ihnen möglicherweise nicht direkt bewusst ist – und suchen Möglichkeiten, sich dagegen aufzulehnen. Die AnhängerInnen alternativer Heilmethoden richten sich unter anderem gegen das kapitalistische Gesundheitssystem, das sie in Gestalt der Schulmedizin zu erkennen glauben. Ihre ‚Kritik‘ ist jedoch keine emanzipatorische, sondern eine Form der ideologischreaktionären Verarbeitung, die schlussendlich die aktuellen Verhältnisse verfestigt. Das zuvor angeführte Zitat aus dem ORG ist Ausdruck dieser verkehrten Wahrnehmung. In seiner Oberflächlichkeit ist es richtig und falsch zugleich: richtig, da erkannt wird, dass Krankheiten auf eine „Verstimmung des Lebens“ zurückgehen können; und falsch, da nicht erkannt wird, wodurch diese „Verstimmungen“ verursacht werden – die widersprüchlichen und menschenverachtenden Zustände des Kapitalismus. Die Homöopathie will diese Zustände durch okkulte (Be-)Handlung kurieren. Anmerkungen: 1 Vgl. z. B. http://psiram.com/ge/index.php/Hom%C3 %B6opathie. 2 Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden. 3 Im Folgenden beziehe ich mich nur auf jene Textstellen des ORG, auf die im SIHG verwiesen wird. 4 SIHG, http://www.sih.at/files/WFSKRIPT2007.pdf, S. 5. 5 ORG, § 31. 6 SIHG, S. 7.

ÖSTERREICHISCHE KELLER … // Am Festkonzert des Kärntner Abwehrkämpferbundes, anlässlich der 10.-OktoberFeierlichkeiten in Kärnten, war FPK-Finanzlandesrat Harald Dobernig unter den Gästen und ließ es sich nicht nehmen, sich über die sogenannte Ortstafellösung zu brüskieren. Er nannte diese eine „Einstiegsdroge“, mittels derer die „echten Kärntner“ von der slowenischen Bevölkerungsgruppe vertrieben würden. „Man hat bereits den Eindruck, dass in Kärnten mehr Slowenen als richtige Kärntner leben.“ [sic!] Außerdem stellte er fest, Kärnten sei „nicht zweisprachig“. // FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hat im August dieses Jahres eine antisemitische Karikatur auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht, mit der er wieder einmal zum ‚Skandal‘ auslöste. Auf dieser kurz nach Veröffentlichung zurückgenommenen Karikatur war ein Mann zu sehen, der „die Banken“ darstellen sollte und sich genüsslich mit Wein und Essen ‚vollstopft‘, die er von einem anderen („die Regierung“) serviert bekommt. Daneben sieht man einen weiteren Mann, der abgemagert und verarmt – nur mit einem Knochen auf dem Teller – anteilslos am Tisch sitzt und „das Volk“ darstellen soll. Neben der offensichtlichen ‚Hakennase‘ des ‚Bankers‘ beinhaltet die Karikatur ein Detail, das den antisemitischen Charakter dieser Grafik ganz unverblümt zeigt: Die Man-

schettenknöpfe des ‚Bankers‘ sind mit Davidsternen versehen. // FPK-Chef und Kärntner Landeshauptmann-Stellvertreter Kurt Scheuch muss eine Verurteilung wegen Beamtenbeleidigung fürchten. Ihm drohen drei Monate Haft oder eine Geldstrafe. Und das alles, weil er einen Klagenfurter Richter als „Kröte“ bezeichnet hat. // Ein 19-Jähriger wurde in Salzburg wegen Verhetzung verurteilt. Grund ist sein Posting auf Facebook von 2011: „Bringt alle Türken endlich um, Sieg heil für das Arier-Reich“ [sic!]. Das Gericht verzichtet jedoch auf eine Bestrafung, unter Verhängung einer dreijährigen „Probezeit“. // Wegen der öffentlichen Zurschaustellung seiner Hakenkreuztätöwierung wurde in Vorarlberg ein 26-Jähriger wegen Wiederbetätigung verurteilt. Der Mann, der neben einem Hakenkreuz diverse weitere einschlägige nationalsozialistische Symbole auf seinem Körper getragen haben soll, steht nicht zum ersten Mal deswegen vor Gericht. Vermutlich ist der Angeklagte wegen seiner ‚Glaubwürdigkeit‘, er wolle aussteigen, bisher öfters mit einem blauen Auge davongekommen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. // Die ‚Kärntner Saualm‘, eine als ‚Sonderanstalt‘ für mutmaßlich straffällig gewordene Asylbewerber_innen bezeichnete Einrichtung, wurde geschlossen. Nach der Kärntner Flüchtlingsbeauftragten Barbara Gutsche

(FPK) sind die Gründe hierfür diverse Vorwürfe und Anzeigen gegen die frühere Betreiberin. Nach jahrelangen Protesten und menschenverachtenden Missständen (wie Verweigerung ärztlicher Betreuung, physische Übergriffe durch private Securitys, Nichtbereitstellung ausgewogener Nahrungsmittel), die dieser Einrichtung immer wieder vorgeworfen wurden, wird vonseiten der FPK der Vorwurf der illegalen Tierschächtungen, die angeblich auf der Saualm stattgefunden haben sollen, kolportiert. // Die Debatte um den Standort des Denkmals für Wehrmachtsdeserteure in Wien nimmt kein Ende. Richard Wadani, Ehrenobmann des Personenkomitees Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz, wirft der Politik eine bewusste Strategie des Abwartens vor – bis auch die letzten Deserteure gestorben seien. Er gibt in einem Interview an, dass es keinerlei Gründe für die Politik gebe, das – im Regierungsabkommen festgelegte – Denkmal nicht auf dem Ballhausplatz vor der Präsidentschaftskanzlei zu positionieren. Neben seiner eigenen schlechten Erfahrungen, die er als Wehrmachtsdeserteur im Nachkriegsösterreich erlebt hat, weist er auf die bis heute anhaltende negative öffentliche Meinung über die Deserteure und Österreichs ‚schlampigen‘ Verhältnis zur eigenen Geschichte hin. // Vom 4. bis

8. Oktober fand der ‚Weltgebetskongress‘ von Human Life International (HLI), einer Organisation fundamentalistischer AbtreibungsgegnerInnen, in Wien statt. Berichte über diesen Auflauf von gefährlichen Wahnsinnigen finden sich in der Mainstream-Medienlandschaft dieser Tage keine. Dafür ein Videobericht auf gloria.tv, in dem sich die religiösen FanatikerInnen über einen „Anschlag“ auf das HLI-Büro in Wien empören und davon ausgehen, „[…] dass die Polizei keine Anstrengungen unternimmt, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen […]“ – während die Spurensicherung der Kripo im Bild ist. Und weiters: „Seit Wochen schüren Linksextreme den Hass gegen den Kongress. Sie benützen dazu Plakate, Flyer und Webseiten, die zu Gewalt aufrufen. Bisher haben sich keine Abtreiber, und keine Politiker von den Gegendemonstrationen distanziert.“ Auf den genannten Plakaten sind Slogans wie „Für ein selbstbestimmtes Leben“ oder „Gegen die Angriffe von Kirche und Politik!“ zu lesen. Unter den Kommentaren finden sich unter anderem Äußerungen, die die Gegenproteste mit der „Reichskristallnacht“ [Herv. im Original] gleichsetzen, sowie weitere NS-relativierende Vergleiche. // Alles hat ein Ende?! Mit 16. Oktober 2012 findet zumindest der Korruptions-U-Ausschuss auf Antrag von SPÖ und ÖVP sein Ende. // …

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wissenschaft

„Wir kommen wieder“1 Aber wer ist „wir“? Überlegungen zur Frauen*­ forschung­über den Austrofaschismus

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ie Forschung zum Austrofaschismus macht deutlich, was auch für alle anderen Forschungsgebiete der Geschichtswissenschaft gilt: Die epistemologischen und ontologischen Bedingungen der Forschung beeinflussen die Ergebnisse enorm und akzentuieren sie neu. Im Folgenden wird argumentiert, warum ein geschlechtertheoretischer Zugang für eine umfassende Erforschung des Dollfuß/SchuschniggRegimes notwendig ist.

Umkämpfte Geschichte – umkämpfte Forschung Die Zeit zwischen dem 4. März 1933 und dem 12. März 1938 gehört zu den umstrittensten Kapiteln der österreichischen Geschichte. Die umkämpfte Interpretation des autoritären Regimes spiegelt sich in den vielen Begriffen wider, die dafür gefunden wurden. Neben ,Austrofaschismus‘ sind das etwa ,Klerikalfaschismus‘, ,Imitationsfaschismus‘, (autoritärer) ,Ständestaat‘, ,Konkurrenzfaschismus‘, ,Regierungsdiktatur‘ 2 und viele andere. Die beiden am häufigsten verwendeten Begriffe sind ,Austrofaschismus‘ und ,Ständestaat‘, und meist verrät die jeweilige Verwendung auch schon, aus welcher gesellschaftstheoretischen und -politischen Perspektive geforscht wird. Der Begriff ,Ständestaat‘ ist analytisch nicht zutreffend, von den geplanten sieben Ständen wurden nur zwei umgesetzt. Er lässt sich auf die Grundüberlegung einer ständisch strukturierten Gesellschaftsordnung ein und verwischt den autoritären, repressiven und bürgerlichen Charakter des Regimes. ,Austrofaschismus‘ hingegen verweist auf frühe Parallelen zum italienischen Faschismus sowie auf den historischen Kontext der ‚Faschisierung‘‚. Der Begriff stellt sich gegen das geschichtsverklärende Narrativ der zwei in gleichem Maße schuldigen konkurrierenden Lager, wie es von Konservativen propagiert wird. Der größte Teil der heute noch relevanten Literatur über den Austrofaschismus lässt sich in drei Gruppen aufteilen: Erinnerungsliteratur von Zeitzeug_innen, Parteipublikationen und wissenschaftliche Publikationen zum Austrofaschismus aus den 1970er und 1980er Jahren. Die erste Welle der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Austrofaschismus war durch die SPÖ-Alleinregierung und die soziale wie inhaltliche Öffnung der Universitäten geprägt. Zwischen den 1970er und den 1980er Jahren entstanden die heute als Standardliteratur geltenden Werke zum Widerstand ge-

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Hanna Lichtenberger

gen den Austrofaschismus: Die Arbeiten von Franz West3, Peter Pelinka4 und Everhard Holtmann5.6

Geschlechterbild – die bisherige herrschaftskritische Forschung Die drei angesprochenen ‚Klassiker‘ und die darüber hinaus verfasste Literatur zum sozialistischen/kommunistischen Widerstand haben jedoch eine massive Leerstelle: Geschlechterverhältnisse werden nicht thematisiert. Die Abwesenheit von Frauen* in der Literatur erweckt den Eindruck von Abwesenheit von Frauen* in den Parteien und Kämpfen. Selbst Funktionärinnen* wie Rosa Jochmann, Käthe Leichter oder Therese Schlesinger nehmen nur wenig Raum ein. West, Holtmann und Pelinka bearbeiten weder hegemonietheoretische Fragestellungen noch alltägliche, widerständige Praktiken, etwa Reproduktionsarbeiten, die im Zusammenhang mit der Organisation des Widerstandes notwendig waren, oder Kurier_innendienste. Frauen als historische Subjekte sichtbar zu machen und die vielfältigen Mechanismen ihrer Unterdrückung aufzuzeigen waren zwei wichtige Vorhaben der Frauen*- und Geschlechtergeschichte.7 Weil Selbstzeugnisse eine wichtige Quelle feministischer Geschichtswissenschaft darstellen, entstanden zunächst zahlreiche biografische Arbeiten. Oft arbeiteten diese mit einem biologistisch-empirischen Begriff von ‚Frauen‘. Geschlecht wurde nicht als analytischrelationale, sozial konstruierte Kategorie verstanden, sondern als ‚natürliche‘ Instanz. Auch fehlte der Konnex zu anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien (Klasse und rassistische Verhältnisse). Dies gilt auch für einige Werke der Frauen*geschichte über den Austrofaschismus: Irene Bandhauer-Schöffmann geht in ihrer Beschäftigung mit der ‚Frauenpolitik‘ des Austrofaschismus von Geschlecht als einer biologischen Kategorie aus bzw. reflektiert deren soziale Konstruiertheit nicht. Die kommunistische/sozialistische Frauen*bewegung kommt nicht vor, sie zeichnet ‚die Frauenbewegung‘ als (bürgerliche) homogene Bewegung nach.8

Was braucht es? Gerade aus einer herrschaftskritischen Perspektive sind noch viele spannende Fragen offen. Diese beziehen sich sowohl darauf, Frauen* als Subjekte des Widerstands gegen den Austrofaschismus sichtbar zu machen, ohne auf biologistische Kategorien zurückzugreifen. Andererseits müsste aufgezeigt werden, wie sich hegemoniale Geschlechterverhältnisse reproduziert haben oder welche Verschie-

bungen es in der performativen Struktur von Geschlecht gegeben hat. Verdeutlicht an offenen Fragen zum 12. Februar 1934: Wie wurde im Schutzbund Männlichkeit und der Ausschluss von Frauen reproduziert? Welche Auswirkungen hatte die Niederschlagung des Arbeiter_innenaufstandes auf die Konstitution von Geschlecht? Wie haben die Frauen* die Niederlage erlebt? Wie haben sich Rollenbilder und soziale Zuschreibungen in der Arbeitsteilung bei Frauen* in den ersten Tagen nach dem Februar 1934 reproduziert? Welche unterschiedlichen Erfahrungen haben proletarische, bürgerliche, von Rassismus (nicht) betroffene Frauen* gemacht? Was waren Überlegungen von Frauen*gruppen oder Funktionärinnen* nach den Kämpfen des 12. Februars? Diese Fragestellungen können meines Erachtens nur durch einen neuen Zugang zur Frauen*- und Geschlechtergeschichte des Austrofaschismus bzw. des Widerstandes gegen den Austrofaschismus bearbeitet werden. Besonders wichtig würde mir eine Diskussion über die Methoden in der Forschung erscheinen. Weil ein Oral-History-Zugang kaum mehr eine Möglichkeit darstellt, muss meiner Meinung nach stärker mit Selbstzeugnissen gearbeitet werden. Während etwa die schriftlichen Erinnerungen Otto Bauers, Otto Leichters oder auch Joseph Buttingers als zentrale Quellen für die Forschung betrachtet wurden, fanden Erinnerungen von Frauen* kaum Eingang in die Forschung.9 Vereinzelt zeigen neuere Arbeiten 10 den Erkenntnisgewinn eines solchen Zugangs. Beachtet werden muss dabei allerdings der (bildungs-)bürgerliche Klassencharakter des Verfassens von Autobiografien und Tagebüchern. Zum anderen braucht es in der Frauen*forschung (nicht nur) zum Austrofaschismus ein anderes Verständnis von Geschlecht und vorgeschlechtlichen Praxen. So gibt es etwa Hinweise auf Cross-Dressing-Praxen von Frauen* im Februar 1934. Um so einen neuen Begriff von Geschlecht als Analysekategorie zu entwickeln, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit aktueller feministischer, queerer und postkolonialer Theorie notwendig, die in der Geschichtswissenschaft bisher nur peripher geschieht. Homophobie in linken Organisationen zwischen 1933 und 1938 wäre ein weiteres, unbearbeitetes Forschungsfeld. Notwendig wäre ein erweiterter Widerstandsbegriff. Häufig impliziert er bewaffnete Männer* in Uniformen, die, rote Fahnen schwingend, hinter Barrikaden stehen. Dieses Motiv ist ein Teil eines notwendigen Narrativs, etwa über den 12. Februar 1934. Ein umfassendes Bild des Widerstands muss den Blick jedoch auch auf andere widerständige Praxen richten. Alltägliche widerständige Praxen und

‚unsichtbare‘ Arbeiten in den politischen Organisationen müssen aufgezeigt werden. Dazu zählen Kurier_innen*-Dienste, Finanzierungsfragen und reproduktive Tätigkeiten genauso wie Erinnerungen an Gesprächr unter Nachbar_innen*. Nur so kann die Forschung zum Widerstand gegen den Austrofaschismus umfassend sein. Ein generelles Ausreden auf fehlende Quellen kann nicht gelten, da ein Großteil der vorhandenen Erinnerungsliteratur von Frauen* 11 unbearbeitet ist. Schlussendlich wäre es wichtig, kritische Leute, die zu dem Themenkomplex Geschlecht/Austrofaschismus forschen, zusammenzubringen und Forschungsnetzwerke zu stärken. Damit würde eine (pro)feministische Intervention in die bisherige Forschung gelingen und die Standardwerke-­Autoren* könnten bald abgelöst werden.

Anmerkungen: 1 Aktenvermerk der Bundespolizei in Wien betreffend die Aktion der RS zum Jahrestag des 15. Juli 1927, DÖW 5851. 2 Tálos, Emmerich / Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938. Wien: LIT-Verlag 2005, S. 416. 3 West, Franz, Die Linke im Ständestaat Österreich. Revolutionäre Sozialisten und Kommunisten 1934– 1938. Wien: Europa-Verlag 1978. 4 Pelinka, Anton, Erbe und Neubeginn. Die Revolutionären Sozialisten in Österreich 1934–1938. Wien: Europaverlag 1981. 5 Holtmann, Everhard, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäre Regime in Österreich 1933–1938. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1978. 6 Auch der Sammelband von Tálos et al. wurde erstmals 1984 herausgegeben. Er widmet sich weniger dem Widerstand und mehr dem Herrschaftssystem. 7 Griesebener, Andrea, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung. Wien: L ­ öcker 2005. S. 39. 8 Bandhauer-Schöffmann, Irene, „Der ‚Christliche Ständestaat‘ als Männerstaat? Frauen- und Geschlechterpolitik im Austrofaschismus“, in: Tálos et al. 2005. 9 Vgl. auch Hauch, Gabriella, „Vom Androzentrismus in der Geschichtsschreibung. Geschlecht und Politik im autoritären christlichen Ständestaat / ‚Austrofaschismus‘ (1933/34–1938)“, in: Dreidemy, Lucile / Wenninger, Florian (Hg): Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessungen eines Forschungsfeldes. Wien: Böhlau (im Erscheinen). 10 Z. B. Helfert, Veronika, Geschlecht.Schreiben.Politik. Frauentagebücher im Februar 1934. Diplomarbeit an der Universität Wien 2010. 11 Z. B. Muriel, Gardiner, Deckname ‚Mary‘: Erinnerungen einer Amerikanerin im österreichischen Untergrund. Wien: Promedia 1989.


stars ‘n‘ stripes

All Eyes on the USA Anlässlich der im November stattfindenden US-Präsidentschaftswahlen widmen wir den Schwerpunkt dieser Ausgabe den United ­States of America. Nicht immer wird rational mit dem Land der ‚Stars and Stripes‘ umgegangen, oft können auch irrationale Tendenzen ausgemacht werden: Kaum ein anderes Land ist so berühmt, so beliebt und so verhasst zugleich. Berühmt sind die USA nicht nur durch Coca Cola, Jeans, Sitcoms, Blockbuster und weitere US-amerikanische Exportgüter, sondern auch weil die ‚Neue Welt‘ seit Anbeginn ihrer Entdeckung die Aufmerksamkeit – nicht nur Europas – auf sich zog. Nicht immer positiv, sondern durchaus mit Argwohn beobachtete die ‚Alte Welt‘ die Etablierung einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft und die darin inbegriffenen Konzepte von Freiheit und Gleichheit auf dem für sie neu entdeckten Kontinent. Die Idee des Liberalismus, dessen VordenkerInnen aus Europa stammten, verwirklichte sich nun in der ‚Neuen Welt‘ und stellte für die europäischen BeobachterInnen die Verkörperung der Moderne in Amerika dar. Die Durchsetzung und das Bestehen eines Gemeinwesens ohne Staat in der ‚Neuen Welt‘ wurde beispielsweise bereits vom Historiker Alexis de Tocqueville als Besonderheit erkannt, wohingegen gerade dieses Fehlen der staatlichen Souveränität Georg W. F. Hegel dazu veranlasste, keine Zukunft für die rein ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zu sehen. Die Unabhängigkeit der Kolonien und der Zusammenschluss zum Staatenbund wurden aber in Europa als ‚Zweite Entdeckung‘ des neuen Kontinents angesehen. Die Konsequenz, der Weg hin zur Etablierung einer Verfassung, welche die der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Widersprüche ausbalancieren sollte, behandelt der erste Beitrag unseres Schwerpunkts „We the people“ auf Seite 18. Wie sich die liberale Idee der Naturrechtslehre – das Recht auf Freiheit und Eigentum – im demokratischen Regierungs- und Parteiensystem der USA realisierte bzw. darin Ausdruck fand, könnt ihr auf Seite 19 in Land des unbegrenzten Eigentumsschutzes nachlesen. Auf der Ebene der internationalen Politik wurden die USA, insbesondere nach dem Kalten Krieg, als Hegemon schlechthin angesehen. Demzufolge wird ihrem Handeln, also ihrer Innen- und Außenpolitik, weltweit nach wie vor große Aufmerksamkeit geschenkt. Wie diese Politik gegenüber Lateinamerika aussieht, beleuchtet Im Namen der Freiheit auf Seite 20. Wie sich die Beziehungen der USA zu einem ihrer gegensätzlichsten politischen Systeme, nämlich Deutschland, entwickelten, ist im Beitrag Mit und gegen Amerika auf Seite 21 nachzulesen.

Das zuvor erwähnte ambivalente Verhältnis Europas zu den USA, worin sich auch gleichsam Europas ambivalentes Verhältnis zur Moderne ausdrückt, hat auch zur Konsequenz, dass die USA als Quelle allen möglichen Übels imaginiert werden. Ähnlich dem Antisemitismus formiert sich der Antiamerikanismus als Projektion des gesellschaftlich Unverstandenen. Wight D. Eisenhowers Ausspruch „The search for a scapegoat is the easiest of all hunting expeditions“ bringt dies auf den Punkt. Den linken Antiamerikanismus, der sich im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre entwickelte, behandelt der Beitrag Der pathologische Antiamerikanismus auf Seite 22. Wie sich die grundsätzliche Aversion gegenüber dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney auf die objektive Berichterstattung auswirkt, zeigt der Beitrag auf Seite 23. Auch wenn viele Aussagen Mitt Romneys kritisierenswürdig sind, so scheinen die österreichischen Medien doch eher Wahlkampf für Obama zu führen. Abschließend entführt unser Schwerpunkt noch in den Big Apple, über den bekanntlich schon Frank Sinatra sang: „If you can make it there, you can make it anywhere.“ Aber wer schafft es dort wirklich noch, und wer wird durch Stadtbildveränderungen und damit verbundene Veränderungen aus dem Stadtbild vertrieben? Der Artikel auf Seite 24 beleuchtet die Konsequenzen der Gentrifizierung in New York City für die ‚Verlierer_innen‘ im Kapitalismus. Wir hoffen, dass unser Schwerpunkt interessante Informationen über das „Land of the Free and Home of the Brave“ bietet und ihr der Wahl genauso entgegenfiebert wie die Redaktion – auch wenn unser Wunschkandiat, Vermin Supreme, es diesmal nicht schaffen wird und die ‚pony-based economy‘ deshalb wohl noch etwas auf ihr Realisierung warten muss ... 17


stars ‘n‘ stripes

We the people ...1

Doris Maierhofer

Sie ist die erste moderne Verfas- stätigte für die BefürworterInnen der Union die sung im Geiste der Aufklärung Dringlichkeit der Etablierung einer einheitlichen und nationalen Verfassung. und mit dem Ziel einer republikanischen Ordnung – doch wie kam es Die Federalists und die Verfassung überhaupt zur Verabschiedung der Konvent von Philadelphia, der 1787 mit DeConstitution of the United States of Der legierten aus den Bundesstaaten tagte, war urAmerica vor 225 Jahren? sprünglich für eine Revision der Konfödera-

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ie Amerikanische Revolution bedeutete einen langen, gewaltvollen Ablösungsprozess der 13 zuvor britischen Kolonien von ihrer Kolonialmacht und ihre Formierung zu einem unabhängigen Staatenbund. Mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 und dem Friedensschluss mit Großbritannien 1883 musste schließlich eine staatliche Verfasstheit und Ordnung gefunden werden, die die Eigenständigkeit und Einheitlichkeit des neuen Staatenbundes sichern sollte. Durch die zu diesem Zweck verabschiedeten Konföderationsartikel wurde ein Kongress als Bundesregierung eingesetzt, der jedoch aufgrund der Souveränität der Einzelstaaten völlig machtlos war. Die Artikel waren daher ungeeignet, die Union und die bestehende Ordnung trotz Nachkriegsrezession und Schuldenkrise in ihrem Bestand dauerhaft zu sichern und den Aufschwung der amerikanischen Wirtschaft zu ermöglichen. Das zeigte nicht zuletzt die Shays’ Rebellion von 1786 bis 1787 in Massachusetts, ein bewaffneter Aufstand der Kleinbauern und -bäuerinnen, die die große Last der Kriegsschulden zu tragen hatten. Diese Revolte be-

tionsartikel vorgesehen, mündete jedoch im Beschluss, eine völlig neue Verfassung zu entwerfen. Der schließlich zur Ratifizierung vorgelegte Verfassungsentwurf, welcher bis 1790 von allen 13 Bundesstaaten angenommen wurde, war von den Vorstellungen einer Gruppe von Männern geprägt, die, irreführenderweise und wohl auch zur Besänftigung ihrer KritikerInnen, unter dem Titel Federalists auftraten. Sie hatten eine Verfassung entworfen, die eine starke Zentralgewalt zulasten der Einzelstaaten vorsah und dadurch die Industrialisierung befördern sollte. Damit trafen sie auf den Widerstand der AntiFederalists, die in der Ausweitung der Landwirtschaft und Etablierung möglichst regionaler demokratischer Regierungsinstanzen die Zukunft der Union sahen. Um diese GegnerInnen, welche die Ratifizierung der neuen Verfassung vor allem auch im Bundesstaat New York gefährdeten, zu schwächen, verteidigten die Federalists, namentlich Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, ihren Entwurf in einer Serie von Artikeln unter dem Titel The Federalist Papers. Diese Artikel, die in verschiedenen New Yorker Zeitungen erschienen sind, können als Verfassungskommentare gelesen werden, die Rückschlüsse auf die Intentionen der Verfassungsautoren und dahinterliegende Interessen zulassen. Die drei Autoren entstammten jedenfalls der bürgerlichen Oberschicht und damit der herrschenden Klasse in der Union. Sie hatten als Unabhängigkeitskämpfer ihre politische Sozialisation erfahren und können als revolutionäre Konservative beschrieben werden, denen es als wesentliche Mitgestalter der Amerikanischen Revolution gerade nicht um die Umwälzung, sondern um den Erhalt der bestehenden Verhältnisse trotz veränderter Rahmenbedingungen ging und die sich der historischen Einmaligkeit der Ereignisse durchaus bewusst waren.

Aufstand und Ordnung Schon in der Präambel erschließt sich ein zentraler Zweck der Verfassung – das Ziel ist es, neben

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der Sicherung von Gerechtigkeit, ­Gemeinwohl und natürlich Freiheit, die innerstaatliche Ruhe zu garantieren („insure domestic Tranquility“) und damit Aufstände und Revolten, wie beispielsweise die Shays’ Rebellion, zu verhindern, wie Alexander Hamilton auch im neunten Federalist-Artikel mit Blick auf die gescheiterten 2 antiken Demokratien und Republiken betont. James Madison erläutert im anschließenden zehnten Artikel, die Wurzel dieser Aufstände, bei der eine Minderheit durch eine Mehrheit unterjocht wird, liege in der Bildung von Fraktionen und Interessensgruppen im Staat. Diese entsprängen wiede-rum hauptsächlich der ungleichen Verteilung des Privateigentums – die dadurch entstehenden Interessensgegensätze zwischen Besitzenden und Besitzlosen seien naturhaft, nicht zu beseitigen und müssen daher durch die Verfassung abgefedert werden. Dass Madison als Teil der Minderheit der Besitzenden eine Mehrheit der Land- und Besitzlosen fürchtet, liegt auf der Hand und wird bestätigt, wenn er etwa der Verfassung zuschreibt, dass sie den Furor „for an abolition of debts, for an equal division of property, or for any other improper or wicked project“ 3 verhindern könne. Auch Hamilton argumentiert in einem Federalist-Artikel in diesem Sinne, wenn er besorgt fragt, was geschehen wäre, wenn die Shays’ Rebellion vom Format eines Mannes wie Julius Cäsar oder Oliver­Cromwell angeführt worden wäre.4 Wie gelingt es nun, die Entstehung solcher, die bürgerliche Ordnung gefährdenden Mehrheiten zu verhindern und dennoch die Mitbestimmung der Bevölkerung zu ermöglichen? Die Federalists setzen im Verfassungsentwurf auf eine strikte und konsequente Gewaltenteilung mithilfe von sogenannten Checks and Balances, die eine gleichzeitige Inbesitznahme von Legislative, Exekutive und Judikative durch eine Fraktion verunmöglichen sollen und gegenseitige Kontrollen vorsehen. Darüber hinaus lasse – so die Federalists – die Größe der Union, die an sich bereits den Zusammenschluss von Gruppen mit ähnlichen Interessen erschwere, keine direkte Demokratie mehr zu. Der dadurch notwendige Modus einer Republik mit gewählten RepräsentantInnen helfe ebenfalls bei der Verhinderung bedrohlicher Mehrheiten. Insgesamt ermöglichte die amerikanische Verfassung die Wahrung der Interessen und des Eigentums der herrschenden Oberschicht und erleichterte die vollständige Durchsetzung des Kapitalismus, nicht zuletzt indem sie die Bür-

gerInnen der USA dazu befähigt, zu freien und gleichen PrivateigentümerInnen zu werden.5 Eine wesentliche Fortführung fand diese Politik schließlich bei Alexander Hamilton, der als erster­Finanzminister der Präsidentschaft George Washingtons die Basis für die Frühindustrialisierung in den USA schuf.6 Dennoch gilt es die Bedeutung und den Einfluss der Amerikanischen Verfassung nicht geringzuschätzen – beispielsweise die ersten zehn Zusatzartikel, die sogenannte Bill of Rights, die direkt nach der Verfassung in Kraft traten und die Grundrechte und Freiheit des/der Einzelnen wahren. Dabei ist jedoch das Scheitern des in der Verfassung enthaltenen, bürgerlichen Glücksversprechens der Aufklärung in der kapitalistischen Vergesellschaftung, dessen Zwang zur Kapitalverwertung das Glück des Individuums verunmöglicht, ein notwendiges.

Export in die ‚Alte Welt‘ Darüber hinaus ist es kein Zufall, dass mit dem Abschluss der für die Bourgeoisie siegreichen Amerikanischen Revolution 1789 durch die Inauguration George Washingtons als erster Präsident der USA das revolutionäre Feuer auf Frankreich übergriff. Nur um der Schwächung Großbritanniens willen hatte die absolutistische französische Monarchie die amerikanischen Kolonien im Unabhängigkeitskrieg unterstützt. Zehn Jahre später waren es zurückgekehrte französische Veteranen und der nach Macht strebende Adel, die das aus den USA importierte Vokabular der Freiheit und vor allem auch die Bewaffnung der Freiheit in der finanziellen Krise Frankreichs gegen diese richten sollten. Anmerkungen: 1 Dies sind die ersten drei Worte der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 2 Hamilton, Alexander, Federalist No. 9. The Federalist Papers. http://thomas.loc.gov/home/histdox/fed_9.html. 3 Madison, James, Federalist No. 10. The Federalist Papers. http://thomas.loc.gov/home/histdox/ fed_10html. 4 Hamilton, Alexander, Federalist No. 21. The Federalist Papers. http://thomas.loc.gov/home/histdox/ fed_21.html. 5 Gumperz, Julian, „Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems“. In: Horkheimer, Max (Hg.): Zeitschrift für Sozialforschung. Jahrgang 1, 1932. 6 Adams, Angela und Adams, Willi Paul, Die Federalist-Artikel. Paderborn 1994


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Land des unbegrenzten Eigentumsschutzes Michael Fischer

Dass in den Vereinigten Staaten von Amerika linke Parteien keine Rolle spielen, wird nur jene traurig stimmen, die Träume von der Wählbarkeit des Sozialismus hegen. Die USA haben sich stets resistent gegen den internationalen Faschismus gezeigt, und als eines der wenigen Länder, die­ das bürgerliche Glücksversprechen noch ernst nehmen, halten sie unfreiwillig auch die Bedingung der Möglichkeit des Kommunismus aufrecht.

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as Ziel der amerikanischen Verfassung und der auf ihr beruhenden Demokratie ist der Schutz des Privateigentums, also der bürgerlichen Ordnung. Da die Demokratie die adäquate Form politischer Herrschaft im Kapitalismus ist, gibt es auch keinen besseren Maßstab, diese zu messen. So gesehen ist die amerikanische Demokratie die ‚beste der Welt‘, hat sie sich doch im Lauf der Geschichte als resistent gegen Angriffe vonseiten des Systems feindlich gesinnten Mehrheiten erwiesen.

Gewaltenteilung und Privat­ eigentum Die Gründerväter erkannten die Gefahren für die bürgerliche Gesellschaft, die im Klassenkonflikt wurzelten. So sah James Madison im stark anwachsenden landlosen Proletariat eine potenzielle Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft: Dieses könnte sich zusammenschließen und seine Interessen im Staat durchsetzen. Die Gründerväter standen nun der Aufgabe gegenüber, eine Verfassung zu entwerfen, die das Privateigentum schützt und trotzdem die Wahl 1 der Regierung durch das Volk gewährleistet. Das bis ins kleinste Detail ausgeklügelte präsidentielle Wahlsystem der USA wurde das wichtigste Instrument zum Schutz der bürgerlichen Ordnung. Nicht nur die drei Gewalten sind darin institutionell voneinander getrennt, sondern selbst die Bestellungen von Legislative, Exekutive und Judikative erfolgen voneinander unabhängig. Der direkten Wahl des Kongresses, bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus, steht die durch die Electors vermittelte Wahl des / der PräsidentIn gegenüber, der / die wiederum seinerseits / ihrerseits die RichterInnen

(wenn in seiner / ihrer Amtszeit ein Todesfall eintritt) des Obersten Gerichtshofs auf Lebenszeit ernennt. Diese Ernennung muss jedoch 2 vom Senat bestätigt werden. Der spontanen Volksmeinung, die sich auch bei Wahlen bemerkbar machen könnte, ist es in den USA fast unmöglich, sich durchzusetzen. Dies ist nur ein Grund, warum der internationale Faschismus, im Gegensatz zum Rest der Welt, in den USA eine sehr marginale Rolle spielte. Das eigentliche demokratische Organ des amerikanischen Systems, das Repräsentantenhaus, wird alle zwei Jahre zu einem Drittel gewählt; der Senat als zweite Kammer der Legislative nur alle sechs Jahre. Eine spontane Volksmeinung müsste sich also mindestens sechs Jahre halten, um überhaupt die Mehrheit im Kongress zu behaupten. Von Spontaneität könnte dann aber keine Rede mehr sein. Dem Kongress stünden jedoch immer noch der/die alle vier Jahre gewählte PräsidentIn und die Obersten RichterInnen entgegen. Und selbst wenn sich eine spontan entstandene Volksmeinung sowohl des Kongresses als auch des/der PräsidentIn bemächtigen würde: Der Oberste Gerichtshof bliebe davon über Jahre hinweg unbeeinflusst. Gegenüber der schnell wechselnden Volksmeinung hat das präsidentielle System in den USA den längeren Atem.

Die Parteien – Funktion und ­Entstehung Wer die amerikanischen Parteien wirklich verstehen will, muss dies aus der Tradition der USA heraus tun. Die in Europa gebräuchliche Linksund Rechtseinteilung ist dafür meist unzulänglich. Auch wenn es gerade in den letzten Jahren zu einer Polarisierung der Präsidentschaftswahlkämpfe kam, müssen die USA als eine liberale Gesellschaft gesehen werden, in der beide maßgeblichen Parteien die zentralen Werte von Freiheit und Gleichheit vertreten.3 Denn die siegreichen Klassen der amerikanischen Revolution implementierten, wie sollte es anders sein, eine ihrem klassen­mäßigen Interesse entsprechende Verfassung, also eine strikt liberal-bürgerliche. Im Rahmen dieser Verfassung spielt sich auch die politische Auseinandersetzung der Parteien ab.4 Deren Hauptaufgabe ist es, die durch die Verfassung entstandene Trennung der Gewalten zu einer einheitlichen Staatsführung zusammenzuführen.5 Eine bestimmte Ideologie ist dabei nicht so wichtig. Die Parteien selbst sind nur lockere Bündnisse von Menschen, deren Ziel es ist, Wahlen zu gewinnen.6 Dies ist wohl auch der Grund für die in der Geschichte oft wechselnden Positionen der Parteien.

In Europa führten verschiedenste gesellschaft­ liche Konfliktlinien zur Herausbildung von Parteien. In den USA verhielt es sich nicht anders, doch die Probleme waren nicht annähernd so mannigfaltig wie auf dem ‚alten Kontinent‘. Dies hat seinen Grund in der damals leicht zu überschauenden klassenmäßigen Zusammensetzung der amerikanischen Gesellschaft, die aufgrund ihrer jungen Geschichte weitgehend frei von jenen Konfliktlinien blieb, die die bürgerliche Gesellschaft in Europa von ihren Vorgänger­epochen geerbt hatte. Bis ans Ende des 19. Jahrhunderts war die Hauptproblematik der USA die Umwandlung von einer landwirtschaftlich geprägten Ökonomie in eine indus­triell dominierte. Aufgrund des verfassungsmäßigen Rahmens, der relativen Mehrheitswahl und dieser wirtschaftlichen Entwicklung konnten sich lediglich zwei Parteien herausbilden, die jeweils einen der zwei miteinander konkurrierenden Flügel des Kapitals repräsentierten: die Interessenvertretung der Farmer, die sich im Rahmen des Kapitalismus gegen die Industrialisierung wandte, und die VertreterInnen einer kapitalistischen Modernisierung.7

Positionswechsel und eine neue Partei Mitte des 19. Jahrhunderts trat die Frage nach der Abschaffung der Sklaverei als neue Konfliktlinie auf. Die Republicans, eine neue Partei, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte, konnte davon profitieren. Dies war das letzte Mal in der Geschichte der USA, dass eine dritte Partei das Zweiparteiensystem aufbrechen konnte. Die erst Anfang der 1850er Jahre gegründete Partei stellte mit Abraham Lincoln bereits 1860 einen Präsidenten. Die Democrats und die Republicans konnten nach dem Bürgerkrieg nicht nur geografisch klar voneinander geschieden werden, sie vertraten auch die wirtschaftlichen Interessen dieser Gebiete. Die Democrats dominierten den Süden der USA und hielten es deshalb mit den FarmerInnen und den BefürworterInnen der Sklaverei. Diese Dominanz blieb bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aufrecht. Als sich die Democrats in den 1950er Jahren jedoch der BürgerInnenrechtsbewegung für die ‚Gleichstellung der Schwarzen‘ in den USA annäherten, fing diese Dominanz an zu bröckeln. Die Hochburgen der Republicans lagen bis Mitte des 20. Jahrhunderts dagegen im industrialisierten Norden. Bis zum New DealProgramm von Franklin D. Roosevelt ­waren die

Republicans aufgrund ihrer Rolle bei der Abschaffung der Sklaverei die Partei der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen. Gleichzeitig repräsentierten sie die älteren Einwanderungsströme und standen neuer Einwanderung ablehnend gegenüber, vor allem der katholischen. Diese neueren EinwanderInnen fanden ihre politische Heimat deshalb meist bei den Democrats. Die heutige Konstellation, in der die Republicans den Süden fest in ihrer Hand haben und von evangelikalen Gruppen unterstützt werden, ist eine Entwicklung, die erst 1980 durchbrochen wurde und die Vormacht der modernen Republicans innerhalb der Partei beendete.8

Sprung aus der Geschichte Schon dieser verkürzte Abriss der Geschichte der US-Parteien sollte deren Unvergleichbarkeit mit ihren europäischen Pendants verdeutlichen. Nicht so sehr ein bestimmtes Programm, sondern die gesellschaftlichen Tendenzen schlagen sich in der Ausrichtung der Parteien nieder. Doch diese Tendenzen entwickeln sich weltweit immer mehr in Richtung Barbarei. Auch wenn die USA in diesem Fall die größte Resistenzkraft aller bürgerlichen Gesellschaften aufweisen, sind sie davon auch nicht unberührt. Es bleibt zu hoffen, dass die Vereinigten Staaten noch so lange durchhalten, bis der Sprung aus dieser fatalen Entwicklung gelingt. Denn ohne bürgerliche Gesellschaft die das Glück verspricht, gibt es auch keine kommunistische Kritik, die die Unzulänglichkeit des Liberalismus aufdeckt, um eben jenes Glück doch noch zu verwirklichen. Anmerkungen: 1 Vgl. Julian Gumperz, „Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems“, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jahrgang 1 1932, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1980, S. 283. 2 Vgl. Anton Pelinka, Grundzüge der Politikwissenschaft, Wien 2004, S. 52–54. 3 Vgl. Fritz Plasser: Die amerikanische Demokratie, Wien 1997, S. 16 4 Vgl. Julian Gumperz, „Zur Soziologie des amerikanischen Parteiensystems“, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jahrgang 1 1932, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1980, S. 280. 5 Ebd. 6 Vgl. Thomas Greven: Die Republikaner. Anatomie einer amerikanischen Partei, München 2004, S. 23 7 Vgl. Gumperz 1980, S. 306. 8 Vgl. Thomas Greven, Die Republikaner. Anatomie einer amerikanischen Partei, München 2004, S. 23ff.

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Im Namen der Freiheit Lateinamerika wird heute gerne als Hinterhof der USA bezeichnet – eine Benennung mit System. Zuerst sollte der Einfluss europäischer Großmächte reduziert, später alles, was die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten gefährden könnte, verhindert werden. Von der Monroe- über die TrumanDoktrin bis zur Gegenwart stand die Sicherung ökonomischer Interessen im Vordergrund.

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m 2. Dezember 1823 hielt James Monroe, der fünfte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, eine Ansprache mit Folgen. In seiner Rede zur Lage der Nation legte er den Grundstein für die Außenpolitik der jungen USA. Kernpunkt war eine Ausweitung der Unabhängigkeitsbestrebungen auf den gesamten amerikanischen Kontinent. Auf der einen Seite sollten Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika unterstützt werden, auf der anderen Seite wurde die ,Nichtintervention‘ in europäische Konflikte postuliert. Sollten europäische Großmächte versuchen, ihre ehemaligen Kolonien militärisch zu besetzen, gäbe es für diese vorbehaltlos Unterstützung durch die USA. Im Gegenzug würden sich die USA nicht in innereuropäische Auseinandersetzungen einmischen. Eine Position, mit der auch die späten Eintritte in die beiden Weltkriege erklärbar wären. Die erste und für Lateinamerika wohl folgenreichste Erweiterung der Doktrin erfolgte durch den Präsidenten Theodore Roosevelt im Jahr 1904. Fortan dürfe kein Staat der Welt in einen militärischen Konflikt mit einem lateinamerikanischen Land geraten, einzige Ausnahme: die Vereinigten Staaten selbst. Ein Recht, das in den kommenden 100 Jahren mehrmals durchgesetzt wurde.

Kalter Krieg Mit Ende des Zweiten Weltkriegs trat der Konflikt mit der UdSSR in den Vordergrund. Am 12. März 1947 verkündete Präsident Harry S. Truman seine Vorstellungen der neuen USAußenpolitik. Er hielt fest, dass „[z]um gegenwärtigen Zeitpunkt der Weltgeschichte [...] fast jede Nation zwischen alternativen Lebensfor1 men wählen”  müsse. Als Verfechter der Demokratie sah Truman die Vereinigten Staaten. Auf

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der anderen Seite stand für ihn die Sowjetuni2 on, die sich auf „Terror und Unterdrückung“  stütze. Aus dieser Position entstanden die vielen weltweiten Interventionen gegen sozialistische/ kommunistische Bewegungen und die bekannten Stellvertreterkriege des Kalten Krieges. Bei der Bekämpfung der zuvor genannten Bewegungen wurde oftmals nicht davor zurückgeschreckt, brutale und undemokratische Kräfte miteinzubeziehen. Neben Südostasien und Afrika stand vor allem Lateinamerika im Blickpunkt des Interesses der USA. Die Gefahr von Veränderungen im eigenen Hinterhof musste um jeden Preis verhindert werden. Um US-treue Regierungen in Lateinamerika bei der Machterhaltung zu unterstützen, wurde 1946 die School of the Americas­ gegründet, eine Ausbildungsbasis für Spezialeinheiten des lateinamerikanischen Militärs. Neben der klassischen Aufstandsbekämpfung wurden dort auch Foltermethoden erlernt, die vor allem in der Zeit der Militärdiktaturen angewendet wurden. Heute steht der sogenannte ,Kampf gegen den Terror‘ im Mittelpunkt der US-amerikanischen Außenpolitik. Dennoch wird nach wie vor versucht, starken Einfluss auf lateinamerikanische Länder zu nehmen. So finanziert etwa der staatliche Fonds National Endowment for Democracy (NED) rechtsgerichtete Parteien in ganz Lateinamerika; auch die Central Intelligence Agency (CIA) ist in der Region nach wie vor sehr aktiv. So unterstützte diese etwa die Putschversuche in Venezuela 2002.

Laurin Rosenberg

galt bis dahin als Paradies für US-amerikanische Tourist*innen, waren doch Glücksspiel und Prostitution dort erlaubt. Während sich Tourist*innen ,austoben‘ konnten, lebte der Großteil der Bevölkerung in bitterer Armut. Dies änderte sich nach der Revolution: US-Firmen wurden verstaatlicht, Glücksspiel und Prostitution verboten. Schließlich kam es 1961 zum Versuch, die neue Regierung wieder zu stürzen. Eine Gruppe von Exilkubaner*innen versuchte in der Schweinebucht eine Invasion durchzuführen und scheiterte. Die Gruppe wurde zuvor von der CIA ausgebildet und bekam auch militärische Unterstützung von der US Air Force, die zur Vorbereitung kubanische Flughäfen bombardierte. Seit der Kubakrise 1962 ist Kuba einem Wirtschaftsembargo der USA ausgesetzt. Es ist fast zur Tradition geworden, dass die UNGeneralversammlung – beinahe einstimmig – die US-Regierung vergeblich auffordert, das Embargo aufzuheben. Die kubanische Regierung hat 2006, auch wenn dies schwer zu berechnen ist, die Schäden aus den Folgen des Embargos mit 89 Milliarden US-Dollar festgesetzt.

Neoliberaler Faschismus

Der Sozialist Salvador Allende wurde 1970 in Chile zum Präsidenten gewählt. Sein Parteienbündnis, die Unidad Popular, ein breiter Zusammenschluss linker Parteien und Basisorganisationen, schaffte es innerhalb weniger Jahre, einem großen Anteil der Bevölkerung, allen voran den Armen in den Städten und den gewerkschaftlich gut organisierten Bergarbeiter*innen, neues Selbstbewusstsein zu geben. Mit einer Beispiel Kuba gemeinsamen großen Bewegung könnten ArEin gutes Beispiel für die Politik um 1900 fin- mut und Entrechtung der Vergangenheit andet sich in Kuba. Als Folge des Spanisch-­ gehören, so die Hoffnung. Kinder bekamen Amerikanischen Krieges 1898 wurde Kuba von fortan Gratismilch, Bildung sollte allen zugute der spanischen Kolonialherrschaft befreit. In ei- kommen, die natürlichen Ressourcen des Lannem Zusatzvertrag zur neuen kubanischen Ver- des, vor allem die Kupferproduktion, wurden fassung von 1902, dem Platt Amendment, wurde verstaatlicht. Während die Reformen Wirkung den USA das Recht zugesichert, in Kuba zu in- zeigten und sich immer größere Teile der Betervenieren, sollte eine Gefährdung US-ameri- völkerung in und um die Unidad Popular orkanischer Interessen oder US-amerikanischen ganisierten, war die Regierung Allende in der Eigentums vorliegen. Weiters wurden zum Teil Oberschicht verhasst. Schließlich kam es am große Landflächen durch die US-Regierung ge- 11. September 1973 zu einem Putsch. Der Oberkauft, die als Militärbasen verwendet wurden. befehlshaber des Militärs, Augusto Pinochet, Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Marine­ probte gemeinsam mit dem größten Teil des basis Guantanamo Bay, die in den letzten Jah- Militärs den Aufstand und setzte sich an die ren als Gefangenenlager traurige Berühmtheit Spitze der neuen Regierung. Allende und Tausende seiner Mitstreiter*innen wurden umgeerlangt hat. Nach dem Sieg der Rebell*innenarmee rund bracht und eingesperrt. In den folgenden Jahren um Fidel Castro 1959 wurde bald klar, dass die entwickelte sich Chile zum Experimentierfeld neue Regierung eine andere Linie gegenüber neoliberaler Wirtschaftsreformen. Staatliche den Vereinigten Staaten fahren würde. Kuba Unternehmen und Bildungseinrichtungen wur-

den privatisiert. Gepaart mit der Terrorherrschaft Pinochets etablierte sich ein neoliberaler Faschismus – mit Unterstützung der Vereinigten Staaten. Auch in Honduras und Paraguay wurden 2009 und 2012 linke Staatschefs abgesetzt. Sowohl Manuel Zelaya in Honduras als auch ­Fernando Lugo in Paraguay versuchten mit Sozialprogrammen die Armut in ihren Ländern zu bekämpfen und gerieten immer wieder in Konflikt mit der USamerikanischen Politik. Insbesondere die geplante Amerikanische Freihandelszone (ALCA) war der lateinamerikanischen Linken ein Dorn im Auge. Im Gegensatz zur (bisher nicht gegründeten) ALCA kooperierten die Regierungen Zelaya und Lugo mit dem alternativen, von Kuba und Venezuela gegründeten, Staatenbündnis Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA). Die Rolle der US-Administration ist in beiden Fällen noch nicht endgültig geklärt, offensichtlich gab es aber zumindest Interesse an eine Änderung der Politik in den beiden Ländern. Wie die diversen Beispiele zeigen, stand bei der US-Außenpolitik gegenüber Lateinamerika stets ein Aspekt im Vordergrund: der ökonomische. So wurde schon 1823 festgehalten, dass Freihandelsabkommen zwischen den USA und lateinamerikanischen Staaten ein mittelfristiges Ziel wären. So könnten Ressourcen im Süden abgebaut und in den USA weiterverarbeitet werden: eine Linie, die sich bis heute hält. Waren es ursprünglich Rohstoffe wie Zucker, Kakao oder Tabak, sind es heute vor allem seltene Metalle und Erdöl sowie Erdgas. Am Beispiel Kuba wird ersichtlich, dass die ökonomische Freiheit dort endet, wo die Interessen US-amerikanischer Firmen in Gefahr sind. Die Idee, Demokratie und Selbstbestimmung zu fördern, galt wohl in den meisten Fällen als Lippenbekenntnis. Hat sich ein demokratischer Staat gegen die USA gestellt, wurde nicht lange gefackelt, um die unliebsamen Regierungen abzusetzen und durch US-treue zu ersetzen. Anmerkungen: 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Truman-Doktrin 2 Ebd. Literaturhinweise: Alvarado Leyton, Cristian (Hg.), Der andere 11. September, Westfälisches Dampfboot, Münster: 2010. Boris, Dieter, Lateinamerikas Politische Ökonomie, VSA, Hamburg: 2009. Galeano, Eduardo, Die offenen Adern Lateinamerikas­, Hammer, Wuppertal: 2008. Golinger, Eva, Kreuzzug gegen Venezuela, Zambon, Frankfurt am Main: 2006.


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Mit und gegen Amerika Über die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 1945

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er US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt hatte noch im August 1944 seinem Verteidigungsminister Henry Stimson erläutert: „Äußerst wichtig ist, dass jeder Deutsche begreift, dass Deutschland diesmal ein besieg1 ter Feindstaat ist.“  Um das zu gewährleisten, sollte sich ihr Komfort nach Kriegsende darauf beschränken, „dreimal täglich Suppe aus der Feldküche“ zu bekommen. Daraus wurde bekanntlich nichts: Schon 1946 verkündete USAußenminister James Byrnes, die Amerikanerinnen und Amerikaner würden den Deutschen dabei helfen, ihren „ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt 2 zurückzugewinnen“  , den sie in Wirklichkeit natürlich niemals innehatten. Die deutsche Außenpolitik verfolgte nach 1945 immer das Ziel einer Revision der von den Alliierten errichteten Nachkriegsordnung, damit ein wieder erstarktes Deutschland den trotz der Niederlage erzielten Kriegsertrag ungeschmälert genießen könne. Dieses Bestreben wurde jahrzehntelang von der Auseinandersetzung zwischen den spätkapitalistischen Demokratien mit den USA als Führungsmacht und dem autoritären Staatssozialismus überlagert. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen blieben bis zur Wiedervereinigung in die Konfliktlinien des Kalten Krieges eingebettet. Immer wieder waren partielle Anpassungen der deutschen Politik an die Veränderungen im USamerikanischen Vorgehen gegenüber den Warschauer-Pakt-Staaten notwendig. Aufgrund der beschränkten Souveränität angesichts der militärischen Abhängigkeit und vor dem Hintergrund der ökonomischen Verflechtungen waren die deutsch-amerikanischen Beziehungen für die BRD zentral. Die amerikanisch-deutschen hingegen waren für die USA zwar wichtig, aber bei Weitem nicht im gleichen Ausmaß wie für die Bonner Politik. Der Marshallplan hat die Außenbeziehungen der BRD schon in ihrer Gründungsphase unabhängig von den Vorlieben der deutschen Politik mit den Interessen der USA verknüpft. Die Westbindung der BRD war für Washington Teil einer Strategie eines double containment, zum einen gegenüber der Sowjetunion, zum anderen gegenüber einem Wiederaufleben des Nationalsozialismus. Aus der Sicht der USA war die doppelte Eindämmung etwa 1955 erreicht. Zugleich nahm die Bedeutung der vom besiegten Feindstaat über den Status eines besetzten Verbündeten zum geförderten Frontstaat im Kalten Krieg mutierten Bundesrepublik für die US-Politik ab.

Die Entwicklungen in den nachfolgenden Jahrzehnten waren von einer Gleichzeitigkeit von Konfrontation und Kooperation geprägt. In der deutschen Bevölkerung existierten sowohl antiamerikanische Ressentiments als auch unreflektierte Amerika-Begeisterung. Ab 1966 verblasste das positive Bild, das die Mehrheit der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in einer merkwürdigen Mischung aus Verachtung und Bewunderung für die überlegene Siegermacht von Amerika hatte. Die Ausgaben für den Vietnamkrieg hatten in den USA massive Sozialkürzungen zur Folge. Diese führten zu Massenunruhen in den Armenvierteln, welche in der BRD als Beleg dafür genommen wurden, dass ein ‚völkisch homogenes‘ Staatsvolk wie in Deutschland dem ‚Rassengemisch‘ der US-Gesellschaft hinsichtlich Stabilität und ‚Gemeinschaftsfähigkeit‘ eben doch haushoch überlegen sei. 1966 wurden erstmals größere Einheiten der US-Army aus der BRD abgezogen, was in Bonn die Sorge schürte, die USA könnten unabhängig von Deutschland einen Ausgleich mit der Sowjetunion anstreben. Gesellschaftlich artikulierte sich zunehmend eine Ablehnung der US-amerikanischen Kriegsführung in Vietnam – trotz eines in den 1960er Jahren weiterhin mehrheitsfähigen militanten Pro-Amerikanismus, der sich insbesondere für die antikommunistische Gewalt der USA begeisterte.

Reagan bei der SS In den 1980er Jahren führte Helmut Kohl seinen amerikakritischen Parteifreundinnen und Parteifreunden wiederholt vor, wie man die USA zur Durchsetzung der eigenen Ziele ins­ trumentalisieren kann; beispielsweise während des gemeinsamen Besuchs von Kohl und Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg. Der US-Präsident wollte bei seiner Deutschland-Visite 1985 ursprünglich die KZGedenkstätte in Dachau besuchen, was von der Kohl-Administration als unpassend abgelehnt wurde. Die deutsche Regierung hat Reagan zur Visite in Bitburg, wo neben Vernichtungskriegern aus der Wehrmacht auch Angehörige der Waffen-SS begraben liegen, geradezu genötigt. In den USA löste die Bitburg-Visite einen Sturm der Entrüstung aus: Reagan wurde von jüdischen Organisationen, Veteranenverbänden, beiden Häusern des Kongresses und dem Großteil der Medien scharf kritisiert. In 20 Städten fanden Protestdemonstrationen statt. In der BRD hingegen sprachen sich 72% der Bevölkerung für die Ehrung der Nazikrieger aus,3 die Illustrierte Quick informierte über „Die Macht der Juden“, und Regierungssprecher Peter Boenisch polterte angesichts der amerikani-

Stephan Grigat

schen Forderung, zusätzlich zum Soldatenfriedhof wenigstens auch die Gedenkstätte in Bergen-Belsen zu besuchen: „Das ist ja das Letzte, dass man auch 40 Jahre nach Kriegs­ende durch KZs laufen muss.“ 4 Der US-Soziologe Moishe Postone richtete damals einen offenen Brief an die deutsche Linke, der aber offensichtlich nie angekommen ist: Den proamerikanischen Atlantizismus der deutschen Konservativen charakterisierte er als eine bequeme Form, die BRD als normale Demokratie erscheinen zu lassen, ohne sich der NS-Vergangenheit zu stellen. Den Antiimpe­ rialismus der Linken dechiffrierte er angesichts dessen, dass „Hunderttausende bereit sind, gegen den amerikanischen Imperialismus zu demonstrieren, und nur ein paar Hundert gegen 5 die Rehabilitation der Nazi-Vergangenheit“  , als plumpen Antiamerikanismus und alternative Form der Schuldabwehr.

„Partners in leadership“ und der „deutsche Weg“

zu sehen ist, von dem spätestens seit dem Zerwürfnis zwischen Washington und Berlin anlässlich des Irakkriegs wieder ganz offen die Rede ist. Anmerkungen: 1 Zit. nach Ulrich Bröckling, „Zwischen Hitler und Adenauer. Vergessen, Verleugnen, Wegarbeiten in einer Zeit ohne Führer“, in: Kritik und Krise. Materialien gegen Politik und Ökonomie, Nr. 6, 1993, S. 50ff. 2 Zit. nach Thomas A. Schwartz, „No harder enterprise. Politik und Prinzipien in den deutsch-amerikanischen Beziehungen 1945–1968“, in: Detlef Junker (Hg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945 bis 1990. Bd. 1, 1945–1968. Stuttgart/München 2001, S. 60f. 3 Vgl. Max Müntzel, „Von Bitburg nach Berlin“, in: Bahamas, Nr. 10, 1993 , S. 29. 4 Zit. nach ebd., S. 28. 5 Moishe Postone, „Bitburg. 5. Mai 1985 und danach. Ein Brief an die westdeutsche Linke“, in: ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg im Breisgau 2005, S. 56.

Die entscheidende Zäsur in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 1945 war die Wiedervereinigung. Erst das Ende der alliierten Vorbehaltsrechte ermöglichte es dem postnazistischen Deutschland, einen neuen Anlauf zur Weltmacht zu nehmen, der sich ebenso zwangsläufig in einem immer offeneren Antisemitismus äußern wie er sich letztlich gegen die USA wenden musste. Die Durchsetzung der Wiedervereinigung folgte jedoch dem bewährten Muster. Die Deutschen erreichten ihre Ziele mit Unterstützung der USA. Die USA gewährten diese Unterstützung, da die deutschen Absichten zum einen partiell mit den eigenen Interessen übereinstimmten. Zum anderen wollte man an einer aktualisierten Form des double containment festhalten. Im Mai 1989 verwendete George Bush mit Blick auf das zukünftige deutsch-amerikanische Verhältnis die Formulierung „partners in leadership“, brüskierte damit die britische Regierung und versetzte die Deutschen in Euphorie. Der Grund für die US-amerikanische Unterstützung der Wiedervereinigung ist aber nicht in einer Begeisterung für das ,Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes‘ zu finden, sondern in erster Linie in dem Versuch, die Sowjetunion endgültig zu erledigen. Deutschland strebt seit 1945 in Koopera­tion und in Konkurrenz mit den USA seine Wiederherstellung als Weltmacht an. Auf dem Weg dorthin hat sich das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz mit den USA deutlich verschoben, was nicht zuletzt an jenem eigenständigen ,deutschen Weg‘ in der Weltpolitik

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Der pathologische Anti­ amerikanismus der Linken

Claudia Aurednik

Die Palette der propagierten ,lin- der sich äußerte, war der Historiker und selbst von autoritären K-Gruppen, die sich an China ken‘ antiamerikanischen Ressen- ehemalige 68er-Aktivist Götz Aly. In seinem oder der Sowjetunion orientierten, verbreitet. Buch Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zu- Schon damals äußerte sich das Ressentiment timents ist groß. Denn immerhin rück kritisiert er die antidemokratischen und gegen die USA durch ihren Slogan „USA – SA gelten die USA im Jargon der reaktionären Traditionslinien der 68er und ver- – SS“. Eigentlich sollte dies ein absolutes Noselbst ernannten AntiimperialistIn- gleicht diese mit der Generation von 1933 – je- Go für die Nachfahren Nazideutschlands sein. Jahr, in dem Adolf Hitler in Deutschland Doch spätestens mit der Auflösung der APO nen ja als die „Führungsmacht des nem an die Macht kam. Das Buch wurde von der Öf- setzten sich nur noch wenige Linke tiefergekapitalistischen Imperialismus, der fentlichkeit und Fachwelt heftig kritisiert. Doch hend mit der Nazivergangenheit Deutschlands seine Kulturlosigkeit den Völkern im Hinblick auf den Antiamerikanismus und auseinander. Zum Feindbild Nummer eins zählIsraelhass der Roten Armee Fraktion (RAF) ten während der 1970er und 1980er Jahre innerohne Rücksicht aufoktroyieren den sowie sämtlicher antiimperialistischer Kommu- halb der linken Szene also nicht Nazideutschmöchte“ 1. Dabei übersehen jene nistischen Kadergruppen (K-Gruppen) trifft er land, sondern die USA und Israel. Eine Form der nur allzu gerne, dass die deutsch- ins Schwarze. Dies sind Problemfelder, die von Projektion, um sich nicht mit der eigenen Gemeisten Linken bis heute verdrängt oder re- schichte auseinandersetzen zu müssen. sprachigen Linken eigentlich von den lativiert werden. den USA und deren ZivilgesellAntiimperialistischer Kad(av)er­ schaft stark geprägt wurden. Radikales Amerika gehorsam

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issen Sie, was die 68er und die Studierendenproteste ausgelöst hat?“, fragte mich Wolfgang Wippermann, Geschichtsprofessor an der FU Berlin, bei einer Nachbesprechung zu einem Hauptseminar im Herbst 2008. Ich überlegte und antwortete: „Ich denke, dass das der Vietnamkrieg war. Und natürlich der Protest gegen die alten Nazis in den Institutionen der Bundesrepublik.“ Wippermann lächelte. „Also primär war das die Musik und die ganze Protestbewegung, die aus den USA rüber nach Europa gekommen war.“ Dann musste auch ich lächeln, denn so unverblümt hatte ich das noch nie aus dem Mund eines Zeitzeugen der 68erBewegung gehört. Aber Wippermann hatte natürlich recht. Die Hippies, Beatniks, der Jazz und die Rockkultur als politischer Ausdruck eines Lebensgefühls waren in den USA entstanden. Damit verbunden war die Sehnsucht nach einer neuen, freieren Gesellschaft. In der damaligen verstaubten und mit Nazimief überzogenen bundesdeutschen Gesellschaft hatte dieses Lebensgefühl im positiven Sinn die Verhältnisse ,zum Tanzen‘ gebracht. Das Jahr 2008 war das Gedenkjahr der 68erBewegung in Berlin. Im Willy-Brandt-Haus war eine Fotoausstellung zu sehen, im Ephraim-Palais des Stadtmuseums Berlin und im Amerikahaus liefen Ausstellungen mit programmatischen Titeln wie Berlin 68. Sichten einer Revolte und 68-Brennpunkt Berlin. Es wurden Vorträge und Lesungen mit damaligen ProtagonistInnen abgehalten – wobei die männlichen Vertreter deutlich in der Überzahl waren. In Kinos flimmerten Dokus über Rudi Dutschke, die Kommune 1 und die Anti-Schah-Demonstration über die Leinwand. Kurzum: Die 68er-Generation feierte sich selbst. Viele jüngere Menschen beteuerten, wie schade es doch sei, damals nicht dabei gewesen zu sein. In jenem Jahr wurden aber auch kritische Stimmen laut. Einer,

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Bommi Baumann und Till Meyer waren während der 1970er Jahre Mitglieder der Bewegung 2. Juli, die sich nach eigenen Angaben als „proletarischer Teil der damaligen Stadtguerilla“ sah. In ihrem Buch Radikales Amerika aus dem Jahr 2008 setzen sie sich mit der amerikanischen Protestkultur auseinander. Darin wehren sie sich gegen den Vorwurf, antiamerikanisch gewesen zu sein, und heben den positiven Einfluss der USA auf die 68er-Generation hervor. Im Hinblick auf die USA und den Rassismus gegenüber der afroamerikanischen Community merken die beiden Folgendes an: „Von Amerika konnte man lernen, da es, indem es dieses Problem offen ausgesprochen und die öffentliche Auseinandersetzung gesucht hatte, Veränderungen herbeigeführt hat. Es hat eben nicht die Zustände verharmlost, ignoriert oder negiert. Man muss sich dabei vor Augen führen: Im Amerika der 30er- und 40er-Jahre war der Ku-Klux-Klan vier Millionen Mitglieder stark. Heute zählt er nur noch ein paar Hunderttausend, in einer Zeit, in der jemand wie Barack Obama als erster schwarzer Präsidentschaftskandidat 2008 eine echte Chance hat, Präsident zu werden.“ In jenem ,68er-Revival-Sommer‘ machte ich im Archiv für Außerparlamentarische Opposition und Soziale Bewegungen ein Praktikum. Unter anderem sollte ich die Flugblätter sämtlicher Politgruppen an der FU Berlin aus den Jahren 1967 bis 1970 thematisch sortieren. Schon am ersten Tag wurde mir bewusst, dass die 68er-Bewegung ein Sammelsurium an Weltbildern und Ideologien umfasste. Beim Sortieren der Flugblattsammlung stellte ich fest, dass bis zum Jahr 1968 auf den Flugblättern Begriffe wie „Happening“, „Go-in“ und „Teach-in“ zu finden waren Aktionsformen, die viele Gruppen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) aus den USA übernommen hatten. Der Antiamerikanismus im Sinne einer über den Vietnamkrieg hinausragenden Kritik wurde damals primär

Die AktivistInnen der ehemaligen APO gingen verschiedene Wege. Manche versuchten durch einen ,langen Marsch durch die Institutionen‘ die Gesellschaft zu verändern. Einige schlossen sich dem – im damaligen Jargon – ,bewaffneten Kampf ‘ von Gruppen wie der RAF an, die nach der Logik ,Mensch oder Schwein‘ eine blutige Spur durch die Bundesrepublik zogen. Einige Hunderttausende gingen nach der APO-Zeit in autoritäre dogmatische Politgruppen mit sektenartigen Strukturen – wie beispielsweise den Kommunistischen Bund (KB) oder die Kommunistische Partei Deutschlands / Aufbauorganisation (KPD/AO). Statt eines ,Hearings‘ oder ,Go-ins‘ standen nun Zentralkomitee-Sitzungen und Kad(av)ergehorsam auf der Tagesordnung. Arbeiterchöre und Ernst Busch anstelle von Woodstock und Bob Dylan. Happenings und Aktionismus wurden als bourgeoise Auswüchse kleinbürgerlicher Linker gebrandmarkt. Und das, obwohl die Mehrzahl der damaligen K-Gruppen-Gurus aus genau jenen Verhältnissen stammten. Zielstrebig wurde im maoistischen Stil Israel als „Brückenkopf der USA“ tituliert, und die USA wurden als kulturlos und als „Hort des kapitalistischen Imperialismus“ gebrandmarkt. Als linker Chic galt es damals auch, sich mit den verschiedensten ,Nationalen Befreiungsbewegungen‘ solidarisch zu erklären. Dabei spielte es keine Rolle, ob diese links oder progressiv waren – wichtig war nur, dass jene gegen das „Imperium USA“ und „USrael“ kämpften. Und so kam es, dass selbst Jahre nach der Glanzzeit der K-Gruppen viele Linke ganz selbstverständlich Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein verteidigten. Bis heute sind stupide Slogans wie „USrael“ und Verschwörungstheorien von der „amerikanischen Ostküste“ innerhalb der linken Szene existent. Dasselbe Vokabular lässt sich übrigens auch bei Rechtsradikalen und IslamistInnen finden. Doch scheinbar haben viele der so-

genannten linken AntiimperialistInnen damit kein Problem. Denn wie ist es sonst erklärbar, dass jene fanatisch Hisbollah-Fahnen schwenken, sich mit dem Iran und Mahmud Ahmadinedschad solidarisch erklären, palästinensischen SelbstmordattentäterInnen huldigen, Verständnis für al-Qaida zeigen und verklärt von der radikalislamistischen Hamas als sozialer Bewegung träumen? Ist das mit den Werten von ‚Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit / Schwesterlichkeit‘ vereinbar? Mitnichten. Vielleicht haben auch so manche der ,Linken‘ nach den Anschlägen von 9/11 und nach der Ermordung des US-Botschafters in Libyen am elften Jahrestag der Anschläge gejubelt. Ich würde es ihnen in ihrem pathologischen Amerikahass durchaus zutrauen.­ Shame on you! Anmerkung: 1 Diese und weitere Zitate stammen aus dem Archivmaterial, das die Autorin im Rahmen ihres Praktikums gesichtet hat. Literaturhinweise: Dan Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments. 3. Auflage. Ullstein Heyne List. München 2002. 20,– EUR Hahn Michael (Hg.): Nichts gegen Amerika. Linker Antiamerikanismus und seine lange Geschichte. Konkret Literaturverlag. Hamburg 2003. 15,– EUR Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre. Rotbuch. Berlin 2012. 19,95 EUR Andrei S. Markovits: Amerika, dich haßt sichs‘s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa. Konkret Literaturverlag. Hamburg 2004. 15,– EUR Tilman Tarach: Der ewige Sündenbock. Heiliger Krieg, die „Protokolle der Weisen von Zion“ und die Verlogenheit der sogenannten Linken im Nahostkonflikt. 3. Auflage. Edition Telok. Freiburg 2010. 19,80 EUR Internet: Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich: http://www.gegendenantisemitismus.at/texte.php DÖW: „Antiamerikanismus als Gebot der Stunde“, http://www.doew.at/frames.php?/projekte/rechts/ chronik/2004_09/demo.html Rote Ruhr Uni: Fabian Kettner „Elemente des Antiamerikanismus“: www.rote-ruhr-uni.com/cms/Elementedes-Antiamerikanismus.html


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Wahlkampf für Obama Warum österreichische Medien Cowboy-Journalismus alles andere als objektive BerichtHoffmann-Ostenhof mag mit der Schamloerstattung betreiben. sigkeit, selbst religiöse Bigotterie nicht weiter

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s gebe „hundert gute Gründe, […] nicht republikanisch zu wählen. Der Glaube des […] konservativen Kandidaten ist wohl der geringste“, erklärte der langjährige profil-Außenpolitikchef Georg Hoffmann-Ostenhof im vergangenen November. Hoffmann-Ostenhof weiter: „Und dennoch: Führt sein Mormonentum Romney tatsächlich in eine Niederlage gegen Barack Obama – Grund, sich ernsthaft zu 1 kränken, wäre das wohl nicht.“  Als Hoffmann-Ostenhof damals die Werbetrommel für Barack Obama rührte, war in der medialen Öffentlich kein Protest zu vernehmen – vice versa wäre eine ähnliche Aussage wohl nicht möglich.

schlimm zu finden, wenn sie nur dem Wahlsieg Obamas zugutekomme, ein Extremfall sein, in seiner unverhohlenen Parteinahme für den regierenden Präsidenten gegen dessen republikanischen Herausforderer liegt er aber voll im Trend. Wird in österreichischen Medien der amerikanische Wahlkampf thematisiert, so hat man es in aller Regel nicht mit ausgewogener Berichterstattung zu tun, sondern mit einseitiger Wahlpropaganda zugunsten des Amtsinhabers. Dahinter steckt eine spätestens aus den Jahren der Präsidentschaft George W. Bushs stammende Überzeugung, die zugespitzt in etwa so aussieht: Bei den heutigen Republicans handelt es sich um eine mehr oder minder verrückte Bande wildgewordener ExtremistInnen, WaffenlobbyistInnen und LakaiInnen im Dienste von Wall Street und Großkapital, die alles daran setzen, der politischen Lichtgestalt Obama keinerlei Erfolge zu gönnen und ihn um jeden Preis aus dem Amt zu jagen. Dementsprechend sieht auch die Berichterstattung über den republikanischen Präsidentschaftskandidaten aus. Egal, was Mitt Romney macht, hierzulande ist nur von „Fettnäpfchen“, „Patzern“ und „Ausrutschern“ die Rede. Das müsse so sein, analysierte Christian Ultsch, eine der wenigen Ausnahmen vom Obama bejubelnden Medienmainstream, in der Presse. Romney habe einfach „tollpatschig und dumm zu sein. So will es das Klischee vom tumben CowboyPolitiker, das europäische Medien geradezu 2 zwanghaft reproduzieren.“

Ein ‚Patzer‘ nach dem anderen? In manchen Fällen agierte Romney tatsächlich alles andere als glücklich. So etwa, als er bei einer geschlossenen Wahlkampfveranstaltung vor über 47% der AmerikanerInnen sprach, die auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen seien, keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernähmen und für ihn unerreichbar wären, weil sie ohnehin Obama wählen würden. Für einen Politiker war das mit Sicherheit ungeschickt, aber ähnlich abfällige Aussagen sind auch von Präsident Obama in der Vergangenheit getätigt worden, ohne vergleichbare mediale Häme hervorzurufen. Im Wahlkampf 2008 hatte er etwa seine Probleme beim Stimmenfang unter ArbeiterInnen in manchen Gegenden Amerikas mit der Bemerkung kommentiert, es handle sich um frustrierte Men-

Florian Markl

schen, die sich in ihrer Verbitterung eben an AusländerInnenfeindlichkeit, Waffen und Religion klammern würden. In anderen Fällen werden Bemerkungen Romneys als Ausrutscher qualifiziert, obwohl an ihnen nichts großartig Skandalöses zu finden war. Ende Juli geriet der mediale Blätterwald beispielsweise in Wallungen, weil Romney es während einer Israelreise gewagt hatte, Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates zu bezeichnen – mit diesem Fauxpas, so war allerorten zu lesen, habe er die PalästinenserInnen ‚empört‘ und ‚provoziert‘. Dass folgerichtig auch jede einzelne Ausgabe des Fischer-Weltalmanachs als Beleidigung palästinensischer Befindlichkeiten betrachtet werden müsste, blieb im genüsslichen Schwelgen über den Romney‚Patzer‘ unbemerkt. Dabei war dessen Bemerkung mitnichten eine weitere ‚Panne‘, sondern ein politisches Statement gegen die amtierende US-Administration: Noch im Wahlkampf 2008 hatte der damalige Kandidat Obama von Jerusalem als israelischer Hauptstadt gesprochen, die nie wieder geteilt werden dürfe, nur um seitdem von dieser Position immer weiter abzurücken – mittlerweile verfallen SprecherInnen des Weißen Hauses und des US-Außenministeriums nur mehr in peinliches Stottern, wenn sie auf Pressekonferenzen nach dem Namen der israelischen Hauptstadt gefragt werden. Für „Erzürnung“ bei PalästinenserInnen (und österreichischen JournalistInnen) sorgte Romney auch, als er im September erklärte, auf absehbare Zeit sei eine Lösung des israelischpalästinensischen Konflikts kaum vorstellbar, da die PalästinenserInnen kein Interesse an einem Friedensschluss hätten und nach wie vor dem politischen Ziel einer Zerstörung Israels 3 anhingen. „Romney schießt sich ins Knie“  , kommentierte Der Standard Romneys leider nur allzu realistische Beurteilung der Lage im Nahen Osten. Und während angesichts der Angriffen auf die amerikanischen Botschaften in Ägypten und Libyen sowie der Ermordung von US-Botschafter Christopher Stevens in Bengasi am 11. September gerade die letzten kläglichen Überreste der Nahostpolitik von Präsident Obama zusammenbrachen, fühlte sich das in Lachsrosa gehaltene Blatt bemüßigt, über dessen Kontrahenten zu urteilen: „Der Republikaner macht in der Außenpolitik seit Monaten eine miserable Figur.4“.

Die Sache mit Romneys Steuern Zu den Berichten über Romneys vermeintliche „Patzer“ und „Pannen“ gesellen sich schließ-

lich noch tendenziöse Berichte über seine Person. Wenn schon die jahrelang eingeübten Warnungen vor dem gefährlichen Einfluss der Evangelikalen auf die RepublikanerInnen in dem Moment an Schlagkraft verloren, als diese ausgerechnet einen Mormonen und einen Katholiken zum Kandidatenduo für die Präsidentschaftswahlen nominierten, kann man ja immer noch persönlich werden. Besonders beliebt ist dabei die Frage, wie steuerlich privilegiert der, wie immer wieder betont wird, Multi-Millionär Romney nicht sei. Immer wieder ist von den vermeintlich skandalös niedrigen 13 bis 15% Steuern die Rede, die er, der ja keine Ahnung von den Problemen ‚normaler‘ Menschen habe, nur bezahlen müsse. Einzig Die Presse machte sich hierzulande bisher die Mühe, dem Rätsel hinter diesen Zahlen auf den Grund zu gehen:5 Der Großteil von Romneys Einkommen sind Gewinne aus Investments, die in der Tat nur mit 15% besteuert werden. Dabei wird aber stets verschwiegen, dass diese Gelder von Firmen stammen, deren Gewinne vor der Ausschüttung von Dividenden bereits mit einer 35-prozentigen Körperschaftssteuer belegt wurden. Die niedrige Einkommenssteuer, die Romney immer wieder vorgeworfen wird, ist in Wahrheit also nur die eine Hälfte der Geschichte. Der andere Teil wird stets weggelassen, weil sonst das Bild des steuerlich privilegierten Schnösels aus reichem Hause, geradezu das Sinnbild eines Republikaners in der Vorstellung österreichischer JournalistInnen, nicht so ohne Weiteres aufrechtzuerhalten wäre. In den USA müssen in letzter Zeit immer öfter MitstreiterInnen von Präsident Obama zu offenkundig falschen Behauptungen und manipulierten Aussagen Stellung nehmen, mit denen sie Wahlkampf gegen Mitt Romney machen. In österreichischen Medien wird dagegen noch immer kaum verhohlen Wahlkampf für Präsident Obama betrieben, denn hierzulande regt sich nur wenig Protest gegen eine ‚Berichterstattung‘, die einseitiger kaum sein könnte. Anmerkungen: 1 Hoffmann-Ostenhof, Georg, Jesus in Amerika, 12. November 2011, http://www.profil.at/articles/­ 1145/ 572/311809/georg-hoffmann-ostenhof-jesus-amerika 2 Ultsch, Christian „Sankt Obama und der PannenRomney“, in: Die Presse, 5. August 2012. 3 Prantner, Christoph, „Romney schießt sich ins Knie“, in: Der Standard, 14. September 2012. 4 Ebd. 5 Riecher, Stefan, „Warum Mitt Romney nicht mehr Steuern bezahlt“, in: Die Presse, 26. Jänner 2012.

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Gentrifizierung in New York City Das Phänomen der Gentrifizierung Auch die Angst, das Alte und Bekannte für imschwingt in seinem Text unist in Wien und anderen europä- mer zu verlieren, 1 weigerlich mit. ischen Städten wie London, Berlin oder Paris wohlbekannt. Auch „Dispute about class, race and in einer Metropole wie New York culture“2 City gibt es Bezirke, die gentrifiziert Die Auswirkungen der Gentrifizierung sind nicht werden. Der Prozess ist komplex nur in Mid- und Dowtown Manhattan zu sehen. und kann verschiedene Ursachen Auch nördlich des Central Parks gibt es bereits Veränderungen: im Stadtteil Harlem. Diehaben. Die Verlierer_innen sind je- ernste ser galt jahrzehntelang als die kulturelle ,Hauptdoch immer Menschen mit gerin- stadt‘ von People of Color in Amerika. Der Wandel begann bereits in den 1970er Jahren, doch gem Einkommen.

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eit 2009 hat (West-)Manhattan mit der High Line eine neue Attraktion. Auf einer seit Jahrzehnten stillgelegten Hochbahn ist ein Park mit zahllosen Pflanzen, Sitzgelegenheiten und Wiesen entstanden. Zugleich wurden in der Umgebung vermeintlich störende Graffiti und wilde Pflanzen entfernt. Parkwächter_innen patrouillieren und achten darauf, dass niemand von den Wegen abkommt. Spaziert man auf der High Line, begegnen einem vor allem Menschen, die als ,hip‘ oder ,reich‘ bezeichnet werden. Und natürlich Tourist_innen. Die Anwohner_innen halten sich eher fern. Für den Blogger Jeremiah Moss stellt das größte Problem die massive Veränderung der Nachbar_innenschaft in West Chelsea dar: Die alten Gebäude wurden durch kostspielige Neubauwohnungen ersetzt, Autowerkstätten mussten vornehmen Restaurants weichen, und die ehemaligen Leichtindustrie-Arbeiter_innen können sich die erhöhten Mieten nicht mehr leisten. Für Moss sind diese Veränderungen das Ergebnis der Luxury City Vision des New Yorker Bürger_innenmeisters Michael Bloomberg. So berechtigt die Kritik von Moss auch sein mag, bedient er in seinem Kommentar Ressentiments gegenüber nicht-gebürtigen New Yorker_innen (bei der Geschichte dieser Stadt ein ironisches Adjektiv) und Tourist_innen-,Massen‘.

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seit den letzten zehn Jahren ist dieser besonders stark zu spüren; und wirkt sich enorm auf die Bevölkerung vor Ort aus. In Greater Harlem ist die afroamerikanische Bevölkerungsmehrheit verschwunden. In Harlem ist es weniger der Fall, dass langjährige Bewohner_innen verdrängt werden, indem neue Mieter_innen höhere Preise für knappen Wohnraum zahlen. Den Platz gibt es. Jedoch steigen durch den Zuzug die Wohnungspreise und die generellen Lebenskosten. Diese kann sich wiederum die über ein geringeres Einkommen verfügende ältere Mieter_innenschaft nicht leisten, gibt Neil Smith, Direktor des Center for Place, Culture and Politics an der City University of New York, zu bedenken. Die Stadt hätte in dem Fall den Einwohner_innen Möglichkeiten zum Wohnungserwerb geben sollen.3 Schon vor vier Jahren berichtete der Blog Curbed, dass die Gentrifizierung alles andere als spannungsfrei verläuft. Vermehrt kommt es zu rassistischen Vorfällen. So schrieb ein (,weißer‘) Mieter, der vom – seit 1969 – traditionellen Trommeln im Marcus Garvey Park genervt war, in einer Mail an die Bewohner_innen eines anderen Hauses: „Why don’t we just get nooses for everyone of those lowlifes and hang them from a tree? They’re used to that kind of treatment anyway! […] I hope you all agree that the best thing that has happened to Harlem is gentrification. Let’s get rid of these ,people‘ and improve the neighborhood once and for all.“ 4

Die Gentrifizierung kam jedoch nicht allein durch Menschen, die nach einer Alternative zum unbezahlbaren Manhattan suchten, nach Harlem, sondern auch von eher unerwarteter Seite. Allein die Ankündigung der Columbia Universität, in Harlem neue Institutsgebäude zu bauen und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, hat die Gentrifizierung und den Wegzug vieler Menschen vor Ort beschleunigt. In gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Grundstücksbesitzer_innen hat die Privatuniversität ihre Spenden wirken lassen, sodass sie die Rechte erhielt, diese Grundstücke zu konfiszieren, da sie öffentlichem Nutzen dienen.5

The next Kings of Queens und der geteilte Borough Selbst Stadtteile wie Queens, die als Inbegriff der Langeweile und des Spießer_innentums galten, werden mittlerweile gentrifiziert. Hier sind es, insbesondere im Westen des Bezirks, die Vorbot_innen in Person: Studierende, Jungakademiker_innen und Künstler_innen, die den Borough attraktiver machten und Investor_innen anzogen. Dies führte dazu, dass Queens mittlerweile zu den teuersten Wohngegenden der USA zählt. Ein Viertel wie Astoria beispielsweise zieht Künstler_innen an, denen Brooklyn jetzt zu teuer und ,uncool‘ ist. Im Ranking der kostspieligsten US-Wohnorte steht Brooklyn nach Manhattan auf Platz zwei. In bestimmten Gegenden Brooklyns sind die Mieten entweder genauso hoch oder gar höher als in Mid- oder Downtown Manhattan. Der Stadtteil ist sozial gespalten: 25% der Einwohner_innen sind auf Essensmarken angewiesen und erhalten dafür Nahrung im Wert von ca. 277,70 $ pro Monat. Daneben wird im hippen Williamsburg ein Glas Bio-Meerrettich für mehr als 12 $ verkauft. Rund 20% der Anwohner_innen verdienen 100.000 $ oder mehr im Jahr. Und über 20% der Menschen sind von Armut betroffen. Was diese Zahlen bedeuten, zeigt folgender Vergleich: In Brooklyn leben mehr Menschen in Armut als in Detroit.6

Julian Bruns

Was tun? Gentrifizierung ist und bleibt auch in New York ein zweischneidiges Schwert. Der Aufwertung nach außen, welche oft verbunden ist mit mehr Tourismus und somit auch Verdiensten des öffentlichen Sektors, stehen massive soziale Ungerechtigkeiten und auch Rassismus gegenüber. Mittel wie die rent control können nur einseitig dazu beitragen, dass die Situation für Menschen mit geringerem Einkommen nicht eskaliert. Eine bisher zu selten praktizierte Gegenmaßnahme sind soziale Wohnbauprojekte. Zugleich muss jedoch für leistbare Lebensmittel und öffentliche Verkehrsmittel sowie auch für ein kulturelles Angebot gesorgt werden. Es darf nicht dazu kommen, dass jene Menschen, die nicht zu den Gewinner_innen im Kapitalismus gehören, einfach keinen Platz mehr in einer Stadt finden, deren Bürger_innenmeister es sich scheinbar zum Ziel gesetzt hat, New York in ein Glitzer-Manhattan zu verwandeln. Setzt sich diese Entwicklung fort, werden die Minderheiten, die oftmals über geringere Einkommen verfügen als die ,weiße‘ Majorität, keinen Zugang mehr haben. Was für eine Ironie bei einer Stadt, die so ,stolz‘ auf ihre Diversität ist. Anmerkungen: 1 http://www.nytimes.com/2012/08/22/opinion/inthe-shadows-of-the-high-line.html 2 http://www.nytimes.com/2008/07/06/nyregion/ 06drummers.html?pagewanted=1&sq=marcus%20 garvey&st=nyt&scp=1 3 http://www.nytimes.com/2010/01/06/nyregion/ 06harlem.html?pagewanted=2&_r=moc.semityn.www 4 http://ny.curbed.com/archives/2008/07/07/gentrification_of_harlem_suddenly_not_going_very_ smoothly.php 5 http://therealnews.com/t2/index.php?option=com_ content&task=view&id=31&Itemid=74&jumival=7072 6 http://www.nydailynews.com/new-york/brooklyn/tale-worlds-statistics-paint-picture-extremes-wealth-poverty-exist-side-side-brooklyn-article-1.1142487?pgno=1


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