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Aber hier leben, nein Danke!

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//EDITORIAL Liebes neues Jahr, liebe zuckersuchende Leser*innen! Man weiß nicht, ob sich der Winter nun doch längerfristig breit machen will, oder ob es sich lediglich um einen kurzfristigen Produktions‐ besuch seinerseits handelt, der uns mit angezu‐ ckerten Parkbänken Lust auf warmen Apfelstru‐ del macht. Ebenso scheint ungewiss, was das neue Jahr bringen wird, vermutlich nicht viel Besseres, gegebenenfalls eine Neujahrsdepressi‐ on und jedenfalls – ganz sicher – eine neue Aus‐ gabe der !"#$%&, die ihr nun in Händen haltet. Den guten, journalistischen Praktiken ver‐ pflichtet, sollte dieses Editorial nun die Ausgabe vorstellen, einige Artikel hervorheben und zum Lesen schmackhaft machen. Doch vielleicht hat die Neujahrsdepression auch die Redaktion fest in ihren Krallen und hält sie in einer manischen Phase dazu an, den gegebenen Normen zu wi‐ dersprechen. Überhaupt wäre Widerspruch ei‐ gentlich das Wort der Stunde, des Jahres, oder ganz generell der allgemeinen gesellschaftli‐ chen Verfasstheit. Stattdessen werden wir wohl weiter im allgemeinen Lebenstrott dahintraben. Aber die Worte, die bleiben uns. Zum Beispiel gegen den österreichischen Normalzustand, der sich im Umgang der Behörden, der Politik und der Öffentlichkeit mit den Flüchtlingsprotesten wieder einmal so deutlich zeigt. Die Illustration unseres Schwerpunkts zum Thema Postnazis‐ mus mit Eindrücken vom Refugee Camp, ist Aus‐ druck unserer Solidarität mit den Flüchtlingen und den Protestierenden. Eindrucksvolles Beispiel der geschichtlichen Kontinuität ist auch das anonyme Austauschen der Straßenschilder des Universitätsrings auf die ursprüngliche Bezeichnung Dr.‐Karl‐Lueger‐ Ring. Klar, der ehemalige antisemitische Wiener Bürgermeister macht sich schon besser als der Verweis auf eine Bildungsstätte. Oder die Tatsache, dass zwar in Kürze das Volk zum Thema Wehrpflicht befragt wird, die aufmerksame Bürgerin aber weder weiß, wofür oder wogegen sie da eigentlich stimmen kann noch eine vernünftige Wahlmöglichkeit, also die Abschaffung des Bundesheers, hat. Wenig überraschend in einem Land, in dem alle gerne Paintball spielen. Und zu guter Letzt der Winter. Den braucht eigentlich wirklich niemand. Warmer Apfelstru‐ del wäre uns lieber. Mit viel Vanillesauce. Ach ja, was es so zu lesen gibt, seht ihr im In‐ haltsverzeichnis. Es befindet sich gleich links. Falls ihr euch unter den Titeln nichts vorstellen könnt – schlagt einfach die Seite auf und fangt zu lesen an. Worte. Die sind oft interessant, tun gut, machmal auch weh, machen Mut oder auch traurig. Wie auch immer:

S. 3 ÖH-KOMMENTAR // NUR NICHT AUFFALLEN? S. 4 EIN OXYMORON? // SCHEIN ODER NICHT SCHEIN S. 5 DIE ANTIZIONISTISCHE KAMPAGNE IN POLEN UND IHRE OPFER S. 6 MIT VERZERRTEN LINKEN POSITIONEN AUF STIMMENFANG S. 7 „UNSERE FREUNDiNNEN? SIE SIND NICHT DA.“ S. 8 GEWINNSPIEL // TERMINE S. 9 KOBYS KULINARIUM // TERMINE S. 10 „SKATE LIKE YOU MEAN IT“ S. 11 „WILD HEULT DER WOLF DES NACHTS IM WALD“ S. 12 KLASSE UND UNTERSCHIED // OTTO HABSBURG – WIDER DIE MODERNE WELT S. 13 AKADEMIKERBALL: WKR RELOADED // „WIR DIENEN […] DER PROPAGANDA“ S. 14 VON GUTEN UND SCHLECHTEN MIGRANT/INN/EN // S. 15 DIE CRUX MIT DER CARITAS // ÖSTERREICHISCHE KELLER S. 16 „MAN MUSS SICH DURCH DAS BEKANNTE IRRITIEREN LASSEN“ SCHWERPUNKT AB S. 17: POSTNAZISMUS S. 18 POSTNAZISMUS ALS BEGRIFF DER KRITIK S. 19 ÖSTERREICH, WIE POSTNAZISTISCH BIST DU EIGENTLICH? S. 20 ARISCHES, NICHT LITERARISCHES S. 21 THOMAS BERNHARD UND DAS POSTNAZISTISCHE ÖSTERREICH S. 22 DIE NOTWENDIGKEIT ZU URTEILEN S. 23 VERMÖGENSSICHERUNG FÜR ‚GUTGLÄUBIGE ERWERBER‘ S. 24 „DIE KULTURELLE VARIABLE IST NUR EINE NEBEN ANDEREN“

Wir wünschen ein gutes neues Jahr! Eure !"#$%&'(

Zeitung

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unileben Die ÖH Uni Wien fördert antirassistische Arbeit!..........

ÖH‐KOMMENTAR

Wir freuen uns, euch mit Beginn des neuen Jahres unseren antirassistischen Schwerpunkt präsentieren zu können. Mit diesem wollen wir uns nicht nur verbal gegen die rassistischen Zuständ e in der Gesellschaft positionieren, sondern auch Geld in die Hand nehmen, um einerseits Projekte zu fördern und andererseits Drittsta atsangehörigen aushelfen zu können.

//BILDSTRECKE land of contradiction, von Neda Hoseinyar Die Bildstrecke ist ein Auszug aus einer größeren Serie, die von der Anwesenheit nack‐ ter Figuren erzählt, die sich mittels einer Lichtquelle drastisch von der sie umgeben‐ den Dunkelheit und dem städtischen Raum abheben. Dabei beziehen sich die Bilder auf persönli‐ che Erfahrungen innerlicher Isolation und Widersprüchen einerseits, sowie den entlar‐ venden Konflikten und Widersprüchen in der aktuellen iranischen Gesellschaft ande‐ rerseits. Sie sprechen ebenso von psychologi‐ schen Temperamenten, die aus dieser sozial widersprüchlichen Umgebung entstehen.

AntiRa- Sozialtopf Angelehnt an den bisher existierenden Sozialtopf, bei dem alle ordentlichen Studierenden um eine Förderung ansuchen können , bieten wir nun auch Drittstaatsangehörigen, die oft von Mehrfac hdiskriminierungen betroffen sind und im schlimmsten Fall nicht arbeiten dürfen, mit dem AntiRa- Sozialtopf die Möglichkeit einer kleinen finanziellen Unterstützung. Die Höchstfördergrenze beträgt 450,– EUR, ein Antrag kann nur einmal im Kalenderjahr gestellt werden. Alleinerziehende und Flüchtlinge werden besonders berücks ichtigt, da diese Gruppen von Menschen vielfach stärker mit Armut und Armutsgefährdung konfrontiert sind. Das Referat für antirass istische Arbeit ist für die Bearbeitung der Anträge zuständig und wird, nach einer intensiven Vorbereitungsphase, Anfang März die ersten Förderungen vergeben. Der AntiRa- Sozialtopf ist keine Charity, sondern die logische Konsequenz unserer Grundsätze. Wir können die Augen nicht vor Rassismen, Sexismen und Armut verschließen. AntiRa-Projekttopf Bei der ÖH Uni Wien kann mensch jederzeit um Projektförderun g ansuchen. Damit unser antirassistischer Konsens jedoch nicht einfach ein Lippenbekenntnis bleibt, stellen wir einen fixen Teil unseres Budgets ausschließlich für antirassistische Projekte bereit. Wir sehen es als unsere politische Verantwortung, dass Projekte , die Ausgrenzungsmechanismen thematisieren und emanzipatorisch e Arbeit fördern, nicht an der Finanzierung scheitern und möchten diesen Gehör verschaffen. Sei es eine künstlerische Aktion, eine Diskussionsveranstaltung, eine Bildungsreise oder eine Publika tion; such doch mal um eine Förderung an unter: oeh@oeh.univie .ac.at.

Kübra Atasoy

Tagungsankündigung........................................

//IMPRESSUM Herausgeber und Medieninhaber: Verein für Förderung studentischer Medienfreiheit; Unicampus AAKH, Hof 1, Spitalgasse 2–4, 1090 Wien; Tel. 0043-(0)1-4277-19501 Redaktion: Soma Mohammad Assad, Dorothea Born, Oona Kroisleitner, Tamara Risch Mitarbeiter_innen dieser Ausgabe: Kübra Atasoy, Claudia Aurednik, Lisa Breit, Julian Bruns, Lukas Caterpillar, Koby Cramer, Anne Marie Faisst, Nora Galeola, Simon Gansinger, Kathrin Glösel, Stephan Grigat, Saskia Alice Hnojsky, Ute Huber, Andrea*s Jackie Klaura, Oona Kroisleitner, Fabian Lehr, Doris Maierhofer, Fridolin Mallmann, Tamara Risch, Laurin Rosenberg, Theresa Schmidt, Martin Stefanov, Alessandro Volcich, Florian Wagner Layout: Iris Borov!nik Lektorat: Karin Lederer, Doris Maierhofer Bildstrecke: Neda Hoseinyar Illustrationen: Fotos von refugeecamp.vienna.noblogs.org Anzeigen: Wirtschaftsreferat ÖH Uni Wien, inserate@oeh.univie.ac.at, Tel. 0043-(0)1-4277-19511 Erscheinungsdatum: 22.01.2013 Kritisch den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet – aber hier leben, nein Danke!

NUR NICHT AUFFALLEN?

Das Modell der Zweigeschlechtlichkeit hat schwerwiegende Folgen für all jene, die nicht in das aufgestellte bipolare Schema passen (wollen): Transgender-Personen, transsexuelle oder intersexuelle Personen. Zwangstranssexualisierung ist das Anhaften an ein Geschlecht jenseits des ursprünglichen körperlichen Zustands an den Körper. Dieser operative Eingriff findet häufig im Säuglingsoder im Kindesalter statt, um Individuen, die gesund sind, an von Menschen geschaffene Normen anzupassen. Das geschieht häufig ohne die körperlich Betroffenen über ihren Zustand, ihre Umwelt, die Operation und ihre Folgen aufzuklären. Sie können also über ihren eigenen Körper nicht verfügen. Das hat drastische Folgen auf ihre resultierende Selbstwahrnehmung. Intersexualität bedeutet gegenwärtig, nicht einfach ,männlich‘ oder ,weiblich‘ zu sein; es bedeutet in Österreich, nicht per Formular erfassbar zu sein; es bedeutet in der Anerkennung von Personenstand, Partner_innenschaft, der Wohnungssuche und anderen formalen Wegen, mit zugewiesenen Uneindeutigkeiten konfrontiert zu sein und seine eigene Existenz immer erklären und rechtfertigen zu müssen. In Kampagnen emanzipativer – wie feministischer – Politiken, im Aufklärungsunterricht oder auch in Studien zu vergeschlechtlichtem Verhalten kommt die Frage, was passiert, wenn die Kategorien ,m/w‘ nicht ausreichen, zu kurz. Als ,Minderheitenphänomen‘ abgestempelt, wird über sie erst gar nicht geredet und es ist diese Nichterwähnung, die einen beträchtlichen Teil der Diskriminierung von Intersexuellen ausmacht. Die Frage nach dem Geschlecht ist für die Selbstpositionierung, für die Fremdwahrneh-

mung, für die Bildung von Vor-/Urteilen, für das Formulieren von Wünschen, für die Frage, wie Sex funktioniert, oder auch für die Frage, wie sichtbar ich wo wann sein kann oder muss, relevant. Daher ist ein Projekt der ÖH Uni Wien in diesem Jahr die Tagung Körper. Identität. Geschlecht., die sich genau der Frage nach der biologischen und sozialen Verortung von Geschlecht sowie der Lebenssituation von Intersexuellen widmet.

Körper. Identität. Geschlecht. Tagung zum Thema ,Intersexualität‘ Freitag, 25. Jänner 2013 Narrenturm (Veranstaltungsraum im 4. Stock) Uni Campus, Spitalgasse 2-4, Hof 6 1090 Wien Programm: 10.00 – 10.30 Vorstellung und Einführung 10.30 – 11.45 Inter* und die Menschen hinter dem Begriff (Dan Christian Ghattas) 12.00 – 13.15 Geschlechternorm – Zweigeschlechtlichkeit (Heinz-Jürgen Voß) 14.00 – 15.15 Que[e]r zum Staat (Katharina Hajek, Sara Paloni) 15.30 – 16.15 Führung durch den Narrenturm 16.30 – 17.30 Couch-Gespräch und Plenumsdiskussion (Helga Haberler, Heinz-Jürgen Voß, Dan Christian Ghattas) 17.30 – 18.00 Zusammenfassung und formeller Abschluss 18.30 – 20.00 Film-Screening: Tintenfischalarm Verbindliche Anmeldungen bitte per Mail an: kathrin.hildegard.gloesel@univie.ac.at

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Kritische Wissenschaft...............................................................

„SCHEIN ODER NICHT SCHEIN“ Ute Huber In ihrem kürzlich erschienenen Sachbuch Schein oder nicht Schein. Konstruktion und Kriminalisierung von »Scheinehen« in Geschichte und Gegenwart weist die Po‐ litologin Irene Messinger auf eminente Unterschiede in Geschichte und gegenwär‐ tiger Auslegung des österreichischen Fremdenrechts hin. Während es im Nachhin‐ ein als positiv gesehen wurde, Jüdinnen und Juden während der NS‐Zeit durch eine sogenannte ‚Schutzehe‘ die Ausreise ins sichere Ausland zu ermöglichen – promi‐ nentes Beispiel aus der Literaturgeschichte etwa die beiden homosexuellen Auto‐ rInnen Erika Mann und Wystan H. Auden – ist die sogenannte ‚Aufenthaltsehe‘ seit dem Jahr 2006 ein strafrechtlicher Tatbestand. 80 % der wegen ‚Scheinehe‘ ver‐ urteilten Menschen – übrigens im Schnitt nur 16 Personen pro Jahr – sind Frauen an oder unter der Armutsgrenze. Im Gegensatz dazu wird die Heirat älterer öster‐ reichischer Männer vor allem mit jungen asiatischen Frauen, also institutionali‐ sierte und rechtlich begünstigte Sexarbeit, nicht politisch verfolgt. Zielgruppe des Paragrafen sind demnach laut Kriminalstatistik weiße Frauen mit ausländischem Partner. Diesen Frauen wird während der Verhandlungen häufig die eigene Ent‐ scheidungsfähigkeit, der freie Wille und sogar die Intelligenz abgesprochen. Sie werden dann als ‚Opfer des schwarzen Mannes‘ dargestellt – eine Sichtweise, deren Rassismus sich wohl kaum vom kolonialistischen oder nationalsozialistischen Bild des ‚minderwertigen Negers‘ unterscheidet. Messinger stützt ihre Untersuchung auf Gerichtsakten, Daten der Fremdenpolizei und Interviews mit ExpertInnen aus Politik, Justiz, Exekutive, Verwaltung sowie auf Gespräche mit unterschiedlichen NGOs und stellt die Ergebnisse in einen so‐ zialwissenschaftlich‐diskursanalytischen Kontext. Die Analyse umfasst rechtliche und gesellschaftliche Entwicklungen von der NS‐Zeit bis heute. Deutlich werden massive Eingriffe staatlicher Bürokratie in das Privatleben der in‐ und ausländi‐ schen BürgerInnen. Messinger schließt mit dem Fazit: „Die historisch hergeleiteten Konstruktionen zu ‚Scheinehe‘ werden genutzt, um binationale Ehen bestimmten Rechtsnormen […] zu unterziehen und sie, als ‚Aufenthaltsehe‘ konstruiert, zuneh‐ mend vom Aufenthaltsrecht auszuschließen.“

EIN OXYMORON?

Von 6. bis 7. Dezember 2012 hat das Gender Initiativ Kolleg der Uni Wien unter dem Titel Violence and Agency – Controversies and Confrontations eine Abschlusskonferenz organisiert. Unter anderem ging es darum, wie gesellschaftliche Hierarchisierung über Konstrukte wie Geschlecht, Gender, Ethnizität, Klasse usw. gemacht ist/wird. Relevant war auch die Frage nach emanzipatorischen Handlungspotentialen in diesem Kontext. Hier stoßen wir auf ambivalente Überlegungen, inwieweit kritisch e Wissenschaft möglich ist und wirkmächtig sein kann. Klar, die Institutionalisierung bringt immer auch etwas Gutes mit sich, vor allem (finanzielle) Ressourcen. Andererseits können so auch kritische Diskurs e aus vielen anderen Bereichen ausgelagert werden. Inwieweit hier Rückwi rkungen möglich sind, ist umstritten. Aber bleiben wir doch einmal bei diesem großen Asset, den finanziellen Ressourcen. An der Uni Wien gibt es zwei Formen von strukturierten Doktoratsprogrammen, die der wissens chaftlichen Nachwuchsförderung dienen: Doktoratskollegs und Initiativkollegs. Erstere werden über den Fond zur Förderung der wissens chaftlichen Forschung (FWF) finanziert, zweitere von der Uni Wien selbst. Beiden geht es darum, die finanzielle Basis zum Verfassen einer Disserta tion in einem ausgezeichneten Forscher*innenteam zu schaffen. Da stellt sich die Frage, wer hier eigentlich gefördert wird. Schaut mensch sich die genehmigten Programme der letzten Jahre an,1 so fällt sehr schnell ein Hang zu naturwissenschaftlichen Projekten auf. Das verwundert nicht. Die Frage ist dann aber, ob das umgekehrt heißt, dass Geistes- und Sozialwissenschaften weniger verwertbar sind oder weniger genehmes, also kritischeres Wissen liefern? Das würde ich so pauschal jedenfalls bestreiten. Egal wo mensch sich wissenschaftlic h etablieren möchte, gilt es sich zuallererst an die bestehende instituti onelle Hierarchie anzubiedern. Kritik ist an einigen Orten zwar explizit erwünscht, aber auch nur, wenn sie in eine bestimmte Richtung geht. Selbstkritik wird zumeist als strategisches Manko wahrgenommen. Aber was heißt das dann für eine emanzipatorische Wissenschaftspraxis? Während beispielsweise Kritik an dominanten Praxen in Natur- und Technikwissenschaften sehr oft aus einzelnen Bereichen in den Geistesund Sozialwissenschaften geäußert wird, hören wir selten die Selbstkritik aus ersteren. Diese gibt es aber durchaus. Eines der großen Probleme ist nur, dass dort den Akteur*innen selten Platz dafür zugestanden wird, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen gesellsc haftlichen Agieren als außer-wissenschaftlicher Luxus, bestenfalls als ,Soft Skill‘ angesehen wird. Das führt meist dazu, dass kritische Akteur* innen abwandern (z. B. in Sozial- und Geisteswissenschaften) oder der Wissenschaft gänzlich den Rücken kehren. Es bräuchte also (mehr) Netzwerke, die auch Räume für herrschaftskritischen Austausch schaffen . Fragt sich nur noch: Ist es denn in anderen Wissenschaften so viel anders?

Andrea*s Jackie Klaura Anmerkungen: 1

http://doktorat.univie.ac.at/strukturierte-doktoratsprogramme/d oktoratskollegs/ http://doktorat.univie.ac.at/strukturierte-doktoratsprogramme/i nitiativkollegs/

Irene Messinger: Schein oder nicht Schein. Konstruktion und Kriminalisierung von »Scheinehen« in Geschichte und Gegenwart. edition kritik & utopie, mandelbaum, Wien (2012). EUR 19,90

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DIE ANTIZIONISTISCHE KAMPAGNE IN POLEN UND IHRE OPFER Simon Gansinger

Vielerorts markiert das Jahr 1968 Ahnentafeln, eine ihm unterstehende Miliz be‐ eine Periode studentischen Auf- sorgte Aufträge gegen missliebige Personen (vgl. Wolak 2004: 79). ruhrs und dessen schlussendlichen Scheiterns, in Polen jedoch Das staatliche Pogrom ist die Erinnerung an jene Zeit ge8. März 1968 eine Kundgebung trübt: Die antisemitische Kampag- Nachdem am für zwei Studierende, die am 30. Jänner gegen ne, die 1968 ihren Höhepunkt fand, das Regime protestiert hatten und deshalb ex‐ hatte die Zerstörung jüdischen Le- matrikuliert worden waren, von Moczars Mi‐ liz attackiert wurde, eskalierte die Situation. bens in Polen zur Folge. Zahlreiche Demonstrationen und Besetzun‐

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ls am 30. Jänner 1968 DemonstrantInnen in Warschau gegen das Verbot eines re‐ gimekritischen Theaterstücks protestierten, ahnte wohl niemand der Beteiligten, dass ihre Verhaftungen den Auftakt zur größten antise‐ mitischen Kampagne im Nachkriegseuropa darstellen sollten. Binnen weniger Wochen ge‐ langte der Kampf gegen ‚zionistische Elemente‘, die die Zersetzung der polnischen Nation und des Sozialismus anstrebten, zu höchster Priori‐ tät und dominierte ab März 1968 die polnische Öffentlichkeit. Studierende und Intellektuelle hätten sich unter der Ägide des Zionismus ver‐ schworen, die Ausmerzung des zionistischen Einflusses in Polen bedeute demnach die Ver‐ teidigung des sozialistischen Vaterlands gegen feindliche Mächte. Geheimdienst, Ministeri‐ en und Medien koordinierten das Projekt, das 13.000 (vgl. Stola 2005: 298) Jüdinnen und Ju‐ den in die Emigration zwang.

Antizionistischer Vormärz Nach dem israelischen Sieg im Sechs‐Tage‐ Krieg im Juni 1967 beendeten die Mitgliedsstaa‐ ten des Warschauer Pakts mit Ausnahme Rumä‐ niens die diplomatischen Beziehungen zu Israel, so auch Polen. Wenige Tage nach der Niederla‐ ge der von der Sowjetunion unterstützten ara‐ bischen Armeen entdeckte der Parteichef der Polnischen Arbeiterpartei) *+,+-./) 012345126) 1 789:1;2/)49),48<459:5)=4<=)>?@<AB=)C8D8<<=E)) innerhalb Polens. Bald darauf wurden jüdische Parteimitglieder entlassen und eine stufenwei‐ se Umstrukturierung der politischen Elite be‐ gann. Anfangs handelte es sich bei den ‚Säu‐ berungen‘ um gezielte Entlassungen Einzelner, deren Schuld selten über vermeintliche Trink‐ gelage am Tag des israelischen Siegs hinausging. F4=GHI5126) F8GH2J/) K<<=<94<45B=J/) LM=A) 3=5) Geheimdienstes und Antisemit, fungierte als treibende Kraft hinter der konzertierten Akti‐ on. Seit Mitte der 1960er Jahre beschäftigte er MitarbeiterInnen mit dem Erstellen jüdischer

gen aller großen Universitäten Polens folg‐ ten. Am 11. März veröffentlichte die Zeitung der katholisch‐autoritären Organisation PAX einen Artikel mit dem Titel An die Studenten der Universität Warschau, der den Weg für die folgende Medienhetze weisen sollte. Die Zio‐ nistInnen hätten in Allianz mit der BRD die intellektuelle Klasse Polens infiltriert, so der Artikel, um das Volk von seiner Führung zu entfremden. Eine Liste der führenden Köpfe der vermeintlichen Verschwörung wurde ange‐ fügt. Die Auswahl der Namen ließ dem Publi‐ kum keinen Zweifel an der Identität der Staats‐ feindInnen: Ausnahmslos bekannte Jüdinnen und Juden wurden genannt. Wenige Tage nach der Publikation der Tirade hatten sich die meisten der führenden Medien auf die anti‐ semitische Rhetorik geeinigt, die auch in der Partei auf entsprechende Resonanz stieß. Dut‐ zende Jüdinnen und Juden wurden von ihren Posten entfernt (vgl. Kunicki 2005: 213–215). +2JB=4GM=A) 789:1;2) 62<3B=) 54GM) =J5B) 29)) 19. März an die Öffentlichkeit und sprach der <2B48<2D=<) N2O3) 2:A) 34=) >H48<45B45GM=) LM49PJ=E) 5=4<=)!<B=J5B@BH:<O)2:5Q)R2:B)789:1;2)OPS=)=5) drei Gruppen von Jüdinnen udn Juden in Polen: Solche, die sich Israel als Heimatland verbun‐ den fühlen, andere, die sich als KosmopolitIn‐ nen keiner Nation zurechnen, und wiederum 2 solche, die ganz PolInnen sind. ) 789:1;25) Rede provozierte etliche Versammlungen in lo‐ kalen Parteiorganisationen, Fabriken und sogar Sportvereinen, in denen Jüdinnen und Juden oder andere, die man dafür hielt, gezwungen waren, ihre Treue zu Polen zu schwören, was den Bedrängten nicht selten den Vorwurf der Heuchelei einbrachte und keineswegs mildere Konsequenzen nach sich zog. Generell lässt sich die Haltung der polnischen Bevölkerung nur noch schwer rekonstruieren. Zweifelsohne gab es in manchen Schichten un‐ eingeschränkte Unterstützung für die antisemi‐ tische Kampagne, vereinzelt sind Attacken auf ‚ZionistInnen‘ dokumentiert. Moczars Anhänge‐ rInnen sowie zehntausende Parteimitglieder be‐

wiesen ihre Konformität mit der antisemitischen Linie der PZPR auf zahlreichen öffentlichen Kundgebungen. Etliche offizielle Erklärungen wurden verabschiedet, in denen die Unterzeich‐ nerInnen zionistische Verbrechen verurteilten und der polnischen Nation ihren Beistand gegen die zionistischen Fremdkörper zusicherten. An‐ dererseits sind etliche Fälle spontaner Solidarität mit den Opfern bekannt, viele Studierende lehn‐ ten die Kampagne der Partei als Sündenbock‐ strategie ab. Das Gros der Bevölkerung blieb wohl indifferent (vgl. Eisler 2009: 53). Keine Zweifel bestehen allerdings hinsicht‐ lich der Folgen: Ab März 1968 verloren Tausen‐ de Jüdinnen und Juden ihre Arbeitsplätze. Nicht nur Staatsbedienstete, sondern auch Fabriksar‐ beiterInnen gehörten zu den Opfern, ebenso wie ÄrztInnen und Universitätspersonal. Die gro‐ T=) K<3:5BJ4=5B23B) UV3W) 62J) 4<<=JM2DS) 6=<4O=J) Monate ‚judenrein‘ (vgl. Lendvai 1972: 144‐150). Ihrer Lebensgrundlagen beraubt, sahen sich Dutzende zum Suizid getrieben, dem Großteil blieb nur mehr die Emigration. Die Regierung genehmigte diese unter zwei Bedingungen: Isra‐ el musste als Zielland angegeben werden und es bestand keine Möglichkeit zur Rückkehr. Durch die auferlegte Emigration nach Israel schuf sich die Kampagne somit selbst ihre Legitimation: Wenn diese Jüdinnen und Juden sich tatsächlich mit der polnischen Nation verbunden gefühlt hätten, wären sie niemals emigriert. Ihre Emi‐ gration belege, dass sie in Wahrheit verkappte ZionistInnen waren.3 Die Vertreibung wurde so post factum gerechtfertigt. 1968 verließen 3.500 Menschen Polen, die überwiegende Mehrheit davon waren Jüdinnen und Juden. Bis 1971 stieg die Zahl der Emigrier‐ ten auf über 13.000. Nach der antisemitischen Kampagne schrumpfte Polens jüdische Ge‐ meinde auf wenige Tausend Mitglieder.

Der ewige Antizionist An der Kampagne von 1968, deren antizionis‐ tische Rhetorik offensichtliche Parallelen zur Logik des modernen Antisemitismus aufweist, lässt sich illustrieren, welche Funktion dem An‐ tizionismus heutzutage zukommt. Das antise‐ mitische Ressentiment, das sich vor 1945 offen gegen Jüdinnen und Juden wandte, konnte sich hernach nicht mehr ungestraft artikulieren. Um dem nicht erloschenen antisemitischen Verlangen Befriedigung zu verschaffen, ersetzt der ‚kriegerische Zionismus‘‚ zu weiten Teilen den ‚zersetzenden Juden‘ als Projektionsfläche, auf der nun aufs Neue das altbekannte antise‐ mitische Wahnbild einer „immensely powerful,

intangible, international conspiracy“ (Postone 1980: 106) erscheint. In Europa bleibt die antizionistische Rage des März 1968 in ihrer Intensität und in ih‐ ren dramatischen Auswirkungen bislang ein‐ zigartig. Dass der Antizionismus jedoch auch heute zur Staatsdoktrin taugt, beweisen nicht wenige islamisch geprägte Staaten und in un‐ verhohlen mörderischer Absicht das iranische Regime. Auch hierzulande weiß man sich des Jargons des Antizionismus eloquent in Semi‐ narräumen und Kommentarspalten zu bedie‐ nen. Wenn den Worten Taten folgen, zeigt sich, wie 1968, dessen Verwandtschaft zu seinem historischen Vorgänger: Die Opfer des Antise‐ mitismus und des Antizionismus sind die glei‐ chen geblieben. Anmerkungen: 1 Unter der ‚Fünften Kolonne‘ versteht man oppositio‐ nelle Gruppen im Untergrund. Der Begriff hat seinen Ursprung im Spanischen Bürgerkrieg, als ein Fran‐ quistischer General mit vier Kolonnen gegen Madrid rückte und eine fünfte in der Stadt den Angriff begin‐ nen sollte. In Polen wurden damit gemeinhin Nazi‐ KollaborateurInnen bezeichnet. 2 Einer Minderheit in der PZPR widerstrebte die Hal‐ tung ihres Parteichefs. Als prominenteste Figur trat der Staatsratsvorsitzende Edward Ochab zurück, der die Kampagne im Widerspruch mit dem kommunis‐ tischen Internationalismus sah. 3 Tatsächlich ließen sich nur 25% der Emigrierten in Israel nieder. Literatur: Eisler, Jerzy (2009): „1968. Jews, Anti‐Semitism, Emi‐ gration“. In: Gluchowski, Leszek / Polonsky, Antony (Hg.): 1968: Forty Years After (Polin: Studies in Po‐ lish Jewry, Volume 21). London: The Littman Library of Jewish Civilization, S. 37‐61. !"#$%&$'()$&*+,-(./00123(4567(879(,#9(:67(;<*=#3(;*>7‐ slaw Piasecki, the Polish Communists, and the Anti‐ Zionist Campaign in Poland 1967–68“. In: East Euro‐ pean Politics & Societies, 19/2 (Mai 2005), S. 185–225. Lendvai, Paul (1972): Antisemitismus ohne Juden. Wien: Europaverlag. Postone, Moishe (1980): „Anti‐Semitism and National Socialism. Notes on the German Reaction to ‚Holo‐ caust‘“. In: New German Critique, 19 (Winter 1980), S. 97–115. Stola, Dariusz (2005): „Fighting Against the Shadows. The Anti‐Zionist Campaign of 1968“. In: Blobaum, Robert (Hg.): Antisemitism and Its Opponents in Modern Poland. Ithaka (NY): Cornell University Press, S. 283–300. Wolak, Arthur J. (2004): Forced Out. The Fate of Polish Je‐ wry in Communist Poland. Tucson (AZ): Fenestra Books.

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MIT VERZERRTEN LINKEN POSITIONEN AUF STIMMENFANG Fabian Lehr

Der neue Front National unter Marine Le Pen

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eitdem Marine Le Pen mit dem Front Nati‐ onal (FN) bei den PräsidentInnenschafts‐ wahlen 2012 mit fast 18 % der Stimmen im ersten Wahlgang sogar das europaweit für Auf‐ sehen sorgende Rekordergebnis ihres Vaters und Amtsvorgängers, Jean‐Marie Le Pen, vom Jahr 2002 übertroffen hat, sind in den französi‐ schen Medien jene Stimmen verstummt, die in der Stärke des FN ein vorübergehendes Resul‐ tat unreflektierten Protestwählens sahen. Of‐ fensichtlich hat sich der FN als stabiles Element der Parteienlandschaft Frankreichs mit loyaler StammwählerInnenschaft etabliert. Obwohl die Partei bereits unter Jean‐Marie Le Pen begann, sich im Lauf der 2000er Jahre vom Image einer rechtsextremen Krawallpartei zu distanzieren, um auch die traditionell konservative Bourgeoi‐ sie des Landes anzusprechen, war es doch Ma‐ rine Le Pen, die seit ihrem Amtsantritt 2011 den begonnenen Kurswechsel beschleunigte. Sie vollendete die Transformation des FN von einer muffigen rechtsextremen Altherrenpartei zu ei‐ ner, vor allem bei jungen WählerInnen belieb‐

ten, salonfähigen rechtspopulistischen Partei modernen Typus, die Ähnlichkeit beispielsweise mit der FPÖ in Österreich oder den Rechtspo‐ pulistInnen in den Beneluxländern und Groß‐ britannien aufweist. Insbesondere distanzierte sich Marine Le Pen vom bis zur Holocaustleug‐ nung reichenden Antisemitismus ihres Vaters. Stattdessen konzentrierte der FN sich beim letzten PräsidentInnenschaftswahlkampf völlig auf islamfeindliche Kampagnen. Die altbekann‐ ten Slogans von der drohenden Islamisierung Frankreichs und der angeblichen Kriminalität arabischer MigrantInnen wurden dabei durch intensive Medienarbeit im Internet in einer mo‐ derneren und aggressiveren Form publiziert, die dem FN eine größere und jüngere Klientel zu‐ führte – Marine Le Pen gilt vielen jungen Fran‐ zösInnen als unkonventionelle, ‚coole‘ Persön‐ lichkeit. Nicht nur Jugendliche goutieren den neuen Stil des FN: Indem sich Marine Le Pen von der NS‐Sympathie ihres Vaters distanzierte, wurde sie für das gaullistische BürgerInnentum wählbar. Dieses hatte den alten FN nicht so sehr wegen dessen rassistischer und sexistischer Pa‐ rolen abgelehnt, sondern eher, weil es die Gaul‐ listInnen mit ihren patriotischen Empfindun‐ gen als unvereinbar betrachteten, für eine Partei

zu stimmen, die als Sammelbecken für Vichy‐ SympathisantInnen begonnen hatte. Aber trotz aufgepeppter Verpackung – weder die gehässige Islamophobie noch die sexistischen und homo‐ phoben Rollenbilder oder die Forderung nach härterer Justiz, die im Wahlkampf wiederholt wurden, sind neu.

Globalisierungskritik im rechten Gewand Das Neue in der Agitation des FN liegt dar‐ in, die bis dahin unverbundenen Kernanliegen des FN – Fremdenfeindlichkeit einerseits und eine Art nationalistischer Pseudo‐Sozialismus andererseits – in einer Symbiose zu einer Art ‚rassistischer Globalisierungskritik‘ zu vereinen: Die globale Migration wird als ein Manöver des neoliberalen Großkapitals interpretiert, um durch das Einschleusen billiger Arbeitskräfte in die Industriestaaten die Löhne zu drücken. Die französische ArbeiterInnenklasse wird in ein ‚echt französisches‘, unter der Globalisierung leidendes Proletariat und ein ‚migrantisches‘, als Werkzeug der Globalisierung verstandenes Proletariat aufgeteilt und ersteres gegen zwei‐ teres aufgehetzt. So gelingt Marine Le Pen das

Kunststück, die am stärksten diskriminierte und ausgebeutete Bevölkerungsgruppe als Globali‐ sierungsprofiteurInnen und TotengräberInnen der privilegierten französischen Mittelklasse zu präsentieren. Etliche SympathisantInnen Le Pens gehen so weit, dieses Konzept als ‚marxis‐ tisch‘ zu interpretieren und damit auf Stimmen‐ fang unter ehemaligen KommunistInnen zu gehen. Nie zuvor hatte der FN ökonomischen Themen eine so große Bedeutung beigemessen, was sich auch darin ausdrückt, dass Le Pen wäh‐ rend des PräsidentInnenschaftswahlkampfes Jean‐Luc Mélenchon, den Kandidaten der Front de Gauche (dt.: Linksfront), als Hauptfeind be‐ handelte. Sie warf ihm vor, die Interessen der ‚echten französischen‘ ArbeiterInnen zu miss‐ achten und sich durch seinen Antirassismus zum Instrument der Globalisierung zu machen. Ob diese plumpe Anbiederung des Rechtspo‐ pulismus an links orientierte WählerInnen als Reaktion auf die Krise auch außerhalb Frank‐ reichs Schule machen kann, wird sich zeigen X)3=J)YJA8DO)ZM4D8)[2JJ2H4<5/)\QLQ)[BJ2GM=5):<3) Geert Wilders’ scheinen jedenfalls darauf hin‐ zudeuten, dass Rassismus und Globalisierungs‐ kritik auch im Rest Europas eine unheilvolle Symbiose eingehen können.

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internationales

„UNSERE FREUNDiNNEN? SIE SIND NICHT DA.“ Alessandro Volcich

Als Aktivist der Union freier syrischer StudentInnen musste der Psychologiestudent Alan Hassaf aus Syrien fliehen. Eingeladen von der deutschen Partner-NGO Adopt a Revolution, die für den säkularen und zivilen Widerstand Spenden sammelt, warb der liberale Demokrat im Kulturverein w23 für die Revolution in Syrien.

Die Muslimbrüder gelten als starke politische Kraft innerhalb der Syrischen Nationalen Koalition, die als Vertretung der Opposition gesehen wird. Sie sind islamisch, persönlich bin ich dagegen. Aber sie sind besser als die SalafistInnen. Die Muslimbrüder hängen einer nationalen Idee an. Sie stimmen mit einer Verfassung überein, die die Rechte aller schützt und keine islamische ist. Wir wissen es nicht, vielleicht werden sie in Zu‐ kunft ihre Ansichten ändern, aber bis jetzt habe ich keine Angst vor ihnen. Aber selbst ein sogenannter moderater Isla‐ mismus tritt nicht für einen zivilen Staat und die Trennung von Staat und Moschee ein. Die Muslimbrüder sagen aber, dass Moschee und Staat getrennt bleiben sollen. Es gibt eine Sache, die mich sicher fühlen lässt. Die syrische Gesellschaft ist nicht wie jene des Irak oder des Iran. Sie ist eine säkulare. Als ich in Damaskus lebte, habe ich nie jemanden mit langem Bart gesehen. Könnten wir demokratische Wahlen abhalten, dann würden diese meine Rechte und die der anderen schützen.

Alan, du bist nach Österreich geflohen. Wie ist die Situation der syrischen Flüchtlinge? Als mich der Sicherheitsdienst verhaften wollte, versteckte ich mich für ein paar Monate und ging dann in die Türkei. Dort leben mehr als 150.000 Flüchtlinge in überfüllten Zelten. Ich wollte aber für die Union der freien syrischen StudentInnen weiterarbeiten, was in den Lagern, die von jeder Kommunikation abgeschnitten sind, unmöglich war. Die türkische Regierung sagt uns, dass wir nicht als Flüchtlinge gelten, sondern als Gäste. Und Gäste haben keine Rechte. Nun gibt es aber den Konflikt und auch Inter‐ ventionen. Saudi‐Arabien will den RebellInnen Im Sommer 2012 hat die EU‐Kommission die 100 Millionen Dollar spenden. Diese Gelder Operation Shield gestartet, um illegale Grenz‐ landen wohl nicht bei Säkularen. übertritte nach Griechenland, wohin die mei‐ Ehrlich, das ist unser Problem mit den west‐ sten SyrerInnen fliehen, zu stoppen und in lichen Regierungen und NGOs. Wir von den die Türkei abzuschieben. Zeigt das die Haltung RLL5) 54<3) 2J9) :<3) 5GM62GMQ) ^:A) 3=J) 2<3=‐ der EU in dem Konflikt? ren Seite verfügen die politisch‐islamischen Der Punkt ist ein anderer. Für jeden Flüchtling Gruppen über Rückhalt. Saudi‐Arabien zahlt auf Erden ist sein eigenes Land besser. Würde ihnen Millionen wie nichts. Und wir können man nicht gezwungen, sein oder ihr Land zu nicht mal 70 Dollar für eine Internetrechnung verlassen, dann verlässt man es nicht. Die beste ausgeben. Die Revolution geht nun schon seit Lösung ist nicht, jeden Flüchtling willkommen zwei Jahren. Zu Beginn gab es keine bewaff‐ zu heißen, sondern die Probleme in den Län‐ neten Gruppen. Alles war säkular und fried‐ dern wie Syrien zu lösen. Die EU und die USA lich – es war großartig. Aber die westlichen sollten ihre politische Macht dafür einsetzen. Regierungen konnten keine klaren Entschei‐ dungen treffen. Die radikalen islamischen An‐ Wie bist du aktiv? sichten hatten den Raum, sich in Syrien frei zu Ich repräsentierte Studierende aus ganz Sy‐ entfalten. rien in den lokalen Koordinationskomittees, 1 3=<)RLL5Q Ich mobilisierte für Kundgebungen Ein Argument für den Westen nicht einzugrei‐ und den friedlichen Widerstand an der Uni‐ fen, war die Angst vor dem, was nach der versität Damaskus. Außerhalb Syriens arbei‐ Revolution käme, dass Al Kaida die Macht te ich als Sprecher der Medienabteilung. Das übernähme. Heute deklariert man zwar die \2:]BH4=D)3=J)RLL)45B)34=)^S32<;:<O)3=5)-=O4‐ SalafistInnenbrigaden von Al Nusra als Ter‐ mes der Baath‐Partei durch friedlichen Wider‐ roristInnen, unterstützt aber die Muslimbrü‐ stand. Wir sehen den Nutzen der zivilen Mittel der und nicht die säkulare Opposition. Schafft für zwei Ziele: den Sturz des Regimes und den man sich so nicht erst recht die Gefahr, die Schutz der Bevölkerung vor unkontrollierten man befürchtet? Ich verstehe den Westen nicht. In Istanbul traf Waffen in den Straßen. 4GM)\4DD2JI)LD4<B8<):<3)AJ2OB=)54=_)`025)92GMB) Der Sturz des Regimes ist das Ziel der meisten ihr Leute? Ihr sagt, ihr sorgt euch um die Zu‐ oppositionellen Gruppen. Trotzdem gibt es ;:<AB)[IJ4=<5)X)64J)a8<)3=<)RLL5):<3)2<3=J=<) Unterschiede vor allem in den Vorstellungen säkularen, zivilen Gruppen haben eine Road‐ map. Unterstützt uns. Sagt, dass ihr an diese darüber, was danach kommt. Eigentlich denken die Leute in Syrien dasselbe. Roadmap glaubt. Tut ihr das nicht, dann lasst YO2D) 8S) 54=) F:5D49K<<=</) LMJ45BK<<=</) C:J3K<‐ ihr die Muslimbrüder immer stärker werden. nen oder AraberInnen sind. Sie wollen Frieden, Die Salafis auch. Und dann sagt ihr, dass ihr Demokratie und Rechte, die eingehalten werden. vor der Zukunft Syriens Angst habt. Ihr seid Die Unterschiede kommen von den politischen Teil der Zerstörung Syriens, indem ihr nichts FührerInnen von außerhalb. Das sind alte Kerle, tut.“ Die Muslimbrüder haben keinen großen Rückhalt in Syrien, aber sie haben eines: Geld. die historische Probleme miteinander haben.

Aber nehmen die Menschen mit den materi‐ ellen Gütern auch ihre Ideologie an? Religiöses Denken setzt dann ein, wenn du kei‐ ne Wahl und alle Hoffnung verloren hast. In Syrien verschafft den Menschen keine andere Idee außer Gott Sicherheit. Das nähert sie den Muslimbrüdern an, neben all dem Geld und den Waffen, die sie ihnen geben.

Hanin Ghaddar hat davor gewarnt, dass ohne eine Kritik der Baath‐Mentalität die Revolu‐ tion eine Demokratie ohne Inhalt bringen würde – eine Diktatur der Mehrheit ohne individuelle Rechte. Das gute an Syrien ist, dass es keine Mehrhei‐ ten gibt. Auch die SunnitInnen, die angeblich 60 bis 70 % ausmachen, sind es nicht. Nur wenn man KurdInnen und andere dazuzählt. Die Wie ist eure Beziehung zum bewaffneten KurdInnen aber denken nicht sehr islamisch. Widerstand? Glaubt ihr, dass man zum jet‐ Ich möchte, dass Syrien keine arabische Repu‐ zigen Zeitpunkt das Regime friedlich stürzen blik wird, sondern eine für alle. kann? Hätten wir die Mittel, könnten wir jedeN in Eine Taktik des Regimes ist es, den Konflikt Syrien mit unseren Ideen erreichen. Könnten zu konfessionalisieren und als Aufstand sun‐ wir die 23 Millionen Menschen dazu bringen, nitischer IslamistInnen darzustellen. einfach nichts zu tun, nur zuhause zu bleiben, Das Regime arbeitet hart daran, diesen Gedan‐ nicht arbeiten zu gehen, das Regime könnte ken in alle Köpfe zu bringen. Es versucht den nicht eine Woche weitermachen. Zur Verbrei‐ LMJ45BK<<=</)3=<)^D264BK<<=<):<3)3=<)C:J3K<‐ tung unserer Ideen benutzen wir das Internet nen Angst zu machen. Bei uns, der Union frei‐ und mündliche Gespräche – nicht mehr als fünf er syrischer StudentInnen, war der Großteil der Prozent der SyrerInnen verwenden das Internet. Mitglieder alawitisch. JedeR weiß, dass das Re‐ Wir haben viele Ideen, nur leider fehlt es uns gime lügt. Auch seine UnterstützerInnen. an Geld. Auch wenn das Regime lügt, versucht es die Und der bewaffnete Widerstand? AlawitInnen an sich zu binden, indem es sie Es gibt viele Gebiete, wo die bewaffneten Grup‐ zu KomplizInnen der Verbrechen macht und pen großartig sind. In Damaskus beschützten den alawitischen Charakter der Armee beson‐ sie den friedlichen Widerstand und Kundge‐ ders hervorhebt. bungen. Für Monate schützten sie die Stadt, re‐ Davor habe ich wirklich Angst. Aber das Gute gelten das Leben und machten keine Unord‐ ist, dass es bis jetzt nicht zu viele dieser Vorfälle nung. Sie sind keine Salafis. gab. Als AlawitInnen ein sunnitisches Dorf an‐ griffen und alle töteten, stellten PolitikerInnen Die österreichische Regierung tritt für einen und AktivistInnen klar, dass es in Syrien nur Dialog ein. Kann es den mit diesem Regime zwei Seiten gäbe: die RebellInnen und die Un‐ geben? terstützerInnen des Regimes. Zu Beginn wurden kleine Dinge gefordert. Aber am 15. März 2011 griff das Regime mit Waffen Kanan Makiya nannte den baathistischen an und tötete Menschen. Dann erst brach der Irak eine „Republik der Angst“. Diese Angst Dialog zusammen. Nun ist unser Ziel der Sturz verhinderte jede Veränderung. der Baath‐Partei und Bashar Assads. Für die Re‐ Die Angst war in Syrien für eine lange Zeit die gierung ist das verboten. Wie sollen wir da eine Mauer. JedeR dachte dasselbe, alle hassten das Mitte finden? Regime, aber jedeR hatte Angst vor dem Bru‐ der, der Mutter, den NachbarInnen, einfach vor Dialog zu fordern wäre also zynisch? allen. Schon vor dem Arabischen Frühling ver‐ Ich war auch für den Dialog und nicht dafür, suchte man eine syrische Revolution zu ma‐ zu kämpfen, aber das ist geschehen. 2002 ha‐ chen. Aber es gelang wegen der Angst nicht. Du ben wir eine Kundgebung abgehalten, was sehr kannst keine Revolution auf Befehl machen, es gefährlich war. Wir wollten nur reden – einen passiert plötzlich. Wie in Daraa, wo plötzlich Dialog. Alle wurden verhaftet. Das Regime ak‐ alle auf die Straße gingen. zeptiert keine halben Sachen. Sie wollen 100 % Haben demokratische Staaten die Pflicht, den oder gar nichts. Kampf gegen Diktaturen in anderen Ländern Du forderst Unterstützung westlicher Regie‐ zu unterstützen? rungen. Auch Interventionen? Wenn ein Vulkan ausbricht, hast du das Recht, Ich hoffe, dass es eine militärische Interventi‐ den Menschen zu helfen. Wenn du ihnen hilfst, on westlicher Regierungen gibt. Nur so kann die am Leben zu bleiben, dann ist das etwas Gutes. Zukunft Syriens gesichert werden. Wenigstens Ich war glücklich, als es 2003 den Krieg gegen wird es dann nicht überall Waffen geben, keine den Irak gab. Man weiß, wie schlimm die iraki‐ 15‐Jährigen mit Kalaschnikows, die jedeN töten sche Situation war, täglich wurde jemand getö‐ können. Wir haben iranische Offiziere und rus‐ tet. Natürlich gibt es das Recht, die Menschen‐ sische WaffenexpertInnen, die syrische Offizie‐ rechte zu beschützen. rInnen beraten. Wir haben Hisbollah‐Kämpfer, die Waffen einsetzen. Es ist kein syrischer Krieg, Das Interview wurde auf Englisch geführt und vom Au‐ es ist größer. JedeR kämpft. Der Iran, Russland, tor ins Deutsche übersetzt. Die Redaktion formulierte die Hisbollah und andere kämpfen gegen uns. es geschlechtersensibel um. Und auf unserer Seite? Unsere FreundInnen? 1 Sie sind nicht da. http://www.lccsyria.org/en/

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feuilleton

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AKTIONEN/MITMACHEN ** Mittwoch, 23. Jänner, ab 20:15 „textstrom poetry slam“. Moderation: Mieze Medusa & Tenderboy. Im Rhiz (1080, U‐Bahnbogen 37) ** Mittwoch, 30. Jänner, 20:00 Ich weiß wo du letzten Jänner getanzt hast. Info‐ und Vernetzungsabend Raum für Vernetzung und Informati‐ on, zum diesjährigen burschenschaft‐ lichen Gala‐Event, dem 1. Wiener Akademikerball. Im w23 (1010, Wipplingerstr. 23) queer.raw.at nowkr.at ** Freitag, 1. Februar, 18:00 No WKR Demo 2013 ^9)Y:J8]2]D2BH)m)LMJ45B42<jnJ832j+D2BH) (1060) nowkr.at

ESSEN ** Jeden Freitag, 9:00–17:00 WUK‐Wochenmarkt – Lebensmittel, Pflanzen, Samen, Erde – kontrolliert bio‐ logisch, regional, nachhaltig, engagiert einkaufen. Im WUK‐Hof (1090, Währingerstraße 59) wuk.at ** Jeden ersten Sonntag im Monat, ab 14:00 Weibafrühstück! Mit leckerem veganem Buffet gegen Staat, Patriarchat und (He‐ tero‐)Sexismus. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med‐user.net/~ekh ** Lecker Essen zu günstigen Preisen: Verschiedene warme vegetarische/vegane Tagesteller (bis 22:00); Öffnungszeiten: Montag–Freitag 9:00–2:00, Samstag und Sonntag ab 19:00 Im Gagarin (1090, Garnisongasse 24) cafegagarin.at

** Jeden Dienstag, ab 20:00 Fohlen‐flitzen: die offene STUTHE‐Im‐ pro – einfach vorbeikommen! Im Initiativen‐Raum des WUK (1090, Währingerstraße 59) wuk.at www.stuthe.com/page.php?id=49 ** Jeden Donnerstag, ab 16:00 ReparierBAR – Werkstatt offen bis 20:00 Uhr, danach community. In der Bikekitchen (1150, Goldschlagstr. 8) bikekitchen.net ** Jeden zweiten Donnerstag im Monat, 17:00–18:00 Deutsch um Fünf – moderierte Konver‐ sationsgruppe für Menschen mit nicht‐ deutscher Muttersprache. In der Hauptbücherei am Gürtel, Erker L8DD=O=)h/)oQ)[B8G;)*pqrq/)!JS2<jR8J4BHj Platz 2a) ** Jeden dritten Freitag im Monat, 16:30 L-KZKL^R)F^[[)X)-23)A2MJ=<)45B)s;8‐ logisch, leise, lebenswert, platzsparend, lustig, ökonomisch, sexy und engagiert! Treffpunkt: Schwarzenbergplatz, pünkt‐ lich ;) criticalmass.at Laufend: * Spiku‐Theater‐Workshops im Jänner. Genauer Termin wird bekannt gegeben auf: facebook.com/SpielMitDenKulturen ')t=J)LM8J)3=J)!<4)04=<)5:GMB)54<O=<3=) Männer. Infos: unichor.at. Schau vorbei! * Das Onlineportal „Theatania“ (theata‐ nia.at) macht Lust auf Theater. * Bock auf Kultur: KünstlerInnen und Kulturschaffende treten regelmäßig für Flüchtlinge auf. Infos: bockaufkultur.at!

THEORIE/LESUNG/INFORMATION ** Mittwoch, 23. Jänner, 19:00 Erstes Wiener Lesetheater – Frauen lesen Frauen: Margarete Schütte‐Lihotzky, Er‐ innerungen aus dem Widerstand. K9)-=]:SD4;2<45GM=<)LD:S/)Y4<O2<O)L2Au) Hebenstreit (1010, Rockhgasse 1) repclub.at lesetheater.at ** Mittwoch, 23. Jänner, 20:00 +JP5=<B2B48<)3=5)LJ4])F2O2H4<=/)@S=J)64‐ derständige Praktiken und Aneignungen entlang von Krankheit/Behinderung/De‐ vianz und Abnorm. Mit Eva Egermann. Danach: Filmvorführung „The Alphabet of Feeling Bad“ Im planet 10 (1100, Pernerstorferg. 12) queer.raw.at

FILM/THEATER/ PERFORMANCE ** 16./22./23./29. Jänner `LM:H]=l_)=4<=)!J2:AA@MJ:<O)<2GM)3=9) Roman von Lily Brett. In den Kammerspielen Wien (1010, Rotenturmstraße 20) josefstadt.org ** Freitag, 25. Jänner: Die Nacht der Programmkinos. Premie‐ ren, Previews, Filme zum Wiedersehen – bei freiem Eintritt. programmkino.or.at ** Mittwoch, 30. Jänner, 19.00 Filmvorführung: Adelheid Popp – Frauen bewegung in Österreich Ein semidokumentarischer Film von Hanja Dirnbacher, mit Diskussion. Im Depot (1070, Breitegasse 3) depot.or.at

** Donnerstag, 24. Jänner, 20:00 Queer & Antikapitalismus. Gerechte Gesellschaft machen wir! Input und Diskussion mit Heinz‐ Jürgen Voß. Texte zum Input auf schwule‐seite.de und dasendedessex.blogsport.de Im W23 (1010, Wipplingerstr. 23) queer.raw.at ** Donnerstag, 24. Jänner, 19:30 Feel the difference! Antideutsche und antinationale Kritik. Podiumsdiskussion mit Stephan Grigat und TOP B3rlin Im NIG HS3 (1010, Universitätsstraße 7) nein.antifanet.at

** Donnerstag, 31. Jänner, 19:00 Filmscreening im politdiskubeisl: Stammheim 77/12. Ein Gefängnis im Ge‐ fängnis – Der kurze Flügel im 7. Stock in Stammheim. Film‐, Ton‐ und Fotoma‐ terial aus Polizei und TV‐ Archiven von 1973–1977, ungekürzte Fassung. In der Medienwerkstatt EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med‐user.net/~ekh ** Mittwoch, 20. Februar, 19:00 Filmscreening: Iman Ithram: Schwarzes Rechteck, 1, 2 und 3. Marissa Lôbo: Fuck Europe! Here is talking Super Puta Prada‐ 5B=J<b):<3)F2J4<2)7Jc4<4d/)^4<2)e943/) ,a8<;2)ZQ)[49f4f_)-=D2B48<5Q)gh)i=2J5)8A) BM=)R=5S42<)7J8:])eC!LjRR)Rk:SDk2<2Q Im Rahmen der Ausstellung AIDS/HIV als (andere) Form der Gouvernementalität. In der IG Bildende Kunst (1060, Gumpen‐ dorfer Straße 10–12) igbildendekunst.at

** Jeden ersten Dienstag im Monat, ab 20:00 +J=;PJ)L2Au)X)v=J2<5B2DB:<O=<)H:J) Auseinandersetzung mit dem The‐ ma Prekarisierung von Arbeits‐ und Lebensverhältnissen. In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) prekaer.at ** Samstag, 26. Jänner, 19:00 – 24:00: 5. Wiener Katzenfasching. Sitzung der Katzennarrengilde – rauschende Nacht der närrischen Katzen. Im Kulturcafé Siebenstern (1070, Sieben‐ sterngasse 31) 7stern.at lesetheater.at

** Jeden Mittwoch, ab 20:00 Filmabende. Monatsthema Jänner: Nationalsozialismus. * 23. Jänner: Küchengespräche mit Re‐ bellinnen. Doku von Karin Berger, 1984. karinberger.at * 30. Jänner: Ich komm' nicht von Ausch‐ witz her, ich stamm' aus Wien ‐ Ruth Klüger im Portrait. Doku von Renata Schmidtkunz, 2005. In das Baeckerei (1150, Tannengasse 1, Ecke Felberstraße) dasbaeckerei.net ** Jeden zweiten & vierten Freitag im Monat, 22:30 „The Late Night Theater Jam“. The Eng‐ lish Lovers with their award winning mix of impro‐theatre, music and big dumb fun!!! Im Theater Drachengasse (1010, Fleisch‐ markt 22) drachengasse.at

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feuilleton Kobys Kulinarium:

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Koby Cramer

Heute:

insen gehören hierzulande immer noch zu den vernachlässigten Lebensmitteln und sind vielen Studierenden nur in ihrer Brechreizvariante als Inzersdorfer‐Dose Linsen mit Speck bekannt. Dabei sind sie ebenso günstig und pflegeleicht wie gau‐ menfreundlich und kraftspendend, weshalb Fol‐ gendes mit den kleinen Dingern empfohlen sei.

***

Für eine rote Linsensuppe frisch gemahlenen schwarzen Pfeffer und Salz, Zwiebeln, Knob‐ D2:GM/)J8B=)LM4D45GM8B=):<3)O=M2G;B=<)K<O6=J)4<) Olivenöl (eventuell mit etwas Butter) anbraten, mit Kreuzkümmel und viel mildem Paprikapul‐ ver würzen, gewaschene rote Linsen dazu, mit wenig Zitronensaft ablöschen, mit Rinds‐, Hüh‐ ner‐ oder (diesmal ist für alle was dabei) Gemü‐ sebrühe aufgießen. Einen guten Schuss Milch dazu, ca. 30 Minuten kochen, eventuell frisch gehackte Minze hinein, pürieren, abschmecken, mit frisch gepresstem Zitronensaft servieren. Für den nun folgenden Salat Beluga‐ oder Puy‐ linsen bissfest kochen und noch lauwarm mit gutem, dunklem Balsamicoessig vermengen. Sehr klein geschnittene Frühlingszwiebeln, L8G;B24Dj) 83=J) 2<3=J=) Z892B=<) :<3)a4=D) +=B=J‐ sil untermengen, großzügig Olivenöl, Salz und Pfeffer dazu, mehrere Stunden im Kühlschrank durchziehen lassen.

Für einen ebenso sommerlichen wie und Rotzeugs ihrer jeweiligen Garzeit gemäß in winterlichen Lammeintopf viel gehack‐ das Linsen‐Fleisch‐Gebräu geben, also Karotten B=) ,64=S=D/) C<8SD2:GM/) J8B=) LM4D45GM8B=/) oder Fenchel gut 20 Minuten vor Ende, Zucchi‐ Ingwer, Salz & Pfeffer in Olivenöl anbra‐ ni und Melanzani deutlich später. Das Fleisch ca. ten. Gewürfeltes Lamm dazu: Schlögel eine Stunde köcheln lassen. Mit gehackten Kräu‐ oder irgendetwas anderes zum Schmo‐ tern, z. B. frischem Koriander, bestreut servieren. Das Ganze lässt sich vielfältig abwandeln: ren, am besten auch Knochen. Sehr gut, solan‐ ge man angesichts von ein paar Sehnen und ein ein in seine Einzelteile zerlegtes Huhn (man bisschen Fett im Fleisch nicht gleich hysterisch bedenke hier den kategorischen Imperativ wird: Lammhals. Der wird nicht gewürfelt, son‐ des Schriftstellers und Sängers Wiglaf Droste: dern in dicken Scheiben geschmort: Osso bucco „Selbstverständlich gilt die Pflicht: Quältierwa‐ vom Lamm sozusagen. Wer es sich leisten kann, re frisst man nicht.“) tut’s auch, es gelingt ge‐ kaufe das Fleisch beim nahezu konkurrenzlosen schmacklich allerdings niemals so intensiv wie und liebenswürdigen Ringl in der Gumpendorfer mit Lamm. Wenn Fenchel statt Kürbis genom‐ Straße, ansonsten probiere man die unzähligen men wird, bietet sich Fisch statt jungem Schaf türkischen, kurdischen und sonstigen Lamm‐ an. Der wird in Würfel geschnitten, mit Zitro‐ dealer und ‐dealerinnen durch. Gelbe Linsen nensaft und wenig Sojasauce mariniert und (mit roten geht’s auch) sowie geschälte Kartof‐ kaltgestellt, erst am Ende dazugegeben und ein A=D<) 32H:/) 94B) L:JG:92/) L:94</) =4<=J) [B2<O=) paar Minuten gargezogen. In dem Fall Sterna‐ Zimt und zerstoßenen Korianderkörnern wür‐ nis statt Zimt und Gemüse‐ statt Rindsbrühe. Wer’s vegetarisch mag, lasse jegliches Getier zen, mit Rindsbrühe aufgießen, Karotten und einen sehr kleinen Hokkaido‐Kürbis dazu. Auch weg und nehme zum Ausgleich des dann feh‐ gut und ganz anders: Melanzani und Zucchini lenden essenziellen animalischen Geschmacks 83=J)?=<GM=D):<3)LM29]4O<8<5)5B2BB)C@JS45):<3) 9=MJ) LM4D4) :<3) 58<5B4O=) 7=6@JH=Q) ^<58<5B=<) Karotten, oder, wer’s mag, alles auf einmal. Bei sei diesen Kostverächtern und ‐Verächterinnen einer durchaus nachvollziehbaren Abneigung allerdings mit Drostes Gedicht Richtig spach‐ gegen zerkochtes Gemüse: das diverse Grün‐ teln gegen Nazis in Erinnerung gerufen: „Hit‐

TREFFPUNKTE

MUSIK & FEIERN

** Donnerstag, 24. Jänner: Noodweer / Laubsägenmassaker III / Butcher Babes: Metalcrust gemixt mit Punk, Elektro Punk und trashiger Riotgrrrl Punk Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med‐user.net/~ekh ** Freitag, 25. Jänner 2013, 21:00: WTF?!‐Ball – Für einen antisexistischen und antirassistischen Normalzustand! Ost Klub (1040, Schwarzenbergplatz 10/1) wtfball.at ** Sonntag, 27. Jänner: premium sunday club präsentiert: live: Department of Volxvergnuegen München feat. F. Schenkel, Inst. F. Leitungsabfall, Die Else Girls (D). dj dept.audio.exe, vj tps nostromo! Eintritt frei! Im Rhiz (1080, U‐Bahnbogen 37) rhiz.org ** Freitag, 1. Feburar, 21:00: G1 presents Décadence – NoWKR after‐ party. Techno, Minimal, Electro, House u. a. mit Nicorus (Berlin) Im EKH (Wielandgasse 2–4, 1100 Wien) glacis1.at

ler vegetierte arisch, lebte vulgo vegetarisch. Fleisch? Niemals, nicht einen Happs! Auch kein Bier und keinen Schnaps […] Junge deut‐ sche Antifaschen ähneln oft den Hallimaschen: Fahl sind sie und mickrig und magersüchtig un‐ gesund. Denn ihr Leben ist, ich ahn es, jederzeit ein vollveganes. Und ihr Tierschutz‐Übereifer ähnelt Adolfs Vegi‐Geifer.“ So etwas steht in der Zeitschrift Häuptling eigener Herd, in der allerlei Kulinarisches und Literarisches „so vierteljährlich wie möglich“ in ausgesprochen ansprechender Form präsentiert wird. Die Zeitschrift mit dem sympathischen Untertitel Wir schnallen den Gürtel weiter wird vom unprätentiösen Spitzenkoch Vincent Klink gemeinsam mit Droste herausgegeben, der in aller Regel auch dann noch gekonnt, lustig und charmant formuliert, wenn er politischen Un‐ sinn schreibt. Und das tut er in letzter Zeit leider immer öfter, insbesondere seitdem er sich dem deutschen Volkssturm der Stuttgart‐21‐Gegner und ‐Gegnerinnen angeschlossen hat, anstatt ihn mit jenem beißenden Spott zu überziehen, der ihm ebenso gebührt wie der Deutschen Bahn, und den man sich von Droste, dem Autor von so schönen Geschichten wie Ich sah die Green‐ peace Queen, durchaus erwartet hätte.

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TERMIN ** Dienstag, 22. Jänner, 20:00: ^G8:5B4G)[2D8<)49)L2Au)-=5B2:J2<BQ)^DB=J‐ native Strings Trio. Eintritt: freie Spende. In der Sargfabrik (1140, Golschlagstr. 169) sargfabrik.at

DREIMAL LINSEN

E ** Samstag, 9. Februar: Frauenbanden! Es wird vormittags mit einem Brunch in den Tag gestartet wer‐ den, anschließend bereichern wir uns an Workshops und zu guter Letzt kommt dann das große Fest, zum ersten Mal mit OPEN STAGE! med‐user.net/~ekh ** Jeden ersten Freitag im Monat, 20:00: Queerstyle Session. Eintritt: freie Spende. Freestylesession für FrauenLesbenTrans*Intersex‐ und gen‐ derqueere Personen. Im Kaleidoskop (1050, Schönbrunnerstraße 91) kaleidoskop.blogsport.eu ** Jeden zweiten Samstag im Monat, ab 19:00: 1bm Freestylesession – An der improvi‐ sierten Darbietung rythmischer Texte erfreuen + beteiligen. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) 1bm.at ** Jeden ersten Sonntag im Monat, ab 19:00 (gemeinsam kochen ab 16:00): TÜWIs JAMSESSION. Im Tüwi (1190, Peter‐Jordan‐Straße 76) tuewi.action.at

AUSSTELLUNG

** Jeden zweiten Montag im Monat, 20:00: Literatur, Musik & Kleinkunst: WILDE WORTE – Freie Wildbahn und Wunschgedichte. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) amerlinghaus.at

** Bis 3. Februar 2013: Rosa Arbeit auf Goldener Straße. Eine Ausstellung als Teil des Projekts „Dildo Anus Macht: Queere Abstraktion“. In der Akademie der Bildenden Künste (1010, Schillerplatz 3) akbild.ac.at

** Montag bis Freitag 10:00–18:00, und Samstag 10:00–15:00: Belesen sein in der ersten feministischen Buchhandlung. LM4G;R4B)*pqpq/)CD==SD2BBO255=)r. chicklit.at

** Bis 28. Februar: Schaufenster – Ulrike Lienbacher. Kar‐ tenhaus (Fotoarbeit): Irritation und End‐ losigkeit im öffentlichen Raum. Bei der Kunsthalle Wien (1070, Museumsplatz 1)

** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00–20:00: Offen in der Schenke. Jeden Dienstag für Trans‐ & Intersex‐Personen und Frauen. In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) dieschenke.org

** 16. Jänner bis 1. März: Origo (am Nullpunkt des Standpunktes). Überträgt die Sprachtheorie Karl Bühlers auf die bildende Kunst. In der Kunsthalle Exnergasse (1090, Währingerstraße 59) kunsthalle.wuk.at

** Jeden Montag/Donnerstag/Freitag, 15:00–20:00: Kostnixladen: Bring Dinge vorbei und nimm dir welche mit. Im V.E.K.K.S (1050, Zentagasse 26) umsonstladen.at

** Bis 3. März: „Vienna‘s Shooting Girls. Jüdische Foto‐ grafinnen aus Wien“ beleuchtet die Arbeiten von 30 Künstlerinnen. Im Jüdischen Museum Wien (1010, Dorotheergasse 11) jmw.at

** Jeden Montag 13:00–19:00, Freitag 15:00–23:00: n2=G;=J=4Q)L2Au/)n2JS=BJ4=S/)+D=<2/)t45‐ kussionen. Textilwerkstätte & Veranstal‐ tungsbereich geplant. In das Baeckerei (1150, Tannengasse 1 / Ecke Felberstraße 30) dasbackerei.net

** Jeden Mittwoch & Freitag, 17:00–20:00: Die Biliothek – von unten. read – resist – rebel – revolt In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) wipplinger23.blogspot.co.at bibliothek‐vonunten.org ** Jeden Mittwoch, 18:00–22:00: Bahoemagasin: Austauschort, kinder‐ freundlich, rauchfrei, hundefrei, ab 20:30 meistens Programm. Im Kindercafé Lolligo (1010, Fischerstiege 4–8) lolligo.net bahoemagasin.blogsport.de ** Jeden Donnerstag, ab 20:00: Subversives Freiräumchen zum Abschal‐ ten und Revolutionen planen mit Stil – links, subversiv, mit Flirtfaktor. In der Rosa Lila Villa, 1. Stock (1060, Linke Wienzeile 102) villa.at ** Jeden ersten Donnerstag im Monat, 20:00: Volxlesung – mensch kann lesen, singen, rappen, stricken oder einfach nur zuhö‐ ren, Pausen werden angenehm beschallt. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen) 1bm.at ** Jeden Donnerstag und Freitag, 18:00–24:00: t25)?LjC<=4]=<;8DD=;B4a)5GM=<;B)=4<b) Weil Diskurs Raum braucht und Politik einen Tresen. Im Frauencafé (1080, Lange Gasse 11) frauencafé.com

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feuilleton

„SKATE LIKE YOU MEAN IT“ Das Wiener Derby hat ein neues Gewand bekommen – oder besser gesagt es wird nicht mehr nur am Rasen, sondern auch auf Rollschuhen ausgetragen: Mit den Vienna Rollergirls findet das amerikanische Roller Derby nun seinen Platz auf Wiens Rollschuhbahnen.

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nach welchen die meisten Teams – so auch die Vienna Rollergirls – spielen, erlauben es über‐ haupt erst ab einem Alter von 18 Jahren, an ei‐ nem Bout teilzunehmen. Die Verletzungsgefahr sei zu groß, um Minderjährige zuzulassen. „Ich denke eigentlich nicht, dass das Risiko höher ist als bei anderen Sportarten, aber manchmal muss man in einem Bout eben auch was einste‐ cken können“, meint Hans‐a‐Blast. „Es kommt aber allgemein eher darauf an, wie trainiert man ist, darum machen wir auch viele Off‐Ska‐ tes‐Trainings, um unsere Muskulatur aufzubau‐ en“, erklärt sie die noch fehlenden Rollschuhe der restlichen Girls auf der Strecke. „Wenn man gut trainiert ist, dann passiert auch schon mal weniger. Außerdem ist man ja von oben bis un‐ ten gepolstert“, beruhigt sie.

ichter Nebel hängt über der Wiener Leo‐ poldstadt. Inmitten von tristem Nichts liegt im zweiten Wiener Gemeindebezirk die Dusi‐ ka Sport and Fun‐Halle. Im Inneren des Gebäu‐ des finden sich Volleyball‐Spieler_innen, die zwischen Tischfußballtischen und Basketball‐ körben ihren Aufschlag trainieren. „Die Roll‐ Die eigenen Grenzen schuhfahrerinnen – die sind ganz hinten“, wird uns am Eingang mitgeteilt. Vorbei an diversen „Ich bin nicht mehr auf Rollschuhen gestanden, Sportler_innenteams, Dribbel‐Geräuschen und seit ich sechs war“, erzählt Sara*, während sie fallenden Körpern entdecken wir „ganz hin‐ sich ihre Skates schnürt. Sie nimmt zum ersten ten“ die ersten Rollergirls, die bereits ihre Run‐ Mal an einem Training der Rollergirls teil. Durch den auf der Hockeybahn drehen. Auch Wiens Bekannte darauf aufmerksam gemacht, ging sie erstes Roller Derby‐Team bereitet sich in der in Ende Oktober zum Recruiting‐Day der Skate‐ kaltes Neonröhrenlicht getauchten Halle auf rinnen und wurde so Mitglied des Frauenteams ihre Bouts, also ihre Wettkämpfe, vor – unter auf Rädern. Auch die restlichen Frauen machen den kritischen Augen der am Rand stehenden sich zum Skaten fertig, legen Mund‐, Knie‐, Ell‐ Landhockeyspieler_innen, die den Platz im An‐ bogen‐ und Handgelenkschützer an, die genau‐ schluss gemietet haben. so wie der Helm Pflicht sind, um auf die Bahn zu Im Oktober 2012 fand in Wien das zweite Rol‐ kommen. Schließlich ist der Sport „rasant und ler Derby‐Spiel in Österreich statt. Die Vienna herausfordernd“, was für Hans‐a‐Blast auch die Rollergirls gewannen den Home‐Bout gegen die Faszination ausmacht: „Man lernt einfach nie Zürich City Rollergirlz am ausverkauften Schul‐ aus und man muss ständig kämpfen, bis man an schiff mit einem Endergebnis von 273 zu 202 die eigenen Grenzen stößt.“ An diese wird Sara Punkten. Ein Konkurrenzkampf herrscht un‐ in einem der folgenden Trainings noch gelan‐ ter den Frauenteams jedoch nicht. „Es ist ein gen und sich den Arm brechen: „Mein Körper sehr freundschaftliches Verhältnis. Wir tau‐ war einfach schneller als meine Beine ihn tragen schen uns aus, freuen uns wenn wir einander konnten und ich war nicht mal auf den Skates sehen, manchmal spielen wir sogar zusammen“, – ich hab mich einfach übernommen“, wird sie meint Hans‐a‐Blast, die im T‐Shirt der Zürich sich an den ersten Bruch in der Geschichte des City Rollergirlz, in deren Team sie bereits gerollt Vienna Rollergirls‐Teams erinnern. ist, dem Training beiwohnt. Mitmachen wird sie heute aber nicht, sie bleibt auf der Bank ne‐ „Nenn’ mich Hans-a-Blast“ ben der Bahn sitzen: „Ich bin die Dumme, die ihren Helm vergessen hat.“ Und ohne Kopf‐ Diejenigen, die schon länger als Sara dabei schutz geht es nicht mal zum Üben auf den sind, haben ihre bürgerlichen Namen abge‐ Track – das ist zu gefährlich. Die Wettkampfre‐ legt; zumindest für die Zeit in der sie auf den geln der Women’s Flat Track Derby Association, Rollen stehen. „Das ist natürlich auch, um eine

Oona Kroisleitner

andere Identität anzunehmen und alle haben ihre individuellen Geschichten, wie sie zu ih‐ ren Namen gekommen sind“, erzählt Hans‐a‐ Blast. Sie selbst hat ihr Alter‐Ego in Anlehnung an die 1980er Jahre Punkband Hans‐a‐Plast ge‐ wählt, mit der sie schon immer „eine gewisse Verbindung“ hatte und mit dem Derbysport gemischt. Die 26‐Jährige ist „ziemlich am An‐ fang – als wir nur zu viert waren“ dazugekom‐ men. Dieser Anfang der Vienna Rollergirls liegt im Frühjahr 2011. „So richtig mit den Trainings losgegangen“ ist es laut Hans‐a‐Blast jedoch erst nach dem Sommer: „Bis dahin haben wir uns youtube‐Videos angesehen und gedacht, dass wir das auch machen wollen. Wir hatten zu dem Zeitpunkt jedoch noch keine Spielerin mit Erfahrung und selber hatten wir auch gar keinen Plan. Wir wollten das einfach machen.“ Im darauffolgenden September sollten die Rollergirls sich dann aber um eine erfahrene‐ re Spielerin vergrößern. Zandy Zunder spielte bereits seit drei Jahren bei dem Berliner Team Bombshells, bevor sie nach Wien zog und sich den ansässigen Derbygirls anschloss. „Sie hat uns das dann glücklicherweise beigebracht. Es ist wie Tag und Nacht, ob man ein Training von jemanden bekommt, die Erfahrung hat, oder sich das alles selbst beibringen muss“, erinnert sich Hans‐a‐Blast.

Unter Frauen

sicher nicht kennen gelernt hätte“, erzählt die auf der Bank Gebliebene. Neben dem Schieds‐ richter sind Männer bei Bouts nur am Rande des Track als Fans zu finden. Sexistische Mel‐ dungen blieben in Wien bis jetzt jedoch die Ausnahme. „In älteren Online‐Videos erklären männliche Fans, dass sie auf die Outfits der Skaterinnen stehen, aber das Roller Derby hat sich weiterentwickelt und das Sportliche steht im Vordergrund“, erzählt Hans‐a‐Blast. „Wir sind ein eher athletischeres Team. Die meisten gehen in Sporthosen auf die Track und nicht in Röcken. Es gibt aber auch Teams, die mit die‐ sen Klischees mehr spielen und diese so bedie‐ nen.“ Im Team der Vienna Rollergirls kümmern sich die Mitglieder um alles selbst. „Es ist faszi‐ nierend, das alles gemeinsam aufzustellen. Wir organisieren alles alleine: suchen unsere Trai‐ ningsmöglichkeiten, rekrutieren Teammitglie‐ der und Schiedsrichter_innen und organisieren Bouts“, erklärt Hans‐a‐Blast. Auch ums Finan‐ zielle müssen sich die Frauen selbst kümmern. Durch Solipartys und Mitgliedsbeiträge werden ZJ24<4<O5M2DD=) :<3) L8Q) O=H2MDBQ) t4=) -=45=<) H:) internationalen Wettkämpfen müssen die Mit‐ glieder selbst abdecken. „Wir haben noch keine Sponsor_innen, aber wir suchen, damit die ein‐ zelnen Spielerinnen nicht länger auf den Kos‐ ten sitzenbleiben“, sagt Hans‐a‐Blast. Die mittlerweile recht verschwitzten Team‐ mitglieder verlassen wieder den Track; das letz‐ te Training der Woche ist zu Ende. Insgesamt vier Mal trainieren die Frauen gemeinsam in der Halle. „Und alles klar bei euch, hat es euch gefallen?“, erkundigt sich WarGina etwas außer Atem, auf ihrem Helm ein Sticker mit der Auf‐ schrift Skate like you mean it. „Wir suchen übri‐ gens immer Spielerinnen und Referees“, lächelt sie. Schließlich steht die kommende Saison schon wieder vor der Tür, auf die sich die Vien‐ na Rollergirls schon jetzt „sehr freuen“.

Seither ist das Team um einiges gewachsen. Am Training nehmen heute 13 Frauen und ein Mann teil. „Das ist hoffentlich bald unser Schiedsrichter“, klärt Hans‐a‐Blast auf – als Spielerinnen sind lediglich Frauen zugelas‐ sen. Dass man „unter Frauen trainiert“ gefällt Hans‐a‐Blast am Roller Derby. „Es ist aber nicht <:J)=4<)[]8JB/)58<3=J<)=4<=)O2<H=)L899:<4BI/) die wir uns selbst aufgebaut haben“. Die Frau‐ en, die am hellblauen Track ihre Blocks üben, könnten unterschiedlicher nicht sein. Würde Anmerkungen: man sie in der U‐Bahn treffen, man würde sie * Name von der Redaktion geändert einander wahrscheinlich nicht zurechnen. „Wir Ihren nächsten Home‐Bout spielen die Vienna Roller‐ kommen aus ganz verschiedenen Zusammen‐ girls voraussichtlich im Juni in Wien. hängen: Die einen sind Studentinnen, die an‐ Wer vorher Kontakt aufnehmen will, kann sich an deren arbeiten bei Medien oder in Firmen, das info@viennarollergirls.com wenden. ist ganz verschieden. Man lernt im Team so vie‐ Alle aktuellen Infos gibt es auf http://www.facebook. le verschiedene Frauen kennen, die man sonst com/ ViennaRollergirls

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„WILD HEULT DER WOLF DES NACHTS IM WALD“1 Das Wolfsrudel ist die ideale Gemeinschaft der ÖsterreicherInnen, das Individuum verschlingende Racket, welches sich mit anderen zum Staat vereint, der ihre Mordbrennerei institutionalisiert. Eine kleine Geschichte einer kollektiven Selbstverstümmelung.

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est pressen sich die österreichischen Steuer‐ zahlerInnen im Winter der Ökonomie an den Wärme verheißenden Staat, immer in Angst um die eigene erbärmliche Existenz, die sie doch gerade durch derlei Nähe gänzlich auszu‐ löschen drohen. Doch bleiben sie außerstande, sich vom eisigen Bann der kollektiven Zurich‐ tungsmaschinerie zu befreien, sind ihr vielmehr verbunden wie der alternde Wolf dem Wolfsru‐ del, welches ihn doch nur schindet und perma‐ nent mit Ausschluss oder Tod bedroht. Schließlich ist solch Etatismus in Österreich hart erkämpft, egal ob ProletarierIn oder Bour‐ geois, man hat den Platz im Wolfsrudel gewollt und auch mit dem eigenen Blut dafür gezahlt. Seit den Frühtagen der Bourgeoisie, den vor‐ sichtigen Annäherungen der Monarchie an die Aufklärung, wählten die umherschweifenden Subjekte im Angesicht der kapitalistischen Käl‐ te die Selbstzurichtung, die Angleichung der ei‐ genen Temperatur an die der, vom Warentausch verkühlten, Außenwelt. Da das Alphamännchen des Wolfsrudels aber die Neugeborenen nicht als Seinesgleichen akzeptieren kann, ohne dass diese sich zuvor unter Beweis stellen, also zeigen können, dass sie der Kälte und Rauheit der Welt in der Übernahme eben dieser Wesenszüge ge‐

wachsen sind, geschah es denn auch in der His‐ torie, dass die bourgeoisen Wölflinge ihre Feu‐ ertaufe zu bestehen hatten. So ereignete es sich denn im Laufe des Jahres 1848, dass die jungen Wilden um die Gunst des Staates rangen und gleichwohl bewiesen, dass sie die strikte Selbst‐ disziplin des Rudels internalisiert hatten: „Der Zusammentritt der konstituierenden Versammlung im Juli wurde jubelnd begrüßt als das Ende der revolutionären Ära […]. Wäh‐ rend der konstituierende Reichstag die Gesetze über die Befreiung der Bauernschaft von den Fesseln des Feudalismus und der Leistung von Frondiensten für den Adel beriet, brachte der Hof ein Meisterstück zuwege. Man bewog den Kaiser, am 19. August eine Truppenschau über die Nationalgarde abzunehmen; die kaiserliche Familie, der Hofstaat, die Generalität über‐ boten einander in Schmeicheleien an die Adresse der bewaffneten Bürger, denen der Stolz, sich derart öffentlich als eine der aus‐ schlaggebenden Mächte des Staates anerkannt zu sehen, schon berauschend zu Kopf gestie‐ gen war; aber unmittelbar darauf erschien [...] ein Erlaß, der den Arbeitslosen die bisher gewährte staatliche Unterstützung entzog. Der Trick hatte Erfolg. Die Arbeiter veranstal‐ teten eine Demonstration; die Bourgeois von der Nationalgarde erklärten sich für den Erlaß [...]; sie wurden auf die ,Anarchisten‘ losge‐ lassen, fielen wie Tiger über die unbewaffneten, keinen Widerstand leistenden Arbeiter her und richteten am 23. August ein großes Blut‐ 2 bad unter ihnen an.“ Das Alphamännchen war zwar durch der‐ lei pubertäres Aufbegehren kurzweilig ge‐ schwächt worden, aber nur um gestärkt und gewachsen aus der Staatskrise hervorzutreten. Die zähnefletschende Bourgeoisie hingegen

hatte gezeigt, dass mit ihr ein Staat zu machen ist, dass ihre Suche nach dem Glück im stolzen Antlitz gegenüber der eigenen Selbstaufgabe verblasst war. „[...]das ganze Programm […] ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalle‐ schen Sekte an den Staat verpestet.“ 3 Angestachelt von solcherlei Kraftbeweis lie‐ ßen es sich einige deutsche SozialdemokratIn‐ nen um Ferdinand Lassalle, welcher der Mo‐ narchie genauso wenig abgeneigt war wie der staatssichernden Mörderei, nicht nehmen, ihre Version des etatistischen Sozialismus nach Ös‐ terreich zu exportieren. In Form der Sozialde‐ mokratischen Arbeiterpartei (SDAP) trat so 1888 ein neues Rudel in die Arena der sozialen Kälte ein, um die Integration des Proletariats in den Staat sicherzustellen. Anfänglich war dies noch eine unwegsame Wanderung, manche Jung‐ wölfe suchten nach Links auszuscheren, sehn‐ ten sich nicht nach dem Rudel, wollten gar das Wolfsein ganz in Frage stellen. Doch spätestens unter dem Deckmantel des Austromarxismus brach sich auch in der Parteilinken die Abkehr vom individuellen Glück, welches doch einst durch eine Überwindung von Staat und Kapital angestrebt wurde, Bahn. 1926, das proletarische Rudel war dem Alphamännchen schon vor lau‐ ter Begeisterung für Demokratie und sozialen Wohnungsbau auf den Schoß gesprungen, wur‐ de die Vereinigung dann endgültig besiegelt: „Die Arbeiterklasse erobert die Herrschaft in der demokratischen Republik, nicht um eine neue Klassenherrschaft aufzurichten, sondern um jede Klassenherrschaft aufzuheben. In dem Maße, als die Staatsmacht der Arbeiterklasse die Kapitalisten und die Großgrundbesitzer enteignet, die in ihrem Eigentum konzentrier‐ ten Produktions‐ und Tauschmittel in den

Fridolin Mallmann

Gemeinbesitz des ganzen Volkes überführt, wird die Scheidung des Volkes in ausbeutende und ausgebeutete Klassen, werden damit Klas‐ senherrschaft und Klassenkampf überwunden werden; damit erst wird sich die Demokratie aus der letzten Form der Klassenherrschaft in die Selbstregierung des nicht mehr in gegen‐ sätzliche Klassen gespaltenen Volkes, wird sich der Staat aus einem Werkzeug der Klassen‐ herrschaft in das Gemeinwesen der vereinigten Volksgemeinschaft verwandeln.“ 4 Nicht nur der späte „Sieg von Ferdinand Las‐ salle über Marx und Engels“ 5 ward damit auch von den österreichischen SozialdemokratInnen vollbracht, sondern es donnerten hier bereits die Sturmglocken des Nationalsozialismus über die wolfgewordene ArbeiterInnenschaft hinweg. Anmerkungen: 1 „Wild heult der Wolf des Nachts im Wald und findet nichts zu beißen. Doch ich geb ihm ‘nen Hahnenkamm, der soll ihm den Hals zerreißen.“ (Astrid Lindgren, Wolfslied) 2 Friedrich Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Der Wiener Oktoberaufstand, März 1852. 3 „Doch das ganze Programm, trotz alles demokrati‐ schen Geklingels, ist durch und durch vom Unterta‐ nenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat ver‐ pestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiß zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben.“ (Karl Marx, Kritik des Go‐ thaer Programms, 1875) 4 Der Kampf um die Staatsmacht, aus dem Linzer Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, 3.11.1926. 5 Willy Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie, Ça ira 2003.

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KLASSE UND UNTERSCHIED Anne Marie Faisst Die Titanic)O=MB):<B=J):<3)94B)4MJ)2:GM)3=J)YJS=)3=5)2J45B8;J2B45GM=<)\2:5=5)LJ26D=IQ)t4=) S=43=<) +2BJ42JGM=<) R8J3) 7J2<BM29) :<3) 5=4<) +=<32<B) n:BD=J) L2J58<) D255=<) <4GMB5) :<a=J‐ sucht, um die Familie und das Anwesen in die neue Zeit hinüberzuretten. Lord Grantham will seine Tochter Mary zur Heirat mit dem neuen Erben Matthew bewegen, die will aber ihr Glück partout nicht nur in der Ehe und dem Produzieren von Erben finden. Auch sonst bricht die Moderne durch die Risse des alten Gebäudes. Der Erbe strukturiert Downton und seine Ländereien kapitalistisch gewinnbringend um und auch die Frauen des Hauses durch‐ laufen einen Wandel: Die mittlere Tochter fährt Auto und schreibt für eine Zeitung über /?J2:=<AJ2O=<E/)34=)N@<O5B=)a=JD4=SB)54GM)4<)3=<)LM2:AA=:J):<3)=4<)\2:59P3GM=<)92GMB)=4<=) Ausbildung zur Sekretärin. Downton Abbey wird gerne als Studie des englischen Klassensystems beschrieben, allerdings scheint es in der Serie, als ob von diesem System alle profitieren würden. Der Lord zeigt Grö‐ ße und Mitleid, indem er großzügig die Operation der Köchin zahlt oder über die Homose‐ xualität eines Dieners hinwegsieht und diesen sogar vor Verfolgung schützt. Der Butler und große Teile der DienerInnenschaft hingegen bestehen auf die Klassendistinktionen und ha‐ ben ihre eigenen strengen Hierarchien. t2)O4SB)92<)D4=S=J)3=9)\:<3)34=)@SJ4OO=SD4=S=<=<)LJx]=5)2D5)54=)3=9)2:A9@]A4O=<)t4=<5B‐ mädchen zu überlassen. Trotz ihrer mehr als fragwürdigen Klassenmoral und ihrer augen‐ scheinlichen Verklärung von hierarchischen Verhältnissen wird die Serie von fast allen Kri‐ tikerInnen gelobt und ist äußerst erfolgreich. Das liegt vielleicht an der Prise Eskapismus und der Glorifizierung einer imaginierten Vergangenheit, in der die Rollen klar verteilt und starr festgeschrieben sind. Hinzu kommt eine Faszination für die Reichen und Adeligen, die besonders charakteristisch für England ist. In Zeiten der Krise scheint die Sehnsucht nach klaren Verhältnissen und einem gesicherten Platz im Klassensystem bei manchen eben be‐ sonders groß zu sein. Downton Abbey. (Seit 2010) TV Serie. Independent Television (ITV)

OTTO HABSBURG – WIDER DIE MODERNE WELT Julian Bruns

Otto Habsburg pflegte nicht nur Zeit seines Lebens enge Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen, Personen und Zeitschriften. Seine Biographien erscheinen alle bei einschlägigen Verlagen und sind Verkaufsschlager.

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ach dem Tod Otto Habsburgs am 4. Juli 2011 erhielt der Verstorbene zahlreiche, meist wohlwollende Nachrufe und ein pompöses Be‐ gräbnis in monarchistischer Tradition. Weitge‐ hend ausgeblendet wurde in den Medien Habs‐ burgs antidemokratische, rassistische und selbstherrliche Weltsicht. Der selbsternannte Legitimist sah sich sein Leben lang auf göttli‐ cher Mission, die ihn vor allen anderen dazu befähigte, die Welt (d. h. Europa) vor vermeint‐ licher nationalsozialistischer, kommunisti‐ scher oder materialistischer Gottlosigkeit zu erretten. Habsburg, der Wert darauf legte, „sie 1 alle gekannt“ zu haben, bewunderte Männer wie Francisco Franco, Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg – sie allesamt eint, dass sie Klerikalfaschisten und Diktatoren waren. Die Diktatur sah Habsburg als durchaus adäqua‐ te Regierungsform. Auf die Frage, ob er kein Problem damit gehabt habe, als Dollfuß das Parlament auflöste und Parteien wie Gewerk‐ schaften verbot, antwortete Habsburg: „Über‐

haupt keines. Wenn es ums Land geht, bin ich 2 zu jeglicher Sache bereit.“ Dabei erschien es ihm auch passend, auf Einladung der ÖVP ge‐ rade im Parlament Lobeshymnen auf den aus‐ trofaschistischen Diktator anzustimmen und sich in Geschichtsklitterung und Opfermythos zu üben: „Es gibt kein anderes Land in Euro‐ pa, das einen Kanzler gehabt hat, der in der Schlacht gegen Hitler gefallen ist. Darauf soll‐ ten wir auch stolz sein.“ 3 Auch außerhalb des alten Kontinents begrüßte Habsburg christ‐ lich‐europäisches Sendungsbewusstsein und Eroberungswillen. So sah er den Kolonialis‐ mus als Segen für die vermeintlich primitiven kolonialisierten Menschen: „Ohne die Euro‐ päer wäre die Situation in den meisten Staa‐ ten der 3. Welt ebenso primitiv wie vor tausend Jahren“ 4.

Für ein geeintes, christliches und weißes Europa Diese Ideologie versuchte Habsburg nicht nur mit gedruckten Worten auszudrücken und zu verbreiten. Reges Engagement zeigte er u. a. als Präsident der christlich‐konservativen Paneu‐ ropa‐Union, deren österreichischer Zweig (von HabsburgerInnen begründet) bis 1967 noch Monarchistische Bewegung Österreichs hieß. 1998 kam Ottos Sohn Karl in die Schlagzeilen, als aufgedeckt wurde, dass mit seinem Wissen Spendengelder für das Hilfswerk World Vision an die Paneuropa‐Bewegung Österreich geflos‐

rechtsextremen Verlagen Ares und Leopold Stocker. Der Ares‐Verlag gibt u. a. Bücher wie Jüdischer Bolschewismus von Johannes Rogal‐ la von Bieberstein heraus, das offensichtlich antisemitische und antikommunistische Res‐ sentiments bedient. Dieser knappe Überblick zeigt bereits, wie wenig Berührungsängste Otto Habsburg mit Personen und Organisationen des rechtsext‐ remen politischen Spektrums hatte. Mit Hil‐ fe seines Namens trug er nicht unwesentlich dazu bei, diese zu legitimieren und Brücken zwischen Konservativen und Rechtsextremen zu bauen. Sich selbst stellte er gern als weltge‐ wandten Retter des Abendlandes und Vater des Mauerfalls dar. Tatsächlich fungierte Habsburg In ,guter‘ Gesellschaft als wichtiger neu‐rechter Akteur, der im Kern Auch in seiner eigenen publizistischen Tätig‐ klerikalfaschistischen Ideen anhing. keit zeigte Habsburg keine Scheu davor, in rechtsextremen Zeitschriften oder Verlagen Anmerkungen: 1 zu veröffentlichen. Dies tat er z. B. im rechts‐ http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/ extremen Eckartboten (heute Der Eckart), 342228/Otto‐Habsburg_Ich‐habe‐sie‐alle‐gekannt 2 be sonders häufig aber im Amalthea Verlag. Ebd. Dieser Verlag mit Vorliebe für nostalgisch‐ 3 http://albertsteinhauser.at/2011/04/07/das‐gemau‐ verklärende Titel zur k.u.k.‐Monarchie ge‐ schel‐um‐dunkle‐zeiten/ hörte bis 2002 dem rechtsextremen Verleger 4 http://gerhardunterkof ler.blogspot.co.at/2011/07/ Herbert Fleissner, der in den 1990er Jahren als otto‐habsburgs‐einstellung‐zur.html einer der bedeutendsten Verleger der Neuen 5 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d‐8413493.html Rechten galt und Werke von Holocaustleug‐ 6 Vgl.: Weiß, Volker: Deutschlands Neue Rechte. An‐ nern wie David Irving oder dem Revisionis‐ griff der Eliten – Von Spengler bis Sarazzin. Ferdi‐ B=<) LD2:5) w8J3S:GM) a=JsAA=<BD4GMB=Q7 Auch nand Schöningh, Paderborn 2011, S. 43. Habsburgs Biographien von Eva Demmerle 7 Vgl.: http://www.netz‐gegen‐nazis.de/artikel/herbert‐ erschienen im Amalthea Verlag bzw. in den fleissner

sen waren. Vater Otto sagte angesichts der An‐ feindungen: „Karl wird angegriffen, weil er den gewissen gelben Stern trägt, den Namen Habs‐ burg […]. Die armen Juden haben ja Entsetzli‐ ches mitgemacht. Ich denke oft an sie in diesem Zusammenhang.“ 5 Gerne referierte Habsburg auch im Studienzentrum Weikersheim, wel‐ ches von Volker Weiß der Neuen Rechten zu‐ gerechnet wird.6 Sympathien zeigte er ebenfalls für die neu‐rechte Zeitung Junge Freiheit, der er mehrmals Interviews gab und im Rechtsstreit gegen die Kategorisierung derer Zeitung als ‚rechtsextremistisch‘ durch den Verfassungs‐ schutz beistand.

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Burschenschafterball am 1. Februar 2013...................................

AKADEMIKERBALL – WKR RELOADED

Der Wiener Korporationsring (WKR) stellt den Dachverband der deutschnationalen schlagenden Burschenschaften in Wien dar; er selbst bezeichnet sich als „Arbeitsgemeinschaft der farbentragenden Wiener Hochschulkorporationen“. Aktuell umfasst der WKR 21 Korporationen, von welchen die Akademische Grenzlandsmannschaft Cimbria den Vorsitz führt. Auf der Homepage des WKR wird der Ball als „Höhepunkt jedes Jahres“ bezeichnet, der sich „einer großen Besucherzahl erfreut“. Zu diesen Besucher_innen gehören jedoch schon lange nicht mehr ‚nur‘ tanzbegeisterte Burschenschafter mit Schärpe, Deckel und Schmiss; der WKR-Ball fungiert als Vernetzungstreffen der internationalen Rechten. So schwangen in den letzten Jahren unter anderem Vater und Tochter Le Pen vom französischen Front National oder Philip Claeys vom belgischen Vlaams Belang mit FPÖ-Granden wie Heinz-Christian Strache, Martin Graf und Barbara Rosenkranz das Tanzbein. Unter dem Titel DekaDance – Rechte Verbindungen wegbassen! organisierte im Jahr 2008 der AK gegen den WKR die ersten Proteste gegen den Burschenschafterball: Im Wiener Museumsquartier, also in unmittelbarer Nähe zum Ball-Ort – der Wiener Hofburg – wurde eine antifaschistische Gegen-Party gefeiert. Im Zuge des Festes entwickelte sich an diesem Abend eine Spontandemonstration, die erst zum Burgtor, dann über die Mariahilferstraße in Richtung der Bude der vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) als ‚rechtsextrem‘ eingestuften Burschenschaft Olympia zog und ihren Ärger über den Rechtswalzer in der Hofburg zum Ausdruck brachte. Dieser 25. Jänner 2008 sollte den Startschuss zu jährlichen Demonstrationen gegen das rechte Treiben geben. Seither hat sich viel getan: In den folgenden Jahren vergrößerten sich die Proteste, aber auch die polizeiliche Repression stieg an. 2010 wurde der antifaschistische Widerstand gegen den WKR-Ball erstmals untersagt und es hagelte Verwaltungsstrafen für jene, die trotzdem auf die Straße gingen. 2011 wurde sogar ein Demonstrationsverbot über die ganze Stadt verhängt. Aber auch die mediale Diskussion wurde größer. Vermutete man 2008 noch „Randalierer“ und „gewaltbereite Splittergruppen“, die nur in Zusammenhang mit den Opernball-Demos stünden, wurden in den Folgejahren klar die rechtsextremen Verbindungen der Ballgäste in den Vordergrund der Berichterstattung gestellt.

Im Jahr 2012 spaltete sich der antifaschistische Protest dann in verschiedene Bündnisse und Plattformen: Neben dem autonomen NoWKR-Bündnis traten erstmals die Offensive gegen Rechts und die zivilgesellschaftliche Plattform Jetzt Zeichen setzen! gegen den WKRBall auf. Während die beiden linken Zusammenschlüsse Demonstrationen durch die Wiener Innenstadt organisierten, hielt das zivilgesellschaftliche Bündnis eine Standkundgebung am Heldenplatz ab. Nicht nur die prominenten Unterstützer_innen von Jetzt Zeichen setzen! brachten dem rechten Ball 2012 erhöhte Aufmerksamkeit in der österreichischen wie internationalen Presse, sondern auch die Tatsache, dass jener ausgerechnet am 27. Jänner, dem Internationalen HolocaustGedenktag, stattfand. Der jahrelange Protest hatte zur Folge, dass die Hofburg Betriebsges.m.b.H letztes Jahr zusicherte, den WKR-Ball nicht mehr in ihren Räumlichkeiten zu beherbergen. Nach dem 59. WKR-Ball sollte also Schluss sein – zumindest in der repräsentativen Hofburg. Möchte man heute die Internetseite des WKR-Balls aufrufen, wird man automatisch auf die Seite des 1. Wiener Akademikerballs, der am 1. Februar 2013 in der Hofburg stattfinden wird, weitergeleitet. Von der FPÖ anstatt dem WKR-Ballkomitee angemeldet, wird die rechtsextreme Tanzveranstaltung also weiterhin – unter neuem, ‚harmloseren‘ Namen – im Haus des Bundespräsidenten residieren und ihren „zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland wieder einen unvergesslichen Abend bereiten“. Aber nicht nur das rechte Netzwerkspinnen wird weitergehen, auch die antifaschistischen Proteste dagegen – was soll man in der letzten Jänner-Woche auch sonst tun, als stundenlang in der bibbernden Kälte zu demonstrieren.

Nora Galeola Aktionen: http://www.jetztzeichensetzen.at http://www.nowkr.at http://www.offensivegegenrechts.at

„WIR DIENEN […] DER PROPAGANDA“

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Am 8. Dezember 2012 hätte Jura unter anderem im sozialdemokratischen Zent‐ kratie gefördert. Anhänger*innen der KPÖ be‐ Soyfer seinen 100. Geburtstag ge- ralorgan, der Arbeiterzeitung [sic!], in der Rub‐ anspruchen ihn ebenso für sich, war er doch im rik Zwischenrufe links mit dem tagespolitischen kommunistischen Widerstand aktiv, nachdem feiert. In jenem Monat gab es zahl- Geschehen. Nach der Matura studiert Soyfer an er mit der Sozialdemokratie gebrochen hatte. reiche Artikel, Ausstellungen und der Universität Wien, wo er sich ebenfalls den Linksintellektuelle Bildungsbürger*innen be‐ staunen sein mehr als 1.000‐seitiges Schaffen Veranstaltungen – egal ob Sozial- Sozialistischen Studenten [sic!] anschloss. und sehen jenes als das Werk eines ewigen Kri‐ demokratie oder KPÖ, Burgthea- Tod im Konzentrationslager tikers gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten, der ter oder Theater Rabenhof, Kirche schon globalisierungskritisch war, als es diesen oder Karl-Marx-Hof – überall war Nach der Totalniederlage der Sozialdemokratie Begriff noch nicht gab. im Februar 1934 wird Soyfer schließlich im kom‐ er Thema. Eine Sammlung von Re- munistischen Widerstand aktiv und arbeitet Probleme der Rezeption zeptionen, von denen wohl nicht für Kleinbühnen und Kabaretts, für die er Texte verfasst. In seinem – nur in Fragmenten erhal‐ Personen und Gruppen, die sich sonst gegen alle Soyfer gerecht werden.

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:J2)[8IA=J)6:J3=)4<)LM2J;46mLM2J;86)*!;J2‐ ine/Russland) geboren. Sein Vater Wladimir war Industrieller und wurde im Zuge der Okto‐ berrevolution enteignet. Als Folge wanderte die Familie Soyfer 1920 aus und ließ sich in Wien nieder. Im Gymnasium kommt Jura in Berüh‐ rung mit marxistischer Literatur, engagiert sich bald darauf beim Verband Sozialistischer Mittel‐ schüler [sic!] und wagt seine ersten literarischen Gehversuche. Seine satirischen Texte haben so viel Erfolg, dass er Ende der 1920er Jahre regel‐ mäßig im Auftrag sozialistischer Jugendorgani‐ sationen und der Sozialdemokratischen Arbei‐ terpartei [sic!] schreibt. So beschäftigt er sich

tenen – Roman So starb eine Partei beschäftigt er sich mit der Sozialdemokratie und analysiert, wieso sie gescheitert ist. Eine Abrechnung, die heute noch verblüffende Aktualität besitzt. Un‐ mittelbar vor dem ,Anschluss‘ 1938 wird Soyfer bei seinem Fluchtversuch von der Polizei ver‐ haftet und ins KZ Dachau transportiert. Dort verfasst er sein letztes literarisches Werk, das Dachau‐Lied. Im Februar 1939 stirbt Jura Soyfer 2 mit 26 Jahren im KZ Buchenwald an Typhus. Die Biographie Soyfers weist große Bruchli‐ nien auf, was erklärt, warum sich so viele ver‐ schiedene Gruppen so unterschiedlich auf ihn berufen. Die Sozialdemokratie sieht ihn als ei‐ nen von ihr, wurde er doch in sozialistischen Gruppen politisiert und von der Sozialdemo‐

jeglichen Antisemitismus stellen, übersehen, dass seine Texte zuweilen auch antisemitischen LM2J2;B=J)2:A6=45=<Q) YB62) 49)Kapitalistischen Segenspruch, wo er von „Bankenjuden“ schreibt. Die angebliche Verbindung von Kapital und Ju‐ dentum wurde und wird bis heute von Teilen der Linken verbreitet. Jener Antisemitismus findet in kaum einer Soyfer‐Rezeption Erwäh‐ nung, wenngleich er in keiner Relation zu den Auswirkungen des nationalsozialistischen Anti‐ semitismus steht. All diese Zuschreibungen und Inanspruch‐ nahmen sind gleichermaßen berechtigt wie falsch. Jede Gruppe sieht in Soyfer das, was sie selbst repräsentiert und nichts anderes. Jede Person sieht in Soyfers Biographie und seinem

Laurin Rosenberg

Werk das, was sie selbst sehen will. Genau das macht die Faszination aus, hat aber auch sehr absurde Auswirkungen, wenn etwa Gottes‐ dienste abgehalten werden, bei denen Soyfer re‐ zipiert wird – Soyfer, der mit der katholischen Kirche nichts zu tun hatte und diese oft und treffend kritisierte. In fast jeder Rezeption des künstlerischen Werks Soyfers geht ebenso das Wesentliche verloren, nämlich die Frage, wie Jura Soyfer selbst es gesehen hat: „Wir dienen nicht der Kunst, sondern der Propaganda.“ 3 Soyfer war in erster Linie nicht Schriftsteller, sondern politischer Aktivist. Oft wird die Frage gestellt, was Soyfer getan hätte, wenn er den Faschismus überlebt hätte und wo er heute aktiv wäre. Eine Frage, die na‐ türlich unbeantwortet bleiben muss und um die umso mehr gestritten werden kann. Sicher ist nur, dass es heute für Jura Soyfer wohl unmöglich wäre, noch einmal das zu werden, was er war: Ein Kind der Migration, dessen literarische Kraft ge‐ fördert wird – im Jahr 2012 unvorstellbar. Anmerkung: 1 Soyfer, Jura: Das Gesamtwerk. Europaverlag. Wien. 1980. S. 465. 2 Siehe auch: Schlickenrieder, Martha: Von Kunst und Propaganda – Jura‐Soyfer‐Sonderausstellung im Karl‐ Marx‐Hof. In: ?@ABCD(11/12. S. 10. 3 Soyfer, Jura: 1980. S. 465.

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VON GUTEN UND SCHLECHTEN MIGRANT/INN/EN Sebastian Kurz, Integratsionsstaatssekretär, will „ausgezeichnet Integrierten“ den Zugang zur Staatsbürger/innenschaft erleichtern, die SPÖ will darüber reden und Eva Glawischnig freut sich über den „neuen Stil in der Ausländerfrage“. Warum sind alle so zufrieden mit den jüngsten Entwicklungen?

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ass das Fremdenrecht der letzten 15 Jahre vor allem dadurch charakterisiert war, den Betroffenen ihre Rechte vorzuenthalten und an der Realität vorbeizugehen, dass es im Jah‐ res‐Rhythmus geändert wurde, sodass weder Rechtsberater/innen noch ausführende Be‐ hörden den Überblick hatten, ist weithin be‐ kannt. Nun ist Sebastian Kurz also angetreten, um die Situation zu verbessern – doch kaum jemand fragt nach dem konkreten Inhalt des Geplanten.

Verdeckte Verschärfung Abgesehen von den hohen finanziellen Hürden und der weiterhin langen Wartezeit von sechs Jahren soll bei der Einbürgerung nun ,Leistung‘ im Sinne von ehrenamtlicher Arbeit berück‐ sichtigt werden. Die erste Frage wäre, warum ,Leistung‘ nur im Rahmen von Rettungsdiens‐ ten und Wohlfahrtsverbänden anerkannt wird. Warum nicht auch bei Kulturvereinen – oder will man etwa muslimisches Leben nicht för‐ dern? Warum nicht bei Interessensvertretun‐

gen – oder könnte man damit Kritik an der Re‐ gierung unterstützen? Ist es nicht etwa auch eine ,Leistung‘, Angehörige zu pflegen? Und: Warum muss es eigentlich ehrenamtlich sein? Ist soziale Arbeit denn nichts wert? Hier steht offensichtlich ein provinzielles Verständnis von ,Engagement‘ im Hintergrund: Feuerwehr, Ret‐ tung und Blasmusikkapelle. Florian Klenk wünscht sich dementspre‐ chend, dass „der ostanatolische Elektrikerlehr‐ 1 ling im Feuerwehrauto mitfährt“ . Aber hat das mit der Lebensrealität der Nicht‐Österrei‐ cher/innen etwas zu tun? Es ist doch viel eher so, dass viele von ihnen körperliche Arbeit ver‐ richten, sie als erste für Überstunden heran‐ gezogen werden und ihre Arbeitsverhältnisse prekär sind. Der „ostanatolische Elektrikerlehr‐ ling“ wird in den meisten Fällen froh sein, eine Lehrstelle gefunden zu haben und sich nach ei‐ nem mühevollen Arbeitstag erholen zu können. 2 Wie Gerd Valchars feststellt, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Verschärfung der Auf‐ lagen, die von ganz wenigen Privilegierten er‐ füllt werden können, nämlich von solchen mit gesicherter Anstellung, hohem Einkommen, hohem Bildungsgrad, um die erforderlichen Deutsch‐Kenntnisse vorzuweisen, und ohne persönliche oder familiäre Belastungen, sodass Raum für unbezahlte Zusatzarbeit jenseits der 40‐Stunden‐Woche bleibt. Kurzens vorgebliche Humanisierung der Mi‐ grationspolitik ist aufgrund ihrer Selektivität gerade das Gegenteil: Alle diejenigen, die nicht dem provinziellen Bild eines wünschenswerten Mitglieds der Gesellschaft entsprechen, wer‐ den weiterhin von der vollen Härte der Gesetze getroffen. Kurz betreibt zum Schein konstruk‐ tive Politik, um für die ÖVP christlich‐soziale

Wähler/innen wiederzugewinnen, aber die ka‐ tastrophale Migrationspolitik unangetastet zu lassen. Statt in wenigen Jahren von ÖVP‐In‐ nenminister/inne/n bewusst geschaffene wi‐ dersinnige Gesetze zu ändern, wird für Ret‐ tungsfahrer/innen eine unsinnige Ausnahme geschaffen. Leider hebt ein Irrsinn einen zwei‐ ten nicht auf.

Der neue Geist der Migrationspolitik Was allerdings noch mehr zu Besorgnis An‐ lass gibt, ist die Tatsache, dass sich kaum Wi‐ derspruch regt. Das hängt vor allem mit der Ersetzung eines egalitaristischen durch ein meritokratisches Politik‐Verständnis zusam‐ men: Nicht die Beseitigung ungerechtfertigter Benachteiligung treibt die Gesetzgebung an, sondern die Belohnung von Verdiensten, nicht die objektiven Schwierigkeiten ausländischer Staatsbürger/innen, sondern subjektive ,Leis‐ tung‘ – ohne zu fragen, wer im Stande ist, sie zu erbringen. Dies führt zu einem Rassismus ,über die Bande‘, indem nicht mehr die Politik für die Probleme der Mehrzahl der Migrant/ inn/en verantwortlich ist, sondern diese selbst, da sie es ja nicht schaffen, die Kriterien zu erfül‐ len – eine moralinsaure Einteilung in ,gute‘ und ,schlechte‘ Migrant/inn/en. Den Nachteilen für die Betroffenen stehen die Vorteile für den Staatssekretär gegenüber: Indem er ja nur an ,Verbesserungen‘ arbeitet, ist er gegen Kritik immun und kann sich Gla‐ wischnigs und Klenks Lob sicher sein. Die so nahegelegte Übernahme des meritokratischen Prinzips durch die Linke führt aber zu einem aseptischen Bild der Personen, die zu unterstüt‐ zen man vorgibt. Die Linke muss die Zielgruppe

Martin Stefanov

von Migrationspolitik wieder umfassend defi‐ nieren und sich auch für diejenigen einsetzen, die sich nicht als Sujet am Wahlplakat eignen: * für gewalttätige Flüchtlinge, die aufgrund von Traumatisierung arbeits‐ und empathieun‐ fähig sind und Trauma und Frust in Gewalt umsetzen; * für Drogendealer/innen, die, ohne Berechti‐ gung zu arbeiten, nicht vom monatlichen Al‐ mosen von 40 oder 180 Euro leben können; * für illegale Prostituierte, die vollkommen der Willkür von Freier/innen und Zuhälter/innen ausgesetzt sind und dafür, dass sie zum Dis‐ kont‐Preis von Österreicher/inne/n gebraucht werden können, vor der Abschiebung noch ein paar Jahre im Gefängnis sitzen. Nicht, wie repräsentativ diese Fälle sind, ist entscheidend, sondern ob sie aus einer merito‐ kratischen Perspektive überhaupt noch wahr‐ nehmbar werden. Eine Politik aber, die bereits Privilegierte weiter bevorzugt und ihre eigene Verantwortung für die Probleme aller anderen unsichtbar zu machen sucht, wird fassadenhaf‐ te Post‐Politik und verabschiedet sich freiwillig von jeglicher Gestaltungsfähigkeit. Genau um diese zurückzugewinnen, hat der Alternative Expert/inn/enrat, eine Gegen‐Insti‐ tution zu den ministeriell kontrollierten Gre‐ mien, nun „125 Maßnahmen in der Migrations‐, Integrations‐ und Gleichstellungspolitik“ vor‐ geschlagen. Wir sollten ihm zuhören! Weblink: http://www.sosmitmensch.at/stories/6811/ Anmerkungen: 1 Falter 44/12. 2 Der Standard, 29.10.2012.

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DIE CRUX MIT DER CARITAS Die Caritas, die für ihre angeblich nächstenliebende, allerdings nicht solidarische Arbeit im Asylbereich gerade herber Kritik ausgesetzt ist, ist schon länger dafür bekannt, Wasser zu predigen und Wein zu trinken.

positionieren: gegen eine Welt, in der Flüchtlin‐ ge wie Menschen zweiter Klasse behandelt wer‐ den und für eine Welt ohne politische Grenzen. Kurz vor Weihnachten, am 18. Dezember, suchten die Flüchtlinge des Refugee Camps in der Votivkirche Schutz. Der Pfarrer Joseph Farrugia drohte als erste Reaktion mit polizei‐ licher Räumung und versuchte, Aktivist_innen und Flüchtlinge voneinander zu trennen. So er‐ laubte die Kirchenleitung nur den Flüchtlingen, die Nacht im Kirchenschiff zu verbringen und m 24. November des letzten Jahres hat‐ forderte die Aktivist_innen auf, die Kirche zu ten Flüchtlinge und Aktivist_innen den verlassen, was diese auch taten, um den Protest Sigmund‐Freud‐Park besetzt, um auf die Be‐ nicht zu gefährden. handlung und Probleme von Flüchtlingen in Österreich aufmerksam zu machen. Viele Orga‐ Solidarität ! Nächstenliebe nisationen, Einzelpersonen und Aktivist_innen unterstützten den Protest der Flüchtlinge, die Die Caritas wurde sehr bald eingeschaltet, um klar die Richtung der Besetzung vorgaben. So eine Vermittler_innenrolle zwischen Flücht‐ leisteten Aktivist_innen vor allem Dolmetschar‐ lingen und Kirchenleitung zu erfüllen. Ihre beit, kochten Essen und brachten warme Klei‐ Motivation ist geprägt vom Konzept der dung und Decken. Denn Solidarität heißt nicht Nächstenliebe, das sich auf die Volks‐ oder einfach nur Nicht‐Wegschauen‐Können, Solida‐ Glaubensgemeinschaft beschränkt und – quasi rität heißt, sich aktiv einzubringen und sich zu als Plus‐Punkte‐Sammeln – in einem autoritä‐

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Kübra Atasoy

ren Wertesystem zur Absicherung der eigenen Existenz im Jenseits dient. Michael Landau, Direktor der Wiener Caritas, erreichte im Interview mit der Presse, wenige Tage, nachdem die Flüchtlinge in der Votivkirche Schutz gesucht hatten, ein besonders unsolidari‐ sches Tief: „Ein Drittel von ihnen ist wirklich in Not; ein Drittel will jenen in Not ernsthaft helfen, aber bei einem Drittel handelt es sich um reine ^;B4a45B=</):9)LM28B=</)34=)34=)w8B)34=5=J)F=<‐ schen instrumentalisieren wollen.“ „Extremisten, egal ob von links oder rechts“, dürfe man das Ru‐ 1 der nicht überlassen, so die Presse. Mit billiger Extremismustheorie verteidigt Landau also die Ausführung seines religiösen Rituals der Nächs‐ tenliebe, wenn er Rechts mit Links gleichsetzt und politischen Protest delegitimieren möchte. „Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Beson‐ 2 deres? Tun das nicht auch die Heiden?“ Viele zitieren dieser Tage die Bibel, um die Kirche mit der Erinnerung an ihre Grundwer‐

te, wie beispielsweise Barmherzigkeit, aufzufor‐ dern, sich mit den Flüchtlingen zu solidarisieren. Landaus Zitat zeigt jedoch deutlich, dass die Kir‐ chenfunktionäre genau wissen, was sie tun und es keiner Erinnerung bedarf. Es wäre naiv zu glau‐ ben, dass die Caritas oder andere durch die Kon‐ frontation einen plötzlichen Drang zur Solidarität mit Flüchtlingen entwickeln. Ganz im Gegenteil: Wer keinen Geringeren unter sich hat, kann ihn auch nicht nächstenlieben.3 Wer vor Flüchtlin‐ gen steht, die für sich selbst sprechen, muss ihnen auf Augenhöhe begegnen. Eine Aufgabe, die nur durch Solidarität, nicht aber durch das erniedri‐ gende Konzept der Nächstenliebe, die jemanden unter sich sucht, um im Paradies für gute Taten belohnt zu werden, erfüllt werden kann. Anmerkungen 1 http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/ 1326872/CaritasDirektor_Die‐Not‐wird‐instrumentali‐ siert?_vl_backlink=%2Fhome%2Findex.do 2 MT 5, 46–47. 3 MT 25, 40: „Was ihr für einen meiner geringsten Brü‐ der getan habt, das habt ihr mir getan.“

ÖSTERREICHISCHE KELLER …// Auf der rassistischen Facebook‐Seite I mog Wels nimma! tauschte sich ein gewisser Jo‐ chen Lageder mit dem bekannten Rechtsex‐ tremisten Ludwig Reinthaler von der Bürger‐ liste Die Bunten aus. Dabei postete Lageder, der 2003 als Kandidat der FPÖ bei der Wel‐ ser Gemeinderatswahl antrat: „mit dem ka‐ nackengesindel und der dazugehoerigen sym‐ pathisierenden stadtregierung koits etc muss aufgeraeumt werden. ich waere für eine geziel‐ te umsiedlung weit in den osten zB ins kurho‐ tel ausschwitz“, wie das Mauthausen Komitee und das Antifa‐Netzwerk berichten. // Der n2<;=JjL2JB88</) 3=<) \=4<HjLMJ45B42<) [BJ2‐ che im Sommer 2012 auf seinem Facebook‐ Konto veröffentlichte, erfüllt nach Ansicht der Wiener Staatsanwaltschaft nicht den Tatbe‐ stand der NS‐Wiederbetätigung oder der Ver‐ hetzung. Das antisemitische Bild bleibt also straffrei. // Seit Anfang des Jahres wird von

Österreich aus eine Nachfolgeseite für die im Dezember 2012 aus dem Internet verschwun‐ dene rechtsextreme Webseite kreuz.net betrieben. Nach Angaben des National‐ ratsabgeordneten Karl Öllinger handelt es sich bei dem Medieninhaber um Gün‐ ther Schneeweiß‐Arnoldstein. Dieser ist außerdem auch Medieninhaber der Webseite c ouleurstudent.at, die – ähnlich wie kreuz.net – durch Homophobie und Antisemitismus auffällt. Weiters verfasste Schneeweiß‐Ar‐ noldstein auch für Andreas Mölzers Zur Zeit re‐ daktionelle Beiträge und ist Mitglied der katho‐ lischen Landsmannschaft Ferdinandea in Graz. Die neue Seite kreuz‐net.info gleicht in ih‐ rem Aussehen der alten Seite kreuz.net. Nach Einschätzung Öllingers handelt es sich aber nicht um die Neuauflage von kreuz.net, sondern um das Projekt einer Ein‐ zelperson. Alarmierend für Öllinger ist jedoch,

dass sich die neue Seite ebenfalls durch Homo‐ phobie und Antisemitismus profilieren wolle. // Die Wiener Burschenschaft Teutonia über‐ nimmt für das Jahr 2013 den Vorsitz der Deut‐ schen Burschenschaften. Sie gilt selbst inner‐ halb des Verbandes als weit rechts. Eines ihrer Mitglieder ist Sprecher Walter Tributsch. In ei‐ nem Interview mit der Süddeutschen Zeitung wollte er zum Thema NS‐Zeit kaum Stellung beziehen. Das seien nur „fünf Jahre deutscher Geschichte. Über die möchte ich nicht reden.“ Auf die Frage, ob er eine Meinung zur NS‐Zeit habe, antwortete Tributsch lediglich: „Ja. Doch die sage ich nicht." // Im Zuge eines rassisti‐ schen Streits wurde eine Frau dunkler Haut‐ farbe Anfang des Jahres von einem 51‐Jähri‐ gen in der Wiener U‐Bahnstation Taborstraße auf die Gleise gestoßen. Die durch den Sturz schwer verletzte 36‐Jährige konnte sich aus eigener Kraft nicht wieder auf den Bahnsteig

retten. Im letzten Moment betätigte ein Zeu‐ ge den Notstopp, wodurch ein Zug der U2 an‐ gehalten werden konnte. // Mit Jahresbeginn übernahm die Erzdiözese Salzburg die Fami‐ lienberatung des Bundes. Die Entscheidung dazu traf ÖVP‐Landesrätin Tina Widmann. Bislang haben die Familienberatungsstel‐ len des Bundes auch zu Schwangerschaftsab‐ brüchen und Verhütungsfragen beraten. // DerStandard.at berichtete über den Ausgang des Alpen‐Donau‐Prozess gegen Gottfried Küs‐ sel und zwei weitere Personen, die wegen Wie‐ derbetätigung zu neun bzw. sieben und vier‐ einhalb Jahren Haft verurteilt wurden. Über das Urteil äußerte sich ein Forumuser wie folgt: „5:3 ist es ausgegangen. hätte nur einer von diesen fünf verwirrten geschworenen sich nicht geirrt, wäre gottfried küssel jetzt ein freier mann. an diesem verhältnis sieht man die ganze ungerechtigkeit und absurdität des urteils.“ //…

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„MAN MUSS SICH DURCH DAS BEKANNTE IRRITIEREN LASSEN“ Tamara Risch

Ein Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaftskritik scheint in den Gesellschaftswissenschaften quasi ‚natürlich angelegt‘. Doch gibt es große Unterschiede im Verständnis von Wissenschaft und Kritik. Eine kleine Darstellung dessen im Sinne der Kritischen Theorie findet sich im folgenden Gespräch der UNIQUE mit Hon.-Prof. Dr. Friedhelm Kröll vom Institut für Soziologie der Uni Wien. Was ist Erkenntnis nach der Kritischen The‐ orie (KT)? Und was hat Georg W. F. Hegel damit zu tun? Ich weiß nicht, ob der Erkenntnisbegriff in den Sozial‐, Kultur‐ und Humanwissenschaften überhaupt noch en vogue ist. Das Motiv von Erkenntnis jedenfalls ist die Genesis. Sie dür‐ fen Folgendes nicht vergessen: Vom Baum der Erkenntnis zu essen bedeutet, ‚werden wollen wie Gott‘, worauf Bestrafung erfolgt ist. Auf Er‐ kenntnis erfolgt Bestrafung. In der KT besitzt Er‐ kenntnis, egal ob nun wissenschaftlicher und/ oder künstlerischer Art, ein erotisches Moment. Denn in der Erkenntnis selbst, im Vorgang der Erkenntnis, kann Genuss oder Freude enthal‐ ten sein. Doch gibt es ebenso die verkürzte Er‐ kenntnisform, die unmittelbar nichts anderes bezweckt, als sich der Dinge, die man erkennen will, zu bemächtigen. In der KT heißt das instru‐ mentelle Vernunft. Mit der Hegel‘schen Rezeption der KT wird deutlich, dass aller Geist etwas Gewalttätiges inne hat. Erkenntnis heißt, es darf kein uner‐ kannter Rest übrig bleiben und nichts stehen bleiben, was nicht begrifflich aufgelöst worden ist. Das ist Hybris. Das ist anmaßende Philoso‐ phie und Wissenschaft, die davon ausgeht, dass dem Geist – dem menschlichen – nichts entge‐ he. Die Kritik der KT an diesem Erkenntnisbe‐ griff ist die Tendenz einer Erkenntnis, die alles zum Objekt machen will. Ein solches Bemäch‐ tigungsmotiv fügt dem Einzelnen, das anders ist, Gewalt zu. Alles Denken, alle instrumentel‐ le Vernunft ist Assimilation des Unbekannten an das Bekannte. Hegel sagte: „Alles was ist, ist vernünftig, sonst wäre es nicht.“ Dem steht die Entdeckung in der KT entgegen, dass es nicht genügt, das, was ist, zu untersuchen, sondern auch das, was möglich wäre. Und was möglich wäre, ist das, was noch nicht ist. Die Welt ist auch das, was möglich wäre. Das kann man als Utopie herabmindern, was ich allerdings lä‐ cherlich finde. Die Grammatik zeigt es doch, mit dem !*#-"#&:$E"F(G*:7#:$,>$F. Können Sie das Verhältnis der Subjekt‐Objekt‐ Beziehungen in der Hegel‘schen Stufenleiter der Erkenntnis, auf welche sich die KT bezieht, erläutern? Zunächst der Grundgedanke: Indem ich etwas

erkenne, verändere ich das, was ich erkannt habe in Bezug auf mich. Es ist nicht mehr das‐ selbe. Nicht nur durch Manipulation. Das Ob‐ jekt ändert sich durch Erkenntnis! Die Objekte sind für uns – an sich, aber auch für uns. Durch Erkenntnis ändert sich die Beziehung zum Ob‐ jekt. Ebenso verändert Erkennen das Subjekt: Ich weiß es ist jetzt anders, als dass ich glaub‐ te, dass es bisher sei. Es ist etwas anderes ge‐ worden. Insofern ändert sich notwendigerweise auch die Praxis, indem ich es möglicherweise nicht bestrafe, sondern resozialisiere. Folglich gibt es drei sich verändernde Beziehungen: jene zum Objekt, das Objekt an sich und das Sub‐ jekt, also ich, da ich in Beziehung zum Objekt stehe. Hier komme ich nun zur Hegel’schen Stufenleiter der Erkenntnis: In der KT sind Er‐ kenntnismomente rückgekoppelt an leibliche Erfahrungen, wie die Neuropsychologie und ‐physiologie zeigt. Hier ist folgendes Kritikmotiv entscheidend: Die Wissenschaft auf kognitive Prozesse zu verkürzen, das geht auf Nietzsche zurück. Alle Erkenntnis, so wie wir sie kennen, ist Bemäch‐ tigung. Das ist der Kern des Willens zur Macht, auch in den Wissenschaften. Und weiters die Beteiligung, die Empfindungsmomente, die Affektationen: Wodurch bin ich irritiert? Wis‐ senschaften, auch Naturwissenschaften, begin‐ nen dort, wo man Irritationen empfindet, und das gilt besonders für Humanwissenschaften. Wo stimmt etwas nicht? Wo berührt mich et‐ was? Und möglicherweise entwickelt sich dann Neugier. Hier findet sich der für Theodor W. Adorno so wichtige Bezug zu wissenschaftli‐ cher Erkenntnis, philosophischer Reflexion und künstlerischer Erkenntnis. Die Kunst ist eine besondere Form, die die ganze Klaviatur der Affektationen in Schwingung bringt. Das Mitschwingen der Neugierde, der Erkenntnis‐ dynamik, auch der leiblichen, gilt ebenso für Wissenschaften; oder psychologisch gespro‐ chen: Ich halte die Irritabilität durch das, was ist, für Wissenschaften wichtig. Irritation ist der Ausgangspunkt für die Verwandlung von dem, was bekannt ist, in ein Fragezeichen. Man muss sich durch das Bekannte irritieren lassen. In welchem Zusammenspiel sehen Sie Wis‐ senschaft und Bildung in Bezug auf diese Bestimmung von Erkenntnis? Ausbildung ist notwendig, brauchbar, nützlich, utilitär, die instrumentelle Vernunft. Bei ihr ist es vonnöten, über Methoden und Werkzeuge zu verfügen, um die mir gestellten Aufgaben zu erfüllen. Nach Max Weber und seinen drei Pädagogiken der Konfuzianismusstudie wür‐ de Ausbildung unter die moderne Pädagogik des Abrichtens fallen. Bildung aus Sicht der KT hingegen würde die Fähigkeit bedeuten, Freu‐ de an Erkenntnis zu erleben. In Anknüpfung an eine Differenzierung von Ralf Dahrendorf: Aus‐ bildung wäre die Entwicklung von Fertigkei‐ ten, Bildung die Entwicklung von Fähigkeiten. Jede Fertigkeit, jede Spezialisierung verschenkt Möglichkeiten. Mit Fähigkeiten kann ich selbst beurteilen, ob ich diese oder jene Möglichkeit

noch berücksichtigen möchte oder nicht. Bil‐ dung steht mit dem Begriff Mündigkeit, wie ihn Immanuel Kant 1783 in Was ist Aufklärung? prägte, in Zusammenhang: Die Fähigkeit, ohne Vormund denken zu können. Mit Weber ge‐ sprochen: Das Recht, auch über Wertsetzungen diskursiv urteilen zu können. Bei Ausbildung werden mir die Werte gesetzt, vorgegeben, nach denen ich handle – ohne diese zu hinterfragen. Bildung würde ich direkt an Zivilcourage und Mündigkeit koppeln. Wie kann nun Kritik nach der KT verstanden werden? Wissenschaften sollen immer kritisch sein. Kritisch in dem Sinne, dass man immer offen sein muss, den eigenen Wissensstand zu korri‐ gieren. Dies meint die Korrektur an Verfahren, Methoden, Ergebnissen – das ist der anerkann‐ te Konsens. In der KT wird der Kritikbegriff mit der Frage nach dem jeweiligen Vergesellschaf‐ tungstyp als Ganzes erweitert. Kann die gesell‐ schaftliche Erscheinungsform nicht auch der Kritik unterworfen werden? Es gibt Wissen‐ schaft, die sich an wissenschaftsimmanenten Kriterien festhält und höchstens Reformen for‐ dert. Reform heißt nach Robert K. Merton: das was ist, verbessern. Es gibt also zwei Kritikbe‐ griffe: Einen im Sinne von Social Engineering, der die Dinge, das was ist, verbessert, ohne zu hinterfragen. Und einen im Sinne von Radix, der in seiner Radikalität an die Wurzel geht und den bisherigen Vergesellschaftungstyp als sol‐ chen mit einem Fragezeichen versieht. Die klassische Ideologiekritik sagt: Eine Ge‐ sellschaft teilt etwas über sich mit, doch stellt sich heraus, sie ist nicht das, was sie vorgibt, dass sie sei. Heute – der späte Adorno hat dar‐ auf aufmerksam gemacht – und ich denke, das ist die richtige Beobachtung: Heute wird das, was ist, nicht mehr mit großem ideologischen Aufwand verschleiert, heute ist die Ideologie in die Fakten gerutscht. Und Faktizität selbst ist eigentlich unangreifbar. Es gibt kein Gewölbe mehr darüber. So ist es halt. Die Fakten sind die wahre Ideologie. Das, was heute ideologisch ist, was der Fall ist, ist sozusagen unumstöß‐ lich. Und die Prämisse ist, dass die Fakten die Wahrheit auf ihrer Seite haben. Derjenige, der einen Fakt kritisiert, ob er denn so sein müs‐ se wie er ist, ist ein Utopist. Heutzutage gibt es keine Programme mehr über die Beste aller Welten. In Deutschland finden Sie keine Par‐ tei, die so etwas tun würde. Ich weiß nicht wie es in Österreich ist. Heute gilt: Fakten, Fakten, Fakten. Wer Fakten sagt, ist ideologiekritisch unverdächtig. Die Welt ist alles, was der Fall ist. So ist es. Daher ist es essentiell, dass Wissen‐ schaft frei legt, es wäre auch anders möglich. Nochmal zum Erkenntnisprozess und den Effekten auf die Individuen: Was kann die Erkenntnis über die Verkennung des bisher erkannt Geglaubtem, also dem Bekannten, bei den Individuen auslösen? Hier ist Hegel wirklich führend und steht mit dem zuletzt Gesagten, Fakten als Ideologie, in

Verbindung: Weil etwas bekannt ist, ist es nicht erkannt. Wissenschaft, die sich kritisch nennt, reproduziert nicht Bekanntes. Gerade Gesell‐ schaftswissenschaften sollten beim Bekannten vorsichtig sein und sich fragen: Ist das Bekann‐ te nicht allzu bekannt? Muss man nicht dort an‐ setzen, wo alles schon so bekannt ist, dass kei‐ ner mehr fragt? Aber nun zum Eigentlichen: dem Krän‐ kungsmotiv. Zurück zur Genesis mit der ich heute auch begonnen habe. Es ist so, dass der Mensch, narzisstisch wie er ist, gerne im Mit‐ telpunkt steht. Wissenschaft, die Erkenntnis‐ se fördert, produziert narzisstische Kränkung, da das, was mir bisher bekannt und selbstver‐ ständlich war, plötzlich einbricht. Erkenntnis ist eine Erschütterung. Erkenntnis muss ich erst verarbeiten. Sie kränkt, da sie bisherige Sicherheiten, Überzeugungen in Frage stellt. Erkenntnis heißt Verunsicherung. Sie könnte mein bisher gut gebautes, sicheres Ich‐System ins Rutschen bringen. Lieber nicht erfahren. Illusionen sind etwas Wunderbares. Daher lieben Leute ihre Vorurteile. Zur Freud‘schen Unterscheidung: Irrtum ist leicht korrigierbar, aber Illusionen sind es nicht, da sie wunsch‐ geleitete Irrtümer sind. Daran hänge ich. Wir sind alle aus Stereotypen zusammengeklebt. Würde nun mein Weltbild, so wie ich es bisher angenommen habe, erschüttert oder für un‐ gültig erklärt, wäre ich zutiefst verunsichert. „Ich bin doch nicht so schlau, wie ich glaubte.“ Das ist kränkend! Daher ist es so schwer, tat‐ sächlich Neues oder Erkenntnis mitzuteilen, die sich nicht so ohne Weiteres ins Bekannte einrangieren lässt. Und die schwierigsten Er‐ kenntnisse sind jene über sich selbst, auch bei WissenschaftlerInnen. Könnte man zugespitzt sagen, Wissenschaft ist heutzutage Ideologie? Das gibt‘s auch, Wissenschaft als Ideologie‐ produktion. Aber das wäre klassische Ideolo‐ gieproduktion, im Sinne von Lüge. Weitaus schwerwiegender ist das Faktum als Ideologie, das unumstößlich gilt, dem man sich anpas‐ sen muss und vielleicht etwas verbessern kann. Oder: Die Individuen sollen sich an das, was gesellschaftlich geschaffen ist und vorgefunden wird, anpassen. Stattdessen gilt zu fragen, ob man nicht den ganzen Apparat, die verwaltete Welt (Adorno), ändern muss. Doch läuft alles darauf hinaus, dass sich die Individuen ändern müssen. Das bedeutet, die Ausbildung muss besser werden, damit niemand die Faktizität in Frage stellt. Das Faktische, als Ideologie, wird nicht in Frage gestellt. So wie es ist, ist es eben. Früher nannte man das Positivismus. Anmerkung: Dr. Friedhelm Kröll hat Soziologie, Kommunikations‐ wissenschaft und Kunstgeschichte in Freiburg, Wien und Erlangen‐Nürnberg studiert. Seit 1990 ist er Gast‐ professor an der Uni Wien. Das abgedruckte Interview ist ein kurzer Auszug aus dem mit Dr. Friedhelm Kröll geführten Gespräch.

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postnazismus Wider die postnazistischen Zustände! Solange die Menschen ihre Geschichte nicht selbstbewusst gestalten und sie im Wesentlichen nur passiert, erweist sie sich als ein Verhängnis. Weil eine aufgeklärte Menschheit auf sich warten lässt, wirken Traditionen der Vergangenheit unbewusst fort. Im aktuellen Schwerpunkt widmen wir uns daher den Kontinuitäten des Nationalsozialismus in der österreichischen wie deutschen Demokratie.

Ein für die meisten sichtbares Nachwirken der österreichischen Vergangenheit ist der demnächst stattfindende rechtsextreme WKR-Ball, zum neutral klingenden ,Akademikerball‘ umbenannt. Aber stellen die ,Ewiggestrigen‘ die einzige Kontinuität des ,Dritten Reichs‘ dar? Erlaubt nicht die Tatsache, dass der Nationalsozialismus gegen den Willen seiner Bevölkerung gestürzt wurde, Grund zur Annahme, dass die Nachfolgegesellschaften und ihre Institutionen postnazistisch sind? Der einführende Artikel Postnazismus als Begriff der Kritik auf Seite 18 zeigt das Fortwesen der Vergangenheit auf struktureller und nicht bloß personeller Ebene auf. Welche Unterschiede es in demokratischen Gesellschaften geben kann, wurde zuletzt auch wieder im Zuge der Proteste der Flüchtlinge, die in der Votivkirche und dem davor liegenden Park für ihre Rechte demonstrieren, deutlich. Zugunsten dieser äußerte sich eine Stimme mit dem Hinweis, dass diese Menschen nicht nur um das bloße Überleben, sondern für ein besseres Leben kämpfen. Während beispielsweise die amerikanische Gesellschaft ihr Wesen im Streben nach Glück sieht, gelten in Österreich andere Werte: „Unser Sozialstaat, unsere Arbeitsplätze, unser Wohlstand.“ 1 Was das konkret bedeutet, bekamen die Flüchtlinge in einer plötzlichen Räumungsaktion der Polizei zu spüren. Deren Forderungen stellen für die österreichischen Behörden kein Integrationsangebot dar. Anders verhält es sich hingegen mit dem Antisemitismus, wie im Interview „Die kulturelle Variable ist nur eine neben anderen“ auf Seite 24 nachzulesen ist.

Die Aktualisierung des Postnazismus-Begriffs spürt den gleichbleibenden alten Kern im beständigen Wandel der Zeit auf. Noch immer sind Gemeinschaftsvorstellungen unterschiedlichster Art maßgebend; auch im ,neuen Österreich‘. Im alten hat man Wiedergutmachung nicht mit den Überlebenden und Verfolgten, sondern vor allem mit den Nazis betrieben, wie der Artikel Vermögenssicherung für ‚gutgläubige Erwerber’ auf Seite 23 am Beispiel der Restitution arisierten Vermögens in Österreichs zeigt. Eines zumindest hat man aus der Geschichte gelernt: wie mit ihr Politik zu machen ist. Denn der Antisemitismus, so wie man ihn von den Nazis kennt, ist in Österreich und Deutschland weitgehend geächtet, ohne dass er jedoch verschwunden wäre. Während das Gedenken an die toten Juden und Jüdinnen sogar zur Staatsräson erhoben wurde, hat man mit den Überlebenden, besonders in Form des Staates Israel, nach wie vor so seine Probleme. Dies setzt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen durch, wie der Artikel Arisches nicht Literarisches auf Seite 20 anhand der deutschsprachigen Literatur aufzeigt. Auch Thomas Bernhard und das postnazistische Österreich auf Seite 21 beschäftigt sich damit, wie die Reintegration der TäterInnen in den österreichischen Normalbetrieb literarisch behandelt wurde.

Jüngst stellte sich wieder ein Konsens von rechts bis links her als es um die Frage nach der Verbreitung des Antisemitismus, diesmal in Deutschland, ging. Hängt dieser Schulterschluss mit der spezifischen Geschichte Deutschlands und Österreichs zusammen oder ist dies ein allgemeines Phänomen des Krisenverlaufs des Kapitalismus? Diese Frage thematisiert der Artikel Österreich, wie postnazistisch bist du eigentlich? auf Seite 19. Um trotz all der negativen Befunde nicht in einen geschichtslosen Pessimismus zu verfallen, bedarf es der Notwendigkeit zu urteilen, wie der gleichnamige Artikel auf Seite 22 darlegt. Die Schicksalshaftigkeit der Vergangenheit kann nur beenden, wer sich der persönlichen Verantwortung bewusst wird.

Anmerkung: 1 http://derstandard.at/1356426519994/Asylproteste‐Die‐Angst‐vor‐dem‐Streben‐nach‐Glueck

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POSTNAZISMUS ALS BEGRIFF DER KRITIK Der Begriff des Postnazismus und der früher geläufigere Begriff des Postfaschismus versuchen die Tatsache zu fassen, dass 1945 zwar das Morden geendet hat, aber nicht die viel beschworene ‚Stunde Null‘ stattfand.

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ie nachnationalsozialistischen Demokratien haben Struktur‐ und Ideologieelemente des Faschismus und des Nationalsozialismus in sich aufgenommen. So sind beispielsweise der deut‐ sche Korporatismus und die österreichische Sozialpartner‐ und Sozialpartnerinnenschaft ohne die nationalsozialistische ‚Betriebsge‐ meinschaft‘ nicht zu verstehen; die spezifischen Ausprägungen des Antisemitismus und Anti‐ amerikanismus oder auch die Gleichzeitigkeit von Antikommunismus und Antiliberalismus in den Nachfolgegesellschaften des National‐ sozialismus können ohne Reflexion auf die real gewordene Volksgemeinschaft vor 1945 nicht sinnvoll analysiert werden. In der Nachkriegszeit wurden unter dem Be‐ griff Postfaschismus in erster Linie personel‐ le Kontinuitäten gefasst, also die massenhaft ungebrochenen Karrieren ehemaliger Nazis in der Demokratie, kaum jedoch ein struktu‐ relles Fortwesen des Nationalsozialismus. Erst in den 1960er Jahren kam es zu Diskussionen, in denen der Begriff des Postfaschismus etwas mehr an Konturen gewann. Man denke nur an einen der wohl meistgelesenen Aufsätze Theo‐ dor W. Adornos aus dem Jahr 1959: Was bedeu‐ tet: Aufarbeitung der Vergangenheit. Dort weist der Mitbegründer der Kritischen Theorie nach‐ drücklich darauf hin, dass er das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie für po‐ tentiell bedrohlicher erachte als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokra‐ tie: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eige‐ nen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Un‐ säglichen fortwest in den Menschen wie in den 1 Verhältnissen, die sie umklammern.“ Der lange gebräuchliche Begriff Postfaschis‐ mus beinhaltet allerdings das Problem, dass

der Nationalsozialismus zugunsten eines falsch verallgemeinernden Faschismusbegriffs ver‐ schwindet. Deshalb wird seit etwa zehn Jahren der Bezug auf das nazistische Erbe in den Vor‐ 2 dergrund gerückt. Als Begriffe der Kritik zie‐ len Postfaschismus und Postnazismus auf die modifizierte Fortsetzung faschistischer und national sozialistischer Ideen in der und durch die Demokratie und sind als positive Katego‐ rien nicht denkbar. Sie beabsichtigen die De‐ nunziation des aktuellen politischen Souveräns mittels des Hinweises, dass jeder Staat auf den Erfahrungen seines Vorgängers aufbaut; und sie kritisieren das gegenwärtige Massenbewusst‐ sein als Ausdruck einer nicht oder falsch aufge‐ arbeiteten Vergangenheit.

Was ‚deutsch‘ ist Selbstverständlich sind viele jener Entwick‐ lungen, an denen mit dem Begriff des Postna‐ zismus Kritik geübt werden soll, auch in an‐ deren Gesellschaften als der deutschen und österreichischen zu beobachten. Gerade die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien wie auch das erschreckende Ausmaß eines sich oftmals als links begreifenden Israelhasses in anderen Ländern lassen es merkwürdig anmuten, die Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialis‐ mus gesondert zu behandeln. Der permanen‐ te Hinweis gerade deutscher und österreichi‐ scher Autoren und Autorinnen, dass an der Entwicklung in Österreich und der BRD doch gar nichts besonderes sei – in anderen Demo‐ kratien gäbe es schließlich auch Rassismus und Antisemitismus – blendet allerdings die unter‐ schiedlichen Ausgangslagen bewusst aus. Die Entwicklungen in zahlreichen, durchaus nicht nur europäischen Gesellschaften, verweisen zwar darauf, dass sich zusehends das als ver‐ allgemeinerungsfähig erweist, was in einem ideologiekritischen Sinne als ‚deutsch‘ bezeich‐ net werden kann. Darauf zielen die relativie‐ renden Einwürfe aber gerade nicht. Entgegen der etablierten Rechtspopulismusforschung bleibt darauf zu beharren, dass ähnliche Ent‐ wicklungen schon auf Grund der unterschied‐ lichen historischen Bezüge nicht die gleiche Bedeutung haben. In Deutschland ist der Na‐ tionalsozialismus als massenhaft legitimierte Volksbewegung an die Macht gekommen und die deutsch‐österreichische Volksgemeinschaft

hat gerade im zur Tat schreitenden Antisemi‐ tismus und im Vernichtungskrieg an der Ost‐ front zu sich gefunden. In den Niederlanden hingegen hat die Bevölkerung einen General‐ streik zum Schutz der holländischen Juden und Jüdinnen organisiert und in Dänemark fanden groß angelegte Fluchthilfeaktionen statt. Dies ist selbstverständlich kein Grund, die massen‐ hafte Kollaboration mit den Nazis, die es in fast allen europäischen Ländern gegeben hat, nicht ebenfalls zu thematisieren. Anders ausgedrückt: Auch wenn als Mög‐ lichkeit allen bürgerlich‐kapitalistischen Ge‐ sellschaften die Aufhebung des Widerspruchs von Kapital und Arbeit in der Volksgemein‐ schaft und die Radikalisierung des Antisemitis‐ mus zum Massenmord an Juden und Jüdinnen, das heißt an einem imaginierten inneren wie äußeren Feind, innewohnt – in Deutschland und Österreich ist sie Realität geworden. Zwar bedeutet Nationalismus immer eine ideologi‐ sche Affirmation von Kapitalproduktivität und Staatsloyalität. Der Nationalsozialismus impli‐ ziert zudem aber Vernichtung von Menschen um der Vernichtung willen: den in Auschwitz und all den anderen Orten praktizierten, aufs Ganze gehenden, industriell wie handwerklich betriebenen, bürokratisch geplanten und von der Welt hingenommenen Massenmord.

Globale Konstellation Doch wenn heute über Postnazismus geredet wird, darf nicht nur über die Nachfolgegesell‐ schaften des Nazismus gesprochen werden: Eine global orientierte Kritik der postnazisti‐ schen Konstellation muss konstatieren, dass sich das Zentrum der offenen antisemitischen Agitation nach 1945 von Europa in den ara‐ bisch‐islamischen Raum verschoben hat, in den auch schon die Nazis hervorragende Bezie‐ hungen unterhalten haben. Die Deutschen ha‐ ben gemeinsam mit ihren ‚Hilfsvölkern‘ agiert: vornehmlich mit jenen Osteuropäern und ‐eu‐ ropäerinnen, die sich redlich bemüht haben, sich in das deutsch‐österreichische Vernich‐ tungswerk zu integrieren. Dies findet seinen Widerhall heute unter anderem in Ungarn, wo die Nachfahren der Horthy‐Faschisten und ‐Fa‐ schistinnen an der Regierung sind und die Er‐ ben und Erbinnen der Pfeilkreuzler‐Nazis eine der wichtigsten Oppositionsparteien stellen.

Stephan Grigat

Die Deutschen und ihre Verbündeten haben nicht nur bewiesen, dass rassistische Weltbe‐ herrschungsfantasien und ein wahnhaft‐pro‐ jektiver antisemitischer Antikapitalismus zur Rettung des Kapitals bis zum industriell betrie‐ benen Massenmord an der jüdischen ‚Gegen‐ rasse‘ und zum rassistischen Vernichtungskrieg gegen die slawischen ‚Untermenschen‘ gestei‐ gert werden kann. Sie haben auch gezeigt, dass man dafür selbst nach der totalen militärischen Niederlage keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten hat. Danach kann gar nicht hoch ge‐ nug eingeschätzt werden, wie attraktiv eine der‐ art pathologische, sowohl mörderische als auch selbstmörderische Krisenlösungsstrategie für antisemitische Massenbewegungen und Ban‐ den in anderen Weltregionen sein musste und bis heute ist. Weil das so ist, gilt es heute neben der un‐ versöhnlichen Denunziation der ‚deutschen Zustände‘, von denen schon der junge Karl Marx wusste, dass sie „unter dem Niveau der Geschichte“ und „unter aller Kritik“ sind,3 ins‐ besondere jene Kollaboration Österreichs und des Rechtsnachfolgers des ‚Dritten Reiches‘ mit dem antisemitischen iranischen Regime ins Vi‐ sier zu nehmen, aus der dem Staat der Shoah‐ Überlebenden und ihrer Nachkommen eine existenzielle Gefahr zu erwachsen droht. Israel wird mit dieser Gefahr weitgehend alleine gelas‐ sen und die EU weigert sich beispielsweise bis heute, die djihadistische Mörder‐ und Mörde‐ rinnenbande Hisbollah oder die iranischen Pas‐ daran als Terrororganisation einzustufen. Das zeigt einmal mehr, dass die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im heutigen Postna‐ zismus zu Gedenkroutine und Erinnerungsrhe‐ torik verkommen ist, aus der kaum Konsequen‐ zen zur Bekämpfung des aktuellen ubiquitären Antisemitismus gezogen werden. Anmerkungen: 1 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 554. 2 Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Begriff durch den 2003 erschienenen Band „Transformation des Postnazismus“ bekannt, der 2012 in stark erweiterter und geänderter Fassung unter dem Titel „Postnazis‐ mus revisited“ im ça ira‐Verlag neu aufgelegt wurde. 3 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso‐ phie. Einleitung. In: Marx‐Engels‐Werke, Bd. 1, Berlin 1988 [1844], S. 380.

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ÖSTERREICH, WIE POSTNAZISTISCH BIST DU EIGENTLICH? Lukas Caterpillar

Es besteht kein Zweifel daran, Und als ob der intellektuelle Trauerzustand dass Österreich reich an Abson- nicht schon schlimm genug wäre, treibt die an‐ tideutsche Szene in diesem Zusammenhang al‐ derlichkeiten in postnazistischer lerlei Spielereien, für die man sich in der Regel Tradition ist. Ob damit jeder poli- nur noch schämen kann. Judith Butler, der radi‐ tische Erguss in diesem Land ad- kale Islamismus, der Poststrukturalismus, Teile äquat erfasst werden kann, muss der Linken selbst – im antideutschen Weltbild ist das nur ein Ausdruck des Postnazismus. angesichts jener bunten Blüten, die dieser Begriff bereits treibt, ge- Das antideutsche ABC hörig bezweifelt werden. Nun scheint die Erklärung postnazistischer

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ls Leopold Figl im Jahr 1946 offen forderte, AustrofaschistInnen und AustromarxistIn‐ nen sollen sich doch endlich wieder gemeinsam an den Tisch setzen, bediente er sich dabei ei‐ ner überraschenden Ehrlichkeit. Der nationa‐ le Burgfriede musste her, der ,drohende Kom‐ munismus‘ ließ die alten Taten der letzten Jahre schnell vergessen. Geschichtliche Aufklärung wurde vertagt, im Kampfgetöse wurde um die ehemaligen nationalsozialistischen Stimmen gebuhlt, Österreich kurzer Hand zum ‚ersten Opfer‘ der aggressiven NS‐Politik erklärt und, weil unangenehme Arbeit der österreichischen Seele schon immer fremd war, die Reeducation schnell beendet. Es erfordert kein besonders großes geschichtliches Wissen um zu sehen, wie in gesamtgesellschaftlichen Auseinander‐ setzungen der Zweiten Republik nur allzu oft der Hauch der nationalsozialistischen Jahre mitschwingt. Ob mit dieser Kritik alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erfasst werden können, bleibt fraglich. Gerade Die Grünen mit ihrem rudimentären zivilgesellschaftlichen Anhang scheinen mit der Forderung nach geschichtli‐ cher Aufarbeitung der erstarkten Rechten das Wasser abgraben zu wollen. Die Linke stimmt in den Gesang treu ein und scheint sich selten die Mühe zu machen, eben den Aufstieg der FPÖ historisch konkret zu bestimmen.

Tendenzen, also das Nachleben des National‐ sozialismus in der Demokratie, im antideut‐ schen Jargon eine undankbare Aufgabe zu sein. „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eige‐ nen Tod noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie 1 in den Verhältnissen, die sie umklammern“ , schrieb einst Theodor W. Adorno, der mit sei‐ nen stilistischen Künsten die antideutsche Fan‐ gemeinde zwar regelmäßig verzaubert, aber in den seltensten Fällen für eine Kritik jenseits aufgebauschter Worte tauglich ist. Nun müss‐ te man, um der Diskussion gerecht zu werden, auf die unterschiedlichsten Erklärungsmodelle des Holocausts, des Faschismus, des National‐ sozialismus und der unterschiedlichen Inter‐ pretationen marxistischer Kritik, die heute wie ein beliebiger Kochkurs erstsemestriger Stu‐ dentInnen wirken, eingehen, wofür hier leider kein Platz bleibt – so können wir uns nur kurz zwei Beispiele ansehen. Mit Jörg Haider, der symbolisch für den Rechtsruck innerhalb der FPÖ stand, begann 1986 die beispiellose Erfolgsgeschichte der FPÖ die ihren Gipfel am 4. Februar 2000 fand. Das war der Tag an dem für die gesamte europäische Rechte die Tür der Regierungsbeteiligung geöff‐ net wurde, die zwar besser verschlossen geblie‐ ben wäre, jedoch nur die logische Konsequenz der gesellschaftlichen Dynamik war. Stephan

Grigat attestiert: „Sein Erfolgsrezept liegt darin, perspektivisch an einer modernen Variante des Faschismus festzuhalten, indem er sich vom Na‐ tionalsozialismus immer klarer distanziert. Fa‐ schistoide Forderungen werden von Parteiver‐ tretern und ‐vertreterinnen heute nicht mehr mit der Notwendigkeit der Erhaltung der deut‐ schen Kultur begründet, sondern als notwendi‐ ge politische Maßnahme zur Standortsicherung in die Diskussion gebracht, womit man durch‐ aus einen Schritt in die Mitte der Demokraten 2 und Demokratinnen gemacht hat [...].“ Nun hat die Neuformierung im ideologi‐ schen Weltbild der Rechten weder etwas mit ei‐ ner strategischen Raffinesse zu tun, noch lässt sie sich alleine als Echo vergangener Zeiten erklären. „Traditionen haben Konjunktur, wo gesellschaftliche Widersprüche kompensiert werden müssen, nicht wo Identität herrscht“ 3, schreibt TOP B3rlin, Teil des kommunistischen ...umsGanze!‐Bündnisses, als Antwort auf die antideutschen Tricksereien. Das Erfolgsre‐ zept Haiders kann nur dann hinreichend er‐ klärt werden, wenn zum einen die Krise des Fordismus, seines Wohlfahrtstaates wie auch die damit verbundene Erosion der klassischen Parteien strukturen von SPÖ und ÖVP in das Zentrum der Analyse gestellt werden. Griff die FPÖ Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre hauptsächlich auf ein bürgerliches, von der So‐ zialpartner_innenschaft enttäuschtes Wähler_ innenspektrum zurück, gelang ihre Dominanz in den Reihen der sozialdemokratischen Wäh‐ ler_innen erst mit der Neoliberalisierung der Sozialdemokratie.

Kritik und Nichtkritik

durchsetzt“ ist, was zweifelsohne auch für den österreichischen gelten darf. „Doch macht es einen Unterschied ums Ganze, ob man diese Phänomene in erster Linie als Ausdruck eines historisch durchhaltenden Nationalcharakters deutet, oder als ideologische Reflexe aktueller Konfliktlagen und Widersprüche kapitalisti‐ scher Vergesellschaftung“ 4, so TOP B3rlin. In den seltensten Fällen scheint antideutsche Kritik einen Begriff davon zu haben, was jen‐ seits des allgegenwärtigen, sich hinterlistig ver‐ steckenden Postnazismus vor sich geht. Dem‐ gegenüber könnte Nicos Poulantzas Begriff des autoritären Etatismus einen angenehmen Aus‐ weg aus dieser Situation bieten. Zwar ist der Terminus nicht gerade ein umgänglicher, doch grenzt er sich von dem des Faschismus und auch der Militärdiktatur ab. Er zielt auf die Kri‐ tik des Ausnahmestaates, der auf die politische Krise wie auch die Krise des Staates verweist. Es ist ärgerlich, wenn jegliche nationale Bewegung mit dem Begriff des Postnazismus erklärt wird, weil das diesen nicht nur vollkommen verwäs‐ sert, sondern auch die Perspektiven emanzipa‐ torischer Politik verstellt. Demgegenüber sollte sich die Linke wieder einmal die Mühe machen auch in postmodernen Zeiten, die der antideut‐ schen Szene mehr zusetzen als sie sich bewusst ist, aktuelle gesellschaftliche Konfliktlinien ad‐ äquat zu bestimmen und mögliche Interventio‐ nen auszumachen. Zielführend dafür ist weder antideutscher Fatalismus noch eine platte klas‐ senkämpferische Attitüde. Zur weiteren Lektüre empfehlen sich die Texte Imagi‐ ne there’s no countries und Zurück in die Politik! von TOP B3rlin: top‐berlin.net

Es geht also nicht darum, die völlig notwendige Anmerkungen: 1 Aufmerksamkeit gegenüber postnazistischen Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Nachwehen zu verlieren, sondern eben diese Vergangenheit. In: Kulturkritik und Gesellschaft II, historisch konkret zu bestimmen. ...umsGan‐ GS 10. 2. Frankfurt a. M.: Fischer. 1997. S. 555. 2 ze! verweist in diesem Zusammenhang völlig http://www.cafecritique.priv.at/oesi.html zurecht darauf, dass der „gegenwärtige deut‐ 3 http://top‐berlin.net/?p=313 sche Nationalismus von völkischen Motiven 4 Ebd.

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ARISCHES, NICHT LITERARISCHES Ein Blick in deutsche und österreichische Belletristik-Bestsellerlisten offenbart die ungebrochene Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Literatur. Auf den zweiten Blick wird meist deutlich, dass bei der literarischen Adaption der historischen Ereignisse zwischen 1933 und 1945 weder das Streben nach Aufarbeitung der Vergangenheit noch die Erinnerung an die Shoah die Wahl der historischen Kulisse begründen.

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on Literatur, die Bestseller‐Auflagen er‐ reicht, lässt sich annehmen, sie könne als Ausdruck kollektiven Bewusstseins gewertet werden. Doch welche therapeutische Funkti‐ on erfüllt die Ansiedlung von Romanhandlun‐ gen gerade in der Zeit des Nationalsozialismus bei einer deutsch‐österreichischen LeserInnen‐ schaft? Zunächst ist davon auszugehen, dass sich in der Literatur der geheime Wunsch nach der Richtigstellung der traumatischen histori‐ schen Ereignisse erfüllen lässt. Ruth Klüger beschreibt eine Tendenz zur Wiedergutmachungsphantasie bei deutschen AutorInnen der Nachkriegszeit anhand der Ro‐ mane von Alfred Andersch. Hierbei bildet zwar die nationalsozialistische Juden‐ und Jüdinnen‐ verfolgung durch die Deutschen den Hinter‐ grund der Handlung, vordergründig wird aber gerade das Gegenteil erzählt – die Geschichte von der Rettung deutscher Juden und Jüdinnen 1 durch die Deutschen. Wie andere Schriftstel‐ lerInnen der 1950er und 1960er Jahre legt An‐ dersch den Fokus auf das Thema Verantwor‐ tung und spielt in seinen Romanen ein Szenario des ‚was wäre geschehen, wenn mehr Deutsche anders gehandelt hätten‘ durch. Doch durch die Abwesenheit jeder ironischen Distanz, je‐ des Hinweises auf die Irrealität der dargestell‐ ten Ereignisse lädt das Format des historischen Romans dazu ein, das in der Realität Ungesche‐ hene, das doch hätte geschehen müssen, dem Historisch‐Verbürgten hinzuzufügen.

Nachdem die Eichmann‐ und Auschwitz‐Pro‐ zesse die Juden‐ und Jüdinnenvernichtung in Deutschland stärker ins Bewusstsein gerufen hatten, erschien 1967 Anderschs Roman Ef‐ raim. Darin legt der Autor seinem Protagonis‐ ten, einem jüdischen, nach Deutschland zu‐ rückgekehrten Exilanten, folgende Worte in den Mund: „Das Leben der Menschen ist ein wüstes Durcheinander aus biologischen Funk‐ tionen und dem Spiel des Zufalls.“ Damit er‐ scheint die Fragestellung nach den Ursachen und der Verantwortung für den Holocaust bereits erledigt. Was der Erledigung in dieser Zeit im Wege stand, waren die Stimmen der Überlebenden. So beschreibt Primo Levi in Die Untergegangenen und die Geretteten sein Bestreben, die Deutschen mit seinem auto‐ biographischen Bericht Ist das ein Mensch? zu konfrontieren, der seine Deportation und Haft in Auschwitz thematisiert: „Die wirklichen Adressaten des Buches waren sie, die Deut‐ schen. […] Seit Auschwitz waren erst fünfzehn Jahre vergangen. Die Deutschen, die mich le‐ sen würden, waren ‚jene‘, nicht ihre Erben. Aus Überwältigern oder teilnahmslosen Zuschau‐ ern würden sie zu Lesern werden. Ich würde sie gefesselt vor den Spiegel zerren. Jetzt war die Stunde der Abrechnung gekommen, der Augenblick, in dem die Karten auf den Tisch 2 gelegt werden mußten.“

Theresa Schmidt

mit dem Wahnhaften des Antisemitismus. Die Überlebenden hatten sich, wollten sie Gehör finden, auf den Bericht aus der Opferperspekti‐ ve zu beschränken, der einfacher zur Individu‐ ation vom Ganzen herangezogen werden konn‐ te. Theodor W. Adorno befasst sich am Rande seines Vortrags Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Frage, auf welche Weise das Vergangene vergegenwärtigt werden kön‐ ne, ohne sich auf die Ebene der Propaganda, der bloßen Umwertung des antisemitischen Ressentiments ins Positive und „der rationalen Manipulation des Irrationalen“ zu begeben. In diesem Kontext schildert er folgende Episode: „Man hat mir die Geschichte einer Frau erzählt, die einer Aufführung des dramatisierten Tage‐ buchs der Anne Frank beiwohnte und danach erschüttert sagte: Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen. Si‐ cherlich war selbst das gut, als erster Schritt zur Einsicht. Aber der individuelle Fall, der aufklä‐ rend für das furchtbare Ganze einstehen soll, wurde gleichzeitig durch seine eigene Indivi‐ duation zum Alibi des Ganzen, das jene Frau darüber vergaß.“ 3 Dass sich eine ähnlich gearte‐ te Fehllektüre der Literatur von Überlebenden am autobiographischen Einzelfall leichter voll‐ ziehen lässt als am grotesken Roman Hilsen‐ raths oder an den Schriften Jean Amérys, liegt auf der Hand.

Repräsentative Funktion

Bedürfnis nach Rehabilitierung

Die Publikationen jüdischer Überlebender wurden in der Bundesrepublik Deutschland durchaus zur Kenntnis genommen, erfüllten sie doch auch eine repräsentative Funktion als Zeichen einer intakten Demokratie. In Öster‐ reich fiel diese Rolle jedoch dem politischen Widerstand zu, was es SchriftstellerInnen wie Jean Améry noch mehr erschwerte, eine Lese‐ rInnenschaft in ihrem verlorenen Kindheits‐ und Jugendland zu finden. Die Form, in der man bereit war, sich mit der Literatur der Über‐ lebenden zu befassen, blieb strikt begrenzt. So war lange kein Verlag bereit, Edgar Hilsenraths aus TäterInnenperspektive erzählten Roman Der Nazi und der Friseur zu veröffentlichen. Taugt er doch, anders als Anderschs Efraim, in keiner Weise als Projektionsfläche für rück‐ wärtsgewandte Phantastereien von tapferen deutschen Juden‐ und JüdinnenretterInnen, sondern konfrontiert seineN LeserIn direkt

Die Zeit hat die Stimmen der Überlebenden beinahe völlig verklingen lassen. Der Buch‐ markt wird nun von den später Geborenen be‐ dient, deren Bedürfnis nach Rehabilitierung der Väter‐ und Großväter‐Generation ungebrochen scheint. Das Prinzip der Individuation, die das Ganze vergessen macht, hat sich, so scheint es, im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im deutsch‐österreichischen Literaturbetrieb durchgesetzt. Es gelingt aber auch auf der Seite der TäterInnen, wie schon Anderschs Efraim den LeserInnen nahelegt. So verzeiht man bei der Lektüre des sentimenta‐ len, ein Jahrhundert umfassenden Generati‐ onenromans allzu schnell die Handlungsent‐ scheidungen des einzelnen Protagonisten, der so plausibel, so zwangsläufig in die ‚Jahrhun‐ dertereignisse‘ hineingezogen wird. Hat man doch im Strudel der Ereignisse, den das Gen‐ re beinahe zwangsläufig generiert, bereits die

Möglichkeit einer Entscheidung für ihn und stellvertretend für die ganze Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Die Lektüre des Generationen‐ romans erweist sich ein ums andere Mal als ein Blick durch das Kaleidoskop schicksalhafter Be‐ gebenheiten. In seinem Prisma funkeln die ro‐ mantischen Umstände des Kennenlernens der Großeltern neben der tragischen Einberufung des Großvaters in die Wehrmacht, während im nächsten Moment der Vater als Teil der 1968er Bewegung auf die Barrikaden steigt und mit seiner Rebellion gegen den US‐Imperialismus und Zionismus (und die aufgezwungene Re‐ education) den entstandenen Imageschaden wiedergutmacht. Längst ist die Furcht, dass die Erinnerung an das Geschehene dem deutschen Ansehen im Ausland schaden könnte, die Adorno in zuvor genannter Rede noch als Abwehrgeste gegen allzu hartnäckige Erinnerung an die Shoah er‐ wähnt, gewichen. Vielmehr präsentiert man sich auch im Bereich der Literatur als Erinne‐ rungsweltmeister. Bernhard Schlinks Millio‐ nenbestseller Der Vorleser beweist anschaulich, wie man noch aus den durchaus realistisch ge‐ schilderten grausamen Verbrechen der Prot‐ agonistin im Kontext der Todesmärsche eine rührselige BüßerInnengeschichte machen kann. So unfreiwillig wie sie in die Nazi‐Ver‐ brechen hineingezogen wurde, so bewusst und reuig erarbeitet sie sich – gemeinsam mit dem LeserInnen‐ bzw. Kinopublikum – die Absoluti‐ on. Damit nicht genug, zeichnet Schlink seinen Helden als vorbildlichen Aufarbeiter der Ge‐ schichte, der unter der Last der Vergangenheit, die er altersbedingt doch gar nicht mitzuverant‐ worten hat, leidet. Wer so viel Buße getan und so viel Vergan‐ genheitsschuld (so der Titel eines Essaybands Schlinks) auf sich genommen hat, der darf schließlich auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen, Was gesagt werden muss. Zu diesem Schluss könnte leider gelan‐ gen, wer sich die Verlagsprogramme der letzten Jahrzehnte zu Gemüte geführt hat. Anmerkungen: 1 Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1994, S. 9–39 2 Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 1990, S. 177. 3 Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. S. 26.

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THOMAS BERNHARD UND DAS POSTNAZISTISCHE ÖSTERREICH Das Verhältnis der postnazisti- Auslöschung der Schuld schen Demokratien zur eigenen Im 1986 veröffentlichten Roman Auslöschung. Vergangenheit gehört zu den zent- Ein Zerfall wird die Frage gestellt, wie die Nach‐ ralen politischen Themen, die Tho- kommen der TäterInnen mit dem ihnen zuge‐ mas Bernhard in seinem literari- fallenen NS‐Erbe umgehen können. Der Ro‐ man ist als persönlicher Bericht eines Mannes schen Werk verhandelt. geschrieben, der zum Begräbnis seiner Eltern

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er 1979 entstandene Theatertext Vor dem Ruhestand. Eine Komödie aus deutscher See‐ le thematisiert eine familiäre Konstellation der Nachkriegszeit im Zeitkontext der Affäre um die NS‐Vergangenheit des Ministerpräsidenten 1 Hans Filbinger . Rudolf, Gerichtspräsident und NS‐Täter, sowie Vera, seine Schwester, stehen für die Kontinuität des Nationalsozialismus in Justiz und Gesellschaft. Die konkrete Handlung spielt sich an Heinrich Himmlers Geburtstag ab, den Rudolf auch nach 1945 jedes Jahr fei‐ =JBQ)LD2J2/)[GM6=5B=J)a8<)-:38DA):<3)v=J2/)54BHB) seit einem Bombenangriff der US‐Luftwaffe im Rollstuhl und bildet den Stachel im Fleisch der Familie. Sie gibt nicht der US‐Armee, sondern den Nazis die Schuld an ihrem Schicksal und initiiert damit einen beständigen innerfamiliä‐ ren Konflikt, der den postnazistischen Konsens zumindest punktuell ankratzt. Ganz im Gegen‐ 52BH)H:)LD2J2)92GMB)-:38DA)34=)![j^9=J4;2<=‐ rInnen für die Behinderung seiner Schwester verantwortlich und spricht von einem ‚Terror‐ angriff ‘ der US‐Armee. t4=) ZPB=JK<<=<) 6=J3=<) a8<) LD2J2) 2D5) 58D‐ che benannt und auch durch die Reaktionen von Vera und Rudolf wird TäterInnenschaft indirekt erkennbar. Bernhard gelingt es mit dieser Figurenkonstellation mehrere postna‐ zistische Konfliktlinien aufzunehmen. Er kri‐ tisiert die Integration der TäterInnen in den Staatsdienst, bricht das öffentliche Schweigen über die Opfer des Nationalsozialismus und stellt sich gegen die populäre Gleichsetzung von Auschwitz mit den Bombenangriffen der Alliierten.

und seines Bruders an den Ort seiner Kind‐ heit zurückkehrt. Ebenso wie über das konfor‐ mistische Verhalten der DorfbewohnerInnen und Bediensteten richtet Ich‐Erzähler Murau über die Ereignisse, die sich während des Na‐ tionalsozialismus und in den Jahren danach im Schloss seiner Familie in Wolfsegg zutrugen. Orte, die für Murau in seiner Kindheit unbe‐ lastet erschienen, werden in der gegenwärtigen Perspektive zu Stätten der TäterInnenschaft. Der Nationalsozialismus scheint jeden Fleck in Wolfsegg zu determinieren und wird sogar in den löchrigen Anzügen des Vaters (dort, wo er sich einst das Parteiabzeichen angesteckt hat) und dem Haltungsschaden der Mutter (den sie sich geholt hat, als sie im Frühjahr 1945, recht‐ zeitig vor der Ankunft der ersten alliierten Sol‐ datInnen, die Hakenkreuzfahne im Schloss einzog) sichtbar. Auffällig viele Figuren in Bernhards Werken stehen dem Staat kritisch bis ablehnend ge‐ genüber. Auch Muraus Verhältnis zum öster‐ reichischen Staat ist ein feindliches, wobei sei‐ ne Kritik einen stark moralisierenden Impetus hat. Dem „Nationalsozialismus“, „Pseudosozia‐ lismus“ und „Katholizismus“ wird die „Zerstö‐ rung und Vernichtung“ des „österreichische[n] Vaterland[es]“ angelastet und letzteres damit – implizit suggeriert durch den Ich‐Erzähler – zum (ersten) Opfer. Ernsthaftere Gesellschafts‐ kritik formuliert Murau im Zusammenhang mit personellen Kontinuitäten. Zwei ehemalige Gauleiter und zahlreiche SS‐Obersturmbann‐ führer kündigen sich zu den Begräbnisfeierlich‐ keiten seiner Eltern an. Sie alle genießen auch im postnazistischen Österreich hohes Ansehen und werden vom österreichischen Staat groß‐

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zügig alimentiert. Ihnen stellt Murau in seinem Bericht den Bergmann Schermaier gegenüber. Schermaier wurde denunziert und in weiterer Folge in ein Konzentrationslager verschleppt. Nach Ende der nationalsozialistischen Herr‐ schaft bekommt er – wie viele andere Überle‐ bende – keine Entschädigung. Aus diesen Verhältnissen zieht Murau die Konsequenz und schenkt das von seinen Nazi‐ Eltern geerbte Schloss Wolfsegg der Israeliti‐ schen Kultusgemeinde. Diese Auflösung kommt im allerletzten Moment, nämlich im drittletz‐ ten Satz des 651 Seiten dicken Romans. Hier zieht Bernhard eine Notbremse, die an jene er‐ innert, von der Walter Benjamin am Rande sei‐ ner Arbeit für die Thesen Über den Begriff der 2 Geschichte schrieb. Der fahrende Zug wird an diesem Punkt, wenn auch nicht wie bei Benja‐ min durch eine Revolution, so zumindest durch eine grundlegende Veränderung der Eigen‐ tumsverhältnisse, angehalten. Der ‚Fortschritt‘ unter den herrschenden Verhältnissen muss gestoppt werden, um ihn – vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt – in einem empathischen Sinne zu retten.

Eine verrückte Familie Das Drama Heldenplatz löste von diesen drei Texten Bernhards den größten Skandal aus. Sowohl PolitikerInnen als auch der Boulevard kampagnisierten bereits vor der Uraufführung im Jahr 1988 gegen das Theaterstück, das von einer jüdischen Familie handelt, die in einer Wohnung mit Blick auf den Heldenplatz lebt. Im Text wird schon zu einem frühen Zeit‐ punkt deutlich, dass fast alle Mitglieder der Fa‐ milie Schuster schon einmal ‚in Steinhof‘, also in psychiatrischer Behandlung, waren. Daraus ergibt sich ein breiter Interpretationsspielraum sowohl für das Publikum als auch für Regis‐ seurInnen, die Heldenplatz auf der Bühne in‐ szenieren. Die Familie Schuster könnte relativ einfach als verrückte jüdische Familie darge‐ stellt werden, deren Hasstiraden auf Österreich

nicht ernst zu nehmen sind. Ebenso ist es mög‐ lich, zu einer gegenläufigen Lesart zu kommen, wenn man Geisteskrankheit als Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen das jeweilige Individuum umklammert wird, betrachtet. Die Stellung, die Verrückten im Gesamtwerk Bernhards zukommt, würde eher letzteres unterstützen. Dass der Katholik Bernhard seinen berech‐ tigten Hass auf das postnazistische Österreich der Figur des reichen, aus der Emigration zu‐ rückgekehrten Juden in den Mund legt, bleibt problematisch und unterscheidet Heldenplatz deutlich von Vor dem Ruhestand und Auslö‐ schung. Jene, die 1988 zu den GegnerInnen des Stückes gehörten, könnten durchaus eine anti‐ semitische Heldenplatz‐Lesart entwickeln, wür‐ den sie sich ernsthaft mit dem Text befassen. Glauben sie doch ohnehin an das Bild des va‐ terlandslosen, Österreich hassenden Juden, das in Heldenplatz nicht gerade dekonstruiert wird. Teile des Stückes erinnern in ihrem Sprachstil eher an Politiker wie Jörg Haider als an den jüdischen Professor, dem sie in den Mund ge‐ legt werden. Etwa wenn der Bundeskanzler als „Staatsverschacherer“ gegeißelt wird oder von Schriftstellern die Rede ist, die Strafgefangenen „ihren verlogenen Dreck als Kunstwerke“ 3 vorle‐ sen. An Stellen wie diesen wird klar, wie prob‐ lematisch die Verfahrensweise sein kann, den Hass der AntisemitInnen mit einer fiktiven jü‐ dischen Figur zu spiegeln. Insbesondere aus der Position eines Autors, der dem Kontext der Tä‐ terInnen und MitläuferInnen entstammt. Anmerkungen: 1 Hans Filbinger, 1966 bis 1977 Ministerpräsident von Baden‐Württemberg. Filbinger war NSDAP‐Mitglied und als Marinerichter für mehrere Todesurteile ver‐ antwortlich, an deren Rechtmäßigkeit er auch nach 1945 festhielt. 2 (H,>:7<( ;7#-,I$#3( J7F,II7>:7( K%6<$L:7#( MNON( K"6<‐ kamp. Frankfurt 1974, S. 1232. 3 Thomas Bernhard: Heldenplatz. Suhrkamp. Frank‐ furt 1995, S. 102–103.

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DIE NOTWENDIGKEIT ZU URTEILEN Hannah Arendt hat ihre Gedanken über das menschliche Vermögen zu urteilen nie systematisch erörtert. Judging sollte ihre dritte Untersuchung in Vom Leben des Geistes werden. Als sie unerwartet im Dezember 1975 starb, hinterließ sie das Manuskript ihrer Kant-Vorlesung sowie zahlreiche verstreute Hinweise. „[…] so glaube ich, dass wir mit dieser Vergan‐ genheit nur fertig werden können, wenn wir 1 anfangen zu urteilen, und zwar kräftig.“ Hannah Arendt an Gershom Scholem, am 20. Juli 1963 n Bezug auf Hannah Arendts politische Theo‐ rie wird ihre Anwesenheit beim Prozess Adolf Eichmanns in Jerusalem 1961 sowie ihr anschlie‐ ßend zunächst im New Yorker, dann in Buch‐ 2 form erschienener Prozessbericht zu wenig be‐ achtet. Arendts journalistische Arbeiten – der Prozessbericht und andere Essays zu tagespoli‐ tischen Themen – werden oft von ihrem philo‐ sophischen Werk isoliert beurteilt, ihr Stellen‐ wert für die Entwicklung ihrer Fragestellungen verkannt. Ihr Bericht vom Eichmann‐Prozess, der vor einem israelischen Gericht von April bis Dezember 1961 stattfand, löste vor allem im Umfeld emigrierter jüdischer Intellektueller heftige Kontroversen aus. Zur Debatte stand vor allem die Frage persönlicher Verantwortung an‐ gesichts des Massenmords an den europäischen Jüdinnen und Juden.

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Handeln und Urteilen Der Frage persönlicher Verantwortung muss sich jede/r stellen, so Arendt. Sie betreffe nicht nur den Angeklagten Eichmann, sondern auch die in den ZeugInnenstand berufenen Perso‐ nen. Ihr Unwillen sowohl eine Kollektivschuld Deutschlands als auch eine absolute Ohn‐ macht der Jüdinnen und Juden anzunehmen, stieß zum damaligen Zeitpunkt auf heftige Ablehnung.3 Zwar war es ihr Anliegen, „[…] sich zu überlegen, welche Haltung man einnehmen kann, wie man es ertragen kann, sich mit ei‐

nem Volk konfrontiert zu finden, in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Men‐ schen, Schuldige von Unschuldigen trennt, so effektiv verwischt worden ist“ 4, doch wurde ihr Wunsch, sich ein unabhängiges Urteil zu bil‐ den, zum damaligen Zeitpunkt als Überheb‐ lichkeit missverstanden. Vor allem in Bezug auf die „Juden und ihre Haltung in der Katastrophe“ 5 und auf die im Prozess angesprochene Verantwortung der ‚Ju‐ denräte‘ – die von den Nazis eingesetzt wurden, um ihre eigenen Gemeinden zu liquidieren – durfte kein moralisches Urteil gefällt werden. „Es gab sehr viele Mittelmenschen wie wir alle, die unter unwiederholbaren und unrekonstru‐ ierbaren Bedingungen Entschlüsse fassen muß‐ ten. Ich weiß nicht, ob sie richtig oder falsch waren. Ich maße mir kein Urteil an. Ich war nicht da“ 6, schreibt Gershom Scholem an Are‐ ndt im Juni 1963. Besonders verwirrend an der Debatte um Arendts Bericht ist, dass juristische, moralische und historische Urteile in Umlauf gebracht, diese jedoch nicht genau unterschieden werden. Dem Einvernehmen, dass niemand das Recht hätte, über eine andere Person zu urteilen, steht Hannah Arendt kritisch gegenüber: „The argument that we cannot judge if we were not present and involved ourselves seems to convince everyone everywhere, although it seems obvious that if it were true, neither the administration of justice nor the writing of history would ever be possible.“ 7 Das juristische Urteil bringt, wie schon bei den Nürnberger Prozessen, die Problematik einer retroaktiv angewandten Norm mit sich. Bis auf wenige Ausnahmen handelte Eich‐ mann den Bestimmungen des NS‐Staats ent‐ sprechend – also ‚gesetzeskonform‘.8 Um Eich‐ mann für die Folgen seiner Amtshandlungen zur Verantwortung zu ziehen, mussten neue ju‐ ristische Kategorien zur Anwendung kommen. Deshalb musste zunächst bewiesen werden, dass herkömmliche juristische Tatbestände wie Mord oder Kriegsverbrechen dem Sachverhalt eines von Eichmann administrierten Genozids nicht gerecht werden. Denn eine retroaktive Rechtsprechung ist nur möglich, wenn es für ei‐ nen Tatbestand keine Präzedenzfälle gibt, das heißt wenn ein Sachverhalt nicht unter die be‐ reits existierenden Normen subsumiert werden kann. Weil Eichmann aufgrund von ‚Verbre‐ chen gegen das jüdische Volk‘ vor Gericht stand und diese für präzedenzlos befunden wurden,

Saskia Alice Hnojsky

konnte Eichmann über eine retroaktiv ange‐ tung. ‚Tatsachenwahrheiten‘ – die Urteile der wandte Norm vor einem israelischen Gericht HistorikerInnen – ändern sich nicht, weil wir zur Verantwortung gezogen werden.9 ihnen als Ergebnis einer Geschichte Sinn ver‐ leihen, sie also ‚erklären‘ oder ‚verstehen‘ kön‐ nen. Verstehen bereitet ein Urteil vor, ersetzt Denken und Urteilen es jedoch nicht. In ihren Überlegungen setzt Arendt eine von so‐ zialen und gesetzlichen Normen unabhängige Anmerkungen: 1 menschliche Urteilskraft voraus, die grundsätz‐ Arendt/Scholem 2009; S. 441. 2 lich in der Lage sein soll, Ungerechtigkeit zu er‐ Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. A Report kennen. Urteile resultieren aus einem Gespräch on the Banality of Evil. Viking Press. New York 1963. mit sich selbst. „Und dies Mit‐sich‐selbst‐Spre‐ 3 In dem Fernsehinterview mit Joachim Fest bezieht chen ist ja im Grunde das Denken. Und zwar sich Hannah Arendt auf Karl Jaspers, der ‚das Ent‐ eine Art von Denken, das nicht technisch ist, scheidende‘ ausgesprochen hat: „Dass wir leben, ist 10 dessen jeder Mensch fähig ist.“ unsere Schuld.“ Arendt/Fest 2011; S. 50f. Die Gültigkeit der kantischen Unterschei‐ 4 Arendt, Hannah 1976; S. 40. dung von Moralität und Legalität wird immer 5 Arendt/Scholem 2009; S. 428. dann auf eklatante Weise sichtbar, wenn Regie‐ 6 Ebd. S. 431. rungen Menschenrechte missachten. Das Amo‐ 7 Arendt 2006; S. 295f. ralische ist dann ‚banal‘, weil es nichts Hinter‐ 8 “These crimes undeniably took place within a legal gründiges mehr an sich hat und sich schamlos order. That, indeed was their outstanding character‐ der Öffentlichkeit zur Betrachtung anbietet. istic.” Arendt 2006, S. 290. An die Stelle moralischer Normen (zu deren 9 “Its retroactivity, one may add, violates only formally, Bildung Urteilskraft nötig ist) setzte Eichmann not substantially, the principle nullum crimen, nulla die ihm vorgegebenen Richtlinien zur Adminis‐ poena sine lege, since this applies meaningfully only tration eines organisierten Verbrechens. Er war to acts known to the legislator; if a crime unknown wohl in der Lage, Abweichungen von dieser, für before, such as genocide, suddenly makes its appear‐ ihn zu befolgenden Norm zu erkennen und zu ,#%7'(-"F:$%7($:F7>L(97I,#9F(,(-"9P7I7#:(,%%*<9$#P(:*( hinterfragen. Doch das diesem System zugrun‐ a new law.” Arendt 2006; S. 254. 10 deliegende Unrecht zu erkennen, lag jenseits Arendt/Fest 2011; S. 52f . seines Auffassungsvermögens.

Verstehen und Urteilen In Arendts Bemühen, die Verbrechen Eich‐ manns zu ‚verstehen‘ und einzuordnen, ist – entgegen aller Vorwürfe – nicht ein Funken von Sympathie zu erkennen. Vor allem muss dieses Bemühen in Zusammenhang mit Are‐ ndts Ziel, für die Erfahrung des Totalitarismus beschreibende Kategorien zu finden, betrach‐ tet werden. Ein verstehendes Urteil erfordert die Fähig‐ keit, sich vorübergehend von der eigenen Situ‐ ation und den eigenen Interessen zu lösen, um verschiedene Standpunkte in der Welt einzu‐ nehmen. Aus der Fülle solcher Teilansichten könne die menschliche Urteilskraft eine rela‐ tiv unabhängige Gesamtansicht herausdestil‐ lieren, so Arendt. Die gewonnene Erkenntnis, dass man unter ähnlichen Umständen auch gelogen, Gewalt ausgeübt oder getötet hätte, relativiert ein Verbrechen nicht und enthebt den/die TäterIn nicht seiner/ihrer Verantwor‐

Literatur: Arendt, Hannah/Fest, Joachim: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Piper Verlag. München 2011. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Aus dem Nachlass hrsg. und mit einem Essay von Ronald Beiner. Piper Verlag. München 2012. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. Introduction by Amos Elon. Pen‐ guin Books. New York 2006. Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik. In: dies.: Zwi‐ schen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im po‐ litischen Denken I. Piper Verlag. München 1994; S . 327‐370. Arendt, Hannah: Nach Ausschwitz. Essays und Kom‐ mentare I. Verlag Klaus Bittermann, edition TIAMAT. Berlin 1989. Arendt, Hannah: Organisierte Schuld. In: dies.: Die verborgene Tradition. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1976. Arendt, Hannah / Scholem, Gershom: Der Briefwech‐ sel. Hrsg. von Knott, Marie‐Luise. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2009.

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VERMÖGENSSICHERUNG FÜR ‚GUTGLÄUBIGE ERWERBER‘ Doris Maierhofer

Zur Restitution und öffentlichen Verwaltung von ‚arisierten‘ Betrieben in den 1940er und 1950er Jahren

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er österreichische postnazistische Normal‐ zustand konstituiert sich durch eine Viel‐ zahl an Kontinuitäten aus Austrofaschismus und Nationalsozialismus und ist mithin das nur notdürftig und lückenhaft verdeckte, verdräng‐ te Fortwesen beider in der Zweiten Republik. Ein besonders offensichtliches und eindrückliches Beispiel für dieses Fortwesen ist die (Nicht‐) Rückstellung jüdischen Eigentums. Dieses wur‐ de ab März 1938 sowohl ‚wild‘ wie auch syste‐ matisch ‚arisiert‘, das heißt den rechtmäßigen jüdischen Besitzer*innen durch österreichische und deutsche Nationalsozialist*innen geraubt und entzogen.

Widerwillige Gesetzgebung und Restitution Mit der Niederlage des ‚Deutschen Reiches‘ stellte sich die Frage, bzw. vielmehr stellten die Westalliierten die Frage, wie dieses Ei‐ gentum restituiert werden könnte. Bis 1949 wurden auf Druck der Alliierten insgesamt sieben Rückstellungsgesetze erlassen – ein juristisches Flickwerk, dessen Schikanen die Rückstellung erschwerten. So kämpften Rückstellungswerber*innen mit – vor allem in Anbetracht der Nachkriegssituation und eingeschränkten Kommunikationsmöglichkei‐ ten – unverhältnismäßig kurzen Fristen von sechs Monaten, in denen Ansprüche geltend zu machen waren. Darüber hinaus waren un‐ terschiedlichste Behörden für die Restitution zuständig und vielen Emigrant*innen fehlten die finanziellen Mittel für die komplexe Pro‐ 1 zessführung aus dem Exil.

Der ‚gutgläubige Erwerber‘ als Opfer Die politischen Debatten zur Verabschiedung der Rückstellungsgesetze waren von einer un‐ verhohlenen Parteinahme für die ‚Ariseure‘ ge‐ tragen und antisemitisch unterfüttert, so etwa mit dem Hang, hinter Restitutionsforderungen die Machenschaften des ‚allmächtigen jüdi‐ schen Finanzkapitals‘ zu wittern.

Eugen Margarétha, als Nationalratsabgeordne‐ ter der ÖVP sowie ab 1949 als Finanzminister maßgeblich an der Restitutionsgesetzgebung und deren Umsetzung beteiligt, notiert 1947 in seinem Tagebuch: „Damit [mit diesem Ge‐ setzesentwurf, Anm. D. M.] wurde dann doch dem freien Ermessen der Restitutionskommis‐ sionen ein größerer Spielraum eingeräumt, was unbedingt notwendig ist, wenn nicht die Wie‐ dergutmachung zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der seinerzeit Geschädigten und zu grotesken Härten und Vermögensentziehun‐ 2 gen gutgläubiger Erwerber führen muß.“ Ganz im Sinne des Mythos von Österreich als erstem Opfer Hitler‐Deutschlands wurden die ‚Ari‐ sierungen‘ deutschen Nationalsozialist*innen zugeschoben und österreichische Täter*innen verständnisvoll zu ‚gutgläubigen Erwerbern‘ umgelogen. In einer abstrusen Gleichsetzung wurde dar‐ über hinaus die behauptete Beraubung des ös‐ terreichischen Staates mit der tatsächlich er‐ folgten Beraubung von Jüdinnen und Juden auf eine Stufe gestellt. Durch dieses politische Kli‐ ma bestätigt, verstärkten die ‚gutgläubigen Er‐ werber‘ ihren Widerstand gegen die Restituti‐ onsgesetze, sodass die ÖVP rechtzeitig zu den Nationalratswahlen 1949 eine Novellierung im Sinne dieser ‚Erwerber‘ beantragte. Eine Umset‐ zung dieser Anträge scheiterte schließlich nur am Einspruch des Alliierten Rates.3

Das Instrument der öffentlichen Verwaltung Die zeithistorische Forschung, die die juristische Praxis der Restitution in Wien, also im bedeu‐ tendsten Gebiet für ‚Arisierungen‘, untersuchen möchte, steht vor dem Problem, dass sämtliche Akten zu Rückstellungsverfahren in Wien bis zum Jahr 1955 vernichtet wurden. Gewisse Ak‐ tenteile finden sich im besten Falle in Form von Abschriften in Akten von anderen Behörden. In Frage kommen dafür zum Beispiel die Akten zur öffentlichen Verwaltung von Betrieben: ‚Arisier‐ te‘ Betriebe wurden ab Mai 1945 bis zur Klärung der Eigentümer*innenschaft und einer mögli‐ chen Restitution unter öffentliche Verwaltung gestellt. Der/Die öffentliche Verwalter*in sollte den Betrieb und sein Vermögen beaufsichtigen und verwalten, somit als Ersatz des Unterneh‐ mers/der Unternehmerin fungieren.

Nachdem die Besatzungsbehörden die Bestel‐ lung der Verwalter*innen von Februar bis Sep‐ tember 1946 an sich gezogen hatten, versuchten sie deren Entnazifizierung zu erreichen. Auch über dieses Vorgehen der amerikanischen Besat‐ zungsmacht äußert sich Margarétha in seinem Tagebuch mit unverhohlenem Antisemitismus, an dem darüber hinaus Jüdinnen und Juden selbst Schuld hätten: „[...] die hier auch rück‐ sichtslos vorgehen aufgrund von Informationen, die ihnen ehemalige Juden geben, die emigriert sind und jetzt als amerikanische Offiziere ihren alttestamentarischen Haß an unrichtigen Ob‐ jekten austoben wollen und so wieder die Saat 4 für einen neuen Antisemitismus säen.“ Zwischen September 1946 und 1949 war schließlich das Ministerium für Vermögens‐ sicherung und Wirtschaftsplanung, in dem vie‐ le ehemalige Nationalsozialist*innen nicht nur für personelle Kontinuitäten sorgten, sowie ab 1949 das Finanzministerium für die öffent‐ lichen Verwalter*innen zuständig. Realiter be‐ deutete das Gesetz über die öffentliche Verwal‐ tung sowohl für die SPÖ als auch für die ÖVP im Rahmen der jeweiligen Ministerien unzäh‐ lige Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Versor‐ gung von Parteigänger*innen.5

bei auf der einen Seite um den ehemaligen In‐ haber Richard Stein, der 90 % an der WIPIAG beansprucht, sowie um die Erb*innen nach Ar‐ thur Fuchs, die ihren Anteil an der WIPIAG mit 50 % beziffern. Aufgrund dieser divergierenden Ansprüche gestaltet sich die öffentliche Ver‐ waltung als äußerst langwierig. Zwar schließt Richard Stein im Juni 1950 einen Vergleich mit dem ehemaligen ‚Ariseur‘ Huber und dem ebenfalls an der ‚Arisierung‘ beteiligten Bank‐ haus Krentschker & Co., dafür verpflichtet er sich aber auch, alle zukünftigen Rückstellungs‐ ansprüche an die WIPIAG zu bedienen. Darü‐ ber hinaus muss Huber keine Rückzahlungen leisten und das Bankhaus erhält – entsprechend der Gesetzeslage – sogar noch den Gewinnan‐ teil für das Jahr 1948 ausbezahlt. Im Verhält‐ nis zu den Erb*innen nach Fuchs gerät Richard Stein so in die Rolle des ‚Ariseurs‘, der Entschä‐ digungszahlungen möglichst gering halten will. Schuld und Verantwortung, die eigentlich Karl Huber und Krentschker & Co. übernehmen hätten sollen, werden an Stein abgewälzt. Ein endgültiger Abschluss der Restitution erfolgt schließlich erst 1960, als ein Vergleich mit den Erb*innen nach Fuchs gelingt. Die nur widerwillig und inkonsequent durch‐ geführte Restitution ermöglichte es dem post‐ Das Beispiel Wiener Papierwaren- nazistischen Österreich somit weit über das Jahr 1945 hinaus, von geraubtem jüdischen Industrie GmbH (WIPIAG) Eigentum zu profitieren und gleichzeitig die Mit welchen Komplikationen die Restitution Täter*innen zu schützen. vonstattengehen konnte, zeigt das Konvolut zur öffentlichen Verwaltung der Firma WI‐ Anmerkungen: 1 PIAG, das sich im Wiener Stadt‐ und Landes‐ Bailer‐Galanda, Brigitte: Rückstellung und Entschä‐ 6 archiv befindet. Die WIPIAG war ein Papier‐ digung. In: Stiefel, Dieter (Hg.): Die politische Öko‐ waren erzeugendes Unternehmen, das 1940 nomie des Holocaust. München 2001, S. 73. 2 durch die Fusion zweier ‚arisierter‘ Unter‐ Brusatti, Alois (Hg.): Zeuge der Stunde Null. Das Ta‐ nehmen entstand – dies bedeutete zwei un‐ gebuch Eugen Margaréthas 1945–1947 bearbeitet von abhängig voneinander agierende Parteien als Hildegard Hemetsberger‐Koller, Wien 1990, S. 243. 3 Rückstellungswerber*innen. Bailer‐Galanda: Rückstellung. S. 59, 68. Nach der Flucht des ‚Ariseurs‘ Karl Huber 4 Brusatti: Zeuge. S. 173f. wird der Direktor der WIPIAG, Emanuel Neu‐ 5 Jagschitz, Gerhard: Im Koalitionsnebel: Parteien und bauer, als öffentlicher Verwalter installiert – Demokratie am Beginn der Zweiten Republik. In: mehrere Warnungen, wonach dieser aktiver Böhmer, Peter: Wer konnte, griff zu: „Arisierte“ Güter Nationalsozialist gewesen sei, wurden ignoriert. und NS‐Vermögen im Krauland‐Ministerium (1945– Erst im April 1946 setzt die nun zuständige US 1949). Wien/Köln/Weimar 1999, S. xxiii. Property Control Neubauer ab und einen an‐ 6 Wiener Stadt‐ und Landesarchiv, Magistratsabtei‐ deren Verwalter ein. Mit Verabschiedung der lung 119, A23, Öffentliche Verwaltung, Firmen, Ge‐ entsprechenden Restitutionsgesetze 1947 und sellschaften, WIPIAG, Wiener Papierwaren‐Industrie 1948 treten die Restitutionswerber*innen in AG, Papier‐ und Schreibwarengroßhandel Huber & den Akten in Erscheinung. Es handelt sich da‐ Co., Karton 73.

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„DIE KULTURELLE VARIABLE IST NUR EINE NEBEN ANDEREN“ Claudia Aurednik

Andreas Peham ist Rechtsextremismusexperte des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW) und stellvertretender Generalsekretär der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich. Im folgenden Interview reflektiert er über die Problematik des Antisemitismus unter österreichischen MigrantInnen. Welche Bedingungen sind für den Antisemi‐ tismus unter österreichischen MigrantInnen ausschlaggebend? Es ist noch umstritten, welche Variablen bei den österreichischen MigrantInnen für antise‐ mitische Einstellungen zum Tragen kommen. Es gibt nämlich mehrere, die in dieser Hinsicht berücksichtigt werden müssen. Die Kategorie des Geschlechts, die Bedeutung der Katego‐ rie des Alters sowie die Kategorie der sozialen Schichtzugehörigkeit sind in dieser Hinsicht sehr wichtig. Und eben auch die kulturelle Vari‐ able bzw. der religiöse Background. Das ist aber nur eine Variable neben den anderen. Ich warne davor, eine Variable herauszugreifen und die‐ se zu verabsolutieren. Und man darf bei dieser Thematik auch nicht auf die Möglichkeit einer Integration in die österreichische Gesellschaft über den Antisemitismus und Rassismus ver‐ gessen. Denn dieser ermöglicht den MigrantIn‐ nen, die hier aufwachsen, ein Teil der österrei‐ chischen Kultur zu sein. Welchen Einf luss haben das Alter und die Schichtzugehörigkeit? In allen Studien zur Thematik hat sich ge‐ zeigt, dass der Antisemitismus mit dem Al‐ ter zunimmt. Gerade bei Jugendlichen spie‐ len aber besonders narzisstische Kränkungen eine große Rolle, die dann mit der Konstruk‐ tion des Feindbilds ‚des Juden‘ gelöst werden. In den Schulklassen selbst merke ich jedoch keinen kulturellen Unterschied. Es spielt kei‐ ne Rolle, ob jemand einen österreichischen, muslimisch‐türkischen oder ex‐jugoslawisch‐ en Hintergrund hat. Es hat sich aber auch ge‐ zeigt, dass die Verweildauer in Bildungsein‐ richtungen sehr ausschlaggebend ist. Denn je länger einE JugendlicheR in einer Bildungsein‐ richtung verweilt, desto geringer ist die Wahr‐ scheinlichkeit, dass er/sie antisemitische oder rassistische Einstellungen hat. Hierbei ver‐ schränkt sich die soziale Variable mit der kultu‐

rellen. Und es ist ja bekanntlich so, dass Men‐ schen mit migrantischem Hintergrund es viel schwerer haben, die sogenannte ‚gläserne De‐ cke‘ des Pflichtschulabschlusses zu durchbre‐ chen. Es ist daher wirklich problematisch, den Antisemitismus nur auf die kulturelle Herkunft zurückzuführen. Sie haben die Kategorie des Geschlechts erwähnt. Können Sie diese erläutern? Wir haben in Studien festgestellt, dass junge Frauen und Männer ungefähr gleich stark an‐ tisemitisch sind. Aber Frauen sind viel weniger bereit, nach ihren Vorurteilen auch zu han‐ deln. Das heißt, dass sie weniger dazu neigen, rechtsextreme Parteien zu wählen und auch weniger gewaltbereit sind. Beginnen wir bei der muslimischen Bevölkerung. Da spreche ich vor allem von Jugendlichen, denn mit diesen habe ich die meiste Erfahrung. Bei den Musli‐ mas ist es so, dass es beim Unterricht über den Holocaust zu einer sehr starken Überidentifi‐ kation mit den Opfern kommt. Das ist inso‐ fern problematisch, da dies den Muslimas sehr große Angst macht. Bei den Jungs wiederum schaut es ganz anders aus. Denn wenn ich mit Antisemitismus unter den muslimischen Ju‐ gendlichen konfrontiert bin, dann geht das zu über 90 % von den Jungs aus. Ist die Religion denn wirklich kein entschei‐ dender Faktor für Antisemitismus? Natürlich ist die Religion auch ein Faktor für Antisemitismus. Aber gerade bei MuslimInnen ist die Kategorie des Geschlechts viel entschei‐ dender. Ich kann auch aufgrund meiner Erfah‐ rung nicht sagen, dass der Antisemitismus un‐ ter muslimischen Jugendlichen ausgeprägter ist als bei Jugendlichen mit anderem kulturel‐ len Background. Was ich aber beobachtet habe, ist die Zunahme offener antisemitischer Äuße‐ rungen seit der Entsendung der Gaza‐Hilfsflot‐ tille im Jahr 2010. Bei dieser war ja die Türkei unmittelbar involviert. Und das hat zu einer Radikalisierung des Antisemitismus unter den türkischen MigrantInnen geführt. Es fällt mir aber auch auf, dass eher männliche Jugendli‐ che – die übrigens selbst sehr wenig Ahnung von ihrer Religion haben – ihren Antisemitis‐ mus religiös begründen. Es muss daher von einem islamisierten und nicht von einem isla‐ mischen oder muslimischen Antisemitismus gesprochen werden. Im Übrigen argumentie‐ ren sie auch ihren Machismo, ihre Faulheit und ihre Bequemlichkeit mit dem Koran. Und da könnte man annehmen, dass die Religion tat‐ sächlich das Problem ist.

Können Sie noch näher auf den islamisierten Antisemitismus eingehen? Ein gläubiger Jugendlicher, der sich mit Religi‐ onen gut auskennt – und somit auch über die Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Is‐ lam Bescheid weiß – ist weniger antisemitisch. Ein Problem sind aber jene Jugendliche, die sich über das Internet eines islamisierten Antisemi‐ tismus bedienen. Ich bezeichne diesen als ‚In‐ stant‐Islam‘. Bei diesem spielen die SalafistIn‐ nen eine Rolle, die mit kleinen Häppchen die Jugendlichen ködern. Die SalafistInnen sind je‐ doch eine politische Sekte, die mit dem Rechts‐ extremismus aufgrund der antidemokratischen, frauenfeindlichen und antisemitischen Positio‐ nen Parallelen aufweist.

Wieso haben PolitikerInnen außerhalb der Rechten zum Antisemitismus unter den Migrant Innen so lange geschwiegen? Erst in den letzten Jahren hat sich diesbezüg‐ lich etwas geändert. Die Grüne Abgeordnete Alev Korun setzt sich beispielsweise mit dieser Problematik auseinander. Und es ist wichtig, 3255) 325) k=92<3) 2:5) 3=J) =4O=<=<) L899:<4BI)) tut. In Österreich gibt es aber Berührungs‐ ängste hinsichtlich dieser Themen. Und das =JD2:SB) =5) 32<<) +8D4B4;=JK<<=<) 64=) \QLQ) [BJ2‐ che, meiner Ansicht nach, ‚mit der Wahrheit zu lügen‘. Denn natürlich geht es der FPÖ nicht darum, den Antisemitismus zu bekämpfen. Da müsste sie ja in den eigenen Reihen beispiels‐ weise bei den deutschnationalen Burschen‐ schaften anfangen. Vielmehr handelt es sich bei den Aussagen der FPÖ um eine Projekti‐ on, in der die Partei ihren eigenen Antisemitis‐ mus auf die MuslimInnen projiziert. Und das macht ihr sogenanntes Engagement in dieser Frage zur Lüge. Natürlich existiert ein aggres‐ siver und gewaltbereiter Antisemitismus unter den MigrantInnen. Man muss bei dieser Pro‐ blematik aber auch immer bedenken, dass es sich bei den MigrantInnen um eine in Öster‐ reich marginalisierte Gruppe handelt, die auch Feindseligkeiten und Diskriminierungen aus‐ gesetzt ist. Das heißt jedoch nicht, dass die Gruppe dadurch sakrosankt wird. Es bedeutet nur, dass man das im Hinterkopf behalten soll‐ te. Und dass es eben auch Kräfte gibt, denen es nicht um den Kampf gegen den Antisemitis‐ mus geht, sondern dass diese den Antisemitis‐ mus nur als Vorwand nehmen, um Fremden‐ feindlichkeit zu schüren.

Welche antisemitischen Stereotype existieren unter MigrantInnen? Bei MigrantInnen treten die klassischen anti‐ semitischen Stereotype auf. Ein gängiges Ste‐ reotyp ist jenes, wonach sich die Juden und Jü‐ dinnen gegen die Welt verschworen haben, um diese zu beherrschen und auszubeuten. Das sind Verfolgungsfantasien, die es den Men‐ schen erlauben, globale Phänomene zu begrei‐ fen. Das Problem ist auch, dass man moder‐ ne Gesellschaften nur sehr abstrakt begreifen kann. Und es ist ein Bedürfnis dieser Menschen, jemanden zu personalisieren und sie/ihn für Missstände verantwortlich zu machen. Das gilt nicht nur für Jugendliche. Hinzu kommt dann der christliche Hintergrund, der Juden und Jü‐ dinnen immer zu Sündenböcken gemacht hat. Bei den antisemitischen Stereotypen von tür‐ kischen MigrantInnen ist es so, dass in deren Weltbild Atatürk mit der Abschaffung des Kali‐ fats zum Juden gemacht wurde. In diesem Welt‐ Anmerkung: bild findet ein Bruch mit der Realität statt und *Die Antworten wurden von der Redaktion nachträglich alles, was darin böse ist, wird als ‚verjudet‘ be‐ gegendert. trachtet. Es ist das Totalitäre am Antisemitis‐ mus, dass dieser keine Grenzen kennt.

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