UNIQUE # 11/12

Page 1

Aber hier leben, nein Danke!

# 11/12

//EDITORIAL Liebste zerzauste Leser_innenschaft,

S. 3 S. 4

ÖH-KOMMENTAR // DANN SAG‘ HALT DU WAS! BÜCHER GEGEN DAS VERGESSEN // BILDUNGSPOLITIK: ONE STEOP FORWARD – TWO STEPS BACK S. 5 MIKROFINANZIERUNG // SCHARIA UND SÄKULARISMUS S. 6 „WIR BRAUCHEN ENDLICH EINE LANGFRISTIG GESICHERTE FINANZIERUNG“ S. 7 AB IN DEN SÜDEN?! // „ER WAR EIN TYPISCHER FINANZMANN.“ S. 8 TERMINE // GEWINNSPIEL // BÜRGER_INNENINITIATIVE OFFENER HOCHSCHULZUGANG S. 9 TERMINE // SOPHS SAUTIERTES S. 10 BOCK AUF BENEFIZ – BOCK AUF KULTUR // VON KUNST UND PROPAGANDA S. 11 MONSTER-MAMA ALLEIN ZU HAUS // KOOPERATION, KOLLABORATION, KOLLEGIALITÄT (KOLLATERALSCHÄDEN …) S. 12 IM RECHTEN LICHT // VERBUNDEN UND VERFEINDET S. 13 GESCHLECHT, PERFORMATIVITÄT UND SUBJEKTIVIERUNG S. 14 HAPPY BIRTHDAY! 5 JAHRE MÄDCHENMANNSCHAFT S. 15 ARBEITSLOS – MIGRANTIN – FRAU // ÖSTERREICHISCHE KELLER S. 16 DOMINANZ UND DIFFERENZEN SCHWERPUNKT AB S. 17: PSYCHO S. 18 „WIR ALLE SPRECHEN FREUD, OB KORREKT ODER NICHT.“ S. 19 VERFÜHRUNG UND VERRAT S. 20 DER FAKTOR X S. 21 GENITALFIXIERT STATT POLYMORPH-PERVERS S. 22 ZUR PSYCHOANALYSE DES ANTISEMITISMUS S. 23 PSYCHOANALYSE: GEDANKENFREIHEIT ALS EXISTENZBEDINGUNG S. 24 „MAN SPRICHT SEIT IHRER GEBURTSSTUNDE VON EINER KRISE DER PSYCHOANALYSE“ Zeitung

01-03.indd 1

der

ÖH

Uni

Wien

//

Nr.

11/12

//

Österreichische

Post

AG/Sponsoring.Post

04Z035561 S

//

www.unique-online.at

//

www.facebook.com/unique.oeh/

//

E-Mail:

manche von euch werden sich vermutlich ebenso freuen wie die Redaktion, die aktuelle Frauen*Trans‐Ausgabe der UNIQUE in Hän‐ den zu halten; manche werden sich vielleicht denken: Warum wurde sie nicht vom Winde zer‐/verweht? Gut ausgerüstet haben wir den Weg ins Büro geschafft, um euch abermals eine abwechslungsreiche und für die kommenden Herbsttage gut befüllte Ausgabe zu zaubern. Es erwarten euch in üblicher Manier kritische Artikel zum aktuellen Un(i)leben, Rezensio‐ nen und Vorstellungen in Hülle und Fülle so‐ wie ein tiefblickender Schwerpunkt – zum Thema Psychoanalyse. Näheres zu diesem fin‐ det ihr auf Seite 17. Und es gibt ein paar ganz besondere Schman‐ kerl für euch, wie Interviews – und nicht nur ei‐ nes, sondern gleich drei: Anlässlich des Inter‐ nationalen Tags gegen Gewalt an Frauen, dem 25. November, sprach !"#$%& mit einer Ver‐ treterin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser über ihre Arbeit und öffentliches Bewusstsein zum Thema Gewalt gegen Frau‐ en. Zum fünften Geburtstag wollen wir an die‐ ser Stelle die Mädchenmannschaft beglückwün‐ schen, ein feministisches Blogger*innenkollektiv und Blog aus Deutschland, dem wir eine gestei‐ gerte Präsenz feministischer Anliegen im Web verdanken. Das Interview dazu ist auf Seite 14 nachzulesen. Im Schwerpunkt findet ihr dann das letzte Interview dieser Ausgabe: Zwei Ver‐ treter_innen der Ausbildungskandidat_innen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ste‐ hen Rede und Antwort. Vielleicht ist manchen aufgefallen: unsere heiß geliebte Kolumne Asphalt & Neonlicht ist seit Beginn dieses Semesters nicht mehr zu fin‐ den. Die !"#$%& Techno‐Kolumnistin ist be‐ reits im Winterschlaf, weswegen nun kulinari‐ scher Ersatz auf euch wartet. Dieses Mal versüßt euch Sophs Sautiertes die kalte Jahreszeit mit le‐ ckeren Cake Pops. Leider kann nicht alles so süß sein wie Kürbiskuchen. In dieser Ausgabe gibt es Artikel zu den Gemeinsamkeiten und Un‐ terschieden von Korporierten, zur prekären Si‐ tuation von Frauen und Migrantinnen, Scharia‐ Gerichten in Großbritannien, Geschlecht und Performativität, alltäglichem Sexismus an der Uni, dem ewiggestrigen Kärnten und was ein Versicherungsskandal mit Antisemitismus zu tun hat. Nicht zuletzt sei auch auf unsere Wis‐ senschaftsseite (Seite 18) hingewiesen, wo sich die Autorin mit der Politik der Differenzen beschäftigt. Haltet euch fest und ein besonderes Vergnügen mit dieser Frauen*Trans‐Ausgabe wünscht

eure !"#$%&

unique@reflex.at

//

ÖH

Uni

Wien

Website:

www.oeh.univie.ac.at

14.11.12 23:18


Super Star.

P!NK 09. 05. 201 Wiener Sta 3, 19:30 Uhr dthalle

Super Preis. Mit dem Bank Austria Ticketing gibt’s Eintrittskarten für jährlich über 4.000 Events um bis zu 20 % günstiger – und ganz bequem in Ihrer Bank Austria Filiale. Auf mailer.bankaustria.at erhalten Sie einen Überblick über die nächsten Events und können sich auch gleich für unseren TicketingNewsletter registrieren. www.bankaustria.at

01-03.indd 2

14.11.12 23:19


unileben Doktorate für alle!.....................................

ÖH‐KOMMENTAR

Das Doktorieren: eine individuelle Entscheidung, die doch wie sonst kaum eine die gesellschaftlichen Verhältnisse verdeut licht, die sie hervorbringt. So wird zwar in Österreich gerne darüber gespottet, dass die Doktorierten in spe dies nur täten, um dem gängigen Titelfetisch zu entsprechen – den tatsäch lichen (Ab-)Gr ünden eines solchen Unterfangens wird das aber nicht gerecht. Nach einem (ohnehin schon langen) Studium ein Doktorat zu beginnen ist für die meisten ein äußerst prekärer Versuch, in der Wissenschaft Fuß zu fassen oder aber sich für außeruniversitäre Bereiche zu qualifizieren. Viele von ihnen tun es sicherlich auch aus ,Freude‘ an der Sache. Ein Dissertationsprojekt zu verfolgen ist aber eine langjährige Beschäftigung, die in ein Leben integriert werden muss, das zu großen Teilen aus anderen Zwängen besteht: Die wenigsten werden mittels Stipendien finanziert. So bedeutet dies oft ein Fortschreiben unsicherer finanzieller Verhältnisse, das Leben zwischen geringfügigen Beschäftigungen und freien Werkverträgen. Wer darüber hinaus noch hinein in den Wissenschaftsbetrieb will, sollte sich stets um Konferenz- und Sammelbandteilnahmen bemühen (meist eigenfinanziert, versteht sich), um den eigenen Lebenslauf der Academia zuzurichten. Doktorieren muss sich erst einmal geleistet werden können . Umso zynischer erscheint es, wenn gerade das Doktorat zu einer Leistung erklärt wird, die nur mit individueller Kompetenz, Begabung und Opferbereitschaft erlangt werden kann – die gesellschaftlichen Bedingungen vernachlässigend, ausschließend. (Wer mehr als vier Jahre für die Dissertation braucht ist a) faul, b) unbegabt und c) sowieso selbst schuld.) Nicht umsonst weisen auch die aktuellen Daten immer noch darauf hin, dass es Gefälle im Geschlechterverhältnis (in Bezug auf die Studienbeginner*innen wie Absolvent*innen) ebenso gibt wie in der Bevorzugung der berühmten bildungsbürgerlichen (sic!) und mehrheitsösterreichischen Schicht. Aber auch hier gilt wohl: selbst schuld.

//BILDSTRECKE von Stefanie King Stromkabel für den öffentlichen Verkehr ma‐ len abstrakte Flächen in der Luft. Unbeach‐ tet von den meisten ziehen sich diese Muster über weit bevölkerte Gebiete und prägen das Stadtbild, ohne ein Bild zu erschaffen – ohne aufzufallen. Mit ihrem fragmentarischen Charakter der Funktion ziehen sich diese äußerst komple‐ xen Strukturgebilde durch die Gesamtheit des urbanen Raums. Doch diese Gesamtheit ihrer selbst wiederzugeben ist nicht möglich und auch nicht nötig. In ihrer partikularen Darstel‐ lung stehen sie für sich selbst. Stefanie King ist freischaffende Grafikerin und arbeitet in Wien und Dortmund.

Veronika Helfert

DANN SAG‘ HALT DU WAS! Über dominantes Redeverhalten an der Universität

M

//IMPRESSUM Herausgeber und Medieninhaber: Verein für Förderung studentischer Medienfreiheit; Unicampus AAKH, Hof 1, Spitalgasse 2–4, 1090 Wien; Tel. 0043-(0)1-4277-19501 Redaktion: Soma Mohammad Assad, Dorothea Born, Oona Kroisleitner, Tamara Risch Mitarbeiter_innen dieser Ausgabe: Soma Mohammad Assad, Claudia Aurednik, Elena Barta, Dorothea Born, Lisa Breit, Amra Duric, Anne-Marie Faisst, fiveseasons, Nadine Gatt, Judith Goetz, Veronika Helfert, Saskia Alice Hnojsky, Carina K., Oona Kroisleitner, Hanna Lichtenberger, Sophie Lojka, Lisa Löwenzahn, Doris Mayerhofer, Steve Mayr, Pia Partizan, Ljiljana Radonic, Verena Rechberger, Lisa Rieger, Theresa Schmidt, Martha Schlickenrieder, Elias Stern, Natascha Strobl, Elisabeth Uebelmann Layout: Iris Borov!nik, Oona Kroisleitner Lektorat: Karin Lederer, Birgitt Wagner Illustrationen: Doris Mayerhofer Bildstrecke: Stefanie King Anzeigen: Wirtschaftsreferat ÖH Uni Wien, inserate@oeh.univie.ac.at, Tel. 0043-(0)1-4277-19511 Erscheinungsdatum: 20.11.2012 Kritisch den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet – aber hier leben, nein Danke!

it über 91.000 Studierenden ist die Uni‐ versität Wien die größte Hochschule im deutschsprachigen Raum; dabei ist die Mehr‐ heit von 65% ihrer Hörer*innen weiblich. Der wissenschaftliche Betrieb ist trotzdem weiter‐ hin männlich dominiert: Die Universität als (Re‐)Produktionsstätte der kapitalistischen Ge‐ sellschaft trägt täglich zum Erhalt des Patriar‐ chats bei, anstatt dieses abzuschaffen. Die Män‐ ner geben an der Uni den Ton an – nicht zuletzt durch ihr Redeverhalten. Um eines vorwegzunehmen: Dominantes Re‐ deverhalten findet sich bei Menschen jeden Ge‐ schlechts. Durch unsere androzentrisch gepräg‐ te Gesellschaft existiert jedoch ein Überhang an männlichen Mackern, die anderen regelmäßig das Wort abschneiden, um selbst ausufernd die Welt zu erklären. Unaufgeforderte Wortmel‐ dungen, lautes Reden, Unterbrechungen, aus‐ schweifend lange Statements, dominante Kör‐ persprache sowie Wiederholungen von bereits Gesagtem sind nur einige Beispiele für machoi‐ des Redeverhalten. In ihrer Dissertation Frauensprache – Män‐ nersprache. Fiktion oder Realität hat Kirsten Höppner verschiedene Studien zu geschlechts‐ spezifischem Redeverhalten untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass gemischt‐ geschlechtliche Gruppen dominantes Rede‐ verhalten verstärken. Weibliche Kommuni‐ kationsteilnehmer*innen antworteten häufiger responsiv, männliche Kommunikationsteilneh‐

mer eher teilresponsiv und stellten signifikant weniger Fragen, welche der Themenentwick‐ lung dienten, sondern konzentrierten sich auf 1 die Darstellung des eigenen Wissens. Aber nicht nur das Kommunikationsverhal‐ ten der Teilnehmer*innen ist stark geschlechts‐ spezifisch. In Vorträgen werden von den we‐ nigsten Lehrenden Formulierungen benutzt, die alle Geschlechter einschließen. Auch bei Visualisierungen wird nicht immer auf eine gendersensible Schreibweise geachtet. Oft wird von Lehrenden kompetitiv dominantes Rede‐ verhalten gefordert und ist auch notwendig, um sich in (überfüllten) Seminaren zu profilie‐ ren und damit zu einer guten Gesamtnote zu gelangen.

Sexismen entgegenwirken Wenn man auf diese Kommunikationsstruk‐ tur aufmerksam macht, gelangt man schnell an seine*ihre Grenzen. Nach dem Motto: „Wenn sich keine Frau meldet, dann kann ich doch nichts dafür“ oder „Dann sag‘ halt was!“. Es ist jedoch nicht die Bringschuld der Frauen im Raum, sich in sexistische Strukturen einzubrin‐ gen. Vielmehr müssen Menschen selbst reflek‐ tieren und andere darauf aufmerksam machen, wie lange sie schon gesprochen haben und ob sie wirklich etwas zur Diskussion beitragen oder andere nur von ihrem Standpunkt/Wissen überzeugen wollen. Auch Lehrende müssen hier in die Pflicht ge‐ nommen werden. In vielen emanzipatorischen Gruppen gibt es quotierte Redner*innenlisten, die beispielsweise Erstnennungen vorziehen.

Anne‐Marie Faisst

Diese Praktik wäre auch in Lehrveranstaltungen möglich. Lehrende können als Moderator*innen zwar nur begrenzt dominantes Redeverhalten verhindern – das können nur alle Beteiligten ge‐ meinsam, durch eine kritische Auseinanderset‐ zung mit strukturellen Herrschaftsverhältnis‐ sen – allerdings können Lehrende sie benennen und darauf reagieren. Weitere Ebenen dominanten Redeverhaltens sind interkulturelle Barrieren: Menschen mit geringeren Kenntnissen der Unterrichtssprache werden in Diskussionen strukturell benachtei‐ ligt. Gerade wenn ihnen durch das Verhalten anderer Beteiligter suggeriert wird, dass sie zu langsam oder nicht verständlich genug spre‐ chen – ein solidarisches Miteinander sieht an‐ ders aus. Viele Lehrende sind sich dieser Prob‐ lematiken nicht genug bewusst oder sie legen keinen Wert auf Gleichberechtigung in ihren Lehrveranstaltungen. Wenn auch ein kollek‐ tives Auftreten gegenüber dominantem Rede‐ verhalten keine Wirkung zeigt, sollte man sich überlegen, ob es andere Institutionen gibt, wel‐ che helfend intervenieren könnten. Nur durch ständige Thematisierung von dominantem Re‐ deverhalten und Mackertum kann diesem Phä‐ nomen entgegengewirkt werden. Anmerkung: 1 Höppner, Kirsten: Frauensprache – Männersprache. Fiktion oder Realität. Dissertation. Siegen 2002. Links: www.frauensprache.com/ Anarchie und Lihbe: Gespräche mit Gockeln: http://anarchieundlihbe.blogsport.de/2011/03/12/ gespraeche‐mit‐gockeln/

03

01-03.indd 3

14.11.12 23:19


unileben

BÜCHER GEGEN DAS VERGESSEN Carina K. Als Kärntner Slowen*innen nach 1945 zu ihren Häusern und Höfen zurückkehrten, hielt das Gefühl der Befreiung nicht lange vor. Rasch mussten sie feststellen, dass antislowenische Ressentiments nicht nur kein Ende, sondern auch neue Ausformungen gefunden hatten. „Das erste was er mich fragte, war, was 1 ich denn hier noch wolle, wieso ich nicht mit den ,Banditen‘ nach Jugoslawien gegangen sei.“ Während in Kärnten/Koroška angesichts der ‚Kärntner Urangst‘ der Partisan*innen‐Widerstand im Sin‐ ne einer Opfer‐Täter*innen‐Umkehr verleumdet wird, verdrängt die Mehrheit weiterhin die Situation der dortigen Minderheit – und mit ihr die nationalsozialistische Vergangenheit. Auch als Opfer von Zwangsaussiedlungen und Deportationen wird der Gruppe der Kärntner Slowen*innen bis heute wenig Beachtung geschenkt. Umso wichtiger erweisen sich Bücher gegen das Vergessen. Welche Worte können jedoch für dieses Er‐ und Überlebte gefunden werden? In ihrer gleichnamigen Publikation widmet sich Judith Goetz li‐ terarischen Werken, die bis heute kaum Eingang in den öffentlichen Diskurs und in den Literaturka‐ non gefunden haben: den Autobiografien von Kärntner Slowen*innen. Bücher, die auch angesichts des Ablebens von Zeitzeug*innen eine zusätzliche Bedeutung erhalten. Im Rahmen ihrer Analyse dieser Erinnerungsliteratur thematisiert Judith Goetz nicht nur die verschiedenen Schicksale von Kärntner Slowen*innen während und nach dem Nationalsozialismus, sondern auch die Möglichkeiten von Spra‐ che zwischen historischem Zeugnis und Akt der Selbstermächtigung. 1 Haderlap 2008: 173 zit. nach Goetz 2012: 185.

Goetz, Judith: Bücher gegen das Vergessen. Kärntnerslowenische Literatur über Widerstand und Verfol‐ gung. kitab‐Verlag. Klagenfurt 2012, 18,– EUR

BILDUNGSPOLITIK: ONE STEOP FORWARD – TWO STEPS BACK

Claudia Aurednik

Für das Studienjahr 2013/14 wur- der Medien und der Gesellschaft in den letzten de von Bundesminister Töchterle Jahren mehr oder minder offen propagiert wur‐ de. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Testlauf für die geplante Stu- sie auch unter so manchen Studierenden salon‐ dienfinanzierung angekündigt. In fähig wurde. einigen Massenfächern sollen ,Platzbeschränkungen‘ eingeführt ,Aussiebe-Praxis‘ werden. Zudem soll es wieder Stu- Die Studieneingangs‐ und Orientierungspha‐ diengebühren geben. Doch was se (StEOP) wird seit dem Wintersemester sind die Auswirkungen dieser eli- 2011/2012 durchgeführt. Sie hat die davor exis‐ tierende Studieneingangsphase (StEP) abge‐ tären ,Aussiebe-Praxen‘? löst. Den Studierenden soll sie einen Einblick

I

ch mach jetzt erst mal meine StEOP und dann muss ich noch Modul B machen. Vielleicht mach ich dann noch das Erweiterungscurricu‐ lum XY. Das interessiert mich zwar nicht, aber weißt eh – am Arbeitsmarkt heb ich mich dann dadurch von den anderen ab“, erklärt eine be‐ tucht gekleidete etwa Zwanzigjährige ihrer Sitznachbarin in der Straßenbahn Richtung Universität Wien – Hauptgebäude. Ihre Ge‐ sprächspartnerin nickt zustimmend. „Ich bin natürlich froh, wenn wir die StEOP hinter uns haben. Dann sind wir endlich weniger Studie‐ rende – es kann ja nicht jeder studieren.“ Ihrem zuvor geführten Gesprächsinhalt war zu ent‐ nehmen, dass es sich keineswegs um Studentin‐ nen der von der Öffentlichkeit so wahrgenom‐ menen vermeintlichen ‚Elitestudienrichtungen‘ handelt, mit denen mensch nachher ‚etwas an‐ fangen‘ kann, sondern um zwei Studentinnen einer sozialwissenschaftlichen Studienrich‐ tung. „Es kann und soll halt nicht jeder studie‐ ren“, eine Geisteshaltung, die für elitäres Den‐ ken steht. Eine Parole, die seitens der Politik,

in das Studium vermitten. Außerdem sollen die Studierenden durch die StEOP einschätzen können, ob das Studium ihren „persönlichen Vorstellungen“ entspricht und ob sie die Anfor‐ derungen für das Studium erfüllen. Real die‐ nen die Eingangsprüfungen zu Studienbeginn jedoch primär dazu, die Studierendenanzahl nachhaltig zu dezimieren. Die Wiederholung von Prüfungen ist nur einmal möglich und der Abschluss der StEOP obligat, um im nächsten Semester weiter studieren zu können. Doch scheinbar hat diese ,Aussiebe‐Praxis‘ nicht den gewünschten Effekt gezeitigt. Denn ab dem Wintersemester 2013/14 soll es Platzbeschrän‐ kungen in den Studienrichtungen Architektur, Biologie, Informatik, Pharmazie und Wirt‐ schaftswissenschaften geben. Gerade für die technischen Studien ist das ein Widerspruch, schließlich wurde für die sogenannten MINT‐ 1 Fächer intensiv geworben. Besonders hart trifft es jene Studierenden, die während des Semesters arbeiten müssen. Laut der Studierendensozialerhebung 2011 arbeiten 47% der Studierenden durchschnitt‐ 2 lich rund 20 Stunden pro Woche. „Der Stress,

Universität und Arbeit unter einen Hut zu brin‐ gen, ist wirklich enorm“, erzählt Petra, eine Stu‐ dierende im Bachelorstudium der Internatio‐ nalen Entwicklung. Petra arbeitet über zwanzig Stunden bei einer Catering‐Firma. Ohne diesen Job könnte sie sich das Studium nicht finan‐ zieren, da sie von ihren Eltern kaum finanziell unterstützt wird. „Zum Glück musste ich bei meinem Studium von Beginn an kritisch über dessen Inhalte reflektieren. Das war für mich auch enorm wichtig. Aber bei den Eingangs‐ prüfungen von anderen Studiengängen gibt es abstrakte Multiple‐Choice‐Tests und da müssen die Studierenden tausende von Seiten richtig auswendig lernen. Das hätte ich mit meinem Job einfach nicht vereinbaren können“, meint Petra. Ob abstrakte Multiple‐Choice‐Tests am Ende einer Vorlesung als Nachweis der „An‐ forderungen an Studierende“ reichen, muss in Frage gestellt werden. Ebenso fraglich ist es, ob die StEOP einen realen Einblick in das jewei‐ lige Studium überhaupt vermitteln kann. Das rasche Abfertigen von Studierenden nach dem Motto „die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“ trägt jedoch sicher nicht zur He‐ rausbildung kritisch‐reflektierender Akademi‐ kerInnen bei.

Persönlichkeitsentwicklung? Insgesamt 42% der Studierenden erhalten kei‐ nerlei Förderungen in Form von Studienbei‐ 2 hilfen oder Familienbeihilfe. Die verschulten Studienpläne in Form der fix vorgegebenen Lehrveranstaltungen und Prüfungsketten in‐ nerhalb der Studien stellen gerade für die er‐ werbstätigen Studierenden jedes Semester ein großes Problem dar. Hinzu kommen die Sor‐

ge um die mangelnde soziale Absicherung und der bildungspolitische und gesellschaftliche Druck, ein Studium doch so rasch als möglich abzuschließen. Ein Affront, denn durch die Problematik, sich selbst finanzieren zu müs‐ sen und durch das geringe Lehrveranstaltungs‐ angebot brauchen die meisten Studierenden länger. Die Debatten um die „studieninaktiven Studierenden“ erscheinen als Farce und es liegt nahe, dass mit ihnen weitere Disziplinierungs‐ maßnahmen gerechtfertigt werden. Der Druck im Studium wirkt sich auch auf die Psyche der Studierenden aus: 45% der Studierenden gaben bei der letzten Studierendensozialerhebung an, unter psychischen Beschwerden zu leiden.3 Abseits dieses Drucks stellt sich die Frage, wo bei den verschulten, vorgegebenen Studienplä‐ nen Raum für persönliche Studieninteressen und Persönlichkeitsentwicklung bleibt. Und für eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit den Lehrinhalten bleibt unter diesen Be‐ dingungen nur wenig Zeit. Doch all dies dürf‐ te die zuständigen PolitikerInnen nicht weiter kümmern. Und das, obwohl gerade sie wäh‐ rend ihrer Studienzeit von dem freien Hoch‐ schulzugang und dem kostenlosen Studium profitiert haben. Für die aktuelle gesellschaftliche Entwick‐ lung gilt daher folgendes Motto: „One StEOP forward – two steps back!“ Anmerkungen: 1 MINT steht für die Studienrichtungen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. 2 Ergebnisse der Studierendensozialerhebung 2011: http://ww2.sozialerhebung.at/Ergebnisse/ 3 Ebd. 4 Ebd.

04

01-03.indd 4

14.11.12 23:19


internationales

MIKROFINANZIERUNG

EINE EMANZIPATORISCHE CHANCE? Die Mikrokreditkrise 2010 in Indien führte zu etlichen Selbstmorden von Kreditnehmerinnen und veranlasste ein Umdenken im Sektor der Mikrokredite. Die weit verbreiteten positiven Assoziationen werden erstmals kritisch hinterfragt.

I

n den 1970ern fing Muhamad Yunus an, Mik‐ rokredite gegen Zinsen an Frauengruppen zu vergeben, die bei einem regulären Finanzinsti‐ tut aufgrund mangelnder Sicherheiten keinen Kredit bekommen würden. Zur Absicherung der Risiken und Kosten wurde das group‐len‐ ding‐Prinzip etabliert. Dabei bürgen je fünf KreditnehmerInnen wechselseitig für den Kre‐ dit. Yunus fand heraus, dass die Rückzahlungs‐ quote bei Frauen nahezu 100% betrug, weshalb im Jahr 2010 82,3% seiner KreditnehmerInnen weiblich waren. Es heißt, dass Mikrokredite zum Empower‐ ment der Frauen führen. Allgemein umfasst Empowerment alles, was zu mehr Mitsprache und Macht verhilft. Als politisches Konzept

soll Empowerment im Rahmen der Entwick‐ lungszusammenarbeit Frauen mehr soziale, wirtschaftliche und politisch‐gesellschaftliche Entscheidungsmacht sichern. Ihnen muss der Zugang zu ökonomischem und sozialem Kapi‐ tal gegeben werden. Empowerment durch Mi‐ krokredite soll auf der individuellen, gemein‐ schaftlichen, politisch‐gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebene erlangt werden. Durch eine weitgehend unbeachtete Über‐ schuldung im indischen Andhra Pradesh kam es 2010 zur Krise der Mikrofinanz. Die Mik‐ rofinanz ist ein überwiegend unregulierter Raum, was dazu führte, dass nach der Krise Steuerungsmechanismen gefordert wurden. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Mik‐ rofinanzinstitute ihre Monopolmacht ausnüt‐ zen und zu ausbeuterischen Praktiken greifen könnten. Die Zinsen sind um etliches höher als im formalen Sektor, obwohl Mikrokreditge‐ berInnen GeldverleiherInnen mit überhöhten Zinsen verbannen wollten. Beim Gruppenprin‐ zip wird kritisiert, dass Frauen die Überwa‐ chung übernommen haben. Die Institute spa‐ ren dadurch Geld, die Frauen jedoch fügen sich gegenseitig großes Leid zu, um das Geld

Lisa Rieger

einzufordern. Ausgeblendet bleibt meist auch der Aspekt der patriarchalen Gewalt, ausgeübt von männlichen Geldeintreibern gegenüber Frauen. Außerdem wird durch Mikrokredite der informelle Sektor mit seinen prekären Ar‐ beitsverhältnissen gefördert. Die Mikrokredit‐ bewegung geht davon aus, dass alle ‚Armen‘ selbstständig sein wollen. Die Idee, dass sich Armut am Besten durch marktbasierte Lösun‐ gen bekämpfen lässt, ist fest im neoliberalen Paradigma verankert. Christa Wichterich dazu: „Letztlich entpuppen sich die kleinen Darlehen als eine neoliberale Herrschaftstechnik, mit der Frauen Selbstregulierung erlernen und in die Finanzmärkte als selbstverantwortliche Sub‐ 1 jekte integriert werden“ .

Genderspezifischer Wandel durch Mikrokredite?

Die angenommene Verbindung zwischen Mik‐ rokrediten und Empowerment muss per se in Anmerkungen: 1 Frage gestellt werden. Es ist beispielsweise un‐ Wichterich, Christa (2011). Mikrokredite: Das Ge‐ klar, ob Frauen die Kontrolle darüber haben, schäft mit der Armut. In: Blätter für deutsche und wie die Kredite verwendet werden. Die Frauen internationale Politik, Heft 3/2011. Blätter Verlagsge‐ werden als billige und verlässliche Verbindung sellschaft mbH, Berlin, 27–31.

SCHARIA UND SÄKULARISMUS Zwischen Paralleljustiz und offiziellen Schlichtungsgerichten

gegen muss bis zur Heirat Jungfrau bleiben. Mit der Eheschließung erhält der Mann das Recht auf den Körper der Frau, die ihm ab dann Gehor‐ sam leisten muss. Im Falle einer Scheidung, die ameela, eine Muslima aus Birmingham hauptsächlich vom Mann bestimmt wird, steht (Großbritannien) und Mutter von drei Kin‐ ihm auch das Sorgerecht für die gemeinsamen dern, will sich von ihrem Mann scheiden lassen. Kinder zu. Doch was bedeutet die Scharia für Dieser hat sie öfters geschlagen, mit dem Tod be‐ Muslime in Europa? droht und eine zweite Frau geheiratet. Um die Trennung zu beantragen, geht sie nicht zu einem „One law for all“ 3 britischen Gericht, sondern in die Moschee, zu einem lokalen Shariah‐Council, welches nach Für Jameela bedeutet dies, dass sie – im Gegen‐ 1 den Vorschriften der Scharia urteilt. Diese Art satz zu ihrem Mann, der aus Sicht von Scharia‐ von Paralleljustiz ist nicht einzigartig und exis‐ BefürworterInnen legitim polygam lebt – ihre tiert ebenso in anderen europäischen Ländern. Scheidung auf diesen ungleichen Prinzipien ar‐ Jedoch hat Großbritannien als einziges Land Eu‐ gumentieren und die Vormundschaft für ihre ropas legale Scharia‐Schiedsgerichte eingeführt: Kinder anfechten muss. Das Herantreten an das die Muslim Arbitration Tribunals. Sharia‐Council, das für sie wie für andere Frau‐ Die Scharia gilt als das islamische Recht – wo‐ en ein deutlich ungünstigeres Urteil fällen wird, bei dies nicht ganz zutreffend ist. Denn die Scha‐ ist angesichts des Drucks ihrer Familie und der ria ist nicht in einem Gesetzbuch kodifiziert, Community nur bedingt freiwillig. „Es heißt, die sondern basiert auf dem Koran und gleicht somit Streitparteien müssen die Mediation freiwillig eher einem Bündel von Moral‐ und Sittenvor‐ wollen“, so Maryam Namzie, eine der InitiatorIn‐ 2 stellungen. Daneben gelten auch theologische nen von One law for all, einer britischen Pressu‐ Überlieferungen bzw. ihre verschiedenen Ausle‐ re Group, die sich gegen jegliche Art von Scharia gungen als Quellen, wobei es sich hier um Dif‐ und für eine einheitliche bürgerliche Gesetzge‐ ferenzierungen innerhalb des Rahmens bereits bung einsetzt. „[Doch] viele Frauen haben gar rigider Moralvorstellungen handelt. Das heißt, keine Wahl, weil sie von zu Hause Druck bekom‐ dass die Scharia einerseits einen weiten Ausle‐ men“.4 One law for all hat sich 2007 als Gegenre‐ gungsrahmen, gleichsam aber auch genaue An‐ aktion auf die Muslim Arbitration Tribunals he‐ weisungen zu ihrer Anwendung besitzt. Diese rausgebildet. Von diesen Tribunalen werden auf Moral‐ und Sittenvorstellungen erheben einen Basis der zivilrechtlichen Scharia‐Vorschriften Totalitätsanspruch und gelten sowohl als Zi‐ verbindliche Urteile gefällt. Jedoch dürfen diese vil‐ wie auch als Strafrecht. Für den Muslim wie der britischen Gerichtsbarkeit nicht widerspre‐ für die Muslima bedeutet dies: ein Vergehen ge‐ chen und müssen formell einem britischen Zi‐ gen die Scharia ist Straftat und Sünde zugleich. vilgericht zur Nachprüfung hinterlegt werden, Auch reproduzieren diese Moralvorstellungen wobei dies nicht immer geschieht.5 Diese Verfah‐ die Ungleichheit der Frau. So ist beispielsweise rensweise führte bereits dazu, dass rechtskräftige Männern die Polygamie erlaubt; die Frau hin‐ Urteile für Frauen nachteiliger ausgefallen sind.6

J

zwischen den KreditgeberInnen und den männ‐ lichen Familienmitgliedern angesehen. Mikro‐ kredite nutzen die existierenden patriarchalen Strukturen, um ein für die Mikrofinanzinstitute effizientes Finanzsystem aufzubauen. Nachhal‐ tiger genderspezifischer Wandel durch Mikro‐ kredite ist nur möglich, wenn durch den Aufbau von ökonomischem Kapital auch das soziale und kulturelle Kapital von Frauen zunimmt und sich daraus konkrete Empowerment‐Effekte er‐ geben. Mikrokredite sollen den Anstoß für öko‐ nomisches Empowerment bieten, diese müssen jedoch durch soziales und politisches Empow‐ erment ergänzt werden, was nur auf einer brei‐ teren gesellschaftlichen Ebene möglich ist. Mi‐ krokredite führen keinesfalls durch ihr bloßes Bestehen zur Selbstermächtigung von Frauen. Die konkrete Ausgestaltung des Programms und die gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen spielen eine wesentliche Rolle.

Soma Mohammad Assad

Die Tribunals gelten als eine Reaktion auf die in‐ offiziellen Sharia Councils. Diese existieren be‐ reits seit den 1980er Jahren und werden als die re‐ ligiöseren, ‚authentischeren‘ angesehen. Auch in Deutschland existieren inoffiziel‐ le Scharia‐Räte, an die sich Muslime wenden. Zwar gibt es in der BRD keine offiziellen Scha‐ ria‐Schlichtungsgerichte, jedoch Gesetze, die die Scharia‐Gerichtsbarkeit begünstigen: wie beispielsweise die 2009 eingeführte Änderung des Personenstandsrechts. Nach diesem Gesetz dürfen religiöse Eheschließungen vor der stan‐ desamtlichen durchgeführt werden. Rechtlich gesehen stellt dies eine klare Benachteiligung für die Frau dar, da sie vor dem deutschen Ge‐ setz – solange sie nicht standesamtlich getraut wurde – als unverheiratet gilt. Im Erbrechts‐ oder Scheidungsfall befindet sich die Frau dann in einer deutlich schwächeren Position.7

Staat und Neutralität Aus Sicht von Namazie stellen diese partikula‐ ren Rechtsordnungen eine Art von Rassismus dar. Ihre Kritik gilt vor allem der Idee des Multi‐ kulturalismus und Kommunitarismus, die sich dafür einsetzt, dass Minderheiten ihren eige‐ nen Rechtssystemen unterliegen sollen. Kom‐ munitaristInnen fordern sogar, dass der neu‐ trale Staat die Säkularisierung nicht befördern dürfe. Denn der Staat solle sich gegenüber al‐ len politischen Strömungen gleichgültig stellen und könne dies nur tun, wenn seine Einheit sich nicht im säkularen Gedanken herstelle.8 Somit wäre beispielsweise der staatliche Bildungsauf‐ trag, die Mündigkeit zu fördern, obsolet und muslimische Eltern, die ihren Kindern den Se‐ xualkunde‐Unterricht verbieten wollen, besä‐ ßen Legitimität dazu.

Diese Forderung steht den Errungenschaften des modernen Liberalismus diametral entge‐ gen: die Idee der Freiheit und Gleichheit der Individuen – wenn auch nur formell – gilt im modernen liberalen Staat als unabdingbarer Bestandteil des politischen Systems. Gleichzei‐ tig hintertreibt jener Staat, der diese Freiheiten garantieren soll, sie wiederum, da er selbst als fundamentaler Bestandteil der kapitalistischen Verwertungslogik sich dieser unterwerfen muss. Diesen permanenten Widerspruch zwi‐ schen Anspruch und Wirklichkeit wollen die Scharia‐BefürworterInnen zugunsten urtüm‐ licher Vorstellungen auflösen, um somit letzt‐ endlich die Residuen der Freiheit, als Ausgangs‐ punkt der Verwirklichung eines Zustands „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ 9, zu verunmöglichen. Anmerkungen: 1 http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/law‐and‐ order/8686504/Sharia‐a‐law‐unto‐itself.html 2 Vgl. Schirrmacher, Christine: Frauen unter der Scha‐ ria. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 48, 2004. 3 http://www.onelawforall.org.uk/ 4 http://www.stuttgarter‐nachrichten.de/inhalt.britische‐ moslems‐uneins‐die‐scharia‐ein‐segen‐page2.bb‐ 9410db‐bdb6‐4851‐84ea‐c81ba838e3a3.html 5 Vgl.: Brocker, Manfred: Sharia‐Gerichte in westlichen Demokratien. Eine Beratung aus Sicht der politi‐ schen Philosophie. In: Zeitschrift für Politik, Heft 3, 2012. 6 Ebd. 7 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d‐86486650.html 8 Vgl.: Maclure, Jocelyn; Taylor, Charles: Laizität und Gewissensfreiheit. Berlin: Suhrkamp 2011. 9 Adorno, Theodor W.: Melange, In: Minima Mo‐ ralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M: Suhrkamp 2003. S. 115/116.

05

01-03.indd 5

14.11.12 23:19


politik

„WIR BRAUCHEN ENDLICH EINE LANGFRISTIG GESICHERTE FINANZIERUNG“ Oona Kroisleitner

Anlässlich der Kampagne 16 Tage gegen Gewalt an Frauen, die am 25. November startet, traf UNIQUE Silvia Samhaber vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF) und sprach mit ihr über die Situation von Gewalt betroffener Frauen und die Arbeit der Einrichtungen. Was bedeutet es, dass die Frauenhäuser auto‐ nom sind? Der Gedanke der Autonomie ist ein wichtiges Prinzip, das sich in der Arbeit der autonomen Frauenhäuser widerspiegelt. Autonom heißt dabei, dass die Frauenhäuser Vereine sind. Da‐ durch sind sie parteiunabhängig, gemeinnützig und privat. Sie sind Frauenvereine. Wie spiegelt sich das in der Finanzierung wider? Der Großteil der finanziellen Mittel kommt von den Ländern. Da es keine einheitliche Gesetzes‐ lage gibt, ist es auch von Bundesland zu Bun‐ desland unterschiedlich, wie lange diese Förde‐ rung und finanzielle Unterstützung vom Land jeweils bewilligt wird. Was sind die Prinzipien der autonomen Frau‐ enhäuser? Unsere Arbeit baut auf verschiedenen Eckpfei‐ lern auf. Zum einen ist uns wichtig, dass die Anonymität der Frauen gewährleistet wird. Also, dass ohne Einverständnis der Frauen keine Daten weitergegeben werden. Gleich‐ zeitig steht die Parteilichkeit der Mitarbei‐ terinnen gegenüber den Frauen, die in ihren Häusern wohnen, an oberster Stelle. Ein wei‐ teres wichtiges Prinzip unserer Arbeit ist die unbürokratische Soforthilfe, sprich, dass kei‐ ne Anmeldung erfolgt und keine lange Warte‐ zeit vorherrscht. Die Frauen sollen Unterstüt‐ zung und Beratung, sobald sie diese brauchen, auch bekommen. Dann kommt noch die Hilfe zur Selbsthilfe dazu. Frauen, die in ein Frau‐ enhaus ziehen, bekommen dort die Hilfe, die sie brauchen. Ihre Entscheidungen werden von uns respektiert und akzeptiert. Sie wer‐ den sozusagen dort abgeholt, wo sie stehen. Wie gut funktioniert die Geheimhaltung der Standorte? Eine absolute Anonymität ist immer schwie‐ rig. Aber wir setzen alles daran, dass die Häu‐ ser nicht einfach auffindbar oder ausforschbar sind. Es gibt bei uns im Büro immer wieder An‐ rufe von Personen, die sich erkundigen, ob sich eine bestimmte Frau in einem Frauenhaus be‐

findet. Für uns ist aber natürlich ganz klar, dass Wie sieht die Lebenssituation in einem Frau‐ keinerlei Informationsweitergabe erfolgt. enhaus aus? Das ist vom Bedarf der jeweiligen Frau abhän‐ Was sind die Arbeitsbereiche des Netzwerkes gig. Wenn eine Frau beispielsweise berufstätig der Frauenhäuser? ist, versuchen wir sie so weit zu unterstützen, Insgesamt gibt es drei Bereiche, die im AÖF dass sie ihrem Job weiter nachgehen kann. Falls angesiedelt sind: die Informationsstelle gegen sie keine Arbeit hat, unterstützen wir sie da‐ Gewalt, unser internationales Netzwerk Wo‐ bei – sofern sie das möchte –, einen Job zu fin‐ men against Violence Europe (WAVE) und die den. Wenn eine Frau medizinische Versorgung Frauenhelpline gegen Männergewalt. Die Frau‐ braucht, wird sie dabei unterstützt und beglei‐ enhelpline ist 24 Stunden am Tag, jeden Tag tet. Bei anhängigen Gerichtsverfahren bieten im Jahr besetzt und ist anonym und kostenlos. wir rechtliche Beratung und Unterstützung. Der Verein AÖF macht Öffentlichkeitsarbeit für die mit dem Verein assoziierten Frauenhäuser, Werden Frauen von Ihnen zu einer Anzeige macht Kampagnenarbeit und organisiert Ta‐ der Gewalttaten ermutigt? gungen mit und für die Mitarbeiterinnen der Es wird den Frauen keine Anzeige aufgedrängt – Frauenhäuser. das ist nicht das Ziel der Frauenhaus‐Mitarbei‐ terinnen. Wir ermutigen die Frauen, eine An‐ Wie sieht Ihre Kampagnenarbeit abseits der zeige zu machen und die Unterstützung, wenn Plakate die man auf der Straße sieht aus? sich eine Frau dazu entscheidet, ist natürlich Uns ist vor allem Sensibilisierungs‐ und Prä‐ gegeben. Auch die Information über das Ge‐ ventionsarbeit sehr wichtig. Zum Beispiel waltschutzgesetz, also welche Rechte eine Frau bieten wir jetzt neben dem Infomaterial, das und ihre Kinder haben, wenn sie von Gewalt be‐ wir verschicken, eine neue Kinderhomepage troffen sind, werden an die Bewohnerinnen der www.gewalt‐ist‐nie‐ok.at an. Diese wurde von Frauenhäuser weiter gegeben. einem Berliner Verein speziell für Kinder kon‐ zipiert und für uns auf Österreich zugeschnit‐ Wie ist das Betreuungsverhältnis zwischen ten. Auf der Homepage können sich Kinder Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen in einem über häusliche Gewalt und Hilfe dagegen in‐ Frauenhaus? formieren. Weiters bieten wir Workshops in Das ist von Frauenhaus zu Frauenhaus und auch Schulen an. Aktuell zum Thema Gewalt in von Bundesland zu Bundesland verschieden. Teenager‐Beziehungen, um Jugendliche zu Da die Finanzierung der Frauenhäuser Länder‐ sensibilisieren. sache ist, ist das Betreuungsverhältnis auch ein ganz unterschiedliches. Generell haben im Jahr Sind junge Frauen Ihre einzige Zielgruppe? 2011 in 26 Frauenhäusern in Österreich insge‐ Nein, wir sind Teil einer Kooperation, die eine samt 3.377 Frauen und Kinder Schutz und Un‐ Workshopreihe zur Thematik ,Gewalt an älte‐ terkunft gesucht. Davon waren 1.719 Frauen und ren Menschen‘ veranstaltet. Diese finden in je‐ 1.658 Kinder. Die Auslastung der Einrichtungen dem Bundesland statt. Teilweise gehen wir aber ist jedoch nicht in jedem Frauenhaus gleich. auch an Fachhochschulen, um die Studieren‐ den für ihren Arbeitsalltag zu sensibilisieren. Wie sieht die Situation aus, nachdem Frauen aus den Einrichtungen ausziehen? Was sind die häufigsten Probleme, mit denen Einerseits gibt es speziell in Wien sogenannte Frauen sich an die Frauenhäuser wenden? Übergangswohnungen, wo Frauen nach einem Der Großteil der Frauen, die in ein Frauenhaus Frauenhausaufenthalt Unterstützung erhalten. kommen, sind Opfer von Gewalt von Partner, Gleichzeitig gibt es das Angebot, dass Frau‐ Ehemann oder Ex‐Ehemann. Es gibt aber auch en nach ihrem Auszug ambulante Unterstüt‐ eine Gruppe von Frauen, die von Gewalt im Fa‐ zung bekommen, wenn sie das wollen. Diese milienverband betroffen ist, also denen Gewalt Betreuung wird auch von Frauenhausmitarbei‐ von Verwandten widerfahren ist. terinnen angeboten. Die Frauen, die sich dafür entscheiden, erhalten dann über ihren Auszug Wie lange wohnen Frauen durchschnittlich hinaus weitere Unterstützung und Beratung. in einem Ihrer Häuser? Das kann man nicht generalisieren. Es gibt Ist Gewalt gegen Frauen noch immer ein gesell‐ Frauen, die ein bis zwei Tage in einem Frauen‐ schaftliches Tabu, über das geschwiegen wird? haus leben, um schnell und für kurze Zeit aus Ich denke, dass über ein Thema wie Gewalt in einem Gewaltverhältnis auszubrechen. An‐ Paarbeziehungen nie leicht geredet werden dere sind oft Wochen und Monate mit ihren kann. Es ist ein schweres Thema, das einen Kindern in einem Frauenhaus. Dabei ist uns selbst betroffen macht, wenn man sich damit wichtig, dass Frauen ihre Kinder mitbringen auseinandersetzt. Ich glaube aber, dass sich in können. Die Kinder werden von den Kinderbe‐ den letzten Jahren viel verändert hat. Der Be‐ reichsfrauen betreut. kanntheitsgrad von Hilfseinrichtungen ist stark

gestiegen. Es existieren mittlerweile Notrufe und flächendeckende Frauenberatungsstellen. Auch in der breiten Gesellschaft habe ich das Gefühl, dass die Wahrnehmung darüber, dass es hier ein Problem gibt, gestiegen ist. Dass Gewalt an Frauen wirklich etwas ist, das es zu bekämp‐ fen gibt, wird mehr akzeptiert. Das Gewalt‐ schutzgesetz spielt dabei eine wichtige Rolle. Es hat Frauen, die von Gewalt betroffen sind, die Möglichkeit gegeben, zu Hause bleiben zu können und nicht vom Gewalttäter flüchten zu müssen. Was muss sich ändern, um die Arbeit der auto‐ nomen Frauenhäuser zu vereinfachen? Auf der gesetzlichen Ebene brauchen wir end‐ lich eine langfristig gesicherte Finanzierung. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, damit wir unsere Arbeit sicher fortführen können. Und auch die gesellschaftliche und politische Ebene spielt eine wichtige Rolle. Da braucht es noch ein größeres Bewusstsein. Auch die Wichtigkeit der Arbeit der autonomen Frauenhäuser muss stärker akzeptiert werden. Wünschenswert wäre ein nationaler Aktionsplan, denn bis jetzt gibt es nur viele verschiedene Arbeitsgruppen, die zum Thema Gewalt an Frauen arbeiten. Welche Veranstaltungen organisieren Sie zu den 16 Tagen gegen Gewalt an Frauen? Die Ringvorlesung Eine von Fünf findet heu‐ er zum dritten Mal an der Medizinischen Uni‐ versität Wien statt. Sie ist die neunte ihrer Art; davor war sie am Juridicum und am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien. Durch die Unterstützung einiger Institute haben wir es geschafft, die Vorlesung an der Universität Wien wieder populärer zu machen. Die Vor‐ lesung soll Studierende von allen Studien‐ richtungen und auch Nicht‐Studierende an‐ sprechen. Wir sind der Meinung, dass eine Sensibilisierung von Gewalt an Frauen und Kindern in sehr vielen verschiedenen Berufs‐ gruppen grundlegend ist und es daher wichtig ist, diese zu forcieren. Die Ringvorlesung bie‐ tet die Möglichkeit, Expertinnen und Exper‐ ten aus Wissenschaft und Praxis zu vereinen. Zum Auftakt der Ringvorlesung organisieren wir am 24. November erstmals eine Filmnacht gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Das ist ein weiterer Versuch, möglichst viele und un‐ terschiedliche Personen zu erreichen und für das Thema zu sensibilisieren. Tipp: Interdisziplinäre Ringvorlesung: Eine von fünf. Gewalt und Gesundheit im sozialen Nahraum – Schwerpunkt: Gewalt an Kindern und Jugendlichen 24. November bis 11. Dezember, je von 16 bis 19 Uhr, im Hörsaal des Departments für Gerichtsmedizin, Sensengasse 2, 1090Wien. www.aoef.at

06

01-03.indd 6

14.11.12 23:19


politik Zur Situation in Kärnten / Koroška........................................................................

AB IN DEN SÜDEN?!

Während ich diesen Artikel verfasse, höre ich ein Interview mit der richsberggemeinschaft wird von der Stadt Klagenfurt und vom Land Schriftstellerin Maja Haderlap im Radio. Sie ist es leid, über die ak- Kärnten gerne kräftig mit Ressourcen und Fördergeldern unterstützt. tuelle Politik in Kärnten/Koroška zu sprechen. Ich fühle mit ihr: sich Nichtsdestotrotz keimt auch in Kärnten/Koroš ka hie und da Widermit Kärntner Politik auseinandersetzen zu müssen, ist zum Kotzen. stand gegen die politische Situation auf. So wurde durch längere InterVermutlich ist das etwas, was alle intellektuell aktiven Menschen, die ventionen und zunehmende Beteiligung breiter zivilgesellschaftlicher von dort geflohen oder die noch dort sind, gemeinsam haben. Vor al- Akteur*innen die Schließung der unter unmenschliche n Bedingungen lem weil die gegenwärtige politische Situation in keiner Weise neu, geführten Sonderanstalt für „mutmaßlich straffällige Asylwerber“ sondern fast schon Alltag ist. auf der Saualm erwirkt. Dörfler liegen allerdings weniger die MenAber bleiben wir erst bei den Fakten: Was ist denn in letzter Zeit so schen am Herzen, denn seine Begründung für die Schließung waren passiert, im Land der vom Himmel gefallenen Sonne und (Solarium-) mutmaßliche „Schächtungen“ 2 . Gerade in Kärnten hilft rassistischer Bräune? Nachdem sich der erfolgreich verdickte Nebel der Haider- Rechtspopulismus, aus jeder Niederlage einen Erfolg zu machen. Ära lichtet und immer mehr Korruptionsfälle ans Tageslicht kommen, Die bevorstehenden Landtagswahlen werden wenig ändern: Laut eiverhindert die Freiheitliche Partei in Kärnten (FPK) – am 25. Oktober ner OGM-Umfrage vom August würden 30% der Kärntner*innen trotz bereits zum zehnten Mal – durch wiederholtes geschlossenes Aus- der ewigen Korruptionsskandale weiterhin FPK wählen. Vermutlich ziehen aus Landtags-Sitzungen Neuwahlen. Währenddessen werden gerade weil Dobernig, Dörfler & Co den Deutschnationa lismus und den politisch debile Aussagen getätigt, wie beispielsweise vom Landes- damit einhergehenden Rassismus bedienen – ganz zu schweigen darat Harald Dobernig (FPK), der Anfang Oktober die Ortstafellösung von, dass auch SPÖ und ÖVP (insbesondere) in Kärnten (aber nicht als „Einstiegsdroge“ und die slowenisch-sprachigen Kärntner*innen nur dort) seit 1945 stets um die Gunst der Deutschnationa len gebuhlt als „keine echten Kärntner“ bezeichnete. Landeshauptmann Gerhard haben. 3 Dörfler (FPK) sieht das halb so wild und meint dazu: „Wenn Sie politi- Was also bleibt zu hoffen und zu tun? Anstatt aus der sicheren Dissche Funktionen an Aussagen messen, wäre ich wahrscheinlich nicht tanz über die Kärnter*innen zu schimpfen, wäre es wohl besser, die mehr Landeshauptmann.“ 1 Was wie schlechte Polit-Satire klingt, ist in verschiedenen emanzipatorischen kulturellen und politischen ProjekKärnten leider Realität. te vor Ort zu unterstützen. Ist Kärnten anders? Dass die Kärntner Landespolitik eher einer überzeichneten ComicSatire ähnelt als dem, was mensch sich unter einer demokratischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert vorstellt, führt wohl auch dazu, dass so viele das Land verlassen – ob aus Perspektivlosigkeit oder der Erfahrung, dass Emanzipation in Kärnten/Koroška nicht erwünscht ist. Antifaschistischer Widerstand wird und wurde in Kärnten/Koroška von der Mehrheitsbevölkerung seit Generationen missbilligt, der Deutschnationalismus hingegen weiter abgefeiert. So trafen sich auch heuer am 16. September Rechtsextreme zum Ulrichsbergtreffen. SSAngehörige werden dort als Helden gehandelt, ehemalige SS-Männer schwingen große ,Heimkehrer‘-Reden. Der ausrichtende Verein Ul-

Pia Partizan Pia Partizan gibt es auch zum Hören: https://partizani.diebin.at/ Anmerkungen: derstandard.at/1350258479 856/Kaerntne r-Slowenen-D oerflerwuenscht-sich- Slowenen-Dachverband 2 derstandard.at/1348285193 975/Fuer-Doe rfler-ist-moeg lichesTierleid-ausschlaggebend 3 Siehe auch: www.profil.at/articles/0526/560/116032/zeitgeschichterote-gewissenserforschung-die-spoe-protokolle 1

„ER WAR EIN TYPISCHER FINANZMANN.“1 Links und rechts sind manchmal auch Kommunist*innen und Sozialist*innen leicht zu verwechseln – das zeigt versahen ihre – ebenfalls bereits illegale – Be‐ richterstattung zur Phönix in vielen Fällen, etwa auch eine Analyse des Antisemi- in den Zentralorganen Rote Fahne oder Arbei‐ tismus in der illegalen nationalsozi- ter‐Zeitung, mit antisemitischen Motiven. alistischen und kommunistischen bzw. sozialistischen Berichter- Kapitalismus,kritik‘ und stattung über einen österreichi- Personifikation schen Versicherungsskandal im Bei der Deutung des Skandals bleibt die gesam‐ te illegale Publizistik einer verkürzten, daher Jahr 1936. regressiven Kapitalismuskritik verhaftet. Von

D

ie österreichische Phönix war in den dreißi‐ ger Jahren die zweitgrößte Versicherungs‐ gesellschaft Europas. Verantwortlich für diesen Erfolg war deren jüdischer Direktor, Wilhelm Berliner, dessen großzügige Spenden, aber auch Bestechungsgelder ihm Einfluss auf Regierung und Heimwehr sicherten. Genauso ließ er Gel‐ der an Organisationen wie die Legitimisten, den Jüdischen Nationalfonds, die NSDAP oder die Großdeutsche Volkspartei fließen. Diese und andere Malversationen bei der Phönix so‐ wie ihre Zahlungsunfähigkeit, die unter ande‐ rem durch ein völliges Versagen der Staatsauf‐ sicht möglich wurde, wurden erst nach dem unerwarteten Tod Berliners am 17. Februar 1936 aufgedeckt. Den Nationalsozialist*innen bot der Phönix‐ Skandal die Gelegenheit, in ihren illegalen Publi‐ kationen antisemitisch zu polemisieren und das austrofaschistische Regime anzugreifen. Jedoch

links wie rechts wird der Generaldirektor Ber‐ liner als Personifikation der Zirkulationssphä‐ re, also des Kreislaufes des Kapitals via Handel, Banken, Börse oder Versicherungen, denun‐ ziert. Die nationalsozialistische Presse setz‐ te dabei auf den altbewährten Gegensatz zwi‐ schen ,raffender‘ Zirkulationssphäre, die mit ,dem Juden‘ gleichgesetzt wurde, und ,schaffen‐ der‘ Produktionssphäre, d. h. der ,Volksgemein‐ schaft‘. Mit ähnlicher Tendenz stellt die lin‐ ke Presse die „jüdische Bourgeoisie“, „jüdische Großpekulanten“ und „Diktatoren des Finanz‐ kapitals“ dem „Spargroschen“ der armen (auch 2 jüdischen) Bevölkerung gegenüber. Einerseits zeigt sich in der nationalsozialis‐ tischen Gegenüberstellung der bodenständi‐ gen, ,arischen‘ Bevölkerung mit der mobilen, nicht fassbaren jüdischen Identität eine Per‐ sonifikation der Zirkulation; es wird versucht, die abstrakte, universelle Herrschaft des Ka‐ pitals, wie sie Moishe Postone postuliert,3 in

konkrete Gestalt zu fassen. Andererseits wird dieser wurzellose Universalismus von links wie von rechts verschwörungstheoretisch konkre‐ tisiert: So wird etwa über den Millionenverlust der Phönix fabuliert, diese Millionen „speisten die Netzzentralen des Weltjudentums gegen das deutsche Volk an allen Orten der Welt“ 4 und Otto Bauer beschreibt Berliner als „Banki‐ er“, dessen Macht ihn dazu brachte, „sein Netz über ganz Europa zu spannen, auch im Auslan‐ de überall Beziehungen, Einfluß, Macht“ 5 zu gewinnen.

„Juden und Pfaffen“ In ihrem Antisemitismus vereint zeigt sich die illegale Publizistik auch darin, dass sie eine verschwörerische Finanzierung des Re‐ gimes durch den „Juden Berliner“ anprangert – die Arbeiter‐Zeitung beklagt etwa die „Ver‐ sippung der christlichen Machthaber mit dem großen jüdischen Spekulationskapital“ 6 und Nationalsozialist*innen verwenden beispiels‐ weise das Diktum „Juden und Pfaffen“. Gleichzeitig wird versucht aufzudecken, dass die Schuld am Phönix‐Skandal vom Regime stra‐ tegisch an den „Juden Berliner“ abgeschoben wird – der Antisemitismus des Austrofaschis‐ mus sei eine nicht ernst gemeinte Angelegen‐ heit, die darüber hinaus andere „reiche Juden“ unangetastet lasse. Kritisiert wird in verharm‐ losender Weise, vor allem von linker Seite, nicht der Antisemitismus an sich, sondern nur seine

Doris Maierhofer

Inkonsequenz, was nahe legt, dass man es selbst ernster meinen würde. Somit bedienten sich, in einer gemeinsamen Anstrengung, sowohl Nationalsozialist*innen als auch Kommunist*innen und Sozialist*innen der großflächig vorhandenen, antisemitischen Ressentiments und trugen zu einer weiteren Verschärfung bei. In ihren besten Momenten – das ist bezeichnend – analysiert die Linke den Antisemitismus völlig unzureichend als Strate‐ gie, aber sogar dies wird von der eigenen antise‐ mitischen Berichterstattung konterkariert. Anmerkungen: 1 Otto Bauer über Wilhelm Berliner, den Generaldirek‐ tor der Phönix‐Versicherung, in: „Die Bankiers des Austrofaschismus“, Der Kampf, Nummer 5, Mai 1936. 2 Alle Zitate aus „Der Phönix‐Skandal der Korrupti‐ onsfaschisten“, Rote Fahne, Nummer 6, Mitte April 1936, und „Sollen die Angestellten den Phönix‐Skan‐ dal bezahlen?“, Rote Fahne, Nummer 10, Mitte Juli 1936 bzw. aus Bauer, Otto: „Die Bankiers des Austro‐ faschismus“, Der Kampf, Nummer 5, Mai 1936. 3 Postone, Moishe: Nationalsozialismus und Antise‐ mitismus, in: Diner, Dan (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Fischer Taschenbuch Ver‐ lag. Frankfurt/Main 1988. S. 242–254. 4 „!!! Lesen und Weitergeben !!!“, Nationalsozialisti‐ sches Flugblatt von 1936. 5 Bauer, Otto: „Die Bankiers des Austrofaschismus“, Der Kampf, Nummer 5, Mai 1936. 6 „Österreich am 1. Mai 1936“, Arbeiter‐Zeitung, Num‐ mer 17, 26. April 1936.

07

01-03.indd 7

14.11.12 23:19


feuilleton

1X WÖCHENTLICH FILMFRÜHSTÜCK KINOMONTAG: ALLE FILME 6,00 EURO

Anzeige

IN UNMITTELBARER UNINÄHE

1090 Wien | Währinger Straße 12 | Tel 317 35 71

Gewinnspiel:

entari‐ hlt! Die parlam Jede Stimme zä en of‐ d ür e f iv at eniniti sche BürgerInn line on ulzugang kann fenen Hochsch ier: s h fo erden. Alle In unterzeichnet w e iv at iti /in at udieren. www.lasstunsst

Die !"#$%& verlost 5 x 2 Karten fürs Votivkino.

Was geschah am 9. und 10. November 1938? Welche Bedeutung haben diese Tage bis heute? Schick die Antwort an: unique@reflex.at

ESSEN ** Jeden Freitag, 9:00–17:00 WUK‐Wochenmarkt Lebensmittel, Pflanzen, Samen, Erde – kontrolliert biologisch, regional, nachhal‐ tig und engagiert einkaufen. Im WUK‐Hof (1090, Währingerstraße 59) wuk.at/ ** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 14:00 Weibafrühstück! Mit leckerem veganem Buffet gegen Staat, Patriarchat und (Hetero‐)Sexismus. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med‐user.net/~ekh

:

e n i m r Te

FILM/THEATER/PERFORMANCE ** „Mama Illegal“: Aurica, Raia und Na‐ tasa, drei Mütter aus einem kleinen mol‐ dawischen Dorf riskieren auf ihrer Reise nach Westeuropa ihr Leben. Im Actors (1010, Tuchlauben 3), Im De France (1010, Schottenring 5) mamaillegal.com/

** „See you soon again“: Leo, 1921 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren und 1938 grflüchtet, bezeichnet sich selbst als „over‐holocausted“. In den Village Cinemas (1030, Landstraßer Hauptstraße 2A) seeyousoonagain.at/

** „Die Wand“. „Die Frau, der Marlen Haushofer keinen Namen gab, scheint darauf gewartet zu haben, von Marti‐ na Gedeck gespielt zu werden.“ (Berliner Zeitung). Im Gartenbaukino (1010, Parkring 12) diewand‐derfilm.at/

** Donnerstag, 15. November, 19:00 Bauhaus & Film. Zeitschriftenpräsenta‐ tion und Filmvorführung. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.or.at/

AKTIONEN ** Laufend: * Der Chor der Uni Wien sucht singende Männer. Schau vorbei! unichor.at/ * Das Onlineportal Theatania macht Lust auf Theater! theatania.at/ ** Jeden Dienstag, ab 20:00 Fohlen‐flitzen: die offene STUTHE‐Impro – einfach vorbeikommen! Im Initiativen‐Raum des WUK (1090, Währingerstraße 59) www.stuthe.com/page.php?id=49 wuk.at/

** Jeden Donnerstag, ab 16:00 ReparierBAR – Werkstatt offen bis 20:00, danach community. In der Bikekitchen (1150, Goldschlagstraße 8) bikekitchen.net/ ** Mittwoch, 28. November: textstrom Poetry Slam @ rhiz. Dein Text ‐ Dein Mikro – Deine Bühne. Im Rhiz (1080, Guertelbogen 37 & 38) ** Jeden 3. Freitag im Monat, 16:30 CRITICAL MASS – Rad fahren ist öko‐ logisch, leise, lebenswert, platzsparend, lustig, ökonomisch, sexy und engagiert!

Treffpunkt: Schwarzenbergplatz, pünktlich criticalmass.at/ ** 5. Dezember, ab 20:00 Poetry Slam – für das FrauenRecht auf ein gewaltfreies Leben: moderiert von Mieze Medusa und Clara Felis im Rahmen der Medienvernetzungsgruppe Klappe auf! Jede und jeder ist herzlich dazu eingela‐ den, ihren oder seinen Text vorzutragen! Im LOOP (1080, Lerchenfelder Gürtel, U‐ Bahn Bogen 26) aoef.at/

** Freitag, 16. November, 19:00 kinokis mikrokino #194. Erinnerungen an die Zukunft – Chris Marker (1921–2012). Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.or.at/ ** 21., 28. – 30. November, 19:30 Schauspiel: Aufführung Nick Hornbys NIPPLEJESUS. Im Dschungel Wien (1070 Wien, Museumsplatz 1) dschungelwien.at/

** Workshopreihe: writing in progress * Donnerstag, 6. Dezember, ganztägig: Audioreportagen leicht gemacht. (Clau‐ dia Aurednik, progress, Ö1) * Mittwoch, 12. Dezember, 16:00 – 20:00 Wie finde ich spannende Themen? Und welcher Zugang zu dem Thema ist auch spannend für ein Studierendenmagazin? (Bettina Figl, Wiener Zeitung) * Samstag, 12. Jänner14:00 – 18:00 Recherche: Das Um und Auf eines span‐ nenden und guten Textes! Aber Wie? (Bettina Figl, Wiener Zeitung) In der ÖH Bundesvertretung (1040, Taubstummengasse 7‐9)

** 24. November, 17:45 bis ca. 00:00 Filmnacht gegen Gewalt an Frauen und Kindern: 18:00 – Schrittweise – Wege aus der Gewalt (27 min); 19:00 – Festung (91 min); 21.00 – Podiumsdiskussion; 22:15 – Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (76 min). Eintritt frei! Im Top Kino (1060, Rahlgasse 1) aoef.at/ topkino.at/ ** 7. Dezmber, ab 20:00 Preview NervenBruchZusammen. Ein Arash T. Riahi Film, mit Diskussion im Rahmen des internationalen Filmfestivals für Menschenrechte this human world Im Filmcasino (1050, Margaretenstraße 78) thishumanworld.at/ ** Jeden 2. und 4. Freitag im Monat, 22:30 „The Late Night Theater Jam“. The English Lovers with their award‐winning mix of impro‐theatre, music and big dumb fun!!! Im Theater Drachengasse (1010, Fleischmarkt 22) drachengasse.at/ ** Monatlich im Depot bei freiem Eintritt: Politische Filmabende. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) depot.or.at/

08

01-03.indd 8

14.11.12 23:19


feuilleton Sophs Sautiertes: Als leidgeprüfte Bäckerin* von Geburtstagskuchen bin ich immer auf der Suche nach neuen Ideen für beeindruckendes Gebackenes. Schließlich gilt es, das anspruchsvolle Geburtstagskind anständig zu würdigen – und was ist da besser als eine kunstvoll gestaltete Torte? Eben. Diesmal werden es Cake Pops. Zuerst: Kuchen her! Ob der Jahreszeit empfiehlt sich ein Kürbisku‐ chen (natürlich ist nach Belieben auch jeder an‐ dere Geschmack möglich). Dafür kochen wir erstmal 300 g Kürbis in etwas Wasser weich. Das Wasser wegleeren und den Kürbis zerstampfen. Aus dem Rest des Kürbis (wer kauft denn nur 300 g Kürbis ein?) lässt sich dann Suppe machen – auch gut. Aber zurück zum Kuchen: Drei Eier,

Sophie Lojka

Heute:

250 g Zucker, 120 g flüssige Butter, ein Teelöffel Zimt, ½ TL Muskat und wer’s grad da hat ½ TL Piment mit dem Kürbispüree vermischen. 375 g Mehl, ein Packerl Backpulver sowie Vanillepud‐ dingpulver unterrühren und auf einem Back‐ blech verteilen. Gut ist, wenn man davor noch Backpapier auf das Backblech gibt, sonst wird’s nachher eher mühsam. Das Ganze bei umlufti‐ gen 180° C (bei Ober‐ und Unterhitze 200° C) ca. 20 Minuten backen. Einen Spieß oder ähn‐ lich Dünnes hineinstecken; sobald beim Raus‐ ziehen nichts mehr picken bleibt, ist der Kuchen fertig.

dann aus seinen Resten etwas Neues zu erschaf‐ fen. Ein bisschen wie bei einer Revolution. Oder beim Sandkastenspielen. Zu den Kuchenbröseln kommt jetzt Frischkäse (alternativ: Himbeersi‐ rup, Schokosauce o. Ä.). Wie viel ist nicht ganz leicht zu sagen und hängt auch vom verwende‐ ten Kuchen ab. Erstmal eine halbe Packung und ordentlich vermischen. Wenn die Masse dann kein fester, gut zusammenhaltender Teig ist, noch etwas mehr dazu. Mehr als eine Packung habe ich bisher noch nie gebraucht.

Dann: Kalt stellen und aufspießen

Den Kuchenteig nun in die gewünschte Form bringen. Kugeln bieten sich an für Augen, Kür‐ bisse (aus Kürbiskuchen, bitteschön!) oder ein‐ fach nur Rechtecke zum Beispiel für Roboter. Die Formen für eine halbe Stunde einfrieren. Danach Schokolade mit etwas Butter schmel‐ zen, in unserem Fall weiße mit oranger Lebens‐ mittelfarbe eingefärbt – schließlich machen wir ja Kürbisse. Achtung: fettlöslich sollte die Farbe schon sein. Schaschlikspieße oder Schlecker‐ stengel zuerst in die Schokolade, dann in die

Jetzt könnten wir natürlich einfach Schokogla‐ sur drübergeben, uns die restliche Arbeit spa‐ ren und den Kuchen so genießen. Ist aber dann eher etwas für den Nachmittagskaffee oder ein kuchiges Frühstück. Weils heute jedoch fancy sein soll, lassen wir den Kuchen erstmal abküh‐ len. Danach in eine große Schüssel bröseln. Ja, richtig. Unseren vorher – mehr oder weniger – mühselig gebackenen Kuchen zerstören wir, um

Zuletzt: Formen

CAKE POPS angefrorenen Teigkugeln stecken. Anschlie‐ ßend den Kuchen am Spieß in die Schokolade tauchen, abtropfen lassen und wer mag noch mit allerlei dekorativem Süßkram verzieren. Fest werden lassen und fertig. Dann noch eine Geburtstagskarte dazu und schon sind wir be‐ reit für die Party.

Einkaufsliste:

Termine

AUSSTELLUNG ** Sonntag, 25. November, 10:00–18:00 Das Dorotheum lädt zum Gratistag ins mumok. Dichtes Vermittlungsprogramm bei freiem Eintritt. Im Mumok (1070, Museumsplatz 1) mumok.at/

** Bis 28. Februar 2013 Schaufenster – Ulrike Lienbacher. Karten‐ haus (Fotoarbeit): Irritation und Endlo‐ sigkeit im öffentlichen Raum. Bei der Kunsthalle Wien (1070, Museumsplatz 1)

** Bis 2. Dezember 2012 „Körper als Protest“ gegen gesellschaftli‐ che, politische, aber auch kunstästheti‐ sche Normen. In der Albertina (1010, Albertinaplatz 1) albertina.at/

** Bis 3. März 2013 „Vienna’s Shooting Girls. Jüdische Foto‐ grafinnen aus Wien“ beleuchtet die Arbei‐ ten 30 Künstlerinnen. Im Jüdischen Museum Wien (1010, Dorotheergasse 11) jmw.at/

THEORIE/LESUNG/INFORMATION ** Montag, 19. November, 20:00 Infoabend & Diskussion: Die vergessene Ölpest – Clean up the Niger Delta. Mit Nnimmo Bassey, Aktivist aus Nigeria. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) amerlinghaus.at/ ** Dienstag, 20. November, 19:30 Buchpräsentation mit Lesungen & Musik: Aufbruch – wohin? Literarische Spazier‐ gänge zwischen Ost und West. Im Literaturhaus Wien (1070, Seidengasse 13) literaturhaus.at/ ** Donnerstag, 6. Dezember, 19:00 Ilse Tielsch (Wien) liest aus „Manchmal ein Traum der nach Salz schmeckt“. In der Alten Schmiede (1010, Schönlaterngasse 9) alte‐schmiede.at/

300 g Kürbis 375 g Mehl 250 g Zucker 120 g Butter 3 Eier Frischkäse weiße Schokolade 1 Pkg. Backpulver 1 Pkg. Vanillepudding Zimt, Muskat, Piment orange Lebensmittelfarbe Schaschlikspieße

** Jeden 1. Dienstag im Monat, ab 20:00 Prekär Café – Veranstaltungen zur Auseinandersetzung mit dem The‐ ma Prekarisierung von Arbeits‐ und Lebensverhältnissen. In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) prekaer.at/ ** Jeden Mittwoch, 18:30–24:00 Diskussion, Vorträge, Vernetzung, Filme, Austausch, Futter, Plaudern, Lesungen. Im que[e]r (1010, Wipplingerstraße 23) queer.raw.at/ ** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Politdiskubeisl: Vorträge, Infoveranstal‐ tungen, Diskussionen, Filmvorführungen mit Vokü Im EKH (1100, Wielandgasse 2‐4) med‐user.net/~ekh/

TREFFPUNKTE ** Montag – Freitag, 10:00–18:00, Samstag 10:00–15:00 Belesen sein in der ersten feministischen Buchhandlung. ChickLit (1010, Kleeblattgasse 7) chicklit.at/ ** Jeden 2. Montag im Monat, 20:00 Literatur, Musik & Kleinkunst: WILDE WORTE – Freie Wildbahn und Wunschgedichte. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) amerlinghaus.at/ ** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00–20:00 Offen in der Schenke. Jeden Dienstag für Trans‐ & Intersex‐Personen und Frauen. In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) dieschenke.org/ ** Jeden Montag/Donnerstag/Freitag, 15:00–20:00 Kostnixladen: Bring Dinge vorbei, und nimm dir welche mit. Im V.E.K.K.S (1050, Zentagasse 26) umsonstladen.at/

** Jeden Montag 13:00–19:00, Freitag 15:00–23:00 Baekerei. Café, Barbetrieb, Plena, Diskussionen. Textilwerkstätte & Veran‐ staltungsbereich geplant. Im Baekerei (1150, Tannengasse 1 / Ecke Felberstraße 30) dasbackerei.net/ ** Jeden Mittwoch 18:00–22:00 Bahoemagasin: Austauschort, kinder‐ freundlich, rauchfrei, hundefrei, ab 20:30 meistens Programm. Im Kindercafé Lolligo 1010, Fischerstiege 4–8 bahoemagasin.blogsport.de/ lolligo.net/

** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Subversives Freiräumchen zum Abschal‐ ten und Revolutionenplanen mit Stil – links, subversiv, mit Flirtfaktor. In der Rosa Lila Villa, 1. Stock (1060, Linke Wienzeile 102) villa.at/ ** Jeden 1. Donnerstag im Monat, 20:00 Volxlesung – mensch kann lesen, singen, rappen, stricken oder einfach nur zuhö‐ ren, Pausen werden angenehm beschallt. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen) 1bm.at/

** Jeden Donnerstag und Freitag, 18:00–24:00 Baröffnungszeiten des Frauencafés Wien! ** Jeden Mittwoch & Freitag, 17:00–20:00 Im Frauencafé (1080, Lange Gasse 11) Die Bibliothek – von unten. read – resist – frauencafé.com/ rebel – revolt In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) bibliothek‐vonunten.org/ wipplinger23.blogspot.co.at/

MUSIK & FEIERN ** Samstag, 17. November ab 22:00 30 Jahre Rosa Lila Villa – Geburtstagsfest In der Rosa Lila Villa (1060, Linke Wienzeile 102)

** Jeden 2. Samstag im Monat, ab 19:00 1bm Freestylesession – An der improvi‐ sierten Darbietung rythmischer Texte er‐ freuen + beteiligen. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) 1bm.at/

** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 19:00 (gemeinsam kochen ab 16:00): TÜWIs JAMSESSION. Im Tüwi (1190, Peter‐Jordan‐Straße 76) tuewi.action.at/

09

01-03.indd 9

14.11.12 23:19


feuilleton

BOCK AUF BENEFIZ – BOCK AUF KULTUR Das vom Flüchtlingsprojekt Verein Ute Bock organisierte Benefizfestival lädt vom 20. Oktober bis 3. Dezember zum Feiern für den guten Zweck.

Bildungsprogramme und ein Post‐ und Melde‐ service. Für ihr Engagement und ihren Idealis‐ mus wurde die Flüchtlingshelferin mehrfach ausgezeichnet. Erst diesen Oktober erhielt sie von Bundespräsident Heinz Fischer das Golde‐ ne Verdienstzeichen der Republik Österreich – als Symbol und Zeichen dafür, wie wichtig ihre außergewöhnliche Arbeit ist. nter dem Motto Wir treten auf, solan‐ Natürlich wäre es besser, der Staat würde ge Flüchtlinge auf der Straße stehen! spiel‐ diese nicht nur honorieren, sondern sich auch ten im Herbst 2003 erstmals verschiedenste selbst aktiver daran beteiligen. Der Verein ist Künstler*innen unentgeltlich in mehreren Lo‐ auf Spenden ebenso angewiesen wie auf die cations in Wien, um den Verein Ute Bock zu un‐ Unterstützung der Öffentlichkeit „im Kopf“, wie terstützen. Unterstützung, die das Projekt auch Bock sagt. Aus diesem Grund entstand neben verdient. anderen Veranstaltungen auch die Idee für die Gründerin Ute Bock setzt sich seit Jahren un‐ Benefizveranstaltung Bock auf Kultur. ermüdlich für die Rechte von Flüchtlingen ein. Bereits in den 1990ern begann die mittlerweile Kulturgenuss für einen guten 70‐Jährige damit, auf die problematische Situa‐ Zweck tion von Asylwerber*innen aufmerksam zu ma‐ chen. Die von ihr organisierten privaten Wohn‐ Sowohl das Konzept, als auch die Botschaft gemeinschaften erstrecken sich mittlerweile auf scheinen anzukommen. In den Jahren 2010 rund 135 Wohnungen für über 310 Menschen. und 2011 konnte man sich über rund 6.000 Das von Bock ins Leben gerufene Flüchtlings‐ Festivalbesucher*innen freuen. Seit dem Start projekt hilft obdachlosen Flüchtlingen auch 2003 traten unter anderem bekannte Größen mit Kleidung und Lebensmitteln. Ebenfalls an‐ wie Elfriede Jelinek, Josef Hader, Naked Lunch geboten werden Sozial‐ und Rechtsberatung, und die Sofa Surfers im Rahmen des Festivals

U

Nadine Gatt

auf. Zu den Beteiligten zählen natürlich auch Kulturstätten wie das WUK, die Pratersauna, The Loft, das Chelsea, das Schikaneder uvm. Auch das diesjährige Programm kann sich sehen lassen. Livekonzerte, Partyreihen, Kaba‐ rett, Theater, Filmvorführung – kurz: ein bunt‐ gemischtes Kulturangebot, bei dem für jede*n etwas dabei sein sollte. Zu den besonderen High‐ lights zählen Bock auf Cirque de Pompadour in der Pratersauna, Tanz Baby! und Johann Sebas‐ tian Bass im Chelsea, I Stangl mit seinem neu‐ en Kabarett Es gilt die Ungustlvermutung im Ka‐ barett Niedermaier, sowie der Poetry Slam Slam B.ock mit MC Diana Köhle in Kooperation mit dem brut in Wien. Ebenfalls gespannt sein darf man auf die Veranstaltung Wienerlied, bei der sich Der Nino aus Wien, Die Strottern und Aus‐ trofred im Schutzhaus Zukunft die Ehre geben. Genaue Daten und Informationen zu allen Ver‐ anstaltungen, Künstler*innen und Locations findet ihr auf www.bockaufkultur.at und auf Fa‐ cebook. Dort reinzuschauen lohnt sich also, vor allem mit dem Gedanken im Hinterkopf, wem der Gesamterlös des Festivals zugutekommt. Infos: www.bockaufkultur.at/

VON KUNST UND PROPAGANDA

JURA‐SOYFER‐SONDERAUSSTELLUNG IM KARL‐MARX‐HOF

Schauspielerei, Kritik, Maskerade und staatliche Strukturen – Jura Soyfer suchte nach neuen Wegen, um die Gesellschaft zum Protest aufzufordern. Er wollte das Theater revolutionieren: politische Botschaft und Unterhaltung verbinden. Am 8. Dezember 2012 hätte Soyfer seinen 100. Geburtstag gefeiert. Das rote wien widmet ihm daher eine Sonderausstellung im Waschsalon des Karl-Marx-Hofs.

1

Kunst, sondern der Propaganda.“ Bloße Ab‐ lenkung und Zerstreuung war für Soyfer ver‐ werflich, eine Fehlfunktion des Theaters. Die damaligen Stücke waren ihm zu entfernt von der Realität, fernab des gesellschaftlichen Ge‐ schehens. Er schrieb für die Menschen. Sei‐ ne Werke sollten zum Nachdenken anregen, zur Courage ermutigen. Aufbegehren war sein Ziel.

Ihr wisst ja nicht, ihr strengen, starren, Ihr würdigen, ihr weisen Narren, Ihr wisst ja nicht, wie weh ihr tut. Ihr kennt nicht unsre stumme Wut, Ihr hört nicht unsre Zähne knirschen. Stolz, steif unter dem schimmelgrünen Doktorhut. roße Tafeln hängen von der Decke. Es gibt (An alte Professoren, 1930) viel Raum für die Gedichte und Textaus‐ schnitte von Soyfer. Ebenso für die begleiten‐ den Illustrationen von Andrea Maria Dusl. Die „Geh‘n ma halt a bisserl unter …“2 Illustrationen – ganz in schwarz, weiß und rot gehalten – erzählen über den Text hinaus vom Wut gegen die Obrigkeit und harte Worte ge‐ Leben in einer anderen Zeit. Vom Wien der gen die Autorität, das lernte Soyfer schon in der 1920er und 30er. Vom Niedergang des sozialisti‐ Schulzeit. Als 15‐Jähriger trat er dem Verband schen Aufschwungs. Von der Zeit vor dem Zwei‐ der sozialistischen Mittelschüler bei. Als Voll‐ ten Weltkrieg. jähriger veröffentlichte er seine ersten Artikel in der Arbeiter‐Zeitung und der sozialdemokrati‐ schen Illustrierten Der Kuckuck. Ob Kunst oder nicht Geboren wurde Soyfer in Charkiw/Charkow „Ob das, was wir schaffen, Kunst ist oder nicht, (Ukraine/Russland) als Sohn eines jüdischen das ist uns gleichgültig. Wir dienen nicht der Fabrikanten. Seine Eltern mussten mit ihm und

G

seinen Schwestern 1921 vor der bolschewisti‐ schen Revolution fliehen. Zuerst nach Istanbul, bald darauf nach Wien. Mit zehn Jahren wurde er in ein Wiener Realgymnasium eingeschult. Dort entwickelte er seine Liebe zur Literatur. Und zu marxistischen Schriften. Sein satiri‐ scher Witz machte seine Gedichte zu dieser Zeit intelligent und druckreif. Geh’n ma halt a bisserl unter, Mit tsching‐tsching in Viererreihn. Immer lustig, fesch und munter, Gar so arg kann’s ja net sein. Erstens kann uns eh nix g’schehn, Zweitens ist das Untergehen ’s einzige, was der kleine Mann Heutzutag sich leisten kann. Drum geh’n ma halt a bisserl unter, ’s is riskant, aber fein! (Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang, 1936)

Flucht und Deportation

Martha Schlickenrieder

Soyfer nimmt kein Blatt vor den Mund. Umso härter trifft ihn die stetige Machtzunahme der Nazis. 1937 wird er wegen einer Verwechslung verhaftet und kommt nach drei Monaten wie‐ der frei. Doch zwölf Tage später – am 13. März 1938 – wird er von österreichischen Beamten bei seinem Fluchtversuch in die Schweiz erneut festgenommen. Er wird ins KZ Dachau trans‐ portiert, dann nach Buchenwald. Soyfer meldet sich freiwillig als Leichenträger und infiziert sich mit Typhus. Bei seinem Tod am 16. Februar 1939 ist seine Familie schon in den USA in Si‐ cherheit. Seine Entlassungspapiere aus dem KZ waren zu diesem Zeitpunkt bereits vorbereitet. Infos: Die Ausstellung „Geh’n ma halt a bisserl unter … – 100 Jahre Jura Soyfer“ läuft noch bis 2. Mai 2013. Öffnungszeiten: Donnerstag 13:00 bis 18:00, Sonntag 12:00 bis 16:00; Eintritt: EUR 3,– Waschsalon Nr. 2 Karl‐Marx‐Hof, Halteraugasse 7, 1190 Wien http://dasrotewien‐waschsalon.at/ Anmerkungen: 1

In seinen Stücken warten Menschen voller Ver‐ Zitat aus der Ausstellung „Geh’n ma halt a bisserl blendung und in Ruhe auf den Weltuntergang, unter … – 100 Jahre Jura Soyfer“, Waschsalon Nr. 2, während die revoltierende Masse unterdrückt Karl‐Marx‐Hof, Wien. 2 wird. Oder, wie der arbeitslose Lechner Edi 3, Soyfer, Jura: Weltuntergang oder Die Welt steht auf der wissen möchte, warum es ihm so schlecht kein‘ Fall mehr lang, 1936. geht und denkt, dass der Mensch Ursprung al‐ 3 Aus dem Stück „Der Lechner Edi schaut ins Para‐ len Übels sei. dies“.

10

01-03.indd 10

14.11.12 23:19


feuilleton

MONSTER‐MAMA ALLEIN ZU HAUS Lynne Ramsays Romanverfilmung We need to talk about Kevin reiht sich in eine Riege von Filmen ein, die auf der Suche nach den Ursachen eines Amoklaufes sind – und scheitert daran ebenso wie seine Vorgänger.

D

iesmal ist es nicht wie so oft der soziale Au‐ ßenseiter, der Highschool‐Outlaw, der von den Eltern vernachlässigt wurde – man denke an Michael Moores Bowling for Columbine oder Gus van Sants Erklärungsansätze in Elephant, Kevin ist ein eigentlich wohlbehütetes Upper‐ class‐Kind, das zur Waffe greift, um sich an sei‐ nem Umfeld zu rächen. Wobei das Umfeld, das getroffen werden soll, in diesem Film in erster Linie die Mutter des Jungen ist. Die Rahmenhandlung setzt nach dem Amok‐ lauf ein. Die Mutter (Tilda Swinton) haust,

nachdem Eltern getöteter Mitschüler_innen Klagen gegen sie erhoben haben, in einer her‐ untergekommenen Bleibe in einer kleinen Ort‐ schaft, wo sie den Schmähungen der Nachbar_ innenschaft ausgesetzt ist. Mit roter Farbe werden ihr Haus und ihr Auto von den aufge‐ brachten Mitbürger_innen beschmiert. Das Rot ist die nicht unbedingt subtil gewählte Farbe, die sich durch den Film zieht. Doch der Schmä‐ hungen von Außen bedarf es eigentlich nicht, geht sie doch selbst hart mit sich ins Gericht, wenn sie sich an Kevins Heranwachsen erin‐ nert. Kevin scheint einer Spontanentscheidung der erfolgreichen Verfasserin von Adventure‐ Travel‐Literatur entsprungen. So findet sie sich nach ihrer Schwangerschaft entgegen all ihrer früheren Zukunftsvisionen in einem luxuriösen Vorstadtanwesen statt im Herzen von New York City wieder, verheiratet mit einem gutmütigen Teddy‐Daddy. Ihre daraus entsprungene Frust‐ ration und Überforderung mit der Mutterschaft geht an ihrem Kind nachvollziehbarerweise nicht spurlos vorüber.

Theresa Schmidt

Fieser Zwerg oder verhaltensauffälliges Kleinkind?

den für Kevins späteren Amoklauf verläuft sich zwangsläufig im Sand, wird doch das Böse, das Kevin innewohnt, mit mindestens ebenso viel Aufwand in Szene gesetzt. Hier bedient sich der Film altbekannter Thriller‐Elemente, der schwesterliche Hamster muss im Abfallzerklei‐ nerer landen, sie selbst ein Auge verlieren – neu ist hiervon nichts. Wie die mediale Suche nach den individuel‐ len und sozialen Ursachen nach jedem neuen Amoklauf, verliert sich auch dieser Film in der Ambivalenz zwischen der Faszination für das unerklärliche Böse und dem Wissen um dessen Erklärbarkeit. Umso schlechter, dass We need to talk about Kevin, abgesehen von den durch‐ gängig guten schauspielerischen Leistungen der DarstellerInnen, weder auf dramaturgischer noch auf ästhetischer Ebene die Schwächen der Handlung auszugleichen vermag.

Die Art und Weise, in der Kevins Konflikt mit der Mutter gezeichnet wird, erscheint jedoch unnötig überzogen. Es genügt nicht, dass der Kleine bis ins Grundschulalter hinein einkotet, er muss auch noch mit fiesen Äuglein die Mut‐ ter fixieren, die mit ihm Hausaufgaben macht, während er inbrünstig in die übergroßen Plas‐ tikwindeln kackt. Der Vater wird von dem Jungen mit viel Kalkül gegen die Mutter aus‐ gespielt. Vor ihm gibt er den liebenden Sohn, während er in der Zeit allein mit der Mutter ihr mit allen Mitteln das Leben zur Hölle macht. Die später geborene, unschuldig‐blonde Toch‐ ter der Familie wird nur als schablonenhafte Randfigur eingeführt, um dem/der Zuschauer_ in einmal mehr klarzumachen, dass in Kevin das dämonisch Böse lauert, an dem das Mäd‐ chen noch zu leiden haben wird. Die scheinba‐ We Need to Talk About Kevin (GB, USA 2011) re psychologische Spurensuche nach den Grün‐ Regie: Lynne Ramsay. 112 Minuten.

KOOPERATION, KOLLABORATION, KOLLEGIALITÄT (KOLLATERALSCHÄDEN …) "#$%$&%'(%

L’art pour l’art? – Prekär leben und arbeiten im kulturellen Bereich

A

ls feministisch orientierte und basisdemo‐ kratisch organisierte Kulturinitiative wollen wir Dinge nicht nur so erledigen, dass wir mit dem Resultat zufrieden sind, sondern auch auf eine Art und Weise, mit der wir zufrieden sind. Das bedeutet, die Arbeit so transparent zu ge‐ stalten, dass möglichst alle Einblick und Mit‐ spracherecht erhalten. Dies scheitert immer mal wieder. Nicht am fehlenden Willen der Beteilig‐ ten, sondern weil wir äußeren Zwängen unterlie‐ gen – Lohnerwerb, Privatleben, physische und psychische Einschränkungen, und nicht zuletzt den bestehenden Strukturen im sogenannten Kulturbetrieb und in der Kulturpolitik.

|||| + | = |||| Diese Strukturen waren es, die uns vor drei Jahren dazu bewogen, die Initiative fiveseasons

zu gründen. Dem voraus ging der Frust über Berufserfahrungen in Kulturbetrieben, die größtenteils von Männern dominiert und hi‐ erarchisch organisiert sind. Frauen in Füh‐ rungspositionen stellen bestehende Struk‐ turen oftmals nicht in Frage und führen den Laden wie zu Großvaters Zeiten. Bald stell‐ te sich uns die Frage nach der Authentizi‐ tät politisch‐kritischer Inhalte in Kunst und Kultur, wenn die Produktion denselben ka‐ pitalistischen und hierarchischen Zwängen unter‐ geordnet ist. Wir – Frauen aus unterschiedlichen Studi‐ en‐ und Arbeitsbereichen – teilten die Erfah‐ rung dieser immer unbefriedigender werden‐ den Arbeit, die ja meist trotzdem nicht zu einem Leben in einer toskanischen Villa führt. Mit der Initiative fanden sich Gleichgesinnte, die ihre Energie, Zeit und ihr Talent in Projekte einbringen wollten, die dann doch genussbrin‐ gend und erfüllend sind. Auch stellte sich im prekären Arbeitsalltag bald heraus, dass eine Bündelung von Energie,

Zeit und Talent vorteilhaft, ja sogar notwendig ist. So schafften wir mit fiveseasons ein Netz‐ werk, in dem Kulturarbeiterinnen ihre Ide‐ en und Konzepte frei und lustvoll realisieren können.

Ein Resonanzraum der Künste Aus diesen Gedanken heraus entstand das herbstklang, ein spartenübergreifendes Kunst‐ festival. Heuer zeigen vom 15. bis zum 23. No‐ vember 2012 Künstler_innen ihre kollaborati‐ ven Arbeiten. Es gibt bewusst weder inhaltliche noch genrespezifische Schwerpunkte – die Di‐ versität schafft so neue Räume, sowohl für die Kunstschaffenden als auch für das Publikum. Und nicht zuletzt für uns. Dem Festivalpublikum öffnet sich an den ersten zwei Tagen der Kulturraum des Café 7*Stern mit Werken von Künstler_innen aus den Bereichen Musik, Literatur und Film. Im Bockkeller kreieren Choreograph_innen und Künstler_innen rund um das Thema Kolla‐

borationen eine performative Spielwiese. Das zweite Festivalwochenende beginnen wir im Schikaneder, wo Filmschaffende sich mit Lite‐ rat_innen, Tänzer_innen und Musiker_innen zusammenschließen und die Kinoleinwand um neue Töne, Bilder, Körper und Wortflä‐ chen erweitern. Für das Finale im *Gschwand‐ ner lassen wir nach 50‐jähriger Kulturpause des ehemaligen Grand Etablissements ein ins‐ tallatives Setting aus digitalen 360°‐Litfaßsäu‐ len und Raumprojektionen entstehen, das sich mit Tönen aus Jazz, Elektronik, Minimal und Avantgarde‐Pop verbindet. Einen Abend lang im ehemaligen Glanz und Staub des letzten Jahrhunderts; einen Abend im Vergessen und gleichzeitigem Vergegenwärti‐ gen – wie können wir in einer historisch bedingt so kulturschweren Stadt wie Wien kulturell und künstlerisch frei gestalten? Wir arbeiten daran, unsere Ideen stehen nicht still. Das Netzwerk wächst und mit ihm unsere Infrastruktur. Wir wollen hier aber keinen Bausparvertrag ver‐ scherbeln, das ist sicher. Alles andere ist offen.

11

01-03.indd 11

14.11.12 23:19


gesellschaft

IM RECHTEN LICHT Judith Goetz Als „Fundgrube für politische Ausrutscher“ oder „Sündenregister“ der FPÖ wurde die neue Pub‐ likation Strache im braunen Sumpf von Hans‐Henning Scharsach bislang bezeichnet. Tatsächlich gibt der über 300 Seiten dicke Wälzer mit mehr als 1.000 Fußnoten einen detailreichen Überblick über den Werdegang Straches und der FPÖ unter seiner Führung, inklusive ihrer institutionellen und auch persönlichen Verbindungen zum organisierten Rechtsextremismus und Neonazismus. So versucht der ehemalige Kurier‐ und News‐Journalist unter anderem aufzuzeigen, wie aus Hai‐ ders ,Buberlpartie‘ Straches ,Burschenpartie‘ wurde, und liefert dabei eine Nachlese kleinerer wie auch größerer Skandale in der Partei sowie ein umfassendes Namensregister einschlägig aufgefal‐ lener FPÖlerInnen und Größen des Rechtsextremismus. Als Quellen dienen ihm für seine Recherche vor allem das Internet bzw. die Rechercheergebnisse anderer. Scharsach, der in Österreich bereits vor zehn Jahren durch die Bestseller Haiders Kampf und Haiders Clan bekannt wurde, hat damit vor allem mehr oder weniger bekannte Fakten zusam‐ mengetragen, neue Erkenntnisse bleiben aus. Vielmehr wird streckenweise der Eindruck erweckt, als hätte mensch Ähnliches schon in anderen Publikationen, beispielsweise jenen von Heribert Schiedel (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, DÖW), gelesen. Obgleich Schiedel nicht zitiert wird, würde Scharsach gerne zitiert werden – nämlich von jenen, die gegen die FPÖ aktiv sind. Das Buch soll nämlich „dem zivilgesellschaftlichen Widerstand Mut machen“, schließlich würde es nun keinen „Beweisnotstand“ mehr geben und etwaige Klagen der FPÖ könn‐ ten auf den Autor abgewälzt werden. Dass diese bislang jedoch ausgeblieben sind, mag vielleicht auch an den mangelnden neuen Erkenntnissen liegen. Scharsach, Hans‐Henning: Strache im braunen Sumpf. Wien: Kremayr & Scheriau‐Verlag, 2012, 24,– EUR

VERBUNDEN UND VERFEINDET Eine gemeinsame Geschichte von Distanz, Hass, aber auch Kooperation verbindet die katholischen und die mensurschlagenden Korporationen.

S

tudentenverbindungen – da denkt man an betrunkene Männer mit bunter Schärpe, die sich später die Jobs in der ÖVP und der FPÖ zuschanzen. Die wenigsten Menschen haben sich mit ihnen auseinandergesetzt, meist wird kein Unterschied zwischen Verbindungen des Cartellverbands (CV) und Burschenschaften gemacht. Tatsächlich gibt es viele Parallelen: ,schlagende‘ wie auch katholische Verbindun‐ gen sind durch ständische, männer‐ und le‐ bensbündische Traditionen geprägt; sie haben hierarchische Strukturen, trinken viel Bier, ha‐ ben interne Reglementierungen (‚Commente‘), regelmäßige Treffen (‚Convente‘) – und hal‐ ten an veralteten Traditionen, unzeitgemäßen Grundsätzen und Ritualen fest. Nach wie vor können Frauen keine vollwertigen Mitglieder werden. Allerdings betont besonders der ÖCV, nichts mit Burschenschaften am Hut zu haben. Stimmt das?

Zum Historischen Die Selbstbezeichnung ,Burschenschaften‘ meinte 1791 noch die Gesamtheit der Studen‐ ten an einer Universität. Friedrich Ludwig Jahn und Karl Friedrich Friesen übertrugen den Be‐ griff aber auf den deutschnational organisierten Teil der Studenten. 1815 wurde die Jenaer Ur‐ burschenschaft gegründet, und schon in ihrer ,Verfassungsurkunde‘ wird das deutsche Volk

verherrlicht. Bereits 1817 wurden beim bur‐ schenschaftlichen Wartburgfest Bücher von Autoren verbrannt, die gegen Deutschtümler wie Jahn angeschrieben hatten. Als erste ös‐ terreichische deutschnationale Burschenschaft gründete sich die rechtsextreme Burschen‐ schaft Olympia 1859 in Wien. Etwas früher, 1841, entstand in Innsbruck die erste österreichische katholische Verbindung, die Austria. Katholische Verbindungen, die heute in Österreich zumeist im ,Dachverband‘ des ÖCV zusammengeschlossen sind, stehen zwar in einer Traditionslinie mit den Burschen‐ schaften, gründeten sich allerdings auf spezi‐ fisch katholischen Grundwerten. Daher lehnen sie auch die ‚Mensur‘ ab, was zu heftigen Diffe‐ renzen zwischen den Verbindungen führte.

Kooperation Eine Zusammenarbeit bahnte sich erst unter den korporierten Kriegsteilnehmern des Ers‐ ten Weltkriegs durch die gemeinsame Fronter‐ fahrung an. 1919 kam es zu einem gemeinsa‐ men ‚Farbbummel‘ zwischen katholischen und schlagenden Studentenverbindungen an der Universität Wien. Weiters wurde 1919 auch die Deutsche Studentenschaft gegründet – eine Art Hochschülerschaft, die später im Nationalsozi‐ alismus aufging, und die über ein Jahrzehnt die Zusammenarbeit katholischer und schlagender Verbindungen auf Basis des Deutschnationa‐ lismus und Antisemitismus besiegelte: wahl‐ berechtigt waren beispielsweise nur ,Arier‘. Die Zusammenarbeit der beiden Lager gipfelte 1921 im Erlanger Verbände‐ und Ehrenabkommen, das die Einigkeit der katholischen und deutsch‐ national‐schlagenden Verbindungen zum Aus‐ druck bringen sollte.

Elias Stern

Als der Nationalsozialistische Deutsche Stu‐ dentenbund ab dem Ende der 1920er Jahre bei den schlagenden Verbindungen immer mehr an Einfluss gewann, häuften sich die Übergrif‐ fe auf CVler. Im Dezember 1932 schlugen bei‐ spielsweise Studenten in SA‐Uniform an der Uni Wien mit Stahlruten und Gummiknüppeln auf CVler ein. 1932 zerbrach die Allianz zwi‐ schen Verbindungen des Cartellverbands und Burschenschaften, dem Antisemitismus blie‐ ben damals aber beide Korporationen treu. Zur Zeit des Austrofaschismus war der CV eine tragende Säule des autoritären Staates – auch Engelbert Dollfuß, Wilhelm Miklas und Kurt Schuschnigg waren CV‐Mitglieder. Be‐ reits vor und auch nach dem ‚Anschluss‘ Öster‐ reichs an NS‐Deutschland waren indes zahlrei‐ che Burschenschaftler Mitglied der NSDAP und wurden in der SS und der SA aktiv. Aber auch ehemalige CV‐Verbindungsmitglieder enga‐ gierten sich später im NS. Nicht unerwähnt soll auch bleiben, dass andere CVler im Widerstand aktiv waren. Die Verbindungen selbst wurden 1938 allesamt aufgelöst, die Burschenschaften jedoch in die NS‐Kameradschaften und Alther‐ renbünde überführt. Im großen Unterschied zu den Burschenschaften schloss der CV nach 1945 Nationalsozialisten jedoch aus seinen Verbin‐ dungen aus – und wendete sich endgültig vom Deutschnationalismus ab.

Mangelnde Distanz CV und Burschenschaften können, wie diese auszugshafte Kurzgeschichte gezeigt hat, ge‐ nauso wenig losgelöst voneinander betrachtet werden wie sie auch nicht auf ihre Parallelen zu reduzieren sind. Trennendes ist nicht nur die Mensur, sondern auch die Rolle im Natio‐

nalsozialismus und der nach wie vor völkische Deutschnationalismus der Burschenschaften. Davon distanziert sich der CV zwar, aber auch an ihm ist zu kritisieren, dass sie sich bis‐ her kaum mit dem eigenen Antisemitismus aus‐ einandergesetzt haben. Auch die Zusammenar‐ beit mit schlagenden Verbindungen im Rahmen der antisemitischen Deutschen Studentenschaft oder die Unterstützung des antisemitischen Professors Taras Borodajkewycz in den 1960er Jahren, der CVler und NSDAP‐Mitglied war, wird gerne unter den Teppich gekehrt und ver‐ schwiegen. Nicht zu vergessen ist auch, dass es CVler waren, die nach 1945 ehemalige Natio‐ nalsozialisten in die österreichische Politik re‐ integrierten und im Jahr 2000 mit der schwarz‐ blauen Regierung Burschenschaften wieder salonfähig machten. Will der CV also an seiner öffentlich kundgetanen Position festhalten, mit Burschenschaften nichts am Hut zu haben, gibt es hier wahrlich noch einiges zu tun – und nicht zuletzt Selbstkritik zu üben. Auszughafte Literaturverweise und Tipps: Helmut Blazek, Männerbünde, Eine Geschichte von Faszination und Macht, Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2001. HochschülerInnenschaft an der Uni Wien (Hg.in), Völ‐ kische Verbindungen, Beiträge zum deutschnationa‐ len Korporationsunwesen in Österreich, Wien 2010. Gerhard Hartmann, Der CV in Österreich: Seine Ent‐ stehung, seine Geschichte, seine Bedeutung, Styria Verlag, Graz. Gerhard Popp, CV in Österreich 1864–1938, Organisa‐ tion, Binnenstruktur und politische Funktion, Her‐ mann Böhlaus Nachf., Wien – Köln, Graz, 1984 (Ausführliche Zitathinweise und eine vollständi‐ ge Literaturliste sind in der Online‐Version unter www.unique‐online.at ersichtlich.)

12

01-03.indd 12

14.11.12 23:19


gesellschaft

GESCHLECHT, PERFORMATIVITÄT UND SUBJEKTIVIERUNG Elena Barta

Warum es sich bei Forschungen zu Geschlecht lohnt, Butlers Konzept der Performanz kritisch zu bearbeiten.

O

ft wird der Vorwurf an feministisch‐dekons‐ truktivistische Erklärungsmodelle erhoben, sie würden Geschlecht für irrelevant erklären. Im Gegenteil ist es jedoch gerade aus einer de‐ konstruktivistischen Position heraus notwen‐ dig, den Fokus auf jene Momente zu legen, in denen geschlechtliche Subjektpositionen ent‐ stehen, um so ihre Beschaffenheit und ihre dis‐ kursive Macht zu verstehen. Andrea Bührmann, die sich aus dispositivanalytischer Perspek‐ 1 tive mit ‚weiblichen‘ Geschlechtsidentitäten um 1900 auseinandergesetzt hat, definiert Ge‐ schlecht als einen der zentralen Momente der Subjektwerdung: „Geschlechtlichkeit, d. h. sich weiblich oder männlich zu empfinden, bestimmte Verhaltensweisen geschlechtlich zu klassi‐ fizieren und Körper als entweder weiblich oder männlich zu erleben, darzustellen und auch von anderen geschlechtlich wahrge‐ nommen zu werden, stellt eine der zentra‐ len Subjektivierungsweisen moderner okzi‐ 2 dentaler Gesellschaften dar.“

Matrix reloaded Um die gesellschaftlichen Praktiken theo‐ retisch fassbar zu machen, also die Art und Weise, in der vergeschlechtlichte Subjektpo‐ sitionen hegemonial werden, lohnt es, Judith Butlers Konzept der Performanz hinzuzuzie‐ hen. Butlers Analysen zu Geschlecht verdich‐ ten sich in ihrem Modell der heterosexuellen Matrix, mit dem sie erklärt, dass Subjektpositi‐

onen in einer dreifachen Matrix aus sex, gender und desire kategorisiert werden. In der hege‐ monialen Vorstellung ergibt sich dabei durch die Reduktion auf scheinbar biologisch‐na‐ türliches sex automatisch eine naturalisierte Geschlechtsidentität, die fixe Geschlechter‐ rollen und Begehrensmuster beinhaltet: Neu‐ geborene werden über einen medizinischen Diskurs in die Kategorie männlich bzw. weib‐ lich eingeteilt (sex) und daraus resultierend zu Mädchen/Frau bzw. Junge/Mann (gender), wobei davon ausgegangen wird, dass sich ihr Begehren (desire) auf das jeweils komplemen‐ täre Geschlecht richtet, also heterosexuell ist. Brechen einzelne Individuen aus einer oder al‐ len Kategorien der heterosexuellen Matrix aus, reagiert das soziale Umfeld mit direkten und indirekten Repressions‐ und Exklusionsme‐ chanismen. Butlers Verwendung der Begriffe Performativität oder Performanz ist dabei ein Erklärungsmodell für die diskursive Herstel‐ lung einer heteronormativen Matrix und ihrer verkörperten Praxen.

bar mit Macht verbunden. Butler benutzt den Begriff, um zu beschreiben, wie durch Symbole, Zeichen und Sprechakte geschlechtsspezifische Identität markiert und hergestellt wird. Der vielzitierte Ausruf „Es ist ein Mädchen!“ bei der Geburt eines Neugeborenen ist demnach auch eine Aufforderung, sich einer bestimmten Ge‐ schlechtsidentität zu unterstellen, von einem Kind (es) zum Mädchen (sie), dann zur Frau zu werden 4. Die Aufforderung ist dabei nicht als Bitte, sondern als hegemonialer Zwang zu ver‐ stehen, der das Kind in eine Kategorie einord‐ net, ohne dass es selbst formulieren kann, in welcher und ob es sich in einer der angebotenen Geschlechtsidentitäten wiederfindet. Der per‐ formative Akt des Weiblichwerdens erfolgt dabei über die ständige, zitatförmige 5 Wiederholung und den Verweis auf die kulturelle Matrix der Zweigeschlechtlichkeit: „Wir dürfen die Geschlechtsidentität nicht als feste Identität oder als locus der Tätigkeit konstruieren, aus dem die ver‐ schiedenen Akte hervorgehen. Vielmehr ist sie eine Identität, die durch die stilisierte Wiederholung der Akte in der Zeit konstitu‐ Performanz und Macht iert bzw. im Außenraum instituiert wird.“ 6 Das Konzept der Performativität kommt ur‐ Dabei hat der performative Akt des Weib‐ sprünglich aus der Sprechakttheorie 3 und lichwerdens nur dann ‚Erfolg‘, wenn er mit ei‐ meint die Verbindung zwischen Gesprochenem ner Form des hegemonialen Geschlechterbildes und einer ausführenden, konkreten Handlung. übereinstimmt, dieses also zitiert. Dabei sind Sprechakte als Handlungen mit kon‐ kreten Folgen zu verstehen. Die Formulierung Matrix Revolutions „Mach das Fenster zu!“ impliziert beispielswei‐ se bereits eine nachfolgende Handlung (Fens‐ Die für die Geschlechtsidentität notwendige ter schließen, Gespräch über Fenster beginnen Wiederholung performativer Akte ist für But‐ etc.), die mit der Machtbeziehung zwischen ler auch Zeichen und Möglichkeit der subver‐ sprechender und aufgeforderter Person zusam‐ siven Veränderung hegemonialer Diskurse. menhängt (indem die sprechende Person bei‐ Nicht‐hegemoniale Geschlechterperformances spielsweise die Macht besitzt, die andere Per‐ können den Rahmen des diskursiv Möglichen son zum Schließen des Fensters zu zwingen). erweitern und verändern.7 Relevant ist hierbei Performativität ist daher wie Diskurs untrenn‐ aber auch der Verweis auf die Materialität von

vergeschlechtlichten Körpern, die in ihrer Aus‐ gestaltung Effekte hegemonialer Diskurse be‐ inhalten, aber trotzdem nicht mit Diskursen gleichgesetzt werden können.8 So ist beispiels‐ weise für die Analyse einer textlichen Quelle, wie sie die meisten Seminararbeiten vorsehen, ein Rückgriff auf Butlers Modell der Performa‐ tivität sinnvoll, wenn es darum geht, die Di‐ mensionen der im Text konstruierten hegemo‐ nialen Geschlechtervorstellungen zu begreifen. Gleichzeitig kann das Konzept der Performati‐ vität Aufschluss über die machtvollen Effekte von Diskursen in ihren Subjektivierungswei‐ sen geben, ohne den Anspruch zu erheben, Ge‐ schlecht oder gar Gesellschaft damit vollständig erklärbar zu machen. Anmerkungen: 1 Dispositivanalysen sind eine Erweiterung diskurs‐ analytischer Methoden. Verkürzt gesagt, nehmen sie zusätzlich zu Diskursen auch (nicht‐)diskursive Praktiken und materielle Effekte in den Blick. Die wichtigste deutschsprachige Einführung ist: Andrea Bührmann & Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse (Bielefeld 2008). 2 Andrea Dorothea Bührmann: Der Kampf um „weib‐ liche Individualität“: zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen in Deutschland um 1900 (Münster 2004), 24. 3 Der wichtigste und prägendste Theoretiker* ist da‐ bei John L. Austin, siehe u. a. John Langshaw Austin, Eike von Savigny: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words) (Stuttgart 1989). 4 Judith Butler: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (Berlin 1995), 29. 5 Ebd., 22. 6 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (Frankfurt am Main 1991), 206. 7 Ebd., 213–14. 8 Butler, Körper von Gewicht, 15–16.

13

01-03.indd 13

14.11.12 23:19


gesellschaft

HAPPY BIRTHDAY! 5 JAHRE MÄDCHENMANNSCHAFT Mädchenmannschaft ist ein feministisches Bloggerinnen*kollektiv und ein Blog, die 2007 gegründet wurden. Die Artikel sind thematisch breit gefächert und befassen sich mit Tagesgeschehen, Politik und feministischen Grundfragen. Daneben werden auch andere spannende Beiträge aus deutschsprachigen, feministischen Blogs vorgestellt. In den letzten Wochen hat der Blog besondere Aufmerksamkeit erhalten: durch sein Auftreten gegen Joko & Klaas, die in ihrer Show auf ZDFneo zu sexuellen Übergriffen anstifteten1, und durch die rassistischen Vorfälle bei seinem 5-Jahres-Geburtstagsfest2. Was ist die Idee hinter Mädchenmannschaft? Die Mädchenmannschaft will allen ein Diskus‐ sionsforum bieten, die sich feministisch veror‐ ten und/oder sich für feministische Perspek‐ tiven interessieren. Der Blog wurde vor fünf Jahren von Barbara Streidl, Meredith Haaf und Susanne Klingner im Zuge der Veröffentlichung ihres Buches Wir Alphamädchen – Warum Fe‐ minismus das Leben schöner macht gegründet, um Debatten aus dem Buch online weiterfüh‐ ren zu können. Welchen Zugang habt ihr zu Feminismus und wer kann bei euch mitschreiben? Die Autorinnen und Autoren der Mädchen‐ mannschaft haben keinen einheitlichen Zugang zu Feminismus: Aktivismus, Theorie, sozia‐ les Umfeld oder die eigene Familie. Wir versu‐ chen über verschiedene Felder beständig neue Zugänge zu feministischen Ideen zu erarbei‐ ten. Bei uns kann sich jede_r melden, die_der einen Text auf der Mädchenmannschaft veröf‐ fentlichen möchte oder fest in die Redaktion einsteigen will. Dafür haben wir vor einiger Zeit Kriterien erarbeitet, die uns als Kollektiv wich‐ tig sind, beispielsweise die eigene soziale Posi‐ tion beständig mitzudenken und zu hinterfra‐

Natascha Strobl

gen oder die eigene Perspektive transparent zu oder sind als Teilnehmerinnen aktiv. Einige von Ein geschützter Raum sollte diese Dinge im gestalten. Die Kriterien zur Mitarbeit sind auf uns engagieren sich in autonomen politischen Blick haben, sich die verschiedenen Positi‐ unserer Seite einsehbar, unter http://maedchen‐ Zusammenhängen. onen von Menschen in der Gesellschaft be‐ mannschaft.net/mitschreiben/. wusst machen und Platz lassen für Artiku‐ Bei eurem Geburtstagsfest zu 5 Jahre Mäd‐ lationen, die widerständig sind und auch die Im englischsprachigen Raum haben ja viele chenmannschaft haben sich Vertreterinnen* eigene Position kritisieren oder in Frage stel‐ feministische Bloggerinnen Kontroversen los‐ des Slutwalks Berlin wiederholt rassistisch len. Widersprüche müssen zugelassen und getreten. So haben sie z. B. auf Diskurse zur geäußert und damit weiße Dominanz und immer wieder neu verhandelt werden, statt ‚rape culture‘ oder zu sexistischen Stereotypen Abwehrmechanismen reproduziert. Wie kann sie zu übergehen. Das Potenzial geschützter in Videospielen Einfluss genommen oder diese in Zukunft verhindert werden, dass ein geschütz‐ Räume liegt für mich darin, Möglichkeiten initiiert. Können deutschsprachige Blogs ähn‐ ter Raum im feministischen Sinn anderen Dis‐ zu schaffen, über Widerstand nachzudenken lich einflussreich sein? kriminierungsmustern (ungewollt) eine Platt‐ und ihn ausformulieren zu können, ohne die Aus der Tatsache, dass wir nur online publizie‐ form bietet? Wie kann verhindert werden, dass tagtägliche Gewaltförmigkeit, denen Men‐ ren, ergeben sich unterschiedliche Ausschluss‐ ein weißer, bürgerlicher Feminismus zur Norm schen in unterschiedlichen Formen ausge‐ kriterien. Wir müssen mitdenken, dass nicht wird? setzt sind, zu reproduzieren. Das kann dann alle Menschen einen Internetzugang haben Ich weiß nicht, ob sich ein normsetzender‚ schon mal bedeuten, dass Anliegen, die mir oder an den Debatten, die im Netz stattfinden, weißer, ‚bürgerlicher Feminismus‘ in einer wichtig sind, nicht die oberste Priorität zuge‐ teilhaben können. Um diese Menschen zu errei‐ rassistisch strukturierten Gesellschaft grund‐ sprochen bekommen. chen und einzubeziehen, bedarf es aber nicht sätzlich verhindern lässt. Schon gar nicht, nur eigener Anstrengung, sondern eben auch wenn feministische Gruppen und ihre Arbeit Was ist das Fazit nach fünf Jahren Mädchen‐ des Willens der Mainstream‐Medien, auf das fe‐ nach wie vor sehr homogen sind und nur ei‐ mannschaft, was plant ihr für die Zukunft? ministische Expert_innenwissen zurückzugrei‐ nen Bruchteil der sozialen Positionen wider‐ Mädchenmannschaft hat sich seit der Gründung fen. Große Tageszeitungen und Onlineportale spiegeln und abbilden können. Ich finde es 2007 zum größten deutschsprachigen Internet‐ fungieren nach wie vor als Multiplikator_innen wichtig, sich die Auswirkungen der eigenen portal für feministischen (Netz‐)Aktivismus für feministische Inhalte. Es passiert allerdings sozialen Positionen immer wieder bewusst entwickelt. Seither wurde kontinuierlich dar‐ eher selten, dass ein Medium auf uns zukommt. zu machen, zum Beispiel mit eigenen Privi‐ an gearbeitet, das Team und das Themenspekt‐ Wenn feministische Perspektiven aus dem Netz legierungen konstruktiv zu arbeiten. Das be‐ rum der Mädchenmannschaft zu erweitern und in der Süddeutschen Zeitung auftauchen, dann deutet für mich, in bestimmten Situationen inklusiver für verschiedene feministische und weil wir und andere im Netz ein Thema auf die einen Schritt zurückzutreten, anderen Raum gesellschaftskritische Perspektiven und Ansät‐ Agenda gesetzt haben, das ihre Aufmerksamkeit zu überlassen, aber auch den Fokus auf be‐ ze zu machen. Das wollen wir natürlich fort‐ erregt, z. B . wenn wir sexistische Werbekampa‐ stimmte Themen zu verschieben. Machtver‐ führen und auch in Zukunft einen Raum bie‐ gnen oder die Zusammenarbeit der Deutschen hältnisse zeigen sich auch im Kleinen, etwa in ten, in dem Menschen, die durch feministische Bahn mit Abtreibungsgegner_innen kritisieren. meiner eigenen Themensetzung oder wie ich Mainstream‐Diskurse an den Rand gedrängt Insofern würde ich schon sagen, dass deutsch‐ Themen bearbeite, wie mein soziales Umfeld oder ausgeschlossen werden, sich willkommen sprachige feministische Blogs einen gewissen strukturiert ist oder mit wem ich im politi‐ fühlen mitzudiskutieren. Außerdem planen wir Einzugsbereich und Einfluss auf aktuelle poli‐ schen Austausch stehe. Ich kann den Wunsch eine feministische Terminseite, auf der alle Ver‐ tische Debatten haben. Ihr Expert_innenwissen nach großen Lösungen für große Probleme, anstaltungshinweise ihrer Umgebung eintragen wird aber in den seltensten Fällen als solches er‐ die Machtverhältnisse nun mal mit sich brin‐ können und damit zur Vernetzung beitragen. kannt und ernstgenommen. Den Grund dafür gen, nachvollziehen. Aber diese großen Lö‐ würde ich in einem allgemeinen gesellschaft‐ sungsversuche einer sich zur Norm erheben‐ Das Interview wurde mit Nadine Lantzsch von der lichen Backlash sehen, der sich seit etwa zehn den Gruppe, die keinen Widerspruch darin Mädchenmannschaft geführt. Wo sie nicht für Mäd‐ Jahren auch in der medialen Berichterstattung sieht, über andere, anstatt mit ihnen zu re‐ chenmannschaft als Kollektiv antworten kann, wird widerspiegelt. den, machen Differenzen und Brüche inner‐ dies auch explizit als ihre persönliche Sicht der Dinge halb der Gesellschaft und zwischen sozialen deutlich gemacht. Beteiligt ihr euch als Mädchenmannschaft Positionen sowie unterschiedliche politische an Projekten außerhalb des Internets und an Anliegen völlig unsichtbar. Sie wiederholen Anmerkungen: 1 direkten Aktionen wie Demos, Slutwalks usw.? damit die Auswirkungen von Machtverhält‐ http://maedchenmannschaft.net/uebergriffigkeit‐ Wir haben bereits Kampagnen, auch partei‐ nissen. Ich glaube einfach nicht, dass das ir‐ als‐boys‐fun‐beim‐zdf/ 2 übergreifende, mitgetragen, z. B. zum Hebam‐ gendwie emanzipatorisch oder ermächtigend Stellungnahme und Darstellung der Ereignisse: menprotest oder eine Unterschriftenaktion ge‐ wirken kann. Ich denke eher, dass so ein Vor‐ http://maedchenmannschaft.net/stellungnahme‐ gen Frauenministerin Kristina Schröder. Privat gehen Solidarität, Bündnisarbeit und damit aufgrund‐der‐ermoeglichung‐rassistischer‐repro‐ organisieren wir Demos und Veranstaltungen politische Veränderungen verhindert. duktionen‐bei‐mmwird5/

14

01-03.indd 14

14.11.12 23:19


gesellschaft

ARBEITSLOS – MIGRANTIN – FRAU Aminat 1 ist Mitte 50 und vor vier Aminat ist ,hauptberuflich‘ HausJahren aus Tschetschenien nach frau und Mutter Österreich geflüchtet. Catherine ist Aminat hat in Tschetschenien die Pädagogische Anfang 30 und hat ihre Karriere in Hochschule abgeschlossen und war kurzzeitig der Wissenschaft für die Liebe an als Literatur‐Lehrerin tätig. Seit ihrer Flucht Österreich wurde sie ausschließlich als den Nagel gehängt. Auf den ersten nach Reinigungskraft angestellt. Derzeit ist sie ge‐ Blick handelt es sich um zwei sehr ringfügig angemeldet und arbeitet auf Abruf. unterschiedliche Schicksale, den- Auch wenn durch diesen Job keine langfristige noch verbindet sie ein zunehmend Planungssicherheit gegeben ist, so wird er doch dringend benötigt, um die Miete bezahlen zu prekär werdender Alltag. können. Zudem erwartet ihr Ehemann von ihr

W

enn das Prekariat die soziale Mitte der Gesellschaft erreicht hat – wie sieht es dann an den Rändern aus? Am Beispiel dieser zwei Frauen sollen die Verstrickungen von po‐ litischen, ökonomischen und sozialen Fakto‐ ren sowie die individuellen Auswirkungen vor‐ handener sozialer Diskriminierungskategorien nachgezeichnet werden. „Als prekär gelten unregelmäßige Be‐ schäftigung, Teilzeitbeschäftigung mit weni‐ ger als 12 Wochenstunden und ein Bruttoein‐ kommen unter 1000 EUR/Monat (= 818 EUR netto), womit derzeit etwa ein Fünftel aller Beschäftigten in Österreich auskommen muss. Unregelmässige Beschäftigung ist typisch für freie Dienstverträge, Werkver‐ träge, Leiharbeit und befristete Beschäfti‐ gungsverhältnisse. Mit Ausnahme von Leih‐ arbeit ist unregelmäßige Beschäftigung relativ gleichmäßig auf die Geschlechter verteilt. Ganz anders bei Teilzeit‐ und ge‐ ringfügiger Beschäftigung, die nicht nur den Löwenanteil an prekären Beschäftigungs‐ verhältnissen ausmacht, sondern mit gut 2 80% fast ausschließlich Frauen betrifft.“

und den Töchtern die Bewältigung der repro‐ duktiven Arbeit. Jetzt, wo die Kinder etwas grö‐ ßer sind, möchte sie dennoch gerne Vollzeit ar‐ beiten, aber sie kann nicht. Durch Flucht, Schwangerschaft und Kinder‐ '()*'+,-./012/'3/4'*/52*-16/*22'(/7*'8'(/),/ Unterbrechungen der Arbeitsverhältnisse. Der Wiedereinstieg in die Lohnarbeit bzw. die be‐ rufliche Integration – vor allem in einem neu‐ en Land, konfrontiert mit der Fremdsprache Deutsch und im mittlerweile fortgeschritte‐ nen Alter – wird zunehmend schwieriger. Ihre produktive Arbeit besteht derzeit sozusagen in der Erfüllung der reproduktiven Arbeit anderer. 94'(/ 52*-16/ *36/ :(;+</ 8133/ 3*'/ 1=3/ 1-'(01--6'(/ Konventionsflüchtling nun überhaupt arbeiten darf, denn das war ihr als Asylwerberin bis auf wenige Ausnahmen verboten. Der Umgang mit dem Thema Reprodukti‐ onsarbeit in der Debatte prekärer Arbeitsver‐ hältnisse spiegelt den patriarchalen Diskurs wider, da diese als feminin konnotierten Tä‐ tigkeiten einfach als private Aushandlungs‐ sache ausgeblendet werden. Nicht nur in ein‐ kommensschwachen Familien, sondern auch in der sogenannten ‚sozialen Mitte‘ sind heute alle Familienmitglieder dazu aufgefordert, zum

Verena Rechberger

Familienunterhalt beizutragen. Das Konzept des alleinverdienenden Familienernährers ver‐ liert dadurch an Bedeutung. Die nun erwerbs‐ tätigen Frauen stehen nicht mehr ausschließ‐ lich für reproduktive Arbeiten zur Verfügung, wodurch auch das Konzept der traditionellen Hausfrau an Relevanz verliert. Gabriele Winker spricht in ihrem Artikel Prekarisierung und Ge‐ schlecht (2010) vor diesem Hintergrund von ei‐ ner Krise der Reproduktionsarbeit und betont damit nachdrücklich deren Einbeziehung in arbeitssoziologische Debatten. Denn um neue Lösungen zu finden, braucht es neue Perspek‐ tiven und so gilt es anzudenken, wie sich die re‐ produktiven Tätigkeiten auf die Biografien von Migrant_innen bzw. Frauen mit Migrationshin‐ tergrund auswirken.

Catherine: Am Ende der Romanze wurde es prekär …

weiß nichts von Catherines prekären Lebens‐ verhältnissen. Mit der Annahme dieser schlecht bezahlten Jobs ging auch ein großer Statusver‐ lust für sie einher: als Unidozentin putzt sie nun Klos und servierteBurger. Da ihr Mann auf einer Scheidung besteht, lebt sie nicht nur arbeits‐ technisch prekär, sondern ist nun auch mit der drohenden Abschiebung aus Österreich kon‐ frontiert. Darum sucht sie mittlerweile wieder nach Jobs im Ausland. In ihrem Fall wird beson‐ ders deutlich, wie engmaschig Aufenthaltssta‐ tus und Lohnarbeit verknüpft sind und wie pre‐ kär deshalb Migrant_innen leben, die in beiden Bereichen eine hohe Abhängigkeit, aber gerin‐ gen Einfluss haben. In der Debatte um prekäre Arbeits‐ und Le‐ bensverhältnisse werden nationalstaatliche Zugehörigkeiten und Immigrationspolitiken oft ausgeblendet. Diese schaffen Ausgrenzun‐ gen und Abhängigkeiten, welche die Betroffe‐ nen nicht nur vor prekäre Arbeitsverhältnisse stellen, sondern durch die Unsicherheiten auf‐ grund ihres Aufenthaltsstatus in prekäre Le‐ 4'-3>'(+?=6-*33'/36@()'-A/52*-16/,-8/B16+'(*‐ ne bilden dabei keine Ausnahme. „Zwölf Prozent aller Erwerbsfähigen in Österreich, also etwa 500.000 Personen, gelten als prekär beschäftigt, mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Menschen mit Mi‐ grationshintergrund sind mit 15% verstärkt von prekärer Beschäftigung betroffen.“ 3 Und täglich werden es mehr.

Catherine ist für ihre große Liebe nach Öster‐ reich migriert und versucht nun seit rund ei‐ nem Jahr, sich beruflich zu integrieren. Auf den Phi‐lippinen hat sie als Dozentin an der Uni ge‐ arbeitet und nebenbei auch eine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht. Beides wurde ihr in Österreich, trotz bürokratischem Hür‐ denlauf, nicht anerkannt. Als die Beziehung zu bröckeln begann und ihr Mann sie aus sei‐ ner Krankenversicherung streichen ließ, war sie gezwungen, prekäre, häufig irreguläre Jobs anzunehmen. Diese wurden ihr über das phil‐ ippinische Netzwerk angeboten, um ihren Zu‐ gang zum Gesundheitssystem zu erhalten. So Anmerkungen: 1 arbeitete sie als Putzfrau und in der Fast‐Food‐ Die Namen wurden von der Redaktion geändert. 2 Gastronomie, um zumindest etwas Geld für www.prekaer.eu/zahlen‐fakten‐prekariat/v – Zugriff ihre Familie in den Philippinen zusammenzu‐ am 31.10.2012 sparen. Ihre Familie wartet sehnsüchtig auf ihre 3 Ebd. Unterstützung aus dem ,reichen Europa‘ und

ÖSTERREICHISCHE KELLER … // Zu Anfang ein Blick über den österrei‐ chischen Tellerrand: FPÖ‐Obmann Strache war Anfang November anlässlich des 20‐jäh‐ rigen Friedensvertrags von Oslo in Israel und zeigte sich widersprüchlich und opportunis‐ tisch. Bei inoffiziellen Treffen mit hochran‐ gigen PolitikerInnen setzte er sich – je nach‐ dem, mit welcher Seite er sprach –, sowohl für die Ein‐ wie auch für die Zweitstaatenlösung ein. In einem Impulsreferat in Jerusalem be‐ tonte er das Selbstbestimmungsrecht der Völ‐ ker. Im Gespräch mit Scheich Tamimi, dem obersten Richter der palästinensischen Au‐ tonomiebehörde, gab er sich hingegen ver‐

ständnisvoll, als dieser ihm erklärte, dass laut der Scharia der Verzicht auf historisch musli‐ misch besiedeltes Land verboten sei. Als Fazit wiederum betonte er das „Selbstverteidigungs‐ recht Israels gegen konkrete Bedrohungen“. // Zu den hiesigen FPÖ‐Machenschaften: Von seiner Israel‐Reise zurück, hetzte Strache wie‐ derholt, diesmal in einer von der FPÖ initiier‐ ten Nationalrats‐Sondersitzung „Sicherheit statt Asylmissbrauch“ Ende Oktober, gegen AsylwerberInnen. // Österreich ist anders und hofiert mit der Eröffnung des saudi‐arabisch finanzierten König‐Abdullah‐Zentrums für interreligiöse Angelegenheiten ein vor allem

Frauen und Homosexuelle verachtendes Re‐ gime; das Zentrum soll nun trotz Protesten fix am 27. November in Wien eröffnet werden. // Von Wien nach Salzburg: Die österreichische Extremwerbefläche Felix Baumgartner, die ne‐ benbei wegen Körperverletzung angeklagt ist, wünscht sich laut einem Interview der Kleinen Zeitung eine „gemäßigte Diktatur“. // Eine Toch‐ terfirma des Baumgartner‐Sponsors Red Bull produzierte den Thriller Harodim, der mit der Namensgebung der Gewalttäter antisemitische Klischees reproduziert. Walter Köhler, lang‐ jähriger Chef der ORF‐Naturfilmreihe Univer‐ sum und Produzent des antisemitischen Strei‐

fens, verteidigt die Namensgebung. // Zurück nach Wien: Die Tageszeitung Österreich veröf‐ fentlichte am 25. 10. einen Bericht über einen Überfall von drei Frauen auf einen Taxifahrer in Wien. Für besonders wichtig hielt die Redak‐ tion die sexistischen Hintergrundinformatio‐ nen: „Es war nicht allein die Haarfarbe, weshalb beim Coup ohne IQ alles schiefging.“ // In Wien beschloss die Bundesegierung am 9. November neben weiteren Uni‐Zugangsbeschränkungen eine nationalistische Studiengebührenrege‐ lung. Studierende aus Nicht‐EU‐Ländern müs‐ sen in Zukunft wieder doppelt so viel, nämlich 736,72 EUR an Studiengebühren zahlen. //...

15

01-03.indd 15

14.11.12 23:19


wissenschaft

DOMINANZ UND DIFFERENZEN Weißer 1 Feminismus, Antirassismus und die Frage der Solidarität

F

eminismus und Antirassismus – das ist bis heute eine schwierige und viel diskutierte Verbindung. Es ist bekannt, dass sich einzelne feministische Positionen passgenau in rassisti‐ sche Weltbilder und Kampagnen einfügen und selbst Rechtsextreme, die erzreaktionäre Vor‐ stellungen von Geschlecht und Geschlechter‐ verhältnissen vertreten, zu Verteidiger_innen von ‚Frauenrechten‘ mutieren, sobald damit Stimmung gegen sogenannte ‚Fremde‘ oder ge‐ gen ‚den Islam‘ gemacht werden kann. Schwe‐ rer wiegt allerdings, dass das Ausspielen von feministischen und antirassistischen Überzeu‐ gungen auch vor progressiven Kontexten nicht Halt macht. Ein Grund dafür ist – so möchte ich argumentieren –, dass es sich beide Seiten in solchen Auseinandersetzungen recht woh‐ lig eingerichtet haben. Nur allzu leicht schlägt dann die (selbst‐)kritische Reflexion in Über‐ legenheitsdünkel um, während vermeintliche Solidarität, in der festen Überzeugung, auf der ‚richtigen‘ Seite zu stehen, nicht nach ihren eigenen Wirkungen fragen kann und will. Es bleibt eine Herausforderung, feministische Po‐ sitionen zu entwickeln, die eine radikale Absa‐ ge an Gewalt‐ und Herrschaftsverhältnisse im globalen Rahmen mit einem Verständnis der ei‐ genen unentrinnbaren Eingebundenheit in die‐ se Verhältnisse verbinden.

Widersprüche sichtbar machen Gleich vorneweg: Alle, die nun auf die Lösung der komplexen Fragen warten, wird dieser Ar‐ tikel enttäuschen – mir geht es viel eher dar‐ um, die auftretenden Widersprüche erst ein‐ mal sichtbar (und damit auch bearbeitbar) zu machen. So wie sich der heutige Stand der fe‐ ministischen und queer‐feministischen Aus‐ einandersetzungen nur als Ergebnis des jahr‐ zehntelangen Debattierens, Analysierens und Theoretisierens von Feministinnen verstehen lässt, so werden sich auch aktuelle Problemstel‐ lungen nur in kollektiven Prozessen bearbei‐ ten lassen. Prozesse, zu denen das praktische Tun, das Ausprobieren (und auch das Schei‐ tern) ebenso gehören wie die (selbst‐)kritische Reflexion. Die Perspektive, die ich hier entwi‐

ckeln möchte, scheint mir dafür sinnvolle An‐ satzpunkte zu liefern. Am einfachsten lassen sich die Widersprü‐ che an einem konkreten Beispiel ausführen: Vor einiger Zeit rief eine Petition gegen Steini‐ gungen im Iran auf einer feministischen Mai‐ lingliste heftigen Widerspruch hervor: Der Text argumentiere in rassistischer Art und Weise, verwende traditionelle kolonialistische Kli‐ schees und sei ein Beitrag zur weiteren Verfesti‐ gung europäischer Überlegenheitsdünkel. Soli‐ darität mit den Betroffenen im Iran könne nicht geleistet werden, indem rassistische Diskurse in den Metropolen gestärkt würden – so die Kritik in Kurzfassung. Befürworterinnen der Petition hielten dagegen, dass angesichts der angedroh‐ ten brutalen Form der Todesstrafe keine Rück‐ sicht auf die sogenannte political correctness und Politiken auf diskursiver Ebene genommen werden könne. Den Kritikerinnen wurde vorge‐ worfen, irrelevante akademische Spielereien auf dem Rücken der von extremer Gewalt Bedroh‐ ten im Iran zu betreiben. Zudem sei die Petition von den Kindern einer Betroffenen verfasst und daher eher die Kritik daran ein Ausdruck kolo‐ nialer Gesinnung als die Unterschrift darunter. Soweit also die Ausgangssituation, die sich – aktuell insbesondere in der feministischen Aus‐ einandersetzung mit dem anti‐muslimischem Rassismus einerseits und patriarchalen Struk‐ turen innerhalb islamischer Communities und Gesellschaften andererseits – in ähnlicher Form an vielen Beispielen zeigen ließe. Im Hintergrund der Auseinandersetzung scheint mir dabei eine grundsätzliche Frage zu stehen: jene nach dem Stellenwert der soge‐ nannten ‚epistemischen Gewalt‘ und der damit verbundenen Macht‐ und Herrschaftsverhält‐ nisse. Das Konzept der ‚epistemischen Gewalt‘ wird in postkolonialen und antirassistischen Ansätzen verwendet, um die gewaltförmige Di‐ mension des dominanten Wissens über ‚Ande‐ re‘, das in kolonialen und rassistischen Diskur‐ sen erzeugt wird, deutlich zu machen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Werden in der weißen feministischen Debatte muslimische Frauen als passive und handlungsunfähige Opfer und muslimische Männer als patriarchale Gewalt‐ täter dargestellt – beides angebliche Folgen ei‐ ner vermeintlich ‚islamischen Kultur‘ – so le‐ gitimieren diese Bilder nicht nur unmittelbare rassistische Gewalt und Diskriminierung (z. B. in Form von sogenannten Einbürgerungstests

Stefanie Mayer

oder direkten, physischen Angriffen im öf‐ fentlichen Raum), sie sind selbst gewalttätig: Sie sprechen den so Gezeichneten eigenstän‐ diges Denken und (gar politisches) Handeln ab, bringen sie als Subjekte zum Verschwinden und verhindern jede Auseinandersetzung auf Augenhöhe.

Möglichkeiten schaffen, um sinnvolle politische Fragen zu stellen Der ‚Trick‘ der epistemischen Gewalt besteht darin, dass sie den von ihr Betroffenen und je‐ nen, die sich mit ihnen zu solidarisieren ver‐ suchen, auch die Mittel zum Kampf raubt: Dominante Diskurse lassen sich nicht einfach umgehen, sie geben vor, in welchen Begriffen und welchen (meist dichotomen) Logiken ge‐ dacht werden kann – und sie binden auch op‐ positionelle Positionen und Äußerungen dar‐ in ein. Darum macht es beispielsweise keinen Sinn, der Behauptung einer besonderen Nei‐ gung muslimischer Männer zu patriarchaler Gewalt mit ‚Informationen‘ und ‚Richtigstel‐ lungen‘ begegnen zu wollen. Viel eher muss es darum gehen, mit dekonstruktiven Strategien die Basis des rassistischen Diskurses – also bei‐ spielsweise den Glauben an eine statische und einheitliche ‚Kultur‘ – zu erschüttern, um über‐ haupt die Möglichkeit zu schaffen, sinnvolle politische Fragen zu stellen. Wie problematisch es ist, wenn feministische, sich als progressiv verstehende, Positionen solchen dominanten Diskursen und ihrer Gewalt direkt in die Hän‐ de spielen, leuchtet daher fraglos ein. Auch dass sich diese Frage der Komplizinnenschaft umso dringender für weiße Aktivist_innen stellt, die – damit endlich der jahrelangen Kritik von Mi‐ grantinnenbewegung und Schwarzen Femi‐ nistinnen folgend – ihre eigene privilegierte Position in den Strukturen der Dominanz re‐ flektieren wollen/müssen, ist klar. Allerdings ist das Problem mit diesem – selbst schon ziemlich anspruchsvollen – Pro‐ gramm einer Kritik von Dominanzstrukturen und ‚unserer‘ eigenen Verstricktheit darin lei‐ der nicht gelöst: Der Fokus kritischer Strate‐ gien auf die epistemische Gewalt dominanter Diskurse hat seinen Preis. Was dabei aus dem (kritischen) Blick verschwindet, sind nämlich gerade jene ‚Anderen‘, gegen deren (Miss‐)Re‐ präsentation in dominanten rassistischen und kolonialistischen Diskursen sich die Kritik

richtet. Um auf das zuvor angeführte Beispiel zurückzukommen: Die Frage, ob und wie un‐ ter den gegebenen Bedingungen Solidarität mit durch Steinigung bedrohten Menschen zu üben wäre, wurde von den Kritikerinnen der Petition nicht mehr gestellt. Als Menschen mit Überzeugungen, Zielen und Wünschen – kurz als politische Subjekte, die unter gesellschaftli‐ chen Bedingungen kämpfen, die sich von ‚un‐ seren‘ unterscheiden –, tauchten sie in diesen Positionen nicht auf. So kann sich eine verscho‐ bene Form des Eurozentrismus – sozusagen durch die Hintertür – wieder in die kritischen und postkolonial informierten Diskurse ein‐ schleichen. Wenn die Dekonstruktion domi‐ nanter Diskurse zur zentralen antirassistisch‐ feministischen Aufgabe wird, führt dies rasch zu Ausschlüssen: zum Ausschluss jener, die zu diesen Diskursen keinen Zugang haben, eben‐ so wie zum Ausschluss jener, deren Kämpfe auf anderen Ebenen geführt werden müssen.

Akzeptanz verschiedener Zielsetzungen Wenn wir (notwendig plurale und dialogisch verfasste) Feminismen anstreben, die sich der globalen Utopie einer herrschaftsfreien Gesell‐ schaft verschreiben, dürfen die beiden Ebenen des Engagements – Solidarität mit von pat‐ riarchaler Gewalt Betroffenen einerseits und antirassistische Interventionen in dominan‐ te Diskurse andererseits – nicht gegeneinan‐ der ausgespielt werden. Damit ist nun gerade kein wechselseitiges Kritikverbot gemeint, aber doch die Akzeptanz beider Zielsetzungen als notwendig, wenn auch nicht widerspruchsfrei, verbundene. Anmerkungen: 1 Ich verwende ‚weiß‘ in diesem Text im Sinne der Critical Whiteness Studies zur Markierung des do‐ minanten Pols in den vielfältigen, durch Ethnisie‐ rungsprozesse geschaffenen Machtverhältnissen. Dementsprechend beschreibt weiß eine soziale Posi‐ tion und bezieht sich nicht unmittelbar auf die Haut‐ farbe oder ‚Herkunft‘. Ich möchte damit deutlich machen, dass der weiße Feminismus nicht der ‚allge‐ meine‘, der ‚normale‘ Feminismus ist, von dem sich dann beispielsweise der Schwarze Feminismus oder die Migrantinnenbewegung als ‚Sonderfälle‘ abgren‐ zen lassen würden – auch wenn in Österreich der wei‐ ße Feminismus klar die dominante Form darstellt.

16

01-03.indd 16

14.11.12 23:19


psycho

Während sich um Sigmund Freud fast eine Art Personenkult gebildet hat und er uns von After-Therapy-Mints, Therapiebällen, Tassen und T-Shirts skeptisch entgegenlächelt, hat sich die psychoanalytische Theorie weniger fest im gesellschaftlichen Mainstream verankert. Doch gerade in der Skepsis und Ablehnung, mit der ihr oft begegnet wird, zeigt sich ihr kritisches Potential. Geht es ihr in der psychoanalytischen Therapie gerade nicht darum, die zugerichteten Individuen möglichst schnell wieder in den kapitalistischen Verwertungsprozess einzugliedern, sondern den Dingen auf den Grund zu gehen, bietet sie ebenso das theoretische Rüstzeug, um allgemeine gesellschaftliche Phänomene und Tendenzen zu erklären. Dabei verliert sie das Individuum jedoch nie aus den Augen. Denn die Konzeption des psychischen Apparats lässt dem Subjekt genügend Spielraum, um auf individuelle Art und Weise auf die Spannung zu reagieren, die sich aus gesellschaftlichen Ansprüchen und dem Wunsch nach Triebbefriedigung ergibt. Es kann sich seiner eigenen Situation sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse bewusst werden und auf diese reflektieren, was es also auch nicht aus der Verantwortung für sein Handeln entlässt. Einführend erzählt der Schwerpunkt auf Seite 18 die historische Entwicklung der Psychoanalyse nach, von der Entdeckung der sogenannten ‚Redekur‘ zur Etablierung und schließlich Diversifizierung einer eigenständigen Disziplin. Auch wenn die Psychoanalyse nach wie vor umstritten ist, so haben sich doch Begriffe wie Verdrängung oder Unbewusstes in unser Alltagsvokabular eingeprägt. Insofern sprechen wir alle Freud, ob korrekt oder nicht. Um eine korrekte Darstellung der theoriegeschichtlichen Entwicklung der Psychoanalyse ist der Artikel Verführung und Verrat auf Seite 19 bemüht. Dass Freud seine Verführungstheorie zugunsten der Theorie der infantilen Sexualität und des Konzepts des Ödipuskomplexes verwarf, ist keineswegs als Verrat an von sexuellen Missbrauch Betroffenen zu sehen. Viel eher offenbart der Artikel das kritische Potential der Analyse, die ein komplexes Zusammenspiel zwischen Phantasien, Wünschen und Realität herausarbeitet und so das Individuum in seiner spezifischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweise ernstnimmt.

analyse that – psycho

Die Ablehnung der Psychoanalyse durch viele Feministinnen scheint auch gerade in Bezug auf Freuds Sexualtheorie unbegründet. Denn Freud konzipierte Sexualität nicht als Mittel zur Fortpflanzung, sondern stellte den Trieb und damit die Lust und deren Befriedigung in den Fokus seiner Theorie. Weil er den Faktor X, das andere der Sexualität, berücksichtigte, sind seine Konzepte wichtig für feministische Theoriebildung, wie der Artikel auf Seite 20 erläutert. Freuds Sexualtheorie ermöglicht ebenso, eine befreite Sexualität zu denken. Denn das polymorph-perverse Lustempfinden des Säuglings wird erst durch die gesellschaftlichen Zurichtungen auf die Genitalien fixiert. So kann auf Seite 21 gezeigt werden, dass die Politisierung der Sexualität im NS – entgegen gängiger Annahmen – durchaus gewisse Freizügigkeiten zuließ, aber dennoch repressiven Charakter hatte, weil sie eben genitalfixiert statt polymorph pervers war. Auf Seite 22 wird erklärt, wie mittels Freuds Konzept des psychischen Apparats eine Psychoanalyse des Antisemitismus versucht werden kann. Weil bestimmte Triebregungen nicht direkt erfüllt werden können, muss das Ich andere Wege finden, um diese abzureagieren. Die Projektion der eigenen, unerfüllten, weil gesellschaftlich tabuisierten, Wünsche auf andere Objekte macht das Phänomen des Antisemitismus psychoanalytisch ‚erklärbar‘, wenn auch nicht entschuldbar. Welches revolutionäre Potential in der Psychoanalyse steckt, zeigt nicht zuletzt auch die Verfolgung von PsychoanalytikerInnen und deren Werke und Schriften durch die Nazis, wie der Artikel auf Seite 23 anhand von Einzelschicksalen nacherzählt. Das Reflexionsvermögen der Individuen zu stärken und die Verstrickungen der Einzelnen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen, ist Ziel der Psychoanalyse. Gedankenfreiheit als Existenzbedingung der Psychoanalyse anzunehmen, scheint daher nicht weit hergeholt. Auch die Wiener Gesellschaft für Psychoanalyse (WPV) wurde von den Nazis zerstört. Mittlerweile bildet der Verein jedoch wieder PsychoanalytikerInnen aus. In dem Interview auf Seite 24 erzählen zwei KandidatInnen von ihren Erfahrungen in der Ausbildung und dem Stellenwert der Analyse in der heutigen Gesellschaft. Und falls ihr nach all dieser Lektüre nun Lust habt, selbst eine Analyse zu beginnen, wünschen wir euch viel Glück, Geduld und Geld.

17

01-03.indd 17

14.11.12 23:19


psycho

„WIR ALLE SPRECHEN FREUD, OB KORREKT ODER NICHT.“1 DIE ANFÄNGE DER PSYCHOANALYSE Die Psychoanalyse zählt heutzu- dadurch erstmals mit der ‚Redekur‘ in Berüh‐ tage zum festen Bestandteil der rung. Nachdem er mehrere Fälle von ‚Hysterie‘ behandelt hatte und zu denselben Ergebnissen Medizin und der psychologischen wie Breuer kam, veröffentlichten die Kollegen Forschung. Doch wie kam es dazu, 1895 die Studie über Hysterie, das erste Werk in 2 dass sie die Macht des Unbewuss- der Geschichte der Psychoanalyse. ten entdeckte? Scharlatanerie und die Sexualität der Frau chon bevor Sigmund Freud für seine Theo‐

Amra Duric

lichte. In diesen Studien erklärt Freud, Frauen würden aufgrund ihrer Penislosigkeit an einem „anatomischen Defekt“ leiden. Anfangs wün‐ sche sich das Mädchen, ebenfalls einen Penis zu haben, später verschiebe sich dies zum Wunsch der Frau nach einem Sohn, um den ‚Defekt‘ zu kompensieren. Somit erschwerte Freud vielen Frauen, sich in ihrem eigenen Körper wohlzu‐ fühlen. Der Analytiker Erich Fromm war der Meinung, dass Freuds Theorien über die Frau rien als Begründer der Psychoanalyse geehrt Neben der Redekur wählte Freud die Methode als „kastrierter Mann“ dem allgemein männ‐ wurde, beschäftigte sich der Wiener Arzt Josef der Hypnose, um seine PatientInnen zu behan‐ lichen Bedürfnis der Herrschaft über Frauen Breuer 1880 mit dem Fall der Bertha Pappen‐ deln. Für andere MedizinerInnen dieser Zeit entspränge. heim und stieß somit als Erster in die bis dahin kam Hypnose als eine Heilungsmethode gar unerforschten Bereiche des Unbewussten vor. nicht erst in Frage, da sie im Allgemeinen als Internationale Anerkennung der Bertha Pappenheim kam aufgrund eines Scharlatanerie angesehen wurde. 1875 wandten Psychoanalyse Hustens zu Dr. Breuer. Dieser stellte jedoch französische und deutsche Ärzte die Hypnose bald fest, dass das Mädchen nicht erkältet war, erstmals in einem als seriös geltenden Kontext Ab 1904 wurde die Psychoanalyse wesentlich sondern unter einer ‚Hysterie‘ litt, der damali‐ an. Angesichts der Erfolge der Hypnose in der aufgewertet. Der Schweizer Psychiater Eugen gen ‚Modediagnose‘ bei unspezifischen neuro‐ Medizin änderten österreichische KollegInnen Bleuler, international angesehener Leiter der tischen Störungen von Frauen (oder so einge‐ letztendlich ihre Meinung. Züricher Nervenklinik Burghölzli, wandte die ordnetem abweichendem Verhalten). Als 1905 die Sexualtheorie von Freud veröf‐ Freudschen Methoden erstmals bei Menschen Breuer wandte eine für die damalige Zeit un‐ fentlicht wurde, reagierten viele KollegInnen an, die unter einer Psychose oder Schizophre‐ übliche Behandlungsmethode an, die sich so ge‐ jedoch schockiert. Der damalige Medizinalrat nie litten. staltete, dass sich Bertha ihre psychischen und Wilhelm Weygandt etwa sagte empört: „Freuds Freuds Praxis florierte zu dieser Zeit mit Pa‐ physischen Leiden, welche durch verdrängte Theorien gehen die Wissenschaft nichts an, sie tientInnen hauptsächlich aus der gehobenen Konflikte entstanden waren, ‚weg‘erzählte. In‐ sind vielmehr Angelegenheit der Polizei. Sei‐ Mittelschicht. Die Psychoanalyse zog immer dem sich das Mädchen an die ursprünglichen ne Behandlung ist etwas wie eine Massage der mehr PatientInnen an und Damen aus reichem 3 Ereignisse erinnerte, konnte sie ihre körper‐ Geschlechtsorgane.“ Hause ließen ihre ‚Wehwehchen‘ nur bei Dr. lichen Symptome wie Husten oder Lähmung Jedoch wurden Freuds Theorien im mora‐ Freud behandeln. Ein gesellschaftlicher Trend kurieren. lisch zugeknöpften BürgerInnentum der Jahr‐ war geboren. Da sich Breuer nicht im Klaren darüber war, hundertwende auch durchaus positiv auf‐ Immer mehr StudentInnen wollten von dass er eine neue Methode zur Heilung psy‐ genommen. Durch seine kompromisslose Freud unterrichtet werden und der Kreis, wel‐ chisch bedingter Krankheiten entdeckt hatte, Sprache und die Ansicht, Frauen und Männer cher sich um ihn bildete, nahm bald den Cha‐ unterließ er es, seine Beobachtungen zu veröf‐ sollten gleichermaßen über das Thema Sexu‐ rakter einer privaten Akademie an. Ab 1906 gab fentlichen. Erst Jahre später ging der Fall Pap‐ alität informiert sein, setzte er die Diskussion Freud diesem Zirkel den Namen Wiener Psy‐ penheim unter dem Pseudonym Anna O. in die ‚sexueller Perversionen‘ auf die Tagesordnung. choanalytische Vereinigung (WPV). Vier Jahre Geschichte ein. Obwohl sich die Gemüter bis heute an Freuds später wurde auf einem Kongress in Nürnberg Freud, der als Gründervater der Psychoana‐ Theorien über Frauen scheiden, war er doch ei‐ die Internationale Psychoanalytische Vereini‐ lyse gilt, versuchte erfolglos, auf die bahnbre‐ ner der ersten MedizinerInnen, der das Sexu‐ gung gegründet.4 chenden Ergebnisse von Breuer aufmerksam zu alleben der Frau sehr wichtig nahm. Zu seiner Freud beschäftigte sich sein Leben lang in‐ machen. Zeit maß man dem Liebesleben der Frauen so tensiv mit der Psychoanalyse und entwickelte So geriet Breuer in Vergessenheit und selbst gut wie keine Bedeutung bei. Das Vergnügen seine Theorien stetig weiter. Zu seinen frühen Freud wandte sich Jahre später aufgrund per‐ am Sex war ein Privileg des Mannes, die Frau Hauptwerken zählen u. a. Die Traumdeutung sönlicher Differenzen von ihm ab. sollte ihm dabei nur behilflich sein. Von Frau‐ (1900), Zur Psychopathologie des Alltagslebens 1886 eröffnete Freud seine Facharztpraxis in en wurde er wiederum kritisiert, als er die Ab‐ (1901) und Drei Abhandlungen zur Sexualthe‐ der Berggasse in Wien. Anfangs vermittelte ihm handlungen über den Mythos vom vaginalen orie (1905). Als der Erste Weltkrieg ausbrach, Breuer einige seiner PatientInnen. Freud kam Orgasmus und Das kastrierte Weib veröffent‐ verfasste er den Essay Zeitgemäßes über Krieg

S

und Tod, der sich dem Thema des Völkermords widmet. Während des Krieges wurden Freuds analy‐ tische Methoden von MilitärärztInnen ange‐ wandt, um die seelischen Zusammenbrüche von Frontsoldaten zu lindern. Im Laufe der Jahre machten immer mehr AnalytikerInnen die Psychoanalyse zu ihrem Lebenswerk. Einer von ihnen war der aus Un‐ garn stammende Michael Ballint. Unter der Prämisse des Ödipuskomplexes erforschte er die Grundstörungen von Säuglingen und Kleinkindern. Im 20. Jahrhundert haben viele Theoretike‐ rInnen die Psychoanalyse weiterentwickelt. Es bildeten sich unterschiedliche Strömungen und Ausrichtungen aus, wodurch die Psychoanaly‐ se sehr facettenreich wurde. Unter anderem er‐ langte Anna Freud als Mitbegründerin der Kin‐ deranalyse Weltruhm. Der Engländer Donald W. Winnicott gehörte ebenfalls zu den Analy‐ tikerInnen, die Freuds Begriffsapparat erwei‐ terten. Zu den bekanntesten Ergebnissen seiner Forschung gehört sein Konzept vom wahren und vom falschen Selbst.5 Die Errungenschaften der Psychoanalyse sind heutzutage wichtiger Be‐ standteil unseres Lebens und der Forschung. Durch diese hat der Mensch bezogen auf seinen Körper und Geist einiges dazugelernt. Weiters wurde durch die Psychoanalyse das Unbewuss‐ te anerkannt. Durch diesen progressiven und re‐ volutionären Aspekt ist der Mensch im Stande, über seine eigene Psyche zu reflektieren.6 Anmerkungen: 1 Gay, Peter: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit. Fischer Verlag. Frankfurt/Main 2006. 2 Breuer, Josef / Freud, Siegmund: Studien über Hyste‐ rie. Fischer Verlag. Frankfurt/Main 1970. 3 Koesters, Paul‐Heinz: Die Erforscher der Seele. Ver‐ lag Gruner + Jahr AG & Co. Hamburg 1985. 4 Storr, Anthony: Freud. Herder/Spektrum Meisterden‐ ker. Verlag Herder. Freiburg im Breisgau 2004. 5 Winnicott, Donald Woods: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Psychosozial Verlag. Gießen 2002. 6 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Ar‐ chäologie der Humanwissenschaften. Verlag Suhr‐ kamp. Berlin 1971.

18

01-03.indd 18

14.11.12 23:19


psycho

VERFÜHRUNG UND VERRAT Über eine Theorie, die Sigmund Freud aufstellte, kurz darauf weiterentwickelte, und die nachträglich für große Furore sorgte.

I

im Frühjahr 1896. Doch Freud arbeitete wei‐ ter und kam über die Erkenntnis, dass auch bei psychisch unauffälligen Personen frühkindliche sexuelle Erinnerungen vorhanden sind, schließ‐ lich zu seiner Theorie des Ödipuskomplexes und der infantilen Sexualität. Wenn jedoch je‐ des Kind eine kindesspezifische Form der Se‐ xualität hat, dann kann die Konfrontation mit Sexuellem nicht per se als Ursache der Hysterie angesehen werden. Bei der Weiterentwicklung seiner Theorie ging es Freud nicht darum, früh‐ kindlichen Missbrauch anzuzweifeln; es stand für ihn Zeit seines Lebens außer Frage, dass sol‐ che Übergriffe mit zuweilen traumatisierender Wirkung stattfanden. Der Schwerpunkt seiner Betrachtungen verschob sich jedoch auf dem Weg zur Theorie der infantilen Sexualität inso‐ fern, als Freud erkannte, dass auch Phantasie als Realität missverstanden werden und dadurch die gleiche Wirkmächtigkeit wie die Realität entfalten kann: eine Erkenntnis, die ausschlag‐ gebend für die danach folgende theoretische Konzeption wurde, welche die Psychoanalyse im strengen Sinne überhaupt erst begründete. Es ging nun weniger um das Ereignis an sich, als vielmehr darum, wie das Individuum Erfah‐ rungen verarbeitet und mit Triebansprüchen, Wünschen und Phantasien vermittelt.

m Frühjahr 1896 hielt Sigmund Freud einen Vortrag vor dem Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Zu dieser Zeit hatte er sich bereits mit Josef Breuer, dem Mitherausge‐ ber der Studien über Hysterie, überworfen und tauschte sich stattdessen zumeist mit Wilhelm Fliess über seine theoretischen Überlegungen aus. Zum Glück für die Nachwelt, denn die Brie‐ fe, die Freud an Fliess schrieb, sind bis heute erhalten und ermöglichen es uns, nachträglich seine theoretische Entwicklung nachzuvollzie‐ hen. Auf jenem besagten Vortrag in Wien stell‐ te er seine neusten Überlegungen vor, welche später als „Verführungstheorie“ bekannt wer‐ den sollten. Hatte Freud zuvor ganz allgemein traumatische Ereignisse in der Kindheit als Ur‐ sache für Hysterie angenommen, so präzisierte er diese Überlegungen nun dahingehend, dass Traumata stets verfrühten sexuellen Erfahrun‐ gen geschuldet seien. Die Erinnerungen an die‐ se Erfahrungen würden vom Bewusstsein nicht abgespalten, sondern lediglich verdrängt, um in der Pubertät durch erneute Konfrontation mit Kritik als Abwehr Sexualität – quasi nachträglich – wirkmächtig zu werden: Erkenntnisse, die Freud aus der Ar‐ Anfang der 1980er Jahre machte sich Jeffrey beit mit HysteriepatientInnen gewonnen hatte. Masson daran, den Briefwechsel zwischen Sig‐ mund Freud und Wilhelm Fliess vollständig he‐ rauszugeben. In der zuvor verfügbaren Ausgabe Phantasie und kindliche Sexualität des Briefwechsels fehlten zum einen einige Brie‐ fe, die Masson erstmals von den Nachkommen Zu diesem Zeitpunkt lag bereits ein langer Trial‐ von Fliess erhalten oder in Archiven gefunden and‐Error‐Weg der theoretischen Konzeption hatte. Zum anderen wurden in der Erstausgabe hinter Freud: Angefangen bei den Versuchen, einige Stellen, hauptsächlich informelle Plän‐ Hysterie durch das Wegsprechen der Symptome keleien, Ausführungen zu den Theorien Fliess’ unter Hypnose zu heilen, über die Suche nach und persönliche, einem privaten Briefwechsel den Erlebnissen hinter den einzelnen Sympto‐ gemäße Äußerungen zu anderen Fachleuten men und das Ausleben der damit in Verbindung weggelassen. In die letzte Kategorie fällt wohl stehenden Affekte (Breuers Arbeit mit Anna auch ein von Masson in seine Neuausgabe auf‐ O. ist das bekannteste Beispiel dieser katharti‐ genommener Brief: In diesem beschreibt Freud schen Methode) gelangte er zu der Feststellung, die Ereignisse des zu Beginn erwähnten Vor‐ dass hinter jeder Erinnerung eine weitere liege, tragsabends beim Wiener Verein für Psychiatrie und dass dies bei all seinen PatientInnen bis in und Neurologie und die distanzierten Reaktio‐ die frühste Kindheit reiche. Das war der Stand nen der anwesenden „Esel“ und er beendet seine

Elisabeth Uebelmann

Ausführungen mit dem abschätzigen Satz: „Sie können mich alle gern haben, euphemistisch 1 ausgedrückt.“ Aus den neuen Details, die Masson zutage gefördert hat, sowie der Arbeit Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung von Marianne Krüll – die besonders im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde –, entwickelten sich Spe‐ kulationen über die Hintergründe von Freuds Aufgabe der sogenannten Verführungstheorie. Masson nahm eine wissenschaftliche Isolati‐ on Freuds seiner (Verführungs‐)Theorie we‐ gen an, welche ihn dazu gebracht habe, diese zu revidieren. Krüll hingegen vermutete, wie der Titel ihres Buches schon erahnen lässt, un‐ gelöste Konflikte in der Vater‐Sohn‐Beziehung Freuds und eventuelle Übergriffe, die Freud in seiner Kindheit erlebt habe, seien der Grund, weshalb er sich mit frühkindlicher Traumatisie‐ rung nicht mehr auseinander setzen wollte bzw. konnte. Dies sind nur zwei Beispiele, doch die Liste der unterstellten persönlichen Motive ist schier endlos. Der Vorwurf jedoch, der dabei ge‐ gen Freud erhoben wurde, war meist derselbe: Freud habe seine Patientinnen verraten. Doch ging es KritikerInnen wie Masson und Krüll selbst nur vordergründig um diese. Die Verführungstheorie als nahezu behavioristi‐ sche Reiz‐Reaktionstheorie missverstehend, fand es beispielsweise Masson nicht notwendig, eigene Überlegungen zur Ätiologie der Hyste‐ rie oder zu den Folgen von frühkindlicher Trau‐ matisierung anzustellen. Stattdessen projizier‐ ten er wie auch Krüll ihre Spekulationen über die Person Freud unmittelbar auf die von ihm entwickelte Theorie, womit sich die erhobenen Einwände als bloße Instrumente erwiesen, die Freudschen Erkenntnisse zur kindlichen Sexu‐ alität zu entsorgen. Während Krüll mittlerwei‐ le ihre Sommer dem Staunen über die spiritu‐ elle Ausstrahlung von Kornkreisen widmet und Masson nur noch Bücher darüber schreibt, wa‐ rum Tiere die besseren Menschen seien, halten sich die von ihnen erhobenen Anschuldigungen gegen Freud hartnäckig weiter und verweisen auf den psychischen Mehrwert, der sich aus ih‐ nen schlagen lässt: Erinnerungen können nach‐ träglich durch Wünsche und Triebansprüche verändert werden, um Kränkungen zu entge‐

hen. Genauso kann die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse nachträglich so dargestellt werden, dass die Kränkung, die die psychoana‐ lytische Theorie im Allgemeinen bedeutet, aber auch die Kränkungen, die sie durch ihre kli‐ nische Praxis in jedem Individuum aufdeckt, verdrängt oder zumindest geleugnet werden können.

Trauma und Behandlung Jenseits solcher Abwehr zeigt sich jedoch, dass Traumatisierten besser geholfen werden kann, wenn die Komplexität des psychischen Prozes‐ ses aufgedeckt und reflektiert wird, anstatt die Einzelnen und ihre Erfahrungen monokausalen Ableitungen zu unterwerfen, wie sie aus der An‐ nahme eines unmittelbaren Zusammenhangs von Ereignis und traumatischer Reaktion resul‐ tieren. Das Verhältnis und Zusammenspiel von Realität und Phantasie ist von zentraler Bedeu‐ tung für die Behandlung: Tatsächliche Ereignis‐ se hinter Erinnerungen dürfen nicht als Phanta‐ sie missverstanden werden; zugleich ist jedoch auch die Annahme einer komplett unverfälsch‐ ten Kindheitserinnerung ein Mythos. Freud als Entdecker der infantilen Sexualität war stets da‐ rum bemüht, dies zusammenzudenken. Anmerkungen: 1 Jeffrey M. Masson (Hg.): Sigmund Freud. Briefe an Wil‐ helm Fliess 1887–1904. Fischer. Frankfurt 1986. S. 193. Literaturhinweise: Werner Bohleber: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche 54 (9–10) 2000. Josef Breuer / Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Fischer. Frankfurt 2007. Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie. In: Gesam‐ melte Werke. Band I. Fischer. Frankfurt 1999. Winfried Knörzer: Einige Anmerkungen zu Freuds Aufgabe der Verführungstheorie. Psyche 42 (2) 1988. Marianne Krüll: Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbin‐ dung. Psychosozial‐Verlag. Gießen 2004. Jeffrey M. Masson (Hg.): Sigmund Freud. Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904. Fischer. Frankfurt 1986. Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Rowohlt. Hamburg 1984.

19

01-03.indd 19

14.11.12 23:19


psycho

DER FAKTOR X Psychoanalyse und Feminismus haben zumindest eines gemeinsam: Sie sind der öffentlichen Meinung suspekt.

D

em Feminismus wird unterstellt, ‚alles‘ auf eine vermeintliche Geschlechterdifferenz zu reduzieren und die Psychoanalyse – so heißt es – wolle ‚alles‘ im Rahmen eines universalen, se‐ xuellen Konflikts erklären. Dem lässt sich nicht einfach widersprechen, lautet doch der präzise Vorwurf, Psychoanalyse und Feminismus gäben lediglich vor, in der Sexualität den Schlüssel zum menschlichen Zusammenleben gefunden zu haben. Dass Sigmund Freud (wie aus seinen Publikationen deutlich hervorgeht) u. a. auch seine eigenen Träume und Phantasien zum Ge‐ genstand seiner Forschung gemacht hat, reicht auch heute noch aus, um Wissenschaftlichkeit und Relevanz psychoanalytischer Theoriebil‐ 1 dung in Frage zu stellen. Nicht immer wird klar, welchem wissenschaftlichen Paradigma die Kritik folgt. An prominenter Stelle findet sich 2010 Michel Onfray, dessen Buch zur ‚Ent‐ 2 zauberung der Psychoanalyse‘ in Frankreich so große Wellen schlug, dass Elisabeth Roudinesco sich zu einer Gegenpublikation3 veranlasst sah. Onfrays Buch Anti‐Freud folgt – wie die deut‐ sche Übersetzung des Titels verrät – vor allem dem Bedürfnis Onfrays, sich an seinem konst‐ ruierten Feindbild ‚Freud‘ abzuarbeiten. Auf diese Weise disqualifiziert sich Onfrays Konstruktion der Figur Freud für eine theorie‐ bezogene Debatte ebenso wie jener antifemi‐ nistische Diskurs, der neuerdings wieder da‐ mit beschäftigt ist, ‚den‘ Feminismus als eine Art Urhorde rachsüchtiger Frauen zu entwer‐ fen. Wenn dann noch Alice Schwarzer für die‐ sen rachgierigen Feminismus Modell stehen muss, sind die rhetorischen Parallelen kaum zu übersehen. ‚Die‘ Psychoanalyse und ‚der‘ Feminismus zimmern sich aus individuellen Kränkungen eine Philosophie, so in etwa lau‐ tet ein Vorwurf. Neben einer generellen Theoriefeindlichkeit ist hier also keine kritische, sondern eine von Miss‐ trauen geprägte Haltung zu verzeichnen. Der Ver‐ such, Sexualität im menschlichen Zusammen‐ leben theoretisch zu berücksichtigen, stößt auf Widerstand. Bedenkt man, dass der Faktor Se‐ xualität medial fast uneingeschränkt ausgebeutet wird, ist dieses Misstrauen bemerkenswert. In der uns vertrauten, vom Kapitalismus schwer gezeich‐ neten Welt ist ‚das Sexuelle‘ allgegenwärtig. Es re‐ giert, sofern es sich in der Pervertierung eines Be‐ gehrens objektivierbar macht.

Saskia Alice Hnojsky

Gerne wird gegen die Psychoanalyse ins Feld geführt, dass sie mit der Ablösung einer repres‐ siven Sexualmoral durch die Generation der 1968er an Aktualität verloren hat. Die Proble‐ matisierung sexueller Tabus sei folglich nicht mehr ‚zeitgemäß‘. Leider erinnert dieses (sehr alte) Argument an jenes, das den Feminismus abschaffen will, weil Frauen seit 1918, als ihnen in Österreich das allgemeine Wahlrecht zuer‐ kannt wurde, ohnehin gleichberechtigt sind. Selbstverständlich ist nicht auszuschlie‐ ßen, dass sich der Faktor Sexualität seit Freud gewandelt hat. Möglicherweise haben sich ge‐ wisse Schamgrenzen verschoben, Tabus wur‐ den aufgehoben und andere errichtet. Doch an der Tatsache, dass es eine spezifisch menschli‐ che Sexualität – den Faktor X – gibt, ändert sich nichts. So steht heute eine permanent verfügba‐ re, konsumierbare Sexualität einer unverfügba‐ ren und widerständigen Sexualität gegenüber – einer ‚anderen‘ Sexualität, die eben nicht zur Sprache kommen kann.

Spuren des ‚Anderen‘ Freuds Konzept einer menschlichen Sexuali‐ tät, die nicht mit den biologischen Funktionen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung in De‐ ckung zu bringen ist, stützt sich auf einen für die Psychoanalyse zentralen und vielfältigen, aber auch gerne missverstandenen Begriff: Den Trieb (der vom Instinkt abzugrenzen ist).4 Ihn definiert Freud in Triebe und Triebschicksale (1915) als „Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsen‐ tant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen auferlegt ist.“ (Herv. S.H.)5 Aus dieser Definiti‐ on geht hervor, dass ein lokalisierbarer Drang alleine nicht ausreicht, um einen Trieb zu arti‐ kulieren. Erst wenn ein Drang mit der Kraft ei‐ ner Vorstellung verbunden ist, kann von einem Trieb im Freud’schen Sinn gesprochen werden. Während der nach einem Ziel strebende Drang und die lokalisierbare Quelle uns verhältnismä‐ ßig wenig Aufschluss über die psychische Struk‐ tur des Triebes geben, enthüllt eine nähere Be‐ trachtung der Objektwahl die Vorstellungskraft als den Motor der Triebbefriedigung. Konsti‐ tutiv mit der Objektwahl verbunden ist der im Menschen verankerte Verlust eines früheren Be‐ friedigungsobjekts, dessen Wirkung sich auch in späteren Objekten niederschlägt. Den Spu‐ ren im Körper erinnerter Befriedigungserlebnis‐ se folgend, ist menschliche Lust mehr Lustsu‐ che als pure Befriedigungslust. An dieser Stelle

wird deutlich, dass sich der Trieb vom Instinkt gelöst hat. Die Lust bildet zwar eine Klammer zwischen Trieb und Instinkt, doch während im Instinkt die Lust der Befriedigung untergeord‐ net ist, steht der Trieb im Bann einer nicht wie‐ der zu gewinnenden Erinnerung.

„Die menschliche Entwicklung, die Entwicklung der Sexualität, wird damit nicht vom Ich aus, sondern vom Anderen, Fremden, Unverfügbaren her konzipiert.“6 Die Einschreibung der Lust geschieht durch den/die Andere/n, mit der/m jedoch – wie Jean Laplanche betont – kein symmetrisches Ver‐ hältnis möglich ist. Der/die Andere/r bleibt eine unbestimmbare Größe und prägt den Ort unserer Subjektkonstitution. Judith Butler in‐ terpretiert Freud dahingehend, dass nur die Einschreibung der Lust in unsere Körper durch eine/n Andere/n uns den Zugang zu unseren Körpern – auch auf epistemologischer Ebene – eröffnet.7 Erst die Erogenisierung einer Kör‐ perzone erlaubt ihre Abgrenzung von einer be‐ nachbarten Körperregion. Weil Freud eine „Verbindung zwischen dem Prozess der Erogenität und dem Bewußtsein körperlichen Schmerzes“ 8 herstellt, können sowohl Jaques Lacan als auch Butler zeigen, wie Freud die Herausbildung des Ichs als kon‐ flikthafte Auseinandersetzung zwischen Kör‐ perbildern und Körperempfindungen entwirft. Freud eröffnet den Weg für Lacan, dessen Spie‐ gelstadium die Genese einer über projektive Identifizierung hergestellten imaginären Mor‐ phologie beschreibt. Lacan betont damit, dass Freud den Motor des Triebs im Imaginären er‐ kennt. Es sind Vorstellungen, Phantasien, Erin‐ nerungen und Träume, die dem Trieb eine par‐ tielle und passagere Befriedigung gewähren.9 Dieses Unbestimmbare, Andere und Partielle, der Faktor X, den Freud in seiner Konzeption

der menschlichen Sexualität berücksichtigt hat, wird gerne auf eine ‚weibliche‘ Sexualität proji‐ ziert. Es ist also nur eine Frage der Betrachtung, ob das nachhaltige Unbehagen der Freudschen Psychoanalyse oder den Feministinnen zur Last gelegt wird. Anmerkungen: 1 Zur Wissenschaftstheorie der Psychoanalyse. PSY‐ CHE – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwen‐ dungen. 66. Jahrgang, Heft 7/2012. 2 Onfray, Michel: Anti‐Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Knaus Verlag. München 2011. 3 Roudinesco, Elisabeth: Doch warum soviel Hass? Verlag Turia & Kant. Wien 2011. 4 Laplanche, Jean: Trieb und Instinkt. Forum Psycho‐ analyse 1/2003. 5 Freud (1915), 84. 6 Quindeau (2011), 9. 7 Butler bezieht sich u. a. auf folgende These: „[…] die Art, wie man bei schmerzhaften Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist viel‐ leicht vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt.“ Freud (1914), 266. 8 Butler (1997), 93. 9 Vgl. Seifert (1987), 55–90. Literatur: Butler, Judith: Der lesbische Phallus und das morpho‐ logische Imaginäre, in: dies.: Körper von Gewicht. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 1997. Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. (1914), in: ders.: Das Ich und das Es. Metapsycholo‐ gische Schriften. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1992. Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale (1915), in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1992. Seifert, Edith: Was will das Weib? Zu Begehren und Lust bei Freud und Lacan. Quadriga Verlag. Wein‐ heim‐Berlin 1987. Quindeau, Ilka: Wie wird man heterosexuell? Neues vom Sexuellen aus psychoanalytischer Sicht. Queer Lectures. Männerschwarm Verlag. Hamburg 2011.

20

01-03.indd 20

14.11.12 23:19


psycho

GENITALFIXIERT STATT POLYMORPH‐PERVERS

Ljiljana Radonic

Politisierung von Sexualität im Nationalsozialismus und heute

D

as Klischee, ‚die Frau‘ sei im Nationalsozia‐ lismus als Mutter und „Hüterin des Blutes“ zwar aufgewertet, „jedoch gleichzeitig entsexu‐ alisiert und biologischer Zweckmäßigkeit un‐ terworfen“ worden, wie das die AG Gender‐Kil‐ 1 ler behauptet , hat sich spätestens mit Dagmar Herzogs Politisierung der Lust im Nationalsozi‐ 2 alismus erledigt. Die New Yorker Historikerin hat gezeigt, dass die NationalsozialistInnen im Gegenteil sexuelle Freizügigkeit gefördert haben. Im NS wurde definiert, wer mit wem Sex haben durf‐ te; die Verfolgung und Folterung Homosexu‐ eller lieferte „den Hintergrund für die ständi‐ gen Empfehlungen, heterosexuellen Kontakten freudig nachzugehen“. Das in der NS‐Zeit füh‐ rende Handbuch für Sexualberatung emp‐ fahl ganz offen den Gebrauch von Kondomen, die im Überfluss vorhanden und an Automa‐ ten erhältlich waren, von denen viele dann in den 1950er Jahren abmontiert wurden. Das Re‐ gime setzte ferner in einer Art Doppelstrate‐ gie die Enttabuisierung vor‐ und außereheli‐ chen Geschlechtsverkehrs durch und leugnete dies zugleich: Im Bund Deutscher Mädel (BDM) wurden junge Mädchen zum vorehelichen Ge‐ schlechtsverkehr ermutigt. NS‐AutorInnen ver‐ teidigten aber nicht nur Sex vor‐ und außerhalb der Ehe, sondern betonten auch die Rolle der Leidenschaft innerhalb der ehelichen Gemein‐ schaft und wiesen LeserInnen auf die Erregbar‐ keit der Klitoris hin.

Schuldabwehr und verdrängte Sexfreundlichkeit Dass die Sexualpolitik im NS so deutlich den heute gängigen Darstellungen widerspricht, er‐ klärt Herzog mit einer Verschiebung der Dar‐ stellungsweise: „Ein Haupteffekt des ‚Normali‐ sierungsprozesses der fünfziger Jahre‘‚ bestand dann auch darin, dass die sexfreundlichen Sei‐ ten des Nationalsozialismus in Vergessenheit gerieten. Vor den eigenen Kindern oder dem Rest der Welt zuzugeben, dass man am Dritten Reich durchaus Vergnügen gefunden hatte, ließ sich mit der erfolgreichsten Taktik der Nach‐ kriegsdeutschen im Umgang mit ihrer Schuld […] nicht vereinbaren“.3

Wovon Herzog jedoch keinen Begriff zu haben scheint, ist die Bestimmung der Art der Sexu‐ alität. Sie unterscheidet nur zwischen ehelich und außerehelich, zu Fortpflanzungszwecken oder zur Lustbefriedigung dienlich, und wun‐ dert sich ein Stück weit darüber, dass diese ge‐ gensätzlichen Vorstellungen im NS nebenein‐ ander existiert haben. Die Feststellung, dass der NS konventionelle und insbesondere kirchliche Vorstellungen von Sexualität und Familie über Bord warf und zugleich verteidigte, liest sich in massenpsychologisches Vokabular übersetzt je‐ doch so gar nicht überraschend: Nachdem die Last der Kultur abgeworfen und das schlecht verinnerlichte Über‐Ich veräußerlicht wurde, bestimmte im NS statt der inneren Autorität, dem rigiden Über‐Ich, der Führer, was erlaubt war und was nicht. „In seiner Eigenschaft als kollektives Über‐Ich ist der Führer imstande, die Masse zu einem einzigen Gruppen‐Ich zu‐ sammenzuschweißen, das – je nach seinem Willen – emotionale Triebabfuhren entfesselt oder bremst“, schreibt Ernst Simmel4.

Herrschaftsstabilisierende Entsublimierung Herbert Marcuse prägte für dieses Abwerfen der Last der Kultur den Begriff der repressiven Entsublimierung. Mit Sublimierung versuch‐ te Sigmund Freud diejenigen „menschlichen Handlungen, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind, deren treibende Kraft aber der Sexualtrieb ist“, zu fassen – etwa wenn man Lustgewinn durch Kunst oder Musik erfährt. Die repressive Entsublimierung bezeichnet Marcuse als herrschaftsstabilisierend, weil sie „die Trieb‐ revolte gegen das bestehende Realitätsprinzip“ schwächt. Die Libido trägt dabei „weiterhin das Kennzeichen der Unterdrückung und manifes‐ tiert sich in den scheußlichen Formen, die in der Kulturgeschichte so wohlbekannt sind: in den sadistischen und masochistischen Orgien ver‐ zweifelter Massen, ‚gesellschaftlicher Eliten‘, ver‐ hungerter Söldnerbanden, der Aufseherhorden in Gefängnissen und Konzentrationslagern“.5 Sadistische Triebentladungen hängen mit ver‐ drängten eigenen Wünschen der abgeschnitte‐ nen Teile des Eros, die auf das Nicht‐Identische projiziert werden, zusammen. Herzogs Befunde sind um die Tatsache zu ergänzen, dass auch die Sexualität der ‚ArierInnen‘ im NS eine in höchs‐ tem Maße zugerichtete, genitalfixierte war.

Freud bezeichnete einen Säugling als poly‐ morph‐pervers, da er sich selbst mit all seinen Körperorganen und Öffnungen Liebesobjekt ist. Die Gesellschaft versagt jedoch über die fa‐ miliäre Erziehung dem Kind zusehends die ora‐ le und anale Befriedigung, stellt die Ekelschran‐ ke auf und verbietet gleichgeschlechtliche Beziehungen. Diese tabuisierten Partial triebe leben jedoch unter dem genitalen Supremat weiter. Je rigider gesellschaftliche Vorstellun‐ gen von Normalität und Reinheit der Sexualität sind, umso mehr verdrängt man die Partialtrie‐ be bei sich selbst und verfolgt sie bei anderen. Von jeder möglichen Bewusstwerdung aus‐ geschlossen, erzwingen sie pathologische Re‐ aktionsweisen auf das Auftauchen verbotener Wünsche. Herzog begreift also ‚saubere Sexu‐ alität‘ und ‚vorehelichen Sex‘ als Widerspruch, weil sie keinen Begriff davon zu haben scheint, dass das Verwerfen traditioneller und religiöser Vorstellungen über Ehe und Familie keinen Wi‐ derspruch zur Verdrängung von als ‚unsauber‘ empfundenen Partialtrieben darstellt, die man bis zur Vernichtung an anderen verfolgt.

dem Hass auf andere führt, wie Marcuse aus‐ führt: „Die Organisation der Sexualität weist die Grundzüge des Leistungsprinzips und sei‐ ner Organisierung der Gesellschaft auf. Freud betont den Aspekt der Zentralisierung: Die Partialtriebe entwickeln sich nicht frei zu ei‐ ner ‚höheren‘ Stufe der Befriedigung, die ihre Ziele beibehielte, sondern werden abgeschnit‐ ten und zu Hilfsfunktionen reduziert. Dieser Prozeß erreicht die sozial notwendige Desexu‐ alisierung des Körpers: die Libido wird in ei‐ nem Teil des Körpers konzentriert, wodurch fast der ganze übrige Körper zum Gebrauch als Arbeitsinstrument frei wird.“7 In unseren Breitengraden führt diese repres‐ sive Entsublimierung im Moment nur in Einzel‐ fällen zu der Ausrottung der verhassten Parti‐ altriebe an jemand anderem. Doch das Wissen um den Mechanismus, eigene verdrängte Trie‐ be am Anderen zu verfolgen, ist unabdingbar, um zu erklären, warum angeblich schlecht ver‐ schleierte Frauen auf der Straße mit Säure ver‐ ätzt und im Iran Schwule an Baukräne gehängt werden. Hierbei muss auf zwei wesentliche Un‐ terschiede zum NS hingewiesen werden: den NS als extreme Vorwegnahme ge- entscheidenden Stellenwert der Religion und Geschlechtersegregation, also das genaue samtgesellschaftlicher Tendenzen die Gegenteil von Libertinage. Doch die allzu rea‐ Worüber Herzog aber sehr genau Bescheid le Ausrottung eigener, verdrängter Partialtriebe weiß, ist, dass der auf seine Art freizügige Um‐ an Frauen und Homosexuellen folgt demselben gang mit der Sexualität im Nationalsozialis‐ Funktionsprinzip. mus Ähnlichkeiten mit dem Versuch der se‐ xuellen Befreiung durch die 68er nach der Anmerkungen: 1 konservativen Phase der 1950er Jahre auf‐ A.G. Gender‐Killer (Hg.): Antisemitismus und Ge‐ weist. Auf diese Parallele hat auch Theodor W. schlecht. Von „maskulinisierten Jüdinnen“, „effemi‐ Adorno hingewiesen: „Die Lebensborn‐Ge‐ nierten Juden“ und anderen Geschlechterbildern. stüte der SS, die Ermunterung der Mädchen Münster 2005, 29ff. 2 zu temporären Beziehungen mit jenen, die Herzog, Dagmar: Die Politisierung der Lust. Sexuali‐ sich selber zur Elite erklärt und als solche ein‐ tät in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, gerichtet hatten, sind, wie viele Pionierun‐ München 2005. taten des Dritten Reiches, bloß die extreme 3 Ebd., 130. Vorwegnahme gesamtgesellschaftlicher Ten‐ 4 Simmel, Ernst (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt/ denzen. So wenig jedoch der SS‐Staat das Main 1993, 73. Reich der erotischen Freiheit war, so wenig ist 5 Marcuse, Herbert: Das Veralten der Psychoanaly‐ es die Badestrand‐ und Campinglibertinage se, in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt/Main von heute, die übrigens in jedem Augenblick 1965, 200. zurückgepfiffen werden kann auf den Stand 6 Adorno, Theodor W.: Sexualtabus und Recht heute, dessen, was in der Sprache der Tabus gesun‐ in: Ders.: GS 10.2. Frankfurt/Main 1997, 537f de Ansichten heißt.“ 6 Der NS lehrt uns als „ex‐ 7 Marcuse, Herbert: Das Veralten der Psychoanalyse, treme Vorwegnahme gesamtgesellschaftlicher S. 52. Tendenzen“ etwas über die repressive Entsub‐ limierung heute, die ebenfalls zur pathischen Projektion eigener, verdrängter Triebe und

21

01-03.indd 21

14.11.12 23:19


psycho

ZUR PSYCHOANALYSE DES ANTISEMITISMUS

Lisa Löwenzahn

„Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt.“ 1

M

it den Annahmen der Psychoanalyse konn‐ ten Thesen aufgestellt werden, die die Ent‐ stehung des Antisemitismus ergründen wollen. Dabei waren Sigmund Freuds Massenpsycholo‐ gie und Ich‐Analyse und Der Mann Moses und die monotheistische Religion nur zwei seiner vielen Schriften, die Erklärungsansätze liefer‐ ten. Trotz der zahlreichen Versuche, den Anti‐ semitismus zu verstehen, hat die Aufarbeitung nach der nationalsozialistischen Herrschaft lange auf sich warten lassen. Dan Diner stellte in seinem Buch Gegenläu‐ fige Gedächtnisse fest, dass die Aufarbeitung des Holocaust bis in die 1980er Jahre verdrängt wurde. Worin könnten die Gründe dafür liegen? Vielleicht ist die Verdrängung durch die Theori‐ en der Psychoanalyse erklärbar.

Der psychische Apparat Als Grundlage setzt die Psychoanalyse die The‐ orie des psychischen Apparats voraus. Begrif‐ fe wie Es – Ich – Über‐Ich sind dabei zentral, denn sie definieren die unterschiedlichen Be‐ wusstseinszustände. Im Es befinden sich alle unbewussten Triebregungen, zu denen wir nie Zugang erhalten. Sie sind abgeschlossen von den bewussten Regungen und können nicht in Sprache gefasst werden. Das Ich ist jener Teil des psychischen Apparats, der bewusst wahr‐ genommen wird. Dort setzen sich alle unse‐ re Sinneseindrücke aus der äußeren Welt so‐ wie alle Gedanken und Gefühle, die von innen wahrgenommen werden, zusammen. In dem Teil des psychischen Apparats, der sich Über‐ Ich nennt, werden die unbewussten Trieb‐ regungen für die Außenwelt gefiltert und in Sprache gefasst, bevor sie abgeführt werden können. Diese Filterung ist die sogenannte moralische Instanz und könnte als eine Art 2 ‚Zensur‘ bezeichnet werden.

Das Über‐Ich ist, obwohl es zensiert und Trieb‐ regungen überdeckt, auch das Tor zum Unbe‐ wussten. Durch Wiederholungen und Fehl‐ leistungen, die entstehen, wenn unbewusste Triebregungen nicht ins Bewusste vordringen dürfen, aber abgeführt werden müssen, ist es in der psychoanalytischen Therapie möglich, sich durch eine Wiederholung beispielsweise der unbewussten Triebregung zu nähern. An dieser Stelle ist der Abwehrmechanismus in unserem Geiste ein weiteres Phänomen, das einer Erklärung bedarf. Er ist bereits latent in der Beschreibung des Über‐Ichs enthalten. Jede Triebregung, die nicht ausgeführt werden darf, stößt auf Widerstand und muss abgewehrt werden. Es ist jedoch nicht möglich, eine ver‐ botene Handlung einfach nicht auszuführen. An ihre Stelle tritt eine Ersatzhandlung. Wenn ein Mensch vor Wut am liebsten auf den Tisch schlagen würde, dies aber in der Situation un‐ angepasst wäre, so entscheidet er oder sie sich oft für ein leises Fluchen. In diesem leisen Flu‐ chen stecken dann unterdrückte Aggressionen. Sie sind Ersatzhandlungen im Bewussten des Ichs, die die Unbewussten im Es, die eigentli‐ chen Triebregungen, verdrängen. Eine weitere Möglichkeit zur Abwehr von Triebregungen ist die Projektion. Eigene uner‐ wünschte Triebregungen werden auf die Außen‐ welt projiziert, anstatt sie ins eigene Bewusst‐ sein zu heben. Die falsche Projektion beschreibt Theodor W. Adorno gleichsam nach Freud als eine „Übertragung gesellschaftlich tabuisierter Regungen des Subjekts auf das Objekt“ 3. Die‐ se vom Es ausgehenden Regungen werden unter dem Druck des Über‐Ichs vom Ich als ‚böse In‐ tention‘ auf die Außenwelt übertragen.

Der Wahn-Charakter des Antisemitismus Warum beschäftigen uns diese theoretischen Ansätze der Psychoanalyse eigentlich, wenn wir den Antisemitismus analysieren wollen? Die Psychoanalyse ist dreierlei: Eine wissen‐ schaftliche Theorie über die Seele des Men‐ schen, eine Methodik und eine Therapieform zur Heilung von Seelenkrankheiten. Sie be‐ schäftigt sich also stark mit der Krankheit der Seele. Insofern stellt sich die Frage, in wie weit sich Antisemitismus unter den Geisteskrank‐ heiten einreiht. Alle vorangegangen Beschrei‐

bungen des psychischen Apparats dienen nun zur Beantwortung dieser Frage. Otto Fenichel beschreibt die Theorie des An‐ tisemitismus als „Sündenbock‐Theorie“ 4. ‚Der Jude‘ steht bei den Antisemiten und Antisemi‐ tinnen für alles Böse und Schlechte in der Welt. Gier, Hass und Neid sind Eigenschaften, die ‚dem Juden‘ in der nationalsozialistischen Pro‐ paganda zugeschrieben wurden. Und obwohl unzählige historiographische und sozialwissen‐ schaftliche Belege existieren, die sämtliche Ste‐ reotypen widerlegen können, hält sich dieses Bild in manchen Kreisen besonders hartnäckig. Eine mögliche Erklärung hierfür bietet die vorhin erwähnte Theorie der Projektion. Denn das Streben nach Weltmacht durch den Nati‐ onalsozialismus ist genauso evident wie sein Hass auf die Jüdinnen und Juden. Anstatt aber die mordlüsternen Gedanken in der eigenen deutsch‐nationalen Gesellschaft anzuerken‐ nen, wurde all das Destruktive auf ‚den Juden‘ projiziert. Die Lüge von der jüdischen Weltver‐ schwörung verwundert weniger, wenn sie als Projektion der eigenen Gesellschaft auf eine Minderheit, nämlich die der Jüdinnen und Ju‐ den, verstanden wird. Der Antisemitismus im ‚Dritten Reich‘ wirkt mit all seinen Widersprüchlichkeiten wie eine Geisteskrankheit aus dem Lehrbuch. Wie anders lässt sich erklären, dass den Jüdinnen und Juden der Kommunismus gleichzeitig mit dem Kapi‐ talismus zugeschrieben wurde? Die panische Angst der Bevölkerung des ‚Dritten Reichs‘ vor den Jüdinnen und Juden glich einer Paranoia, hatten doch manche Dörfer noch nie einen jü‐ dischen Mann oder eine jüdische Frau gesehen. Doch müssen wir mit diesen Zuschreibun‐ gen vorsichtig sein. Obwohl die Abwehr der Re‐ alität mit den Charakteristika einer Psychose vergleichbar ist, darf der Antisemitismus nicht gleichsam als Krankheit verstanden werden. Denn auch wenn Antisemiten und Antisemi‐ tinnen geisteskrank sein können, so sind sie es nicht zwingend. Auch wenn manche von ihnen höchst neurotische Züge aufweisen, so gibt es ge‐ nauso jene, die in vollem Bewusstsein handeln. Die unbewusste Komponente des Antisemi‐ tismus ist dennoch groß. In der österreichischen Gesellschaft von 2012 scheint es, als sei niemand in Österreich jemals antisemitisch gewesen. Dabei wird auf die Deutschen gezeigt, auf die Nachbarin und den Nachbarn von nebenan oder

auf den radikalen antisemitischen Islam, doch auf sich selbst deutet man lieber nicht. Dafür werden Juden und Jüdinnen heute von manchen Menschen als besonders klug be‐ zeichnet oder als besonders schön. Diese Zu‐ schreibungen haben den gleichen Ursprung wie der Antisemitismus. Die Verdrängung nach 1945 fand neben dem weiterhin existierenden modernen Antisemitismus eine neue Ausprä‐ gungsform im Philosemitismus. Darin ist der Wahn‐Charakter aber ebenso enthalten, wie im Antisemitismus. Die Worte Adornos beschrei‐ ben, warum es so schwierig ist, Antisemitismus zu fassen: „Es gibt keinen genuinen Antisemitis‐ mus, gewiß keine geborenen Antisemiten. Die Erwachsenen, denen der Ruf nach Judenblut zur zweiten Natur geworden ist, wissen so wenig warum, wie die Jugend, die es vergießen soll.“ 5 Anmerkungen 1 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Elemente des Antisemitismus in Dialektik der Aufklärung. Philo‐ sophische Fragmente. Fischer: Frankfurt a. M. 2001, . 2 Vgl. Sigmund Freud, Das Ich und das Es. Metapsy‐ chologische Schriften. Fischer: Frankfurt a. M. 1998 3 Adorno / Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 196 4 Ernst Simmel, Antisemitismus. Fischer: Frankfurt a. M. 1993, 38. 5 Adorno, Dialektik der Aufklärung, 180.

22

01-03.indd 22

14.11.12 23:19


psycho

PSYCHOANALYSE: GEDANKENFREIHEIT ALS EXISTENZBEDINGUNG Claudia Aurednik

In den 1920er Jahren wurden land fliehen. Einige wurden in den Konzent‐ „Sie war eine menschliche BeweSigmund Freud, die Psychoanalyse rationslagern (KZ) der NationalsozialistInnen gung, eine humanistische Beweermordet. Nach 1945 bemühte sich die öster‐ und deren VertreterInnen interna- reichische Politik und Wissenschaft kaum, die gung – mehr als alles andere“4 tional gefeiert. 1938 zerstörten die vertriebenen PsychoanalytikerInnen zurückzu‐ Nazis das Zentrum der psychoana- holen. Dabei hatten gerade diese in ihrer jewei‐ 1938 wurden Bruno Bettelheim und Ernst Fe‐ dern verhaftet und in Konzentrationslager in‐ lytischen Bewegung in Wien. Sie ligen neuen Heimat die Psychoanalyse im gro‐ ßen Maß bereichert. terniert. Bettelheim erkannten die Nazis den verfolgten die PsychoanalytikerInDoktortitel ab und inhaftierten ihn zunächst nen und richteten an der Disziplin „Die Psychoanalyse kann nur dort im Konzentrationslager Dachau. Später wur‐ de er in das Konzentrationslager Buchenwald einen immensen Schaden an. gedeihen, wo Freiheit des Gedan- überstellt. Dort lernte Bettelheim Federn ken‐ nen. Die beiden entwarfen in ihren Diskussio‐ kens herrscht“1

S

igmund Freud, als Begründer der Psycho‐ analyse, ist vielen Menschen bekannt. Be‐ reits 1902 gründete er die Psychologische Mitt‐ wochsgesellschaft, aus der sechs Jahre später die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) hervorging. Doch Freud arbeitete nicht allein. Zu seinen ersten SchülerInnen zählte u. a. Alf‐ red Adler, der Begründer der Individualpsycho‐ logie. Auch der spätere Begründer der analyti‐ schen Psychologie, Carl Gustav Jung, trat der WPV bei. Freud, Jung und Adler zählen heute zu den Begründern der Tiefenpsychologie. Das Wissen um das Wirken der unbekannteren Psy‐ choanalytikerInnen im Wien der 1920er und 30er Jahre ist jedoch in Vergessenheit geraten. Viele konnten nach dem ‚Anschluss‘ ins Aus‐

Nach der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland wurden die Werke der Psycho‐ analytikerInnen auf die „Liste des schädlichen 2 und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt. Die Psychoanalyse wurde im Weltbild der Nazis als ‚jüdische Wissenschaft‘ verstanden, da viele der führenden VertreterInnen JüdInnen waren.3 Zudem war die Psychoanalyse eine aufkläreri‐ sche Wissenschaft, die im Widerspruch zum nationalsozialistischen Weltbild stand. Bereits 1933 wurde die Deutsche Psychoanalytische Ge‐ sellschaft (DPG) von den Nazis unter Druck gesetzt. Der Vorsitzende der DPG und Freud‐ Schüler Max Eitington trat im November 1933 zurück und emigrierte ins damalige Palästina. Dort gründete er die Psychoanalytische Verei‐ nigung Palästinas. Auch die übrigen jüdischen Mitglieder mussten die verlassen. Im März 1938 wurden in Österreich die Ein‐ richtungen der WPV auf Weisung der NSDAP zerstört. Bereits am 12. März 1938 hatte die Ge‐ stapo Freuds jüngste Tochter Anna verhaftet. Anna Freud war selbst als Psychoanalytikerin tätig und veröffentlichte eigene Werke. Nach‐ dem sie aus der Gestapo‐Haft entlassen war, entschied sich Sigmund Freud, Wien zu verlas‐ sen. Er konnte mit seiner Familie im Juni 1938 nach Großbritannien emigrieren. Freud litt unter den Folgen seiner Krebserkrankung und beging im September 1939 Selbstmord. Anna Freud wurde Lehranalytikerin der British Psy‐ cho‐Analytical Society. Sie war Mitbegründerin der Hampstead Nurseries, einem Betreuungs‐ heim für Kriegskinder und Kriegswaisen. 1945 betreute sie auch eine kleine Gruppe von Kin‐ dern aus Theresienstadt. Sie gilt neben Melanie Klein als Mitbegründerin der Kinderanalyse.

nen die Grundlagen der Psychologie des Terrors. Bettelheim hatte Glück und wurde aufgrund hartnäckiger Interventionen aus den USA nach einem Jahr aus dem Lager entlassen. Er emig‐ rierte in die USA und arbeitete als Psychoana‐ lytiker und Kinderpsychologe. Seine Erfahrun‐ gen in den Konzentrationslagern hielt er 1943 in seinem Aufsatz Individual and Mass Behaviour in Extreme Situations5 fest. An der Orthogenic School in Chicago entwickelte er die Milieuthe‐ rapie. Die Universität Wien revidierte die Aber‐ kennung des Doktortitels erst 2004. Ernst Federn wurde 1945 von den US‐Ameri‐ kanerInnen aus dem Konzentrationslager Bu‐ chenwald befreit. Als Mitglied der Revolutio‐ nären Kommunisten war er – neben dem Terror der Nazis im Konzentrationslager – auch den Schikanen der stalinistischen Kapos ausgesetzt. Nach seiner Befreiung ging er nach Belgien. 1946 veröffentlichte er seine Studie Versuch ei‐ ner Psychologie des Terrors6. In dieser versuchte Federn seine Traumata im KZ auf psychoanaly‐ tischer Basis zu verarbeiten. 1948 emigrierte Fe‐ dern mit seiner Frau in die USA. In New York editierte er gemeinsam mit Herman Nunberg die Protokolle von Sigmund Freuds Mittwochs‐ gesellschaft. Federn ist einer der wenigen Wis‐ senschaftler, der auf Einladung Österreichs 1972 zurückkehrte. Der damalige Bundeskanz‐ ler Bruno Kreisky hatte ihn gebeten, als Psycho‐ therapeut bei der Strafvollzugs‐Reform mitzu‐ arbeiten. Federn nahm diese Einladung an und lebte bis zu seinem Tod 2007 in Wien. Doch nicht alle AnhängerInnen der psycho‐ analytischen Bewegung konnten vor den Na‐ zis fliehen. Eine der ermordeten Analytike‐ rInnen war Margarethe Hilferding. Sie wurde 1910 als erstes weibliches Mitglied in die WPV

aufgenommen. 1911 verließ sie im Zuge des Zerwürfnisses zwischen Adler und Freud die WPV. Neben ihrem Beruf als Allgemeinmedi‐ zinerin engagierte sie sich in der Frauenbewe‐ gung. Von 1918 bis 1934 war sie SPÖ‐Bezirksrä‐ tin. 1938 arbeitete sie ehrenamtlich im Wiener Rothschild‐Spital, dem Krankenhaus der Isra‐ elitischen Kultusgemeinde unter der Leitung Viktor Frankls. 1942 wurde Margarethe Hilfer‐ ding nach Theresienstadt deportiert und im September desselben Jahres im Vernichtungs‐ lager Treblinka ermordet.

Auf den Trümmern der Psychoanalyse Die WPV konstituierte sich bereits 1946 neu. Sie fristete jedoch lange Zeit ein eher unbedeuten‐ des Dasein. Der Terror des NS‐Regimes hatte die lebendige und vielseitige Disziplin der Psycho‐ analyse in Österreich stark beschädigt. Erst 1971 erfolgte laut der Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin im Zuge des International Psychoana‐ lytic Association‐Kongresses (IPA) in Wien die eigentliche ‚Rehabilitierung‘ der WPV. Durch die StudentInnenbewegung und den IPA‐Kon‐ gress war die Psychoanalyse wieder in das Be‐ wusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Die Aus‐ sage Freuds gilt somit auch für die Geschichte der Psychoanalyse: „[…] die Stimme des Intel‐ lekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat.“ Anmerkungen: 1 Zitat von Anna Freud; die Zitate wurden Luzifer Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse (Heft 31 und 32) entnommen. Die Lektüre der Zeit‐ schrift ist allen an der Thematik interessierten Men‐ schen empfohlen. www.luzifer‐amor.de/index.php?id=16 2 Liste der von den Nazis verbotenen Schriften: http:// www.berlin.de/rubrik/hauptstadt/verbannte_bue‐ cher/az‐autor.php 3 www.verbrannte‐buecher.de/t3/index.php?id=91& uid=69 4 Zitat von Bruno Bettelheim; siehe Fußnote 1. 5 Auszug des Aufsatzes von Bruno Bettelheim: www.brown.uk.com/brownlibrary/BET.htm 6 Nähere Infos zur Studie von Ernst Federn: www.hagalil.com/archiv/2010/04/10/psychologie‐ des‐terrors/

23

01-03.indd 23

14.11.12 23:19


psycho

„MAN SPRICHT SEIT IHRER GEBURTSSTUNDE VON EINER KRISE DER PSYCHOANALYSE“

Dorothea Born

Victor Blüml und Barbara Pastner sind Mitglieder der KandidatInnenvertretung der Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV). UNIQUE sprach mit ihnen über die Ausbildung zum/zur AnalytikerIn, den Stand der Psychoanalyse in der Gesellschaft und die Eigenheiten der Analyse. Ihr seid beide in Psychoanalyse‐Ausbildung. Was waren eure persönlichen Motivationen, diese Ausbildung zu beginnen? Victor: Ich habe erst begonnen, Medizin zu stu‐ dieren, mir aber auch einige andere Studienrich‐ tungen an der Uni Wien angesehen. Über die Philosophie und diverse psychoanalytische The‐ oretikerInnen bin ich dann zur Psychoanalyse gekommen. Der Wunsch, Analytiker zu werden, berührt aber auch viele Dinge, die man erst in der eigenen Analyse herausfindet. Ich hatte vor‐ her auf einer theoretisch‐abstrakten Ebene Ide‐ en, warum ich das machen will, aber was wirk‐ lich dahintersteckt, beginnt sich im Prozess der eigenen Analyse gerade erst abzuzeichnen. Barbara: Für mich war die Psychoanalyse et‐ was, das mich sehr früh fasziniert hat. Ich habe mit 14 Jahren Freuds Traumdeutung gelesen, um meine eigenen Träume besser verstehen zu ler‐ nen und war so fasziniert von dem Buch, dass ich beschloss, Analytikerin zu werden. Mit 18 habe ich mich dann entschieden, Psychologie zu studieren. Vor drei Jahren befand ich mich selbst in ei‐ ner Notlage und habe beschlossen, auszupro‐ bieren, ob mir die Psychoanalyse hier zur Seite stehen und neue Perspektiven eröffnen kann. Ich habe um Aufnahme in die WPV angesucht und eine Lehranalyse begonnen. Und mit dieser Entscheidung bin ich sehr zufrieden, denn ich könnte gar nicht sagen, wo ich ohne die Psycho‐ analyse heute stehen würde. Ich bin sozusagen Psychoanalytikerin aus Leidenschaft.

peutisches Propädeutikum machen. Es gibt einen allgemeinen Überblick über die ver‐ schiedenen psychotherapeutischen Schulen, medizinischen Grundlagen und gesetzlichen Voraussetzungen. Formale Voraussetzung dafür ist die Matura oder ein gleichwertiger Abschluss. Wenn man das absolviert hat und einen gesetz‐ lich anerkannten Quellberuf ausübt, kann man sich bei einem der psychoanalytischen Vereine bewerben. Dann kann man mit dem Fachspezi‐ fikum Psychoanalyse beginnen. Die eigentliche Ausbildung ist dreigeteilt. Es gibt die Selbst‐ erfahrung der Lehranalyse, die man bei einem Lehranalytiker oder einer Lehranalytikerin ab‐ solviert. Das sind vier mal die Woche, liegend, mindestens 600 Stunden. Dann gibt es die the‐ oretische Ausbildung, das sind ca. 300 Stun‐ den Theorieseminare. Der dritte Teil umfasst die praktische Ausbildung. Da führt man dann selbst unter Supervision mindestens zwei Ana‐ lysen – sogenannte Kontrollfälle – bei Patien‐ tInnen durch. Barbara: Außerdem muss man älter als 24 Jah‐ re sein. Dann hängt es davon ab, ob man sich mit seinem Lehranalytiker ‚im Einvernehmen‘ trennt. Es kann also auch länger dauern … Victor: Im Durchschnitt dauert es länger. Das Ende ist dann ein Abschlussvortrag, in dem man vor den KollegInnen und dem Lehrausschuss über eine selbst durchgeführte Analyse berichtet. Dann wird man in die PsychotherapeutInnen‐ liste eingetragen und ist berechtigt zum selbst‐ ständigen Durchführen von Analysen.

es allerdings schon ein Problem, diese Kontroll‐ fälle überhaupt zu finden und über zwei Jahre zu behalten. Ich z. B. arbeite als Psychiater mehr als 40 Stunden im AKH, dazu die Ausbildung und die Selbstanalyse. Daneben noch zwei Kon‐ trollfälle und die Supervision durchzuführen ist einfach ein Zeitproblem. Barbara: Außerdem sollten auch auf Seiten der PatientInnen gewisse Voraussetzungen vorliegen, mit denen AusbildungskandidatIn‐ nen umgehen können. Z. B. wird bei der Aus‐ wahl der Kontrollfälle darauf geachtet, dass sie in ihrer Pathologie nicht zu schwer sind, also z. B. keine psychotische Persönlichkeitsstruktur aufweisen.

gesellschaftliche Phänomene zu verstehen und klarer zu sehen. Das ist auch ein wertvoller Bei‐ trag dafür, wie sich die Gesellschaft etablieren kann. Das Ziel der Einzelfallanalyse ist außer‐ dem ein mündiges Individuum, mit eigenen moralischen und ethischen Vorstellungen, das sich insofern in einer gewissen Distanz zur Ge‐ sellschaft sehen und deshalb reflektierter an dem ganzen System rütteln kann. Victor: Psychoanalytisches Verstehen von Ge‐ sellschaften bietet auf jeden Fall neue Perspek‐ tiven und Möglichkeiten von Kritik an Gesell‐ schaftssystemen. Generell kommt mir aber vor, dass die große Zeit der psychoanalytischen Ge‐ sellschaftskritik vorbei ist. Es hängt vielleicht schon mit einem gesamtgesellschaftlichen Der Psychoanalyse wird oft vorgeworfen, sie Trend zusammen, dass diese analytische Gesell‐ dauere zu lange und erziele zu wenig Erfolge. schaftskritik nicht mehr präsent ist, weil heut‐ Wie steht ihr zu diesem Vorwurf der Unwirk‐ zutage überhaupt gesellschaftskritische Theori‐ samkeit an die Psychoanalyse? en nicht mehr so präsent sind.

Victor: Bei der Frage der Wirksamkeit ist zu‐ nächst zu berücksichtigen, was überhaupt das Ziel einer Behandlung ist. Wenn es um reine Symptomreduktion geht, gibt es sicher schnel‐ lere Methoden, wie z.B. die Verhaltenstherapie. Aus psychoanalytischer Sicht ist das Ziel einer Behandlung aber nicht nur, dass ein Symptom in den Hintergrund tritt. Es geht darum, sich anzusehen woher das kommt, was es bedeu‐ tet und wie es integriert ist. Über diese Aufde‐ ckung kann eine Veränderung stattfinden, die oft fundamentaler und profunder ist. Es gibt aber einen gewissen gesellschaftlichen Trend, Was sind so die ‚Ups and Downs‘ der Ausbil‐ möglichst schnell die Arbeitsfähigkeit wieder dung? Was fällt euch schwer oder ist beson‐ herzustellen und effizient zu werden. Deshalb ders anstrengend? Was gefällt euch gut? passen vielleicht andere Therapiemethoden besser in das neoliberale Gesellschaftsmodell. Victor: Es gibt riesige ‚Ups and Downs‘ in der In gewisser Weise versperrt sich die Analyse da Selbstanalyse. Aber das ist halt einfach eine dagegen, allein schon durch die Dauer und den Analyse … Aufwand, der dahinter steckt. Barbara: Manchmal ist es schon hart, mit sich auf diese Art und Weise konfrontiert zu sein. Seht ihr einen Zusammenhang zwischen Psy‐ Für manche stellen die Kosten außerdem eine choanalyse und Gesellschaftskritik? Schwierigkeit dar, gerade über eine so lange Zeit. Ich habe schon meine beiden Kontroll‐ Victor: Ich denke schon, dass im Kern der Psy‐ fälle. Die Arbeit an sich ist immer wieder eine choanalyse eine Berücksichtung der gesell‐ Herausforderung, aber macht mir auch großen schaftlichen Umstände angelegt ist. Im Men‐ Wie läuft denn die Ausbildung zum/zur Ana‐ Spaß. Anstrengend sind die Stundenprotokol‐ schen ist ja immer die gesamte Gesellschaft lytikerIn ab? Gibt es da bestimmte Voraus‐ le: Es ist Teil der Ausbildung, die Gespräche aus wirksam, so kommt sie auch in die Einzelana‐ setzungen? dem Gedächtnis aufzuzeichnen, um sie dann lyse mit hinein. mit dem Supervisor zu besprechen. Das nimmt Barbara: Die Psychoanalyse hat keinen päda‐ Victor: Grundsätzlich müssen in Österreich sehr viel Zeit in Anspruch. gogischen Anspruch. Ich glaube aber, dass sie alle PsychotherapeutInnen ein psychothera‐ Victor: Für viele AusbildungskandidatInnen ist einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann,

Ist die Psychoanalyse in der Krise? Victor: Man spricht ja schon seit ihrer Geburts‐ stunde von einer Krise der Psychoanalyse. Ich weiß nicht, ob es gerade eine besondere Kri‐ se gibt. Aber Phänomene wie der Aufstieg der ‚Biologischen Psychiatrie‘ und die Diversifizie‐ rung des psychotherapeutischen Feldes haben sicherlich zu einem gewissen Druck auf die Psy‐ choanalyse geführt. Barbara: Vielleicht passt die Analyse nicht mehr zu dieser schnelllebigen Zeit. Wenn nicht gleich Erkenntnisse da sind, geht man zur nächsten Methode, die vielleicht schneller und zielstrebiger Ergebnisse liefert. Der Analyse könnte man unterstellen, dass sie ein bisschen klobig und langsam ist, sich sozusagen Zeit lässt, um dann aber umso präzisere Aussagen zu treffen. Ich glaube, viele junge Menschen haben eine große Scheu vor der Psychoanalyse, weil sie so abstrakt wirkt. Psychoanalyse beschäftigt sich aber mit dem, was erleben ausmacht, was je‐ der Mensch für sich wahrnehmen kann und da‐ rüber hinausgehend, mit dem, was unbewusst von uns wahrgenommen wird. Sie holt das, was ganz tief in einem drinnen ist, an die Oberflä‐ che. Wovor viele Menschen Angst haben, wird durch die Psychoanalyse integrierbar. Sie kann den Menschen ihr eigenes inneres Erleben noch zugänglicher machen. Ich finde, das Schöne an dieser Methode ist, dass man mit sich selbst mehr zu tun bekommt.

24

01-03.indd 24

14.11.12 23:19


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.