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feuilleton

Das „Lechzen nach Authentizität“ Tendenzen im Dokumentarfilm Martin Krammer

BeobachterInnen in Medien und Filmwissenschaft sind sich weitgehend einig – bereits seit einigen Jahren erlebt „das Dokumentarische“ eine Renaissance.1 Gerne wird diesen Bewegungen ein zugrundeliegender „Hunger nach Realität“ oder ein „Lechzen nach Authentizität“ attestiert. Doch was steckt hinter diesen Worthülsen?

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ie steigende Anzahl an Dokumentarfilmproduktionen sowie deren Repräsentation und Auszeichnung in Cannes, Venedig oder bei eigens dafür ins Leben gerufenen Festivals wie etwa dem International Documentary Film Festival in Amsterdam (IDFA) scheinen einen dokumentarischen Trend zu bezeugen. Daneben sind schon seit geraumer Zeit das Fernsehen – mit journalistischen Reportagen, aber auch Dokusoaps und anderen Realityshows – sowie neuerdings auch das Internet mit Produkten von Dokumentarfilmkollektiven und Videoportal-AmateurInnen von Realitätsversprechen durchzogen. Woher kommt aber die aktuelle Konjunktur des Dokumentarfilms? Oft wurde sie an der Resonanz auf Michael Moores Serie von Kassenschlagern wie Bowling for Columbine oder Fahrenheit 9/11 bei Publi-

kum und Filmkritik festgemacht. Lässt aber der Erfolg Moores als selbstinszenierter, satirischer ‚Volksaufklärer‘ auf einen plötzlichen Schub an breitem politischen Interesse schließen? Zweifellos haben die Filme Wellen geschlagen; ob verklärender Fan oder zynischeR KritikerIn, sich der Debatte in Medien und Öffentlichkeit zu entziehen fiel schwer. Trotz verbreiteter Politikverdrossenheit, nicht nur in den USA, eröffneten Moores Filme kurzzeitig einen Raum für das eigentlich Politische, die „Intervention in das Sichtbare und 2 das Sagbare“  . Daher sind natürlich auch filmische Verhandlungen anderer populärer Problemkomplexe unserer Zeit politisch – so etwa globalisierungskritisches Kino (Workingman’s Death), auf die hypertrophierte Finanzwirtschaft gerichtete Produktionen (Inside Job) oder das Foodwatch-Genre (We Feed The World).

„Anwesenheit von Abwesenheit“ Sie alle widmen sich weltumspannenden Phänomenen; der sich unaufhörlich weiterdrehenden Globalisierungsspirale, vor allem der medialen, verlieh die Geburt des Films zusätzlichen Schwung. Das steigende Interesse an jenem dem eigenen (geografischen) Lebensbereich Entlegenen und das Zirkulieren des kinematografischen Bildes – im realen Warenaustausch und im kollektiven Bewusstsein – scheinen sich gegenseitig zu befördern. Der Dokumentarfilm ist eben nicht nur Gegenstand und Projektionsfläche des

Begehrens nach Wissen und Wahrheit, sondern auch der Identifikation mit dem ‚Anderen‘. 3 Von anderen Ausdrucksformen, etwa dem geschriebenen Wort, hebt ihn zudem das Vermögen ab, seinen Gegenstand zu zeigen und konkret erfahrbar zu machen anstatt ihn lediglich zu beschreiben. Das bewegte Bild aktualisiert, haucht Geschichte Leben ein.4 Oft wird sein sinnliches Erlebnis daher mit dem Hervorrufen der „Anwesenheit von Abwesenheit“ 5 nach Walter Benjamins Definition der Spur beschrieben.

Vorherrschaft von Visual Effects, die Manipulation und Neubearbeitung von Informationen zum Zweck der Einpassung in Argument oder Story sind Bewegungen, die die Kommerzialisierung von Non-Fiction-Produktionen exemplifizieren.“ 7 Offenbar befriedigt ein formloses Dokument das Lechzen nach Authentizität und Wahrheit heute nicht leichter als damals. Noch immer stiftet Fiktion den Sinn, der dem Stoff der Realität nicht von sich aus innewohnt.

Der Kostenfaktor

Anmerkungen: 1 Bereits Anfang der 1990er Jahre wird vermehrt darauf hingewiesen, etwa von Linda Williams in: Eva Hohenberger / Judith Keilbach (Hg.innen): Die Gegenwart der Vergangenheit. Vorwerk 8. Berlin 2003 2 Jaques Rancière zitiert nach Thomas Bedorf in: Ders. / Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik. Suhrkamp. Berlin 2010 3 Vgl. Elisabeth Cowie: Recording Reality, Desiring the Real. University of Minnesota Press. Minneapolis 2011 4 Vgl. Jacques Rancière: Die Geschichtlichkeit des Films in Drehli Robnik / Thomas Hübel / Siegfried Mattl (Hg.): Das Streitbild. Turia+Kant. Wien 2010 5 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Suhrkamp. Frankfurt a. Main 2006 6 Wobei es zu bedenken gilt, dass der Dokumentarfilm seit jeher mit fiktionalisierenden und narrativierenden Verfahren arbeitet. 7 Frei übersetzt nach Stella Bruzzi: New Documentary. Routledge. New York 2006

Am Ende ist jedoch auch wieder das Kapital eine Konstante in der Rechnung, die über das Durchsetzungsvermögen des Dokumentarfilms entscheidet. Einerseits sind es die technischen Voraussetzungen, die Entwicklungen der digitalen Wende, die deutlich kosteneffizientere Wege der Produktion und Distribution eröffnet haben. Zum anderen ist eine zunehmende Dramatisierung und Fiktionalisierung der Form festzustellen, die im Zusammenhang mit einer verstärkt ökonomischen Ausrichtung steht.6 Während das inszenierte Spiel der Rockmusiker in Spinal Tap, maskiert als realer Einblick hinter die Kulissen in den 1980ern, lediglich als Randerscheinung wahrgenommen wurde, herrscht mittlerweile ein eher abgeklärter Umgang mit Filmen wie Brüno und anderen Vertretern des wachsenden Genres der ­Mockumentary. „Die

The Cyborg and the Beast Fiktive Figuren wie das Alien aus Alien und der Terminator verweisen auf soziale Realitäten. Sie referieren auf alltägliche Grenzziehungen und Normvorstellungen, die sie mitunter überschreiten und dadurch beim Publikum Irritation erzeugen können.

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opulärkulturelle Figuren wie diese haben einen hohen Wiedererkennungseffekt, was auch in ihrer Eigenart liegt, festgeschriebene Selbstverständlichkeiten unserer Alltagswahrnehmung aufzuzeigen, indem diese symbolisch überschritten werden. Sie lassen sich als Beispiele zum Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse begreifen. Dahingehend bieten Überlegungen zum Begriff Cyborg eine theoretische Reflexionsmöglichkeit über filmische Darstellungen von Stereotypen und die Wirkung dieser Darstellungsformen.

Cyborg Neben der ursprünglichen Bedeutung als Kunstwort und Kurzform für kybernetischen Organismus, womit eine Verbindung von Organischem

und Maschinellem bezeichnet wird, verweist Cyborg metaphorisch auf die tiefgreifenden Veränderungen, die eine solche Integration mit sich bringt. Ein Beispiel hierfür liefern Science-Fiction-Filme, worin die neuen Realitäten oft überspitzt symbolisch dargeboten werden. Donna Haraway spricht von der optischen Illusion von sozialer Realität und Fiktion. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Aufhebung von Grenzziehungen und damit verbundenen Dichotomien, die unser Verständnis durchdringen, wozu etwa die Gegensatzpaare Mensch-Maschine, MenschTier und Mann-Frau zählen. Die Metapher des Monsters symbolisiert und überschreitet diese vorgestellten Grenzziehungen im Denken, indem sie auf die Entstehung neuer Existenzformen verweist, die durch die Kombination neuer Techniken (z. B. künstliche Befruchtung) und globaler Informations- und Kommunikationssysteme zustande kommen.

Alien und Terminator Die Figur des Aliens spiegelt mit der phallischen Kopfform und androgynen Erscheinungsform geschlechtsspezifische Körpersymbole wider. Gleichzeitig lässt sich dieses metaphorische Monster jedoch weder als männlich noch als weiblich charakterisieren. Zusätzlich fließen in

Richard Sattler

die Gestaltung biomechanische Elemente ein, wodurch die Grenze zwischen organischer und künstlicher Lebensform in der ästhetischen Kreation des Aliens aufgelöst wird. Die Bedeutung der Überschreitung biologistischer Geschlechterbilder wird durch die parasitäre Fortpflanzungsmethode des Aliens hervorgehoben, insofern im Film der Akt der Geburt auf einen männlichen Charakter übertragen wird. Neben dieser Vermischung geschlechtlicher Symboliken werden der Figur animalische Verhaltensmuster zugeschrieben. Im Gegensatz zu Alien wird der Terminator in der Handlung des Films explizit als kybernetischer Organismus bezeichnet insofern es sich um ein metallisches Endoskelett umgeben von menschlichem Gewebe handelt. Hierbei werden jedoch die geschlechterstereotypischen Zuschreibungen nicht in der Gestaltungsästhetik aufgelöst, sondern bewusst hervorgehoben. Der Terminator als Sinnbild für männlichen Körperkult spiegelt die Bodybuilding-Bewegung wider, die zum Zeitpunkt des Erscheinen des Films in den frühen 1980er Jahren eine Trendwelle in westlichen Industriestaaten darstellte. Das zugeschriebene Verhaltensmuster ist rationalistisch und betont entemotionalisiert. Anders als bei Alien ist bei der Figur des Terminators die dekonstruktivistische Komponente weniger ausgeprägt

und die Irritation beruht auf der Verschmelzung von organischer und maschineller Lebensform. Sowohl Alien als auch Terminator bestechen durch die Kombination verschiedener Merkmale von Mensch, Maschine und Tier, was sie zu Cyborgmetaphern macht. In ihrer populärkulturellen Darstellung führen sie die Konstruiertheit und Wirkungsmächtigkeit unserer eigenen Wahrnehmungs- und Denkkategorien auf unterschiedliche Weise vor Augen: der Terminator als populärste Darstellung eines kybernetischen Wesens und Symbol des Männlichkeitskults, das Alien als symbolische Überschreitung zugeschriebener geschlechterstereotypischer Erscheinungs- und Handlungsformen und damit Ikone des Horror-Science-Fiction-Genres. Literatur: M. Fernholz: HR Giger – Zeitgenössischer Künstler des Phantastischen Realismus, PageWizz, 2011, in: http://pagewizz.com/hr-giger-zeitgenoessischerkuenstler-des-phantastischen-realismus/ Chris Hables Gray: Cyborg Citizen. Politik in posthumanen Gesellschaften, Wien: Turia + Kant, 2002 Donna Haraway: A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and Socialist-Feminism in the late Twentieth Century, in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women: Reinvention of Nature, New York: Routledge, 1991, S. 149–181

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