Theater der Zeit 04/2025 – Florentina Holzinger

Theater der Zeit Mit

Anne Imhof Thomas Oberender Swaantje Lena Kleff Dietmar Dath Annemie Vanackere Manuel Harder Jörg Hartmann

April 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Florentina Holzinger Performing Power

Karten 089.5 23 46 55 · www.muenchner-volkstheater.de

27 / 4 – 4 / 5 / 2025

RADIKAL JUNG

DAS FESTIVAL FÜR JUNGE REGIE

volkstheater

Foto Ramiro Contreras

Theater der Zeit Editorial

„Kipppunkt“ von Theater Titanick in Kooperation mit Bodytalk beim chilenischen Theaterfestival Teatro a Mil

Ja, es gibt sie wirklich, diese kleine, eher den schwäbischen Spaßmachern zuzurechnende Firma in Stuttgart, die mit dem Titel eines Artikels in der FAZ Sweat- und T-Shirts bedruckt. „In der Oper gewesen, gekotzt“, überschrieb Simon Strauß seinen Kommentar zu den angeblich katastrophen­ artigen Notarzteinsätzen während der Auf­ führung von Florentina Holzingers „Sancta“ an der Stuttgarter Oper. BadenWürttemberg-Redakteurin Elisabeth Maier schaut noch einmal auf die Geschichte von Paul Hindemiths Oper „Sancta“ in Stuttgart – während man mit Florentina Holzinger auf dem Cover dieser Ausgabe natürlich auch sagen muss: Danke, Kafka!

Du hast uns nicht nur Geschichten vergeblicher Sinnsuche, sondern auch ein griffiges Modell der Theaterkurzkritik hinterlassen.

Als der Schauspieler Manuel Harder, Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin, aus Chile, dem Land seiner Geburt, wieder nach Hause kam, bemerkte er mit Blick auf die Theatermacher dort: „Man muss schon dafür sterben wollen, um in Chile Theater zu machen. Es ist unglaublich – und mit hier gar nicht zu vergleichen.“ Beim Festival Teatro a Mil in Santiago hatte ihn besonders die Eröffnungsrede des Autors und Regisseurs Guillermo Calderón begeistert, in der er Theater als Ausdruck der politischen und

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sozialen Kämpfe unserer Zeit nannte. Und dennoch bei der Kunst blieb.

Ab dieser Ausgabe gibt es eine neue Kolumne, in der Online-Redakteurin Lina Wölfel nur scheinbar periphere Phänomene der Theaterwelt untersucht. Chris Isaaks Song „Wicked Game“, das erste Thema, in das sie vertiefend hineingeht, hat eine schon lange Appropriations­ karriere hinter sich, die wohl 1990 mit David Lynchs „Wild at Heart“ begann. Man lese, höre und staune!

Mitten in der Arbeit an diesem Heft erfuhren wir am 7. März vom Tod des Schauspielers und Regisseurs Wolfgang Engel, der in den 1980er Jahren in Dresden mit großen, sensationellen Inszenierungen auf sich aufmerksam machte und von 1995 bis 2008 Intendant des Schauspiel Leipzig war. Ein Nachruf folgt im nächsten Heft.

Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de Thomas Irmer

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Theater der Zeit Thema Florentina Holzinger 12 Gespräch Mit der Pfeilspitze ins Herz hinein Florentina Holzinger über den Film „Mond“, eigene Kampfsporterfahrungen und internationale Gastspiele Im Gespräch mit Thomas Irmer

16 Filmkritik Kampf im Käfig Kurdwin Ayubs „Mond“ mit Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle Von Lara Wenzel

18 Essay Abwehr gegen nackte Nonnen Florentina Holzinger und die tschechische Theaterszene Von Tomáš Kubart

20 Essay Feminismus neu ausrichten Florentina Holzingers Geschichte im Theater Polens Von Łukasz Drewniak

22 Essay Die Dystopie unserer Zeit Florentina Holzingers „Harbour Etude“ im norwegischen Bergen Von Vibeke Tandberg

24 Essay Bodyhorror/Tarantino Italo-Splattermovies, Actionfilme, blasphemische Nunsploitation als Inspirationen für Florentina Holzinger Von Christian Fuchs

26 Essay Mit porösen Körpern das Patriarchat durchlöchern Wie Florentina Holzinger mit dem Mittel der Übertreibung den männlich-sexualisierenden Blick infrage stellt Von Lea-Sophie Schiel

Florentina Holzingers „Sancta“ löste an der Staatsoper Stuttgart heftige Kontroversen aus – ein Rückblick in die Theatergeschichte Von Elisabeth Maier Florentina Holzinger in „Sancta“, von Paul Hindemith, Johanna Doderer, Johann Sebastian Bach, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani u. a. Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“ (Libretto: August Stramm). Regie und Choreografie Florentina Holzinger, Musikalische Leitung Marit Strindlund an der Staatsoper Stuttgart. Bühne und Kostüme Nikola Knežević

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/person/holzinger Die österreichische Choreografin und ­Performancekünstlerin Florentina Holzinger

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Theater der Zeit 4 / 2025

Foto links oben Matthias Baus, links unten Elsa Okazaki, rechts oben Jörg Steinmetz

28 Essay Die Wunden der weiblichen Körper

Inhalt 4 / 2025

Akteure 32 Kunstinsert Romeo und Julia in der Cadillac-Welt Anne Imhofs „DOOM: House of Hope“ in der New Yorker Armory Hall Von Thomas Oberender

38 Porträt Ihr offenes Geheimnis: Zusammen Wie Weimars Hausregisseurin Swaantje Lena Kleff das Nationaltheater zehn Jahre prägte und von ihm geprägt wurde Von Michael Helbing

Diskurs & Analyse

Stück

62 Serie: Dramaturgie der Zeitenwende Die Signatur unserer Zeit

42 Stückgespräch Die Grenzen der Freiheit

Von Annemie Vanackere

Dietmar Dath über sein beim Augsburger Brechtfestival uraufgeführtes Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ im Gespräch Mit Lina Wölfel

45 Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“

Report

Von Dietmar Dath

66 Chile Das große Plus an Menschlichkeit Eine Reise durch chilenische Theaterlandschaften Von Manuel Harder

70 Krefeld/Mönchengladbach Kein Platz für Machtspielchen Das Zwei-Städte-Theater Krefeld/Mönchengladbach wird 75 und gilt ­bundesweit als Vorbild für eine funktionierende Fusion Von Stefan Keim

Magazin 4 Bericht Revolutionieren, während andere kapitulieren Von Lina Wölfel

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Elisabeth Maier, Thomas Irmer, Stefan Keim und Lina Wölfel

1 Editorial 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau

8 Kolumne Positionsbestimmung Von Anna Bertram

72 Vorabdruck Gestern und heute Von Anke Meyer

74 Bericht Stiller Abbau?

Von Lara Wenzel

76 Bücher Èduard Louis: Monique bricht aus Von Lara Wenzel

77 Bücher Helene Hegemann: Striker Von Nathalie Eckstein

78 Kolumne Wir gehen rein Von Lina Wölfel Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: double – Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater

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80 Was macht das Theater, Jörg Hartmann?

Im Gespräch mit Michael Helbing

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Revolutionieren, während andere kapitulieren Nach 20 Jahren beendet die Hochschule für Musik und Theater Leipzig den Ausbildungsvertrag mit dem Theater Halle Von Lina Wölfel

Anfang Februar 2025. Halle (Saale), SachsenAnhalt. Premiere von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“. Inszeniert von Max Radestock, gespielt von sieben Studierenden, die in Halle die zweite Hälfte ihrer Schauspielausbildung im sogenannten Studio absolvieren. „Die Weber“ ist ihre Studioinszenierung – die bis dahin wichtigste Inszenierung ihres Studiums. Und: „Die Weber“ ist die letzte Inszenierung, die es in Halle in dieser Form geben wird.

Was zuvor geschah: Ende Januar titelt das Regionalmedium Du bist Halle: „TheaterAus für Nachwuchs: Schauspielstudio verlässt Halle, Leipziger Hochschule kündigt Vertrag“. 20 Jahre lang war das Schauspielstudio am neuen theater Halle eine feste Institution. Studierende der Hochschule für ­Musik und Theater Mendelssohn Bartholdy Leipzig wurden hier im dritten und vierten Studienjahr als Teil des Ensembles praktisch ausgebildet. Und das mit großem Erfolg: Aus dem Hallenser Studio gingen beim Theatertreffen der Schauspielschulen und dem inter­ nationalen Theaterschulfestival Istropolit­ana Siegerinszenierungen und Solopreise hervor.

Das Studio war innerhalb der Stadt sowie des Theaters fest verhaftet – insbesondere der monatlich stattfindende Studioclub hatte maßgeblich zur Verjüngung des Theater­ publikums beigetragen. Schon 2016 betitelte

„Die Weber“ von Gerhart Hauptmann in einer Fassung von Max Radestock, Christoph Macha und Ensemble. Regie Max Radestock an den Bühnen Halle.

Bühne und Kostüme Anneke Frank

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der damalige Intendant Matthias Brenner in der Hochschulzeitschrift das Studio als „Segen für unser Publikum in Halle“. Und ­ auch die aktuelle Intendantin, Mille Maria Dalsgaard, betont die Wichtigkeit des Studios für die Generationenvielfalt am Haus: „Wenn ein Viertel des Ensembles aus Studierenden besteht, hat das nicht nur Einfluss auf das Haus, sondern auch auf die ganze Stadt.“ Zum Kontext: Das Studioprinzip wurde an der damaligen Theaterhochschule Leipzig 1964 ins Leben gerufen. Alle Studierenden aus Leipzig werden nach dem zweijährigen Grundstudium an der Hochschule im dritten und vierten Studienjahr an einem professionellen Theater in der Praxis ausgebildet – zunächst mit den Basistheatern in Leipzig und Karl-Marx-Stadt beziehungsweise Chemnitz, bald darauf kamen Dresden und Weimar hinzu.

In Dresden und Leipzig bestehen die Studios seit 1964 (Leipzig) beziehungsweise 1967 (Dresden) kontinuierlich. Auch in Halle gab es seit 1968 immer wieder langjährige Kooperationen. Als 2011 der Vertrag mit dem Theater in Chemnitz gekündigt wurde, rief das dort regen Protest seitens des Theaters hervor, der bis zum sächsischen Ableger des Bühnenvereins ging. Damals stand im Raum, dass Chemnitz angeblich zu provinziell sei, was vonseiten der Hochschule dementiert wurde.

Und jetzt? Für die Schauspielstudierenden aus Leipzig soll es ab 2026 in die Metropolregion NRW ans Schauspiel Köln gehen – dort war man von 2014 bis 2020 schon mal unter der Intendanz von Stefan Bachmann.

Vonseiten der Hochschule ein strategischer Schritt – auch und vor allem in Zeiten von ­Kulturkürzungen. Man habe nun die Chance, „an das modernste und größte Theaterhaus Deutschlands zu gehen – zu Kay Voges, einem sehr renommierten Theatermacher“, so Silvia Zygouris, Leiterin des Schauspielinstituts Hans Otto der HMT Leipzig. Die Entscheidung sei explizit und ausdrücklich keine Kritik an der künstlerischen Qualität des Theaters in Halle. „Halle ist eine Top-Ausbildungsstätte, das weiß jede:r“, so Zygouris. Wechsel seien aber nun mal Teil der DNA von Theatern. Dass man Halle jetzt verlässt, war ursprünglich gar nicht geplant. Eigentlich war man in Gesprächen mit Köln, falls mit dem Weggang von Wilfried Schulz 2027 vom Schauspielhaus Düsseldorf die dortige Ausbildungsstätte wegfallen sollte.

Dass nun beide Häuser unbedingt mit den

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Fotos Falk Wenzel

Magazin Bericht

Magazin Bericht Leipziger Studierenden arbeiten wollen, sei nicht nur ein Zeichen für die Qualität der Ausbildung, sondern habe auch organisatorische Vorteile für die Hochschule. Das Studio in ­Düsseldorf war bisher eher ein Satellit. Nun gibt es zwei Basistheater in NRW. In Köln wird Sebastian Grünewald, bisher Dozent in Leipzig und ab der Spielzeit 2025/26 Ensemblemitglied am Schauspiel Köln, die Studioleitung übernehmen – unterstützt von Absolventinnen wie Katharina Schmalenberg und Kristin Steffen. „Uns ist es wichtig, dass an den Häusern Leute ausbilden, die unsere Sprache sprechen“, so Silvia Zygouris, „das ostdeutsche Erbe ist unsere Ausbildung, aber unsere Studierenden sollten auch die Chance bekommen, westdeutsche Theater kennenzulernen.“ Davon erhofft man sich nicht nur künstlerische Vorteile. Die Kürzungspolitik macht sich auch in den Einstellungs- und Weitervermittlungsquoten bemerkbar. Jährlich strömen allein von den staatlichen Schauspielschulen circa 200 Absolvent:innen auf den Markt. Vakante Stellen in den Ensembles werden jedoch zunehmend nicht nachbesetzt oder schrittweise reduziert. Tendenz vor allem an kleineren Häusern steigend. Es komme deshalb darauf an, die Studierenden so früh wie möglich an große Häuser zu bekommen – in Kontakt mit national und international arbeitenden Teams.

Schon klar, dass Halle da nicht mit Köln konkurrieren kann. Faktisch ist die Dichte an (größeren) Theatern in Nordrhein-Westfalen wesentlich höher. Zudem ist NRW Deutschlands Fernsehstandort Nr. 1, mit Sendern wie dem WDR, RTL und VOX. Das Bundesland verfügt mit der Film- und Medienstiftung NRW über eine der stärksten Länderförderungen in der Bundesrepublik, was die Region besonders interessant für Caster:innen macht.

Das kann man in Halle auch vollkommen verstehen. Unfair ist es trotzdem: „Die westdeutschen Theater stehen auf sicheren Säulen, während nicht in die Zukunft der ostdeutschen Kultur investiert wird – die Theater werden heruntergewirtschaftet bis an die Betriebsgrenze“, so Mareike Mikat, derzeitige Studioleiterin in Halle. Auch lässt sich – zwischen Düsseldorf, Leipzig sowie Dresden auf der einen und Halle auf der anderen Seite – kein signifikanter Unterschied darin erkennen, an welche Häuser die Stu-

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Szenen aus „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann

dierenden nach der Studiozeit erstvermittelt werden. Zumal die Weitervermittlungsquote der Leipziger Hochschule in den letzten Jahren bei nahezu 100 Prozent lag.

Dass sich der Wegfall des Studios für Halle als dermaßen existenziell darstellt, liegt auch daran, dass kleinere Häuser aufgrund ihrer finanziellen Situation naturgemäß abhängiger von den günstigen, zusätzlichen Spielkräften – den Schauspielstudierenden – sind. Das hat Gründe, die weit außerhalb der Verantwortlichkeit einer Hochschulkooperation liegen. Gründe, deren Ursprung in der Transformation der ostdeutschen Theaterlandschaft nach der Wiedervereinigung wurzelt. Den damit verbundenen Bedingungen eines tiefgreifenden Strukturwandels von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft – geprägt durch plötzlichen Kulturföderalismus, Bundesmitteln zur Übergangsfinanzierung, dann dem Wegfall jener Bundesmittel zur Übergangsfinanzierung und dem daraus resultierenden Personalabbau.

In Halle hat man es in den letzten Jahren z. B. geschafft, das Stammpublikum zu ­verj­üngen. Was aber – logischerweise – zu geringeren Einnahmen führt, da Schüler:innen- und Studierendenkarten günstiger sind als jene des Abo-Publikums. Bleibt fraglich, ob harte finanzielle Zielsetzungen in einer ­staatlich finanzierten Kulturlandschaft wirklich ­relevanter sind als nachhaltige und zukunftsorientierte Publikumsentwicklung.

Doch was folgt daraus? Der Wechsel nach Köln wird für Halle allem Anschein nach nicht das Ende als Ausbildungsstandort bedeuten. Man habe sofort Gespräche mit anderen Hochschulen gesucht, wie etwa der Ernst Busch in Berlin. Schon im letzten Jahr wurden zwei Diplominszenierungen von Regiestudierenden der renommierten Akademie in Halle gezeigt. Im nächsten Jahr soll diese Kooperation auf internationale Studiengänge ausgeweitet werden. Dennoch: Es wird anders werden.

Vermutlich kürzer.

Natürlich kann und darf eine Hochschulkooperation weder für die Rettung des Theaters in Ostdeutschland noch für die Spielfähigkeit eines Hauses verantwortlich sein. Dennoch wird hiermit ein weiterer Baustein aus dem ohnehin schon instabilen Jenga-Turm der ostdeutschen Kulturlandschaft gezogen. Und ob sich die Vermittlungsprobleme von Schauspielstudierenden allein durch den Umzug nach Köln lösen lassen, bleibt auch fraglich.

Zur Premiere der Studioinszenierung tritt das Künstlerische Team mit pink-lila Fußballschals zum Schlussapplaus auf. Darauf steht in Großbuchstaben „STUDIO“. In Halle gehört und hält man zusammen. So wird ein Lied der Künstler nand und Tiavo an diesem Abend – erst auf der Bühne, später bei einem Sekt – zur Hymne. Darin heißt es: „Ja, wir revolutionier’n, während andere kapitulier’n.“ T

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Magazin Kritiken

Theater Baden-Baden

Männer erobern die weiblichen Narrative „Lyonesse“ von Penelope Skinner, übersetzt von Katharina Pütter (DSE) – Regie Constanze Hörlin, Bühne und Kostüme Christian Blechschmidt, ­Musik Hannes Strobl

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iele Geschichten von Frauen bleiben unerzählt. Daran hat auch die #MeTooBewegung nicht viel geändert. Die Narrative werden von Männern bestimmt. Die britische Autorin Penelope Skinner wechselt die Perspektive. Sie gibt den Frauen eine Stimme. In ihrem neuen Stück verfällt sie dabei nicht in unreflektiertes Bashing.

Doch ihre Botschaft ist klar: Dass die Frauen ihr Potenzial nicht entfalten können, liegt auch an ihnen selbst. Skinner nimmt dem Thema dabei seine Schwere. In der schnell getakteten Übersetzung von Katharina Pütter dürfen die Frauen auch über sich selbst lachen. Regisseurin Hörlin geht mit ihren Geschlechtsgenossinnen kritisch ins Gericht. Dabei werden die strukturellen Barrieren, die Frauen am Vorankommen hindern, nicht verwischt. Kommen Kinder ins Spiel, mutiert selbst der lauteste Frauenversteher zum Macho. Das erlebt Kate, die Mutter geworden ist und wieder in den Beruf einsteigen will. Lisa Schwarzer stattet die junge Frau, die ihren Beruf mit Liebe und Leidenschaft ausfüllt, mit viel Kraft aus. Das Prinzessinnenkleidchen, in dem sie sich im Job

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„Mord im Regionalexpress“ von Milan Peschel im RambaZamba Theater

RambaZamba Theater Berlin

Riesenspaß mit Hintersinn „Mord im Regionalexpress“ von Milan Peschel und dem RambaZamba-­ Ensemble – Regie Milan Peschel, Bühne Magdalena Musial, Kostüm Nicole Timm

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a, es muss einen Mord gegeben haben.

Schließlich gibt es den Umriss eines Körpers auf dem Boden gleich neben dem Regionalbahnwaggon. Vielleicht war es aber auch nur ein deprimierter Schauspieler, der da mal kurz gelegen hat. Dann wäre es ja eher ein Fall fürs Theater. Da muss eine Sonderkommission ran, die aus illustren Figuren der Fernsehkrimi-Geschichte rekrutiert wurde: Da gibt es eine eifrige Miss Marple (gespielt von Franziska Kleinert), einen in feines Tweed gewandeten Sherlock Holmes (Christian Behrend) und einen verstrubbelten Trenchcoat-Kommissar ähnlich Peter Falks Columbo – Jan Bülow als Gaststar.

Damit ist die Metaebene der Kriminalkomödie als Grundlage gesetzt. Aber in dem von Milan Peschel und seinem Ensemble entwickelten Stück kommt es noch viel ­dicker. In einer Art surrealistischem Übersprung ist bei den Ermittlungen nun auch Peter verschwunden, was zu den großen Existenzfragen führt.

Peter ist der vierjährige Junge aus Harald Hakenbecks Ölbild „Peter im Tierpark“, 1960 gemalt und später in der DDR ein vielfach reproduziertes Ausstattungsstück für Kindergärten und Schulen. Von Peter sind nur noch die Umrisse zu sehen, ähnlich denen bei der Tatortmarkierung. Die ermittlungstechnisch gestellten Fragen bleiben ausgesprochen sachlich: Wie alt ist Peter heute, wann hat er das Bild verlassen – und warum?

Magda Musial hat einen Sperrholzwaggon entworfen, in dem alle acht Spieler:innen bei der Fahrt zusammen wackeln und den sie je nach Bedarf zum Publikum hin drehen können. Der Regionalexpress wird als der einzige Ort angesprochen, an dem verschiedene soziale Schichten aus verschiedenen Lebensräumen zusammen- und vielleicht sogar ins Gespräch kommen. Eine Metapher für Integration und Zusammenhalt also.

So ist Milan Peschel etwas gelungen, das für das RambaZamba als Glücksgriff gelten darf. Ein Zusammenbringen der unterschiedlichen Fähigkeiten im Ensemble – zu nennen sind noch Moritz Höhne, Anil Me­ rickan, Joachim Neumann, Hieu Pham und die inzwischen auf mehreren Bühnen erfahrene Zora Schemm – für einen an der mehrschichtigen Volksbühnenspielweise orientierten Riesenspaß mit Hintersinn. // Thomas Irmer

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Fotos links oben Jochen Klenk unten Phillip Zwanzig rechts oben Franziska Götzen, unten Tobias Kromke

„Lyonesse“ von Penelope Skinner, übersetzt von Katharina Pütter. Regie Constanze Hörlin am Theater Baden-Baden

behaupten will, steht dazu im krassen, optischen Gegensatz. Daheim macht ihr Ehemann Greg zwar ab und zu mal die Wäsche.

Aber der vermeintlich fortschrittliche Filmregisseur wünscht sich ein „Heimchen“ am Herd. Kilian Bierwirth trägt die Doppelmoral seiner Rolle lustvoll zur Schau. Knallhart ist auch Kates Chefin Sue. Sie hat sich in der Branche als Frau durchgeboxt, dabei viele Blessuren erlitten. Nicole Kersten raubt der Figur jegliches Mitgefühl. Obwohl Kate die Kinderbetreuung nicht regeln kann, nimmt sie den Auftrag ihrer Chefin an, die Schauspielerin Elaine zu besuchen, um mit ihr ein Filmprojekt durchzuziehen. Zurückgezogen lebt sie am Meer. Ihr verfallenes Häuschen nennt sie nach dem versunkenen Eiland „Lyonesse“. Ausstatter Christian Blechschmidt beweist bei den Kostümen wie auch beim Bühnenbild ein Händchen für Symbole. Ausgestopfte Vögel erinnern die abgetakelte Schauspielerin an eine bessere Zeit. ­Nadine Kettler gelingt ein großes Porträt der gebrochenen Frau, die in ihren Träumen lebt. „Lyonesse“ ist das Reich des Ritters Tristan aus der britischen Mythologie. Für Elaine ist der Traumraum, dem der englische Dichter Thomas Hardy ein Gedicht gewidmet hat, ein Zufluchtsort. // Elisabeth Maier

Magazin Kritiken

„Kein Plan (Kafkas Handy)“ von Kathrin Röggla (UA).

Regie Philipp Preuss am Theater an der Ruhr Mülheim

Theater an der Ruhr Mülheim

Lost in Weirdness „Kein Plan (Kafkas Handy)“ von Kathrin Röggla (UA) – Regie Philipp Preuss, Bühne Sara Aubrecht, Kostüm Eva Karobath, Video Konny Keller, Musik Kornelius Heidebrecht

nicht. Müssen sie in den Knast, oder droht gar die Todesstrafe? Wenn Kafkas Handy irgendwo rumliegt, könnte es mal klingeln.

Was real passiert und was in der Fantasie stattfindet, bleibt unklar. „Kein Plan (Kafkas Handy)“ ist ein Stück, das vom Publikum viel Konzentration und Mitdenken erfordert.

Kathrin Röggla hat eine stark gebundene, rhythmische, feine Sprache, die ständig die Tonalität wechselt. Fabio Menéndez, Marie Schulte-Werning, Joshua Zilinske und Lea Reihl spielen mit großer Aufmerksamkeit und Durchlässigkeit. Man spürt, wie genau sie mit Regisseur Philipp Preuss an dem komplexen Text gearbeitet haben. Während Kornelius Heidebrecht eine pulsierende, subkutan Impulse setzende Musik komponiert hat.

Hier stehen Menschen auf der Bühne, die nicht selbstverständlich Teil einer liberalen, demokratischen Gesellschaft sind. Im Gegenteil, diese Jugendlichen sind für Verschwörungserzählungen empfänglich. Dabei treibt sie weder Wut noch Hass, sondern eine tief sitzende Verstörtheit. Sie finden einfach keinen Zugang zur absurden Welt um sie herum. // Stefan Keim

Fa(u)st Forward

er braucht dreieinhalb Stunden „Faust“? Niemand. Vorspiel vor dem Theater? Zu viele Meta-Ebenen. Prolog?

Verstaubt. Auerbachs Keller? Eine betrunkene Männergruppe? Dazu muss man nicht ins Theater. Nebenfiguren? Unnötige Staffage.

Dafür: Effektshow: ja, bitte. Pyro: unbedingt!

Popkulturelle anstelle historischer Verweise: Wir bitten drum. Es bleibt: das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Oder auch: Goethes Opus Magnum als 90-minütiges atmosphärisch-mystisches Endzeittheater.

Regisseurin Lydia Bunk destilliert den Stoff, quetscht ihn aus, bis nur noch Wesentliches übrig bleibt. Heißt hier: eine Konzentration auf die Figuren Faust, Mephistopheles und Gretchen. Passend für das Eisenacher Landestheater, das erst seit dieser Spielzeit eine eigene Schauspielsparte samt Ensemble besitzt. Und das muss sich als Landesbühne nicht verstecken. Im Gegenteil. Die Bildwelten, die sich an diesem Abend öffnen, können durchaus mit dem sogenannten Metropoltheater mithalten. Was insbesondere an dem fantastisch-spukigen Büh­nen­bild von Birgit Leitzinger liegt. An dessen Seiten türmen sich amorphe Formationen zwischen knorpeligen Baumstämmen und Gesteinsgebilden auf. Dazu ein Glaskasten, der wie ein Artefakt als Raum im Raum fungiert und nicht selten zum Sinnbild der Isolation einzelner Figuren wird. Eben noch ein kuschelig-weiches Liebesnest für Gretchen und Faust, bald darauf ihre Todeszelle. Frei nach Fausts Ausspruch zu Beginn im Studierzimmer „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nie erjagen“ gestaltet sich der Abend als schauriges Unterfangen, in das man alsbald eingesogen wird.

Dazu die Kostüme (ebenfalls Birgit Leitzinger). Faust (Lukas Umlauft) erst mit langen, zotteligen Haaren, in einer Badewanne liegend, bekleidet nur mit einem samtgrünen Bademantel, rauchend. Das ultimative Abziehbild eines Gelehrten in der Sinnkrise.

Nach dem Hexentrunk unangenehm gestriegelt, seine Seele verkauft für einen perfekt sitzenden Anzug und die Ektase der Verliebtheit ins minderjährige Gretchen. Wie gesagt, optisch ist dieser „Faust“ mindestens so reizvoll wie ein Triple-A-Blockbuster und so fantasievoll wie ein Disney-Film. // Lina Wölfel

„Faust. Der Tragödie erster Teil“ von Johann Wolfgang von Goethe – Regie Lydia Bunk, Bühne und Kostüme Birgit Leitzinger

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

C

ringe. Lost. Safe. Diese Worte sollen ältere Leute bitte nicht benutzen. „Ihr seid nicht wie wir“, ruft ein junger Mann namens Asta der betagteren Generation entgegen.

Wobei der Schauspieler Fabio Menéndez auch schon die 50 überschritten hat. Aber auf Realismus kommt es bei der Uraufführung des Stückes „Kein Plan (Kafkas Handy)“ von Kathrin Röggla nicht an. Vier Geschwister stranden auf dem Rücksitz eines Autos im Irgendwo. Die Eltern hauen einfach ab und lassen sie zurück. Es bleibt Verwirrung, völlige Orientierungslosigkeit. Die vier sind völlig lost. (Der 57-jährige Autor dieser Kritik entschuldigt sich für die verbale Übergriffigkeit.)

Schluss mit dem Scherz, das Stück verhandelt eine ernste Sache. Denn die vier Geschwister sind eine Metapher für junge Menschen, die sich verloren fühlen. Sie kriegen mit, dass die Elterngeneration keinen Plan hat, nicht weiß, wo sie das Auto hinsteuert, und dann plötzlich weg ist. Die jungen Leute verstehen die Welt nicht, sie erscheint ihnen skurril, seltsam, bedrohlich.

Sie geraten in einen Gerichtsprozess und haben keine Ahnung, was verhandelt wird.

Sie scheinen die Angeklagten zu sein, werden befragt, verstehen die Hintergründe

Theater der Zeit 4 / 2025

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„Faust. Der Tragödie erster Teil“ von Johann Wolfgang von Goethe. Regie Lydia Bunk am Landestheater Eisenach

Landestheater Eisenach

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Positions­bestimmung Von Anna Bertram

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Theaterpublikum ist ein bisschen wie die Schweiz, denke ich mir, während ich in der sechsten Premiere dieses Jahres in Zürich sitze und mich frage wieso eigentlich. Eine Gruppe, die zusieht, aber nicht eingreift. Bewerten, applaudieren oder schweigen. Nach etwa zehn Minuten schläft vor mir in der vierten Reihe ein junges Paar ein. Dabei haben die beiden zu Beginn noch aufrichtig gelacht. Es tut mir irgendwie leid. Für wen, weiß ich selbst nicht genau.

Der Abend langweilt bald auch mich.

Wie so oft kommt mir das Gefühl, die Bühne habe nichts mit der Welt zu tun. Nicht nur mit meiner, sondern mit einer politischen Realität. So als ginge es um nichts. Etwas ver­ ärgert schweife ich ab und fange an, die Spielenden zu beobachten. Es sind tolle Schauspielende und trotzdem ist da diese Distanz. Ich stelle mir die Regie vor – ein bekannter Autor –, dann die Intendanz und messe ihnen einen strengen Blick zu. Gedanklich. Bringt nichts, wird nicht gesehen.

Ich ärgere mich noch mehr.

Die beiden vor mir nicken immer wieder ein. Ich suche nach weiteren Regungen in den Sitzreihen, es ist aber schwierig. Wohl überhaupt die Annahme, man könne Menschen Gefühle aus den Gesichtern lesen. Und darüber, womöglich noch etwas über ihre Wahrnehmung erfahren. Aber die Rezeption, so kommt es mir nun vor, ist und bleibt doch die eigentliche Kunst. Dieser Raum zwischen Bühne und Sitzreihen. Das Moment, in dem Ästhetik sich in eine soziale Wirklichkeit übersetzt. Ich erwische mich beim Fingernägelkauen und empfinde plötzlich so etwas wie Aufregung. Das Publikum als das eigentliche Subjekt des Theaters. Und damit auch die größte Herausforderung.

Denn das Publikum gibt es nicht, ebenso wenig wie die neutrale Position oder Inszenierung. Diese Einheit ist ein Märchen.

Es stammt aus den bürgerlichen Wohnzimmern, aus korrupten Machenschaften, taucht in der Idylle der Schweizer Berge auf.

Und wird auf Bühnen weitergesponnen. Ja, wenn man sich das so ansieht, scheint das Behaupten von einfachen Wahrheiten ästhetisch veraltet. Und wenn man sich das noch anders ansieht, scheinen diese Erzählweisen sogar autoritär. In aufgeregten Zeiten wächst die Sehnsucht nach Ordnung. Ist dieser Wunsch neutral? Nein. Er ergreift Partei für einen gutbürgerlichen Schlaf der Welt.

Menschen ihre individuellen Erfahrungen abzusprechen funktioniert nicht und hat es

noch nie. Eben aber doch: für Rechts-außenParteien, die darin ihre Chance sehen, die Haltlosen für sich zu gewinnen.

Wer sich nicht positioniert, überlässt das Feld anderen. Als dann der Applaus erklingt, klatschen auch die beiden Schlafenden mit. Ich würde gerne wissen, was sie denken. Das Klatschen im Raum scheint an diesem Abend auf dem schmalen Grat zwischen Affekt und Konvention zu liegen. Und bleibt doch so oft, denke ich mir, für viele das Einzige, was Publikum und Spielende verbindet. Aber auch die einzige Reaktion, die den Zuschauenden in den Sitzreihen letztlich zugetraut wird. Die ersten Menschen verlassen den Raum, etwas hastig und manche verlegen. Andere klatschen weiter die Hände zusammen. Ich versuche gar nicht erst, den Applaus zu deuten. Erinnere mich, dass in Wien das Klatschen im Theater für lange Zeit dem Kaiser vorenthalten war.

Ja, es gibt die Chance der Neutralität.

Nein, sie ist kein Diktat. Ein Publikum darf und muss Fragen stellen und seine Meinung artikulieren. Skeptisch oder zumindest kritisch gegenüber Öffentlichkeiten sein, die inszeniert werden. Im Theater braucht es dafür künstlerische Stimmen, die eine Vorgabe leisten. Die Erfahrungen schaffen und nicht bloß spiegeln, sondern auch formen. Bühnen, die den Versuch des Widerständigen eingehen und Interesse an einem Außen haben. Ob es vermessen ist, das aus Zürich heraus zu schreiben? Vielleicht. Aber woher sonst die Einsicht, wenn nicht aus diesem bequemen Gefühl der Unbeteiligtheit? Es muss von hier kommen. Und vielleicht gerade aus dem Theater. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen im monatlichen Wechsel: die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora, die Dramaturgin Anna Bertram und ein Team vom Theaterhaus Jena.

Theater der Zeit 4 / 2025

Foto links Elia Quadri, rechts Kaserne Basel Ginny Litscher, Theater Marie Valentina Verdesca, English Theatre Stefania Migliorati, Ballhaus Naunynstraße Zé de Paiva, Sophiensæle Berlin Gedvile Tamosiunaite

Magazin Kolumne

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präsentiert Schweizer Erstaufführung Die Geschichte zweier Fußballer, die sich auf dem Weg zum vierten Champions-LeagueTitel verlieben. Eine zarte und humorvolle Vision einer etwas anderen Welt.

Produktion von Theater Marie und Konzert und Theater St. Gallen. ab 24.4. (Kurtheater Baden), ab 1.5.

(Bühne Aarau) ab 7.5. (Theater St. Gallen) „The whole Truth about Lies“ Radialsystem, Berlin Wer die ganze Wahrheit über Lügen sucht, wird im Paradoxen fündig – oder im Theater.

Das aktuelle Projekt von NICO AND THE NAVIGATORS über Selbstbetrug, Fremd­ bestimmung, Notlügen und Trugschlüsse.

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Kaserne Basel MITOSIS – an LSD Opera von Brandy Butler – eine hingebungsvolle Oper über das Leben, die Vergänglichkeit und LSD-unterstützte Medizin.

Mehr Infos unter kaserne-basel.ch 23. und 24.4. „zwei herren von real madrid“ von Leo Meier

Sophiensæle Berlin Kareth Schaffers Performance „Bird Dances“ ist eine Reflexion aus der Vogelperspektive über Grenzen, Migration und Heimatgefühle.

In kurzen Soli und Monologen verweben vier Tänzer:innen ihre Biografien mit den Geschichten von vier Vogelarten. 10. bis 13.4.

Theater Chemnitz, Spinnbau Vor dem Hintergrund der aktuellen Interimssituation von Schauspiel und Figurentheater („Spinnbau“) wird mit diesem Buch von Annette Menting (Professorin für Architekturgeschichte und Baukultur in Leipzig) zugleich die Bedeutung und Perspektive des Theaters Chemnitz als vielschichtiger Kulturort für die Stadt aufgezeigt. 6.4. (Buchpremiere)

Theater der Zeit 4 / 2025

English Theatre, Berlin Die Band RED LARGO & 5 Schauspieler:innen im Gespräch mit einer kulturellen Ikone.

Sie singen, sie tanzen, sie spielen den Schmerz fort: POP! Andy Warhol & The Velvet Underground @etberlin.de 11.4. (Uraufführung), 12.4., 15.–19.4.

Ballhaus Naunynstraße, Berlin Bishop Blacks erste Ensemble-Performance am Ballhaus Naunynstraße vereint Mythologie, Queerness und Tanz, um aus Schwarzer Alltagserfahrung widerständige und selbst­ bestimmte Bewegungen entstehen zu lassen: eine einmalige Performance!

2.4. bis 5.4.

„Flight of the Canaries“ von Bishop Black

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Thema Florentina Holzinger 10

Theater der Zeit 4 / 2025

Florentina Holzinger in „Sancta“, von Paul Hindemith, Johanna Doderer, Johann Sebastian Bach, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani u.a. Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“ (Libretto: August Stramm).

Regie und Choreografie Florentina Holzinger, Musikalische Leitung Marit Strindlund, Bühne und Kostüme Nikola Knežević. Uraufführung am Mecklenburgisches Staatstheater, Schwerin, 2024

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Foto Nicole Marianna Wytyczak

Ende März kam Kurdwin Ayubs Film „Mond“ mit Florentina Holzinger als Mixed-Martial-Arts-Sportlerin in die deutschen Kinos. Zu Filmen hat die Choreografin vielfältige Beziehungen, nicht nur durch die Erweiterung des Tanzes mit Stunts, sondern ganz direkt mit ausgearbeiteten Referenzen zum GenreKino, wie der Filmexperte Christian Fuchs erläutert. Indes wird Holzingers Arbeit auch international viel diskutiert, meist kontrovers vor dem Hintergrund der jeweiligen Kultur- bzw. Tanzund Theaterszene. Dazu Beiträge aus Norwegen, Tschechien und Polen. Schließlich untersucht TdZ-Redakteurin Elisabeth Maier noch einmal die skandalisierten Aufführungen der Hindemith-Oper „Sancta“ im Repertoire der Staatsoper Stuttgart, die im Mai beim Berliner Theatertreffen wieder zu sehen sein wird.

Interview

Mit der Pfeilspitze ins Herz hinein Florentina Holzinger über den Film „Mond“, eigene Kampfsporterfahrungen und internationale Gastspiele im Gespräch mit Thomas Irmer

Die österreichische Choreografin und Performancekünstlerin Florentina Holzinger

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Thema Florentina Holzinger

Foto picture alliance/dpa | Jens Büttner

Wie ist es zu dieser Rolle in Kurdwin Ayubs Film „Mond“ als Mixed-Martial­ Arts-Trainerin in Jordanien gekommen?

FLORENTINA HOLZINGER Ich kenne Kurdwin schon länger aus der Wiener Kunstszene. Ich glaube, es war während der Pandemie, als sie mich angesprochen hat. Sie wusste noch nicht genau, ob sie das Geld dafür zusammengekratzen könne, fragte aber, ob ich Interesse hätte.

Ich habe das Drehbuch gelesen und fand es spannend. Ich sagte zu ihr, hey, Kurdwin, ich bin echt das Gegenteil von einer Schauspielerin und erst recht keine Filmschauspielerin.

Es folgte dann aber doch eine längere Phase, wo ich immer wieder zu ihr gekommen bin oder sie zu mir und wir Sachen ausprobiert haben. Dann hat sie mich tatsächlich gefragt, ob ich diese Sarah spielen will, diese Ex-Kampfsportlerin.

Die hatten einen recht flexiblen Schedule und deswegen konnten sie sich nach mir richten. Das hat sich gut eingefügt.

Dreharbeiten sind vergleichbar sehr kurz zu Probenarbeiten, speziell wenn man nur als Schauspielerin arbeitet und nicht das Ganze auch konzipieren muss.

Ist tatsächlich in Jordanien gedreht worden?

FH Ich war dafür drei oder vier Wochen in Jordanien. Es gab auch Überlegungen, in den Emiraten zu drehen. Aus unterschiedlichen Gründen hat sich Jordanien jedoch am meisten angeboten. Auch weil es da gute Produktionsteams gibt. Jordanien ist einfach ein Filmland.

Aber das war definitiv auch das Coole daran, dass es in vielerlei Hinsicht spannend war. Das fiel zusammen mit meinen ersten Recherchearbeiten für „Sancta“, weswegen ich mich extensiv mit der katholischen Kirche auseinandergesetzt habe.

Ich fand es interessant, mich auch mit Religion in diesem islamischen Kontext auseinanderzusetzen.

Wobei es ja in dem Film nicht wirklich aufgeklärt wird, was in dem Haus los ist.

Hast du es rausgekriegt?

FH Ich bin wahrscheinlich nicht die Person, die darin nach konkreten Antworten sucht. Ich habe mir meine eigene Logik

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zusammengereimt. Ich bin schließlich eine Amateur-Schauspielerin. Kurdwin meinte, lies das Drehbuch lieber nicht mehr mit diesen Fragen, weil ich so relativ unvermittelt in die Szenen komme und mich entsprechend verhalte. Sie hat mir natürlich vor jedem Dreh kurz erklärt, was die Intention ist. Und dadurch bin ich vielen Situationen so das erste Mal vor der Kamera begegnet.

Es gibt ja noch einen anderen Kontrast, nämlich den zu Sarahs Welt in Österreich, wo sie nicht wirklich akzeptiert wird für das, was sie als Sport oder Job macht. Und selbst in dem engeren Kreis um sie herum scheint es auch immer Verwunderung oder Unverständnis dafür zu geben. Welche Rolle hat das gespielt, um da ranzugehen?

Das ist ja auch das, was du in deinen ­Theaterarbeiten machst, riskante, körperliche Sachen.

FH Es ist trotzdem nicht so super naheliegend, denke ich, die Arbeit einer Künstlerin mit der Arbeit, dem Job einer Kampfsportlerin zu vergleichen. I don’t know.

Aber nichtsdestotrotz konnte ich mich schon mit diesem Charakter identifizieren in der Art und Weise, weil ich selbst Erfahrungen mit Kampfsport habe. Ich habe wirklich extensiv trainiert eine Zeit lang.

Und definitiv auch mal mit dem Gedanken gespielt, meine künstlerische Karriere an den Nagel zu hängen und gegen eine athletische Karriere im Kampfsport einzutauschen, weil mir das grundsätzlich naheliegt und auch sehr großen Spaß gemacht hat.

Wann war das?

FH Nachdem ich graduiert habe von der Choreografieausbildung. 2011, 2012, 2013. Aber es wurde mir dann schnell zu langweilig, weil das Depperte am Sport ist, dass man da nicht seine eigenen Parameter erfinden kann, sondern die Parameter recht klar vorgeschrieben sind: was eine gute und was eine schlechte Leistung ist.

Und das geht mir natürlich auf den Sack insgeheim. Das Geile an künstlerischen Projekten ist ja, dass man selber alle Parameter definieren kann.

Ich habe sehr gute Freundinnen, die professionell aus dem Kampfsport kommen. Es ist ein Knochenjob. Doch

Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, meine künstlerische Karriere an den Nagel zu hängen und gegen eine im Kampfsport einzutauschen.

alle Menschen, die ich in diesem Umfeld getroffen habe, sind sehr cool. Speziell ­ ­natürlich eine bestimmte Spezies an Frauen, denen ich begegnet bin, die ich sehr cool fand, vom Typ sehr resistent und resilient. Das sind alles Mädels, die eher aus dem Lower-Middle-Class-Kontext kommen. In Amsterdam und in Kroatien kenne ich einige, die mich für diese Rolle inspiriert haben. Weil sie Typen sind, die eine dicke Haut haben und eine enorme Offenheit. Wenn die einen Anruf kriegen, hey, arbeite bei uns als Private Personal Coach oder so, dann würden sie das machen und würden sich voll und bedingungslos einlassen auf so ein Jobangebot. Also in der Hinsicht könnte man sagen, die Geschichte hat einen vollkommen realistischen Hintergrund. Dass man vielleicht als Kampfsportlerin nicht genug Geld verdient, aber dann so ein Jobangebot fast wie die Rettung sein könnte.

Dieser Sport ist ein besonderes Ding.

Egal, wo man auf der ganzen Welt ins Gym geht, da findet man immer irgendwie Leute. Wenn ich auf Tour bin, hilft mir das, die Stadt kennenzulernen, in der ich bin, wie ein sozialer Schlüssel. Im Kampfsport hab ich mich ja mit allen möglichen Sachen auseinandergesetzt. Nicht nur mit MMA. Ich war auch viel in Thailand zum ThaiBoxen und in China für Kung-Fu-Sachen.

Das hat mich immer schon interessiert.

Auch viel Taekwondo gemacht, alles Mögliche. Jiu-Jitsu natürlich. Meine große, unerwiderte Liebe.

Heißt das, dieser Ausflug in den Film wird auf diesen Bereich begrenzt bleiben?

FH Es war eine Rolle, die mir auf den Leib geschnitten wurde. Zu dem Zeitpunkt, als Kurdwin mich gefragt hat, ob ich das machen will, hatte ich mich schon wieder entfernt vom Kampfsport. Ich fand

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Thema Florentina Holzinger das cool, dass ich so eine Kampfsportlerin spielen kann. Unter uns gesagt, die Arbeit am Film war für mich recht langweilig. Ich mag ja Action.

Ihr tourt inzwischen sehr viel, wart in ­Japan und Hongkong und zeigt eure Arbeiten im Kontext ganz unterschiedlicher Kulturen.

FH Jetzt haben wir gerade eine Nordamerika-Tour hinter uns, waren in New York und in Montreal, wo man so quasi annehmen würde, dass dort Leute solche Arbeiten kennen, denn ich bin als Künstlerin sehr inspiriert von New York Underground Artists, die gefühlt aus meiner Perspektive Sachen wie unsere schon jahrzehntelang betreiben. Aber ich war schockiert, als wir dort waren und die Leute sagten: „Wow, we never saw something like this.“ Und ich glaube, das hat eher mit der schrecklichen Kulturpolitik in den Vereinigten Staaten zu tun. Alles Interessante, was dort abgeht, muss halt echt im Underground und ohne irgendein Geld oder Förderung auskommen.

Die Highlights waren für mich eigentlich Japan und Polen. Insofern, dass man das Gefühl hat, wow, das trifft dort wirklich einen wunden Punkt. Einfach ganz genau mit der Pfeilspitze ins Herz hinein.

Natürlich wird das in die Schublade feministischer Kunst gesteckt, und das stört mich auch nicht. Ist schließlich so intendiert.

Japan ist eine extrem patriarchale Gesellschaft mit extrem vielen Tabus über den Frauenkörper, Dinge wie Menstruation und so weiter, mit denen sich die Leute hier schon angefreundet haben.

Aber dort handelt es sich um wirklich krasse Tabus.

Viele Dinge, die wir hier auf der Bühne machen, sind in gewissen Ländern illegal,

Es sind auf einmal Merchandising-Produkte aufgetaucht, weil einfach die Headlines so göttlich waren.

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wo Kuratorinnen sich wirklich sehr aus dem Fenster lehnen, um das durchzusetzen, und wir auch dementsprechend wirklich große Unterstützung spüren. Natürlich, die ewigen, alten Reproduktions- und Abtreibungsthemen, in Polen ist das extrem brisant und ein extremer Struggle auch, und deswegen hatten wir dort wirklich das Gefühl, „wow, it’s really actually super urgent“, so eine Arbeit dort zu machen, die auch anders als hier verstanden wird.

Mit Wirkung?

FH Ja, also so wird mir das jedenfalls immer gesagt, dass solche Sachen dann irgendwie auch in der Kunstszene vor Ort etwas verändern.

In Japan dürfte es auch das Bild vom europäischen und deutschen Theater verändern.

FH Vielleicht, und andererseits hat Japan mit Butoh auch Dinge, die nicht so weit entfernt sind. Da gibt es ein Verständnis dafür, das ist eben interessant.

Das ist wahrscheinlich ein guter Andockmoment, Butoh, ein extrem entregelter Tanz.

FH Sehr extrem eigentlich. Und da ist auch viel Haut dabei und hat mit Abjektem und Monstrosität zu tun.

Du hast ein Sweatshirt mit einem auf „Sancta“ bezogenen FAZ-Zitat an: „In der Oper gewesen. Gekotzt.“ FH Ich hab’s nicht absichtlich hierfür an. Ich hab’s auch nicht herstellen lassen.

Das hat jemand produziert und ich habe es im Internet gefunden und eins bestellt. Da mussten wir nicht einmal selber merchandisen, sondern es sind auf einmal viele Produkte aufgetaucht, weil einfach die Headlines so göttlich waren. Wir haben einige davon bestellt für die ganze Crew, und die Hersteller haben uns als diejenigen, die das ausgelöst haben, einen Discount gegeben.

An der Stuttgarter Oper seid ihr jetzt mit „Sancta“ fest im Repertoire.

FH Ja, es geht nur dort. Mit Ach und Krach haben wir das hier zweimal an der Volksbühne reingepresst und mit Ach und Krach pressen wir es jetzt auch fürs Theatertreffen hier noch mal rein.

An einem Opernhaus im Repertoire zu sein, das ist ja auch noch mal eine neue Schwelle gewesen. Ist „Sancta“ da am richtigen Platz?

FH Wir waren dafür gut vorbereitet.

Dass es so schwer werden würde, hat mich dann doch überrascht. Beziehungsweise, was damit medial passiert ist, hat mich komplett überrascht.

Auch die Proteste der Kirche, die insbesondere in Wien vorgebracht wurden?

FH Nein, die Kirche spielt einfach in Österreich noch eine große Rolle behind the scenes und ich wollte mich damit de­ finitiv mal auseinandersetzen. Aber ich hatte nicht das Gefühl und überhaupt keine Scheu, da irgendjemandem auf den Fuß zu treten, weil das trotzdem allgemeiner Konsensus ist, dass natürlich die Kirche auch große Dinge falsch gemacht hat.

Also ich meine, das betone ich ja ständig, dass es nicht darum geht, irgendwie die Religion von Leuten anzukreiden, sondern alle Leute sollen an das glauben, was sie wollen. Aber auch der christlichste Mensch oder gerade der christlichste Mensch sollte sich mit den Fehlern der Kirche und den eigenen Problemen der Aufarbeitung damit auseinandersetzen.

Ich hätte die Kardinäle gerne eingeladen zu einer Show, denn die haben sie ja gar nicht gesehen, und ich hätte mich gerne mit ihnen darüber unterhalten – ich habe auch in Bezug auf „Sancta“ extrem viel gutes Feedback gerade von Katholiken erhalten, weil sie das eine gut recherchierte Show fanden und an sich eine To-the-point-Abhandlung des Frauenbilds der Kirche. In der Oper ist es offensichtlich gang und gäbe, dass man so handgeschriebene Briefe von den Abonnentinnen empfängt, wo sie ihren Senf dazugeben. Deswegen habe ich viele handgeschriebene Briefe mit Feedback und speziell auch eben von vielen Katholiken oder christlichen Menschen, dabei wirklich sehr coole Feedbacks. Gerade auch von Pfarrern.

Da waren eigentlich diese Kardinäle und Bischöfe von Salzburg und Innsbruck eher die Ausnahme.

Andererseits kann ich mir vorstellen, dass in katholischen Ländern oder vor dem Hintergrund des Katholizismus in

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In Venedig nehmen wir Leute wirklich mit unter Wasser bei einem Lagunentauchgang.

der ­Kultur, wie in Polen und Österreich, „Sancta“ besonders gut lesbar ist und das Subtile überhaupt erst vom Publikum erkannt wird.

Ja, definitiv.

Der österreichische Pavillon bei der Biennale in Venedig ist demnächst eine andere Aufgabe, wo auch ein gewisser Repräsentationscharakter drinsteckt. Was wird da passieren?

FH Als Künstlerin des 21. Jahrhunderts habe ich überhaupt nichts am Hut mit irgendeinem nationalistischen Denken und fühle mich wahrscheinlich unösterreichischer als viele Menschen, die nicht österreichisch sind.

Ist das so? Unösterreichisch?

FH Ich bin mein ganzes Leben lang viel herumgereist und speziell meine künstlerische Laufbahn hat sich nicht wirklich viel in Österreich abgespielt.

Aber lagen die Anfänge nicht im Wiener Tanzquartier und im brut?

FH Ja, aber da habe ich in Holland gelebt. Gut, d. h. nicht, dass ich mich nicht selber erlebe als stark von diesem österreichischen kulturellen Kontext geprägt.

Allerdings ist das für mich eher ein guter Witz, Österreich zu repräsentieren. Doch natürlich finde ich es extrem interessant, in diesem spezifisch österreichischen politischen Klima jetzt den Pavillon zu gestalten und doch Österreich zu repräsentieren.

Werdet ihr denn eine performative Arbeit zeigen?

FH Ja, natürlich.

Auch über die ganze Länge? Man hat ja letztes Jahr am deutschen Pavillon mit ­Ersan Mondtag gesehen, dass es gar nicht so einfach ist, das durchzuhalten.

FH Wir müssen und wir werden sehr kreativ sein, was das anbelangt, weil na-

türlich ist mein Metier der Körper und ich werde jetzt nicht ein Bild malen und das da reinhängen und Leute können das dann anschauen, sondern es geht schon um das Erlebnis von Körpern. Aber ich glaube, wir haben gute Taktiken, dass da wirklich etwas erlebt und gesehen werden kann. Das wird für eine Pavillon-Arbeit auch etwas völlig Neues sein, weil das überschreitet dann schon die Grenze der sozusagen stillgestellten Objekte. Wir nehmen natürlich die Leute auch mit in die Stadt und machen dort etüdenmäßige Aktionen, wie wir sie letztes Jahr in Norwegen gemacht haben. Ja, und dann nehmen wir Leute wirklich auch mit unter Wasser bei einem Lagunentauchgang.

Naheliegend für Venedig. Wegen der Prophezeiung, dass die Stadt mal im Wasser untergehen wird. Kommen wir noch auf die Volksbühne zu sprechen. Ich hatte den Eindruck, dass ganz viele froh waren ­genau über das, was hier bei der Pressekonferenz vor vier Wochen stattfand. Dass du gesagt hast: Ich bleibe der Volksbühne verbunden und bin froh, dass Matthias Lilienthal die Drecksarbeit macht. Damit war aber auch ein leitungsteamartiges Gebilde gemeint. Kannst du dazu etwas sagen?

FH Noch recht wenig eigentlich, denn das ist alles sehr in the making. Matthias ist natürlich damit befasst, aber ich bereite gerade die neue Volksbühnen-Premiere im Mai vor, deswegen habe ich mich zurückgehalten.

www.tobs.ch

Ab 21.03.2025 Stadttheater Solothurn & Biel

Frank Buchser Ein Recherche-Projekt Katharina Ramser

Wird es mit technologisch aufgeladenen Performances weitergehen? Oder wird der Tanzanteil in sich wieder stärker eine Rolle spielen? Was interessiert dich da im Moment mehr?

FH Beides. Ich glaube, alle Dinge, mit denen wir uns in den letzten Jahren beschäftigt haben, werden uns eingehend noch mehr beschäftigen. Uns gehen nicht die Ideen aus, in welche Richtung sich das genau entwickeln könnte. T

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Filmkritik

Kampf im Käfig Kurdwin Ayubs „Mond“ mit Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle Von Lara Wenzel

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Flucht und Selbstbestimmung sind die zentralen Motive in den Filmen Kurdwin Ayubs. In ihrem zweiten Spielfilm ist es Sarah, die versucht, sich aus ihrer beruflichen Sackgasse zu befreien. Ihre Niederlage gegen eine jüngere Gegnerin markiert das Ende ihrer erfolgreichen Kampfsportkarriere. Ernüchtert versucht die Leistungssportlerin, als Personal Trainerin an ihren Ruhm anzuknüpfen, aber die Stunden wirken öde im Vergleich zur Aufregung im Käfig. Erst mit dem Angebot, drei Frauen in Jordanien zu trainieren und aus ihrem Alltag in Wien in ein noch unbekanntes Land zu fliehen, hat sie wieder ein Ziel.

Mit unlesbarer Miene beobachtet Florentina Holzinger in ihrem Spielfilmdebüt die Dynamiken in der jordanischen Familie. Sie liefert, ruhig und konzentriert, den äußeren, westeuropäischen Blick auf den Alltag der Schwestern, die in einer luxuriösen Villa von der Außenwelt abgeschottet leben. Ihr reduziertes Spiel ist das einer Leistungssportlerin, die nie unnötig oder zu viel Energie verausgabt. So bildet die Performancekünstlerin, die für ihre spektaku­ lären Inszenierungen bekannt ist, einen Ruhepol zur wachsenden Anspannung im Hause ihres neuen Arbeitgebers. Obwohl sie aus Österreich für die Schwestern Shaima (Nagham Abu Baker), Nour (Andria Tayeh) und Fatima (Celina Antwan) eingeflogen wurde, wird sie nicht als willkommener Gast empfangen: Zu Beginn muss sie

eine Non-Dis­ closure-Vereinbarung unterschreiben. Normales Prozedere, wie ihr Abdul Al-Fahadi, der ältere Bruder versichert.

Schon beim Aufwärmen stellt sich heraus, dass Shaima und Fatima wenig Interesse an Kampfsport haben, nur Nour fragt vorsichtig nach Selbstverteidigungstechniken gegen die Prügelstrafen. Nach ein paar Hampelmännern verlassen alle drei den kahlen Trainingsraum im Keller. Etwas verloren, jedoch mit stoischer Geduld nimmt Sarah im Retrotrainingsanzug auf einem der protzigen Sofas Platz und schaut mit ihren Klientinnen eine Soap, bis sie der Fahrer wieder ins Hotel bringt. Warum wurde sie an diesen verschlossenen Ort gebracht, wenn sie dort niemand haben will?

Amman bleibt ihr und den Zuschauenden als Stadt unzugänglich. Sarahs Alltag ereignet sich auf klaustrophobischen Inseln, die durch die Kameraführung von Klemens Hufnagl in beklemmenden Bildern eingefangen werden. Vom Hotelzimmer bringt sie ein Wagen zur Villa, am Abend sucht sie Kontakt in der Hotelbar, wo sie erfährt, dass ihre neuen Arbeit­ geber berühmt sind für dubiose Geschäfte, und einmal laden die Schwestern sie in eine menschenleere Shoppingmall ein. Die Räume, in denen sich die Frauen bewegen, erschließen sich im Film selten zur Gänze.

Ihre empfundene Enge ist erfüllt von unausgesprochenen Spannungen, die jederzeit zu kippen drohen. Jedoch bleibt die

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Fotos Grandfilm- Ulrich Seidl Filmproduktion

Szenen aus dem Film „Mond“: links Andria Tayeh, Celina Antwan, Nagham Abu Baker, Florentina Holzinger, Mitte Florentina Holzinger, rechts Celina Antwan

Thema Florentina Holzinger

Abgeschiedenheit Sarahs, die sich diesen Job als willkommene Abwechslung ausgesucht hat, unvergleichbar mit dem Alltag der drei Schwestern, die auf jedem Schritt von einem Bodyguard überwacht werden.

Spiel mit Identifikationen Bereits ihr Spielfilmdebüt „Sonne“ über eine junge österreichische Kurdin, die zwischen religiösen und sozialen Erwartungen ihre Selbstbehauptung sucht, wurde zur Premiere auf der Berlinale gefeiert und u. a. mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Während die Protagonistin Yesmin in der Oberstufe ihren eigenen Umgang mit Projektionen auf sie und ihr Kopftuch sucht, suchen ihre nicht-kurdischen Freundinnen die Erfüllung ihrer Freiheitsfantasien im nordirakischen Erbil, wohin sie ohne ein Wort verschwinden. Der unverstellte realistische Stil Ayubs fesselt und lässt das Publikum mit ambivalenten Gefühlen zurück.

Auch „Mond“, der zweite Film der Trilogie, wurde ebenfalls mit dem Spezialpreis der Jury beim Locarno Film Festival geehrt.

Eine glückliche Auflösung oder moralische Klarheit schenkt die österreichisch-kurdische Regisseurin ihren Zuschauenden nicht.

Ayub spielt mit Identifikationen und Projektionen, europäischen Islambildern und deren Brechung. Während sich in ihrer Volksbühnen-Premiere „Weiße Witwe“ die rechte Schreckensfantasie eines

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autoritären islamistischen Staates immer weiter verkehrt, bis in ihrem Zentrum der alte weiße Mann auftaucht, sind es die Erwartungen an Macht und Ohnmacht, die sich in „Mond“ als nicht so eindeutig entpuppen wie gedacht. So tritt Sarah, die sich als österreichische Staatsbürgerin mehr herausnehmen kann, für die Schwestern ein, gibt ihnen ein Handy mit Internetzugang und versucht, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Doch ihre moralische Integrität wirkt schal, wenn sie sich nach der vereitelten Befreiung wieder nach Österreich retten kann, während Shaima, Nour und Fatima zurückbleiben. Welche Strafe sie erhalten und ob sich durch eine günstige Heirat ein Ausweg bietet, wie es sich Shaima wünscht, bleibt unerzählt. Nur die Gewissensbisse, die Sarah bis in ihren Wiener Freundeskreis verfolgen, werden sichtbar und bilden einen deprimierenden Endpunkt.

In der gescheiterten White Saviour-­ Erzählung arbeitet Ayub mit Klischees und verdreht sie zugleich. Die weiße Sarah wird zur Arbeitsmigrantin in Jordanien und muss notwendig die Hoffnungen enttäuschen, die die Schwestern in die Europäerin setzen.

Sie hat kaum Mittel oder Verbindungen – im Gegensatz zur Familie Al-Fahadi. Dass Ayub bekannte Erzählungen über muslimische Frauen vermeintlich gegen den Strich bürstet, stößt in der Filmwelt auch auf Unverständnis. Ein Festivalleiter habe sie ­ mal gefragt, warum sie unterdrückte Frauen

Der unverstellte realistische Stil Ayubs fesselt und lässt das Publikum mit ambivalenten Gefühlen zurück.

in einem Land zeige, wo der Islam Staatsreligion ist, berichtet eine Figur in „Weiße Witwe“. So eine Erzählung würde doch den Rechten in die Hände spielen, erzählt der alte weiße Mann (Georg Friedrich) auf der Theaterbühne.

Absurder erscheinen diese Projektionen, weil der Film von dem tatsächlichen Fluchtversuch der aus Dubai stammenden Prinzessin Latifa Al Maktum inspiriert ist.

Mithilfe ihrer finnischen Trainerin Tiina Jauhiainen erreichte sie eine Yacht in Indien, wo sie schließlich vom Königshaus gefasst und seitdem nahezu aus der Öffentlichkeit verbannt wurde. Vor vier Jahren sendete Latifa ein Lebenszeichen über ein Handyvideo, das sie heimlich im Badezimmer aufnahm – ein Mittel, mit dem auch Nour Sarah um Hilfe bittet. Diese Filmtechniken und das präzise Spiel aller Schauspielerinnen verstärken den beklemmenden Realismus von „Mond“, der jede Hoffnung auf eine geradlinige Flucht aus inneren und äußeren Käfigen gnadenlos enttäuscht. T

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„Ophelia’s Got Talent“ wurde für das tschechische Festivalpublikum in Wien gezeigt

Abwehr gegen nackte Nonnen Florentina Holzinger und die tschechische Theaterszene Von Tomáš Kubart

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Florentina Holzinger ist erst seit relativ kurzer Zeit ein Begriff in der tschechischen Tanz- und Theaterszene. Als das Prager Festival des deutschsprachigen Theaters 2023 ihr „Ophelia’s Got Talent“ in seinem Programm zeigte, fegte die Schockwelle der Aufführung mit ähnlicher Wucht über Bischöfe und Kleriker hinweg wie einst Oliver Frljics ˇ „Eure Gewalt, unsere Gewalt“ (2018), zwang Theaterkritiker:innen, die einer ähnlichen Produktionsästhetik bisher keine Beachtung geschenkt hatten, sich zu Wort zu melden, und provozierte Analysen von Theaterwissenschaftler:innen. Allerdings wurden Holzingers Inszenierungen damals bis auf wenige Ausnahmen ohne einen größeren Werkzusammenhang und außerhalb der Inszenierungsstrategien des deutschsprachigen Theaters wahrgenommen. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, warum „Ophelia“ in der tschechischen Theater- und Tanzszene keine stärkere Reaktion hervorgerufen hat und ob wir in unserem Umfeld ähnliche Inszenierungspraktiken anwenden könnten.

Als ich am 11. Oktober 2024 auf FB als Reaktion auf Holzingers Operninszenierung von „Sancta“ schrieb: „So sollte echtes Theater aussehen! Katharsis, Reinigung ...

Erbrechen, Bluthochdruck, kurz, diese gewöhnlichen, menschlich warmen Emotionen, für die wir ins Theater gehen“, hätte ich nicht gedacht, dass ich unter meinem Beitrag Posts von tschechischen Theatermacher:innen erhalten würde. „Ich bin daˇ bei“, schrieb Jakub Cermák, Theaterdirektor und derzeitiger Leiter der Schauspielabteiˇ lung des Südböhmischen Theaters in Ceské Budejovice.

Und er war nicht allein. ˇ Diese Erfahrung ist ein gutes Argument für zwei wichtige Perspektiven der Rezeption von Florentina Holzinger in der Tschechischen Republik. Erstens: Obwohl Theatermacher:innen und Kreative im Oktober 2023 die Gelegenheit hatten, ihr „Ophelia’s Got Talent“ in Wien zu sehen, blieb das nachfolgende „Sancta“ so gut wie unbeachtet. Zweitens: Trotz des wenigen, das man über ihr Werk wusste, verspürten viele ein großes Verlangen, ihre Sachen live zu sehen (was angesichts der ausverkauften Veranstaltungsorte fast unmöglich war). Es stellte sich heraus, dass die Theater- und Tanzschaffenden, mit

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Fotos Nicole Marianna Wytyczak, „Ophelia’s Got Talent“, eine Produktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Tschechien

Thema Florentina Holzinger denen ich bei der Vorbereitung dieses Artikels sprach, zwar von Florentina Hol­ zinger gehört, sie aber nicht live gesehen hatten. Doch das ist nicht alles: Mehrere tschechische Theaterkritiker:innen und Dramaturg:innen, die vom Prager Theaterfestival der deutschen Sprache nach Wien mitgenommen wurden, haben sie gesehen.

Werfen wir also zunächst einen Blick auf die kritische Aufklärung hierzulande.

Aus den Rezensionen von Jana Machalická, Veronika Boušová und Vladimír Hulec lässt sich ein signifikantes Interesse an (und Verständnis für) Emanzipation von Frauenideen und feministischen Haltungen herauslesen: „Endlich habe ich eine Aufführung gesehen, in der der weibliche Körper kein Fetisch war, sondern Frauen sich völlig frei verhalten haben“, zitiert Vladimír Hulec eine ungenannte Kollegin (Divadelní noviny). Marta Ljubková beschreibt die Inszenierung als „ein Phänomen“ (Host), Machalická als „ein mitreißendes Spektakel voller Energie mit phänomenalen Tänzerinnen“, das bestehende Konventionen aufbricht, und für Veronika Boušová ist es „eine dionysische Feier der Genialität des weiblichen Körpers und der technisch-technologischen Reife des Menschen“ (Divadelní noviny). Róbert Štefancík, ˇ ein Vertreter des männlichen Pols der tschechischen Kritik, sieht den Rahmen des Schocks als problematisch an und vermutet eine pornografische Provokation (Svet ˇ a divadlo).

Alle tschechischen Kritiken berichten über die Erfahrungen mit „Ophelia’s Got Talent“ auf der Grundlage der Vorstellungen am Volkstheater in Wien. Nur Barbora Schnelle, eine tschechische Theaterwissenschaftlerin, die seit Langem in Berlin arbeitet, hat die Inszenierung bereits beim Theatertreffen gesehen und für sie war es „ein persönliches Highlight“ (Svet ˇ a divadlo). Eine andere Kollegin von mir, Eliška Raiterová, hat die Vorstellung während ihres Praktikums bei Theater der Zeit ebenfalls in Berlin gesehen. Die tschechische Kritik lobte die Inszenierung in den höchsten Tönen. Lediglich die Boulevardpresse äußerte sich bestürzt über Nacktheit und Exzesse, und eine wissenschaftliche Reflexion kritisierte die Inszenierung aus ökologischer Perspektive (Divadelní noviny). Die vorherrschende Begeisterung

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galt „einer Intermedialität, die technisch alles übertraf, was ich je im Theater gesehen hatte“ (Hulec). Die Inszenierung wurde als „bombastisch“ oder „ein fantastisches Märchen“ bezeichnet. In einigen Rezensionen wurde treffend bemerkt (von Raiterová, Boušová und Hulec), dass Holzingers ästhetische Strategien an die Arbeit der Wiener Aktionisten erinnern.

Diese scheinbare Verkürzung hat einen guten Grund: Das aktionistische Vokabular wurde nach und nach Teil des Ausdrucks vieler Theaterkünstler:innen. Darunter sind Frank Castorf, Christoph Schlingensief und eben auch Florentina Holzinger. Im tschechischen Umfeld ist eine solche Entwicklung nicht zu bekannt. Die Ästhetik des Schocks hatte dort keine Wegbereiter wie Hermann Nitsch, Günter Brus oder Rupert Kisser und Ernst Wünsch. In der Tschechoslowakei gab es auch Pioniere der Körperkunst, aber sie arbeiteten nie mit der Ästhetik des Schocks, ihre Werke waren mehr konzeptionell.

Der avancierteste tschechische Performer Petr Štembera, berühmt für seine Aktion „Pfropfen“ (1975), in der er versucht, sich einen Apfelbaumzweig in den Arm zu einzupflanzen (und dabei eine Blutvergiftung erleidet), beschloss, seine Arbeit nach der Gründung der Charta 77 einzustellen. Er sagte, Kunst sei bedeutungslos, wenn sie sich nicht aktiv dem Totalitarismus widersetze.

Die tschechische Darstellende Kunst zeigt eine geringe Affinität zu westlichen Trends, wobei jedoch Bestrebungen erkennbar sind, diese Kunstform für externe Einflüsse zu öffnen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Festivals wie Divadlo in Plzenˇ oder Divadelní flora in Olomouc Florentina Holzingers Inszenierungen in ihre Programme aufnehmen werden, da diese für das tschechische Publikum möglicherweise unangenehm wären. Festivals wie Divadlo v Plzni, Ostravar in Ostrava oder Divadelní flora in Olomouc würden es ablehnen, Stücke wie „Sancta“ in ihr Programm aufzunehmen, da diese eine ablehnende Haltung des Publikums provozieren würden. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet das Prager Theaterfestival der deutschen Sprache. Wir haben es hier schon versucht – 2018 führte das Divadelní svet ˇ Brno Oliver Frljics ˇ „Unsere Gewalt, eure Gewalt“ (Naše nasilje i vaše nasilje) auf, und die Aufführung wurde von der

f­ aschistischen Bürgerwehr Slušní lidé unterbrochen. Sogar Kardinal Dominik Duka äußerte sich kritisch (ohne die Inszenierung zu sehen). Die sensationelle Operninszenierung des traditionellen „Jenufa“ (2024) ˚ unter der Regie von Veronika Kos Loulová löste letztes Jahr eine große öffentliche Begeisterung aus. Dies sind die drei Gründe, warum die tschechische Theaterlandschaft nicht nur für Florentina Holzinger, sondern auch für die Strategien der Schockästhetik unzugänglich ist: Es ist teuer, was die Veranstalter abschreckt; wir haben kein „gebildetes“, d. h. zu dieser Form der theatralen Postmoderne gebildetes Publikum und keine ästhetische Tradition; uns fehlen die „Nestbeschmutzer“ wie im benachbarten Österreich.

Die Ästhetik des Schocks hat auf der tschechischen Bühne immer noch einen schweren Stand, was meiner Meinung nach an der erstarrten Präsenz des „faschistischen Menschen“ im Publikum liegt.

Die übertriebenen Reaktionen auf alles Erotische, Sexuelle, Nackte und Flüssige sind dann eben Ausdruck eines unreifen Ichs, wie Štefancíks ˇ Entrüstung zeigt („und das macht sie sorgfältig, um den Zuschauern, die in der Nähe sitzen, den bestmöglichen Blick zwischen ihren weit gespreizten Beinen zu gewährleisten“ oder „wir sehen uns Nahaufnahmen ihrer Vagina an“ (Svet ˇ a divadlo)). Das wird durch die Beobachtung der tschechischen Theaterkritikerin Veronika Boušová gleichsam bestätigt: „Der österreichischen Choreografin und Performerin Florentina Holzinger ist nichts Fließendes fremd.“ Ihre Arbeiten rufen beim Publikum einen tiefen Ekel vor etwas hervor, das unsere kleinen Jungs nicht verstehen, weil unsere Gesellschaft ihnen nicht erlaubt hat, erwachsen zu werden.

Tschechische Theater- und Tanzschaffende versuchen, den Raum zu öffnen, in dem traumatische und tabuisierte Themen diskutiert werden können: Solange sie aber schon auf dramaturgischer Ebene auf Widerstand gegen alles Weibliche und Feministische stoßen, ist deren Darstellung in Form von Hubschraubern auf der Bühne und nackten Nonnen auf Rollschuhen kaum zu erwarten. T

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Polen

Feminismus neu ausrichten Florentina Holzingers Geschichte im Theater Polens Von Łukasz Drewniak

Der erste Besuch der österreichischen Tänzerin und Choreografin Florentina Holzinger in Polen fand 2014 statt. Sie trat im Duett mit Marta Ziółek im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Warschau auf. Noch während ihres Studiums in Amsterdam an der School for New Dance Development bereiteten die Tänzer*innen die anarchistische Performance „Stick“ vor. Zwei Mädchen trainierten sich mithilfe der titelgebenden Requisite (eigentlich hatten beide einen eigenen Stock) gegenseitig. Sie testeten die Positionen eines Herren und eines Sklaven, eines Lehrers und eines Schülers, von Choreografen und Tänzern, Dominas und sexuell unterwürfigen Menschen. Im Bühnen-Mischmasch der Popkultur und seiner eigenen Biografien wurde der Stock zum Stift, um einen Vertrag für einen Auftritt zu unterschreiben, zum Zauberstab, zum kaputten Vibrator, zum Knüppel, um das Opfer zu schlagen. Der Botschaftsbefehl an den Partner war die Geste, die an der Requisite haftete, die Spannung im Körper des Gegenübers, die der Stock hervorrief und die richtig gelesen werden musste.

Du hast einen Stock – du regierst. Du hast keinen – du bist unterwürfig. Der Stock

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verwandelte die Sklavin in das, worin ihre Herrin sie verwandeln wollte, und verwandelte gleichzeitig die Herrin, die Veränderung verlangte. Hol­ zinger und Ziółek entdeckten ständig neue, unentwickelte Felder menschlicher Unterordnung, sie wurden von dem beherrscht, was zwischen ihnen geschaffen wurde, im Moment des Auf­ einandertreffens zweier Körper, zweier Physiologien, zweier kultureller Hintergründe und Tanztechniken.

Es war ein Projekt, das die Ursachen von Manipulation untersuchte und Beziehungen zwischen Menschen benannte. Beide Mädchen überschritten Grenzen unter­ einander und zum Publikum und fragten, wer Macht über wen hatte – die Künstler:in über die Betrachter:in oder die Betrachter:in über die Künstler:in. Holzinger wählte eine Person aus dem Publikum aus, tanzte für sie einen erotischen Tanz und küsste sie dann leidenschaftlich, bis die eifersüchtige Ziółek einschritt. Keine Zuschauer:in dieses spektakulären Arrangements hätte die weitere Entwicklung der beiden Interpret:innen auf der Grundlage dessen, was sie damals sahen, vorhersagen können. Marta Ziółek blieb in Polen in einer choreografischen Nische, Florentina Holzinger machte einen radikalen Schritt auf die deutschen Theaterbühnen.

Zunächst tourte sie mit dem Projekt „Kein Applaus für Scheiße“ durch europäische Tanzfestivals. Wir haben es in Polen nie vergessen. Im Nowy-Theater in Warschau wurde später ihre radikale Performance „TANZ“ gezeigt, Didaskalia veröffentlichte einen Schwerpunkt zu ihren schockierenden und ikonoklastischen Spektakeln (Artikel von Maria Magdalena Ozarowska und Thomas Irmer), und im ˙ Herbst 2024 berichteten polnische Medien (nicht nur Theatermedien) über die Kontroverse um die Premiere von Holzingers „Sancta“. Im Mai diesen Jahres wird schließlich ihr Berliner „Ophelia’s Got ­Talent“ auf dem Festival Kontakt in Torun zu sehen sein. Und die Hälfte der Theatergemeinde in Polen fragt sich, ob es einen Skandal geben wird, ob es Proteste von katholischen Kreisen und rechten Politikern geben ´ wird, wie beim Malta-Festival in Poznan anlässlich des „Golgatha Picknicks“ von Rodrigo Garcia, beim Dialog-

Festival in Breslau mit „Das Bild des Sohnes Gottes“ von Romeo Castellucci oder den teils gewalttätigen Protesten nach der Warschauer Premiere von Olivier Friljics ˇ „Der Fluch“ am Theater Powszechny.

Florentina Holzinger gehört zu dieser kleinen Gruppe von europäischen Künstler:innen, die „in ihren Händen explodiert“ sind – ihre Werke wurden gesellschaftlich so herzlich aufgenommen, dass sie nicht mehr nur Performances sind, sondern zu politischen Ereignissen und kulturellen Phänomenen wurden, auf die nicht nur die Straße reagieren will, sondern auch das Theater reagieren muss. Es hat immer wieder Festivalvorführungen gegeben, die das polnische Theater verändern: Sie zwingen es, seine Bühnensprache neu zu formatieren, seine kreative Haltung neu zu definieren und in Form einer eigenen Sprache zu antworten.

Lektionen für das polnische Theater In den Shows von Florentina Holzinger ist der Mann nicht mehr der Feind, das Ziel der Angriffe feministischer Kritik. Er ist es nicht, weil er einfach nicht auf der Bühne steht. Sie wurde bewusst eliminiert und zum Schweigen gebracht: Die männliche Welt, der männliche Körper, wird nur durch die Sphäre der Gadgets, Objekte, Maschinen repräsentiert. Sie wird von einem weiblichen Team von Performerinnen zitiert und vereinnahmt. Dem Mann bleibt die Rolle eines passiven Beobachters des weiblichen Rituals. Er sitzt im Publikum und spürt Faszination gemischt mit Angst, wie Pentheus in den „Bakchen“. Joanna Krakowska, Guru der polnischen Theaterlinken, sagte irgendwann um 2020, kurz vor den Frauenstreik-Demonstrationen, dass die beste Entschädigung für Jahrhunderte des Patriarchats die Geste des Schweigens der Männer in der Kultur für etwa 50 Jahre sein könnte. Demütig die Stimme abgeben. Was im polnischen Theater nur in Form eines umstrittenen Postulats existierte, setzte Holzinger in ihren Aufführungen in die Praxis um. Im Gegensatz zu den Arbeiten polnischer Regisseurinnen und Choreografinnen zeigt die Österreicherin einen Feminismus, der

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Thema Florentina Holzinger eher triumphiert als kämpft, der als siegreich gefestigt ist. Der befindet sich bereits in der nächsten Phase, während die polnischen Inszenierungen dieser Richtung immer noch ein Kampf um Präsenz und Stimme sind. Erklärung der Argumente von Frauen. Eintreten für Bürger- und Menschenrechte. Sie sind nicht einmal ein Angriff auf die Männer im Publikum, denn dort sitzen nur feministische Verbündete, und die Kritik am Patriarchat in ihrer Gegenwart gleicht der Überzeugung der Überzeugten, aber gegen den „polnischen Mann im Allgemeinen“, ein Ideal, das besonders stark dort gilt, wo man nicht ins Theater geht. Für Polinnen würde Holzinger daher im Theater eine Abkürzung bieten. Die Bühne der wirklichen Gleich­ berechtigung in Kunst und Gesellschaft wäre aber ausgeklammert mit der Annahme Theater, dass die feministische Revolution im polnischen Theater und Alltag bereits stattgefunden hat.

So viel Nacktheit wie bei Holzingers Arbeiten gibt es auf den polnischen Bühnen nicht. Wir können uns nicht nackt kleiden wie die Darsteller:innen aus den Shows von Florentina Holzinger.

Schließlich tragen sie ihre Nacktheit wie einen Arbeitsoverall, als würden sie Leder­ kostüme anziehen, die in der Garderobe an Kleiderbügeln hingen, bevor sie die Bühne betraten. Es ist transparente Nacktheit, vollkommen gleichgültig. Natürliche Nacktheit bei der Arbeit, freie Nacktheit des antiken Sports, frei von Scham und jeder Bedeutung beraubt.

Holzinger konzentriert die Nacktheit aufs Publikum und trennt sie in homoerotische Handlungen, Unvollkommenheit, Nicht-Normativität. Einem schönen Körper, einem Pluskörper, steht hier ein defekter Körper, ein Minuskörper, gegenüber. Freude und Überraschung werden gleichgesetzt, auf null reduziert. Dutzende Vaginas in Aktion, Muschis, immunisieren das Publikum. Der Mann im Publikum wird blind für sie, beginnt, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, im Angesicht der Nacktheit, höher als bis zum Schritt zu schauen, woanders hinzuschauen – auf das, was außerhalb des Körpers, jenseits der Genitalzone ist. Vor 25 Jahren kamen dank der jungen Brutalisten, d. h. der

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­ egiegeneration von Grzegorz Jarzyna und R Krzysztof Warlikowski, die Nacktheit der Hippies und die Idee, die Schauspielenden zu entkleiden, um einen unschuldigen, von der Zivilisation unbefleckten Körper zu zeigen, einen kindlichen Körper, der in Gegenwart des Publikums geboren wurde, auf die Bühnen. Dieses polnische Theater etablierte das Bild des Körpers als ein Territorium des Leidens, der Gewalt und der Überschreitung. Die Nacktheit der Schauspielenden war die Gleichsetzung von Sex und Tod. Sich auf der Bühne auszuziehen, bedeutete, bereit zu sein, mit Sexualität und Körperlichkeit zu experimentieren, auf Schmerz und Verlangen nach Erniedrigung zu warten. Die Schauspieler:innen taten auf der Bühne, wovor wir in der Realität Angst hätten. Sie simulierten für uns unmögliche Welten. Sie testeten ihre Grenzen aus. Sie missbrauchten und entledigten sich ihrer eigenen Nacktheit und schauten auf das, was darunter war. Man kann diese Geste Porno-Metaphysik nennen. Und dann war es vorbei.

Exzess der Freiheit Auf der einen Seite haben sich die katholisch-nationalistische und populistische Rechte auf polnische Theaternacktheit, Sex und Exzesse gestürzt, auf der anderen Seite wurde der moralische Mut der Aufführungen von der theatralischen Linken und der #MeToo-Bewegung infrage gestellt. Die Nacktheit des Schauspielers, und vor allem die Nacktheit der Schauspielerinnen, wurde mit Gewalt und Zwang in Verbindung gebracht, eine Art der Machtdemonstration, insbesondere männlicher Macht, während des Probenprozesses. Sie forderten das Recht, bestimmte Szenen nicht spielen zu dürfen, sie schauten sich genau an, was polnische Schauspielerinnen trugen und wie sie sich auszogen. Sind Nacktszenen wirklich notwendig, und wenn ja, beleidigen sie nicht die Würde der Darstellenden? Der Beruf des Intimcoaches entstand, wachsame linke Zensoren reagierten auf alle umstrittenen Aufführungen und sagten Künstler:innen mit der gleichen Inbrunst ab wie die polnische Rechte. Das hatte zur Folge, dass Künstler:innen, die sich mit verschie-

In den Shows von Florentina Holzinger ist der Mann nicht mehr der Feind feministischer Kritik.

denen Formen von Gewalt im Theater beschäftigten, wie Maja Kleczewska und Jan Klata, Ewelina Marciniak und Grzegorz Wisniewski, mit einem wütenden Angriff ´ von beiden Seiten rechnen mussten – sie wurden zu Feind:innen von Scheinheiligen und Revolutionären. Kein Wunder, dass weniger erkennbare, weniger mutige Künstler:innen auf moralische Radikalität, Nacktheit, Sex und Exzesse auf der Bühne verzichteten. Denn es ist ein Problem für alle – den Regisseur oder die Regisseurin und die Schauspieler:innen. Das polnische Theater ist inzwischen zu einem sicheren Ort geworden. Ein Land der Sanftmut, eine Oase. Nacktheit wurde in den Bereich Off und Performance verbannt, mit einem Warnhinweis am Empfangstresen. Das Theater wurde höflich, weil es sich mit niemandem anlegen wollte, das Theater wurde wieder beschämend: Ich schäme mich nicht für mich selbst, aber ich schäme mich für das, was sie über mich sagen und schreiben. Florentina Holzinger würde in ein solches Land und in ein solches Theater kommen und versuchen, die Bedeutung von Überschreitung auf der Bühne neu zu definieren. Vielleicht zeigt es uns, erinnert uns daran, wofür ein drastischer Effekt in einer Show verwendet wird, warum Darsteller:innen Unbehagen, Schmerzen, Müdigkeit und frontale Nacktheit brauchen.

Ich warte gespannt auf die Torun-Auf´ führung von „Ophelia“ und frage mich, wo noch ich im polnischen Theater nach Splittern der Methoden und Themen suchen soll, die sich bereits der österreichischen Choreografin verdanken. Ich möchte aus diesen Splittern wieder einen Spiegel zusammenkleben, in dem Florentina Holzinger nicht so sehr sich selbst sehen würde, sondern wir uns. T

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Norwegen Klimakrise und Völkermord, Nekrokapitalismus, dysfunktionale Demokratien und technologischer Autoritarismus – wir zerstören unsere Lebensbedingungen in atemberaubendem Tempo. Noch nie hat das Universum eine Spezies erlebt, die so kannibalistisch ist wie der Mensch. Die Systeme, die wir geschaffen haben, bedrohen unsere Existenz, und die Aussicht auf die Zukunft erscheint düster. Unsere Verletzlichkeit zeigte sich im letzten Sommer auch in Florentina Holzingers „Harbour Etude“ in Bergen.

Norwegens zweitgrößte Stadt, eingebettet zwischen Bergen und der Nordsee, war der ideale Schauplatz für Holzingers Experiment mit den Elementen der Natur.

Aus Umwelt- und politischer Sicht ist Bergen ein perfekter Ort für die Kulturkritik, die den meisten von Holzingers Performances eigen ist. Die Stadt war ein zentraler Knotenpunkt der mittelalterlichen Hanse und ist bis heute ein Zentrum des transnationalen Handels sowie ein internationaler Dreh- und Angelpunkt für die Offshore-Erdöl- und Schifffahrtsindustrie. All dies geschieht in einem Land, das sich rühmen kann, Europas größte Ölnation zu sein, dank der unermüdlichen Ausbeutung natürlicher Ressourcen, während es ironischerweise international als führende Nation in grünen Technologien und nachhaltiger Ressourcennutzung anerkannt wird. Die Werft von Laksevåg bot somit eine dystopische Kulisse für das, was der Spätkapitalismus in einem Land als Ökopionier bereithält.

Die Dystopie unserer Zeit Florentina Holzingers „Harbour Etude“ im norwegischen Bergen Von Vibeke Tandberg

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Die Performance fand am Ende eines Betonpiers statt, wo ein 70 Meter hoher Kran, ein Hubschrauber, ein Rettungsboot, ein Fischerboot und zwei Gabelstapler die Bühnenkulisse für acht Frauen bildeten – darunter Holzinger selbst –, die eine sorgfältig geplante Choreografie aufführten, die gleichzeitig für die Unberechenbarkeit des Meeres, des Windes und des Wetters offenblieb. Angeführt von zwei Punk-Sirenen, die mit Bassgitarren von einem Fischerboot auf den Pier gebracht wurden, bewegte sich die Performance langsam und geräuschvoll auf einen Höhepunkt zu, in dem Holzinger und eine Mitperformerin an die Spitze des

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Foto Nayara Leite

70 Meter in der Höhe

Thema Florentina Holzinger Krans gehoben wurden, von wo aus sie mit Hämmern gegen Bronzeglocken und übergroße Windspiele schlugen, begleitet von den kreischenden Sirenen auf dem Pier und einem kreisenden Hubschrauber. In den letzten Bewegungen der Performance wurden drei weitere Sirenen durch Haken, die an ihrer Rückenhaut befestigt waren, hochgezogen. Die Darbietung kulminierte in einer Frau, deren langes, rabenschwarzes Haar hoch in der Luft wirbelte, etwa 20 Meter unter ihr flankiert von den beiden anderen, die splitternackt waren und aus ihren Rücken bluteten.

Die Etüde enthielt alle idiosynkratischen Stilelemente, für die Holzinger und ihr Team inzwischen bekannt sind: kraftvolle Bilder, riesige Maschinen, nackte Körper und physisch anspruchsvolle Darbietungen. Die Bilder waren, wie immer, opulent barock. Wir wurden Zeugen eines Hochrisikosports, bei dem Schwebekünstlerinnen auf den Betonpier stürzen, ihre bis zum Zerreißpunkt gedehnte Haut zerfetzen oder der kreisende Hubschrauber in den Kran krachen könnten. Die Position des Publikums fühlte sich an wie der von Zeugen einer möglichen Katastrophe.

Holzingers Etüdendarbietungen schaf­ fen einen Raum, in dem sie Stunts und Ideen ohne übergeordnete Dramaturgie oder Narration testen kann, oft als Vorbereitungsarbeit für Elemente in aufwendigeren Bühnenproduktionen. Die Etüden, wie das Format in der klassischen Musik, dienen der Perfektionierung komplexerer Teile, die besondere technische Fähigkeiten erfordern. So kann man die „Harbour Etude“ als Übung in menschlichen Windspielen, Hubschraubererklimmung und Selbstverletzung verstehen – in Pathos, Exzentrik und authentischem Risiko, wobei der Körper das Instrument ist.

Wie Holzinger in einem Interview erklärte: „Was physisch möglich ist, ist oft das, was der Verstand begreifen kann, also versuche ich, meinen Verstand mehr als alles andere zu schulen.“ Damit veranschaulicht sie treffend, was die spanische Philosophin Marina Garcés als post­hume Bedingung bezeichnet. Laut Garcés sind Menschen erstmals in der Geschichte nicht mehr in der Lage, sich eine Zukunft vorzustellen. Wir wissen nicht, wie wir die

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Katastrophen überleben sollen, die wir ausgelöst haben. Wir wissen alles, was es zu wissen gibt, aber die Wissenschaft ergibt keinen Sinn mehr, weil sie unsere Probleme nicht mehr lösen kann – wir treiben immer weiter in Auswüchsen voran, die Leben kosten, unser eigenes und das von anderen Spezies. Garcés behauptet, dass der einzige Weg, das Aussterben zu verhindern, ein radikales Aufklärungsprojekt ist – wir müssen unser Wissen erweitern und es anders nutzen. Um Holzinger im Geiste von Garcés umzuformulieren: Wenn physische Realitäten die Grenzen dessen sind, was wir uns vorstellen können, dann ist das Wichtigste, unser Wissen über die Vorstellungskraft zu erweitern.

Im Strudel prekärer Gegenwart Indem die „Harbour Etude“ die Stärke menschlicher Körper und ihre Fähigkeit zum Spiel, zur Kooperation und zur Überwindung der Herausforderungen von Maschinen und Natur demonstriert, hinterlässt sie ihr Publikum gleichermaßen erschöpft und befreit. Die Performance zeigt unsere Möglichkeit, etwas anderes zu werden als das, was wir sind: durchsetzungsfähiger, wütender und trotziger. Als die Performance ausklang, schien diese Erkenntnis anzukommen, während das Publikum etwas fassungslos, wenn nicht gar schockiert zurückblieb.

Der Wind übertönte den Applaus, und eine nachdenkliche Menge trottete vom Pier.

Als Überlebensstrategie unserer Zeit lassen sich Holzingers lärmende Superheldinnen vielleicht als Protagonistinnen in Garcés’ Dystopie verstehen. Sie weisen auf die wahren Held:innen unserer Zeit hin: auf jene, die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer retten, die Leben in Gaza, im Sudan und in der Demokratischen Republik Kongo retten, mitten in zahllosen zeitgenössischen Tragödien, die nicht im Fokus der Medien stehen. Ebenso auf Wissenschaftler:innen, Organisationen und gemeinnützige Ideologien – auf all jene, die unermüdlich daran arbeiten, unsere Lebensbedingungen mit Superkräften zu verbessern, die in der grundlegenden Menschlichkeit verwurzelt sind.

Marina Garcés besteht darauf, dass wir, um eine lebenswerte Zukunft zu schaf-

Eine Übung in menschlichen Windspielen und Hubschrauber­erklimmung.

fen, den Glauben an und die Unterwürfigkeit gegenüber den Systemen, unter denen wir derzeit existieren, abschaffen müssen.

Garcés schlussfolgert: „Gegen apokalyptisches Dogma und messianische oder lösungsorientierte Monochronie (entweder Verdammnis oder Erlösung) liegt der Sinn des Lernens darin, in einer Allianz des Wissens zu arbeiten, die Skepsis und Vertrauen vereint. Ich stelle mir die neue radikale Aufklärung als das Werk rebellischer Weber vor, gleichzeitig skeptisch und vertrauensvoll. Wir sind in der Lage zu sagen: Wir glauben euch nicht, während wir an vielen Orten die Fäden der Zeit und der Welt mit fein abgestimmten, unerschöpflichen Werkzeugen neu weben.“* Holzingers „Weberinnen“ führen uns ebenso in den Strudel unserer prekären Gegenwart; ihre Kunst protestiert gegen zu schnelle Interpretationen, Schlussfolgerungen und instrumentelle Superstrukturen. Es ist, als wolle sie sagen: „Seht uns an, seht, wozu wir fähig sind“, und damit menschliche Grenzen ausdehnen, um das Wissen über unsere Spezies zu erweitern – wie Kinder, die Aufmerksamkeit suchen, überwältigt von den befreienden Fähigkeiten ihrer Körper. Die Studierendenzeitung der Universität Bergen kam in ihrer Rezension der Vorstellung zu folgendem Fazit: „Ich weiß nicht, ob ich die tiefere Botschaft hinter der Performance verstehe. Vielleicht habe ich nicht genug Aufführungen gesehen, nicht hart genug gelebt oder nicht lange genug studiert. Aber es war eine außergewöhnliche Erfahrung, gleichzeitig Unsicherheit, Geduld, Ekel und Schock zu empfinden.

Die Suche nach Bedeutung schärft die Sinne, und es war vielleicht eine gute Idee für eine frühen Samstagabend.“ Mit Blick auf die nächste Generation könnte es doch noch Hoffnung geben. T * Marina Garcés, Nueva ilustración radical (2017).

Deutsche Ausgabe: Neue radikale Aufklärung. Übersetzung aus dem Katalanischen von Charlotte Frei.

Turia + Kant, Wien 2019.

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Filmgeschichte

Bodyhorror/ Tarantino Italo-Splattermovies, Actionfilme, blasphemische Nunsploitation als Inspirationen für Florentina Holzinger Von Christian Fuchs

Als der okkulte Schocker „Suspiria“ 1977 erscheint, trifft er den Geschmack eines weltweiten Horrorpublikums. In grellen Technicolorfarben zeigt der italienische Regisseur Dario Argento die Geschichte einer jungen Frau, die in mörderische Hexen­ kreise gerät. Besonders der pittoreske Schauplatz, eine deutsche Tanzakademie, hebt den Film über den Genredurchschnitt.

Argento, einer der Miterfinder der berüchtigten Giallo Slasher-Gattung, präsentiert ein blutiges Märchen im Jugendstildekor.

Die kulturbeflissene Kritik der damaligen Zeit reagiert überwiegend feindselig. Über mehrere Dekaden ändert sich der Ruf des Filmes jedoch radikal. Das vermeintlich krude Horrorspektakel „Suspiria“ mutiert zu einem Objekt der Obsession. Von einem psychedelischen Todesballett schwärmen Anhänger:innen, von purem destillierten Kino auch akademische Kreise.

Florentina Holzinger, deren Schaffen genau zwischen diesen Polen von Hochund Tiefkultur, Tradition und Grenzüberschreitung, transgressiver Poesie und Trash oszilliert, gehört zu diesen Fans.

Ihr Stück „TANZ“, das der Wienerin den Durchbruch in der Performanceszene beschert, ist vom Geist von „Suspiria“ durchzogen. „Der Film wurde mir immer wieder von verschiedenen Seiten empfohlen“, erklärt Holzinger. „Aber ich kenne ihn ohne­hin schon lange, das ist einfach so ein

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Kultklassiker, der auch während meiner Ausbildung omnipräsent war. Ich studierte ja an keiner Ballettakademie, sondern erlebte eine alternativere Tanzausbildung, da wurde so etwas definitiv im Unterricht geschaut. Ich war damals auch intensiv ­ von Frauen umgeben, die mich an so einen Hexenzirkel wie in ‚Suspiria‘ erinnert haben. Deswegen gibt es in meinem Stück auch diese Assoziationen.“ Florentina Holzinger schmunzelt oder lacht oft, wenn sie über solche düsteren Referenzen spricht. Der Zugang der Wienerin zur Popkultur und spezifisch zum Kino hat etwas Lockeres und scheinbar Unbefangenes. Was keinesfalls mit mangelndem Respekt vor einem Regisseur wie Dario Argento einhergeht, dessen Schaffen sie generell spannend findet. „Seine Filme wirken oft ohnehin wie Theater oder eine Operninszenierung, auch die Ausleuchtung in diesen Neonfarben. Dass der visuelle Aspekt und der Sound gleichrangig sind mit dem Narrativ, ist ähnlich wie bei unseren Aufführungen.“ „TANZ“ sei wie „Suspiria“ in einer Version des Regieprovokateurs John Waters, konnte man im amerikanischen Interview Magazine sinngemäß lesen. Holzinger zeigt Schönheit und Schrecken der Ballett­ ausbildung, die grimmigen Zurichtungen des weiblichen Körpers, erzählt von Unterwerfung und finaler Befreiung in einem ­Setting á la Dario Argento. „Bei ‚TANZ‘

waren einige Bilder aus ‚Suspiria‘ in unseren Moodboards, auf jeden Fall. Mein Setdesigner ist auch ein kompletter Fan, da passte einfach alles gut zusammen. Vom Remake haben wir allerdings offensichtlicher geklaut.“ 2018 spaltet Regisseur Luca Guadagnino mit einer neuen Version des ArgentoStoffes die Meinungen. Der Italiener, ein Darling der Arthouse-Welt, überfrachtet die Story der jungen Amerikanerin in der deutschen Tanzschule mit politischen und philosophischen Bezügen. Allerdings, wirft auch Florentina Holzinger ein, wird darin besser getanzt. „Die alte Version ist ja eigentlich eine Parodie, die stehen auf spitzen Schuhen, so wie jemand, der offensichtlich nicht vom Ballett kommt. Wobei dieses Amateurhafte auch einen campen Charme hat, der mich interessiert. Dennoch, durch die Beteiligung von Damien Jalet, der die Choreografie im Remake gemacht hat, waren viel mehr professionelle Tänzer:innen beteiligt.

Das wirkt natürlich authentischer.“

Schlüsselwort Ambivalenz Weibliche Körper in Bewegung sind eine Sache, aber „Suspiria“ ist auch ein Film, in dem Frauen attackiert, durchbohrt, zerstückelt werden. Was Dario Argento, der stets selbst in den schwarzen Lederhandschuhen seiner Mörder steckte, viel feministische

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Foto picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Szene aus „Titane“ ein Bodyhorrorfilm von Julia Ducournau (2021)

Thema Florentina Holzinger

Kritik einbrachte. Florentina Holzinger sieht es ambivalent. „Für solche Fragen bin ich wohl die falsche Person, weil ich diese exzessive Gewalt natürlich auch sehr feiere.

Ich feiere auch, dass das herausquillende Blut eher pink oder lila aussieht, also realitätsfern. Wenn man es feministisch liest, lässt sich trotzdem nicht übersehen, dass die Frauen, die sich in diesen Filmen zusammenrotten, immer evil women sind, die etwas Böses wollen. Während eben im Gegenzug die Hexe im Feminismus positiv konnotiert ist.“ Offensichtliche Stereotypen verderben Holzinger allerdings nicht die Lust am Horror. „Ich bin auch interessiert an Verkehrte-Welt-Szenarien“, grinst die Starchoreografin, „und da finde ich als Gegenentwurf zum aggressiven Patriarchat ein noch aggressiveres Matriarchat schon gut.“ Ambivalenz ist ein Schlüsselwort, nicht nur was den allgemeinen Kunstzugang von Florentina Holzinger betrifft.

Sie pickt sich aus Filmen inspirierende Momente heraus, ignoriert dabei oft bewusst Kontexte, überrascht mit unerwarteten Beispielen abseits des üblichen bildungsbürgerlichen Kanons. „Als Kind, das ‚­Dirty Dancing‘ begrenzt cool fand, hatte ich schon immer eine Affinität für das Actionfilmgenre. Ich bin auch ein TarantinoFan, in seinen Filmen sind doch die tollsten Tanzszenen drinnen. Z. B. in ‚Reservoir Dogs‘, wo zu ‚Stuck in the middle with

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you‘ tanzend ein Ohr abgeschnitten wird. ‚Death Proof‘ ist auch so ein Film von ihm, der mir als Teenager extrem gefallen hat.

Und den ich immer noch toll finde. Das Thema des Filmes generell, ich arbeite ja auch sehr viel mit Stuntleuten zusammen.“ Wie in ihren Stücken kollidieren auch im Filmgeschmack der Choreografin drastische Gegensätze. „Eine meiner Lieblingstanzszenen ist natürlich in ‚Clockwork Orange‘, die ‚Singing in the Rain‘-Sequenz (lacht), gleichzeitig habe ich mir auch so Musicals wie ‚Grease‘ gegeben, find ich nach wie vor sehr geil, da wird ja auch richtig gut getanzt darin.“ Ein Filmtitel, der immer wieder fällt, wenn von Florentina Holzinger die Rede ist, speziell wenn es um ihre spektakuläre Castingshow-Persiflage „Ophelia’s Got Talent“ geht, ist „Titane“. Mit ihrem surrealen Bodyhorror-Drama gewann die Regisseurin Julia Ducournau 2021 nicht nur die Gol­ dene Palme in Cannes. Der Film, rund um eine Serienmörderin, die ihren Körper und sich selbst neu erfindet, faszinierte das Feuilleton ebenso wie Genrenerds. Die tanzende Verschmelzung der Hauptfigur mit einem Sportwagen bis hin zu offensivem MenschMaschine-Sex scheint einerseits von David Cronenbergs autoerotischem Meisterwerk „Crash“ beeinflusst. Andererseits muss man sofort an Florentina Holzingers Körperinszenierungen denken. Oder umgekehrt. Die Performerin sieht den Vergleich entspannt. „Ich erkannte gar nicht so viele Parallelen zu meinem Werk. Den Bodyhorror-Aspekt liebe ich aber grundsätzlich und ‚Titane‘ ist ja wirklich extrem körperlich. Es wird nicht viel erklärt, der ständig sich transformierende Körper erzählt die Geschichte.“ Holzinger wird kurz nachdenklich. „Autos sind halt ein alter Symbolträger, einerseits stehen sie für Schnelligkeit und Fortschritt, andererseits für Crash, Tod, Umweltverschmutzung. Da ist künstlerisch eine interessante Grenzwanderung möglich, wenn man das mit Vorstellungen von Weiblichkeit kombiniert.“ Eine ganz andere Art filmischer Inspiration suchte Holzinger für ihre Umsetzung von Paul Hindemiths Oper „Sancta“. Das in der deutschen Boulevardpresse skandalisierte Stück verbindet Orchestermusik, Überwältigungstheater,

Holzinger gehört zu den Fans von Dario Argentos okkultem Schocker „Suspiria“.

Industrial-Radikalität und offensive Body Modification zu einem epischen Gesamtkunstwerk. Ein Filmgenre aus dem sleazy Kino der siebziger Jahre wurde dabei zentral. Nunsploitation-Filme verbinden Softsex mit Blasphemie. Trotz heftiger Kirchenkritik bedienen sie mit Bildern nackter und gequälter Nonnen natürlich auch den male gaze. „Oh, da gibt es sicher eine große Faszination in meinem Cast für diese Filme“, schmunzelt Florentina Holzinger wieder einmal. „Wir machten schon sehr oft Nunsploitation-Filmabende. Und natürlich ikonische Filme wie ‚The Devils‘ von Ken Russell, die sind definitiv Referenz für uns und für unsere Oper.“ Die Wiener Bühnenerneuerin schwärmt auch noch von Monty Pythons „Life of Brian“, einem blasphemischen Comedy-Klassiker.

Ein Film, ist sie sich sicher, der auch den Papst begeistern würde.

Ein großer eigener Kinostreifen als Regisseurin, voller Action im Holzinger-Stil, ist für die Choreografin derzeit nicht vorstellbar, die langen Wartezeiten auf Filmförderung und Produktion seien mit ihrem rastlosen Geist unvereinbar. „Für mich ist die Bühne auch die interessantere Plattform, weil da eben Dinge möglich sind, die im Film kaum erlaubt sind“, sagt sie. Gleichzeitig bleibt das Kino wichtig. „Grundsätzlich haben Filme einen großen Einfluss auf meine Arbeit. Während ich an einer Show feile, schau ich parallel viele Filme. Für mich ist das Performanceerlebnis für das Publikum schon auch ein cineastisches Erlebnis, ich arbeite ja viel mit vergleichbaren Mitteln.“ Auch als eingefleischter Filmliebhaber muss man sich angesichts von Aufführungen wie „Sancta“ eingestehen: Florentina Holzinger ist auf eine Weise aufwühlend und euphorisierend, da kommt das Kino nicht heran. Am Ende möchte man, unabhängig von Gender, Alter und sozialer Klasse, aus dem Saal schweben. Komplett verstört, sehr glücklich, ein wenig befreit. „Es stimmt“, nickt sie, „bei mir bleibt kein Horrorfeeling zurück.“ T

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Essay

Wie Florentina Holzinger mit dem Mittel der Übertreibung den männlich-sexualisierenden Blick infrage stellt Von Lea-Sophie Schiel

Plötzlich schwebt er über den Köpfen des Publikums: der Frauenkörper in Floren­ tina Holzingers Performance „Tanz“, nackt voller Körperspannung und Anmut.

Seine Eleganz und Grazie steht der von Primaballerinas, wie sie aus dem romantischen Ballett bekannt sind, in nichts nach und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Ihr rinnt Blut über den Rücken und ihre Haut spannt sich so sehr, dass sie droht, unter dem Gewicht ihres zierlichen Körpers einzureißen, denn sie ist an vier Fleischerhaken aufgehängt und schwebt weit über dem Boden. Holzinger rahmt das Bild der an ihrer eigenen Haut aufgehängten nackten Frau nicht zufällig mit eben-

falls zwei nackten, ballettös auf der Stelle trippelnden Performerinnen, die einzig mit roten Spitzenschuhen bekleidet sind.

Das Publikum hält den Atem an, seufzt, fühlt den Schmerz, wendet den Blick gequält ab, um ihn doch gleich wieder auf den Frauenkörper zu richten. So anmutig das Schweben der Frau ist, so quälend ist es auch. Die Schönheit des Körpers ist ­gepaart mit überbordender Grausamkeit, anziehend und abstoßend zugleich.

Ich kann diesen Moment als Teil des Publikums nicht genießen, ohne mich dabei gleichzeitig auch schlecht zu fühlen. Wie groß mögen die Schmerzen sein, die die Performerin bei dem Vollführen dieses Kunststücks empfindet, frage ich mich. Dann fällt mir ein, dass Ballerinas regelmäßig ihre Spitzenschuhe blutig tanzen. Im Schuh bleibt das Blut der Ballerina dem Ballettpubli­kum allerdings verborgen. Hier bei Florentina Holzinger ist es nur allzu deutlich sichtbar, wenn es sich seinen

Bruch mit bürgerlichem Porno Mit diesem bürgerlichen Porno bricht Holzinger, indem sie das pornografisch Schmerzhafte, das im klassischen Ballett versteckt wird, überdeutlich inszeniert.

Wenn im klassischen Ballett der weibliche Körper nur imaginär gespalten und mit Blicken penetriert wird, werden hier die Körper real durchbohrt und durchlöchert.

Die pornografische Komponente des klassischen Balletts als „perverse“ Körperschau für seine Betrachter:innen wird so hervorgekehrt. Holzinger wendet dieses Mittel der Übertreibung, Übererfüllung des männlichen Blickes strategisch an. Das wird spätestens dann deutlich, wenn die Performerinnen an der Ballettstange nach

Foto picture alliance/dpa | Georg Wendt

Mit porösen Körpern das Patriarchat durchlöchern

Weg über den Rücken bahnt und schließlich auf den weißen Tanzboden tropft. Es bahnt sich seinen Weg, ausgehend von den acht ­Löchern, die die Haken in die Haut der Performerin gebohrt haben. Was im klassischen Ballett leichtfüßig, beschwingt und mühelos wirken soll, ist in Wirklichkeit harte Arbeit am weiblichen Körper: äußerst schmerzhaft und eine enorme ­ Kraftanstrengung.

Dass weibliche Körper im klassischen Ballett für das männliche Auge – samt seines sexualisierenden Blickes – inszeniert worden sind (und werden), dürfte auf der Hand liegen. Die Art und Weise, wie Frauen­körper hier zur Schau gestellt werden, hat die Kulturwissenschaftlerin ­ Linda Hentschel als pornotopisch bezeichnet. Für Bühnen oder Bilder inszenierte Frauenkörper werden vom sexualisierenden männlichen Blick regelrecht durch­ löchert und imaginär penetriert.

Szenen aus „Tanz“, eine sylphidische Träumerei in Stunts von Florentina Holzinger. Konzept, Choreografie: Florentina Holzinger

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Thema Florentina Holzinger jeder Übung ein Kleidungsstück ausziehen, bis sie sehr zur Freude der lüsternen Ballettmeisterin vollkommen nackt sind.

Woraufhin diese sich auf den Boden legt und ihre Elevinnen anweist, mit gespreizten Beinen über sie zu trippeln, damit sie ihre Vulven und Vaginas betrachten kann.

Mit dieser Übererfüllung des männlichen Blickes steht Holzinger in einer Tradition feministischer Performancekunst à la Annie Sprinkle. Man denke an das „Public Cervix Announcement“, in dem die Sexarbeiterin und Pornoregisseurin dem Publikum samt Spekulum und Taschenlampe den Blick auf ihren Gebärmutterhals ermöglichte und das mit den Worten kommentierte: „Fuck you guys! If you want pussy I’ll give you pussy!“ Besucher:innen beschrieben den Blick auf die Zervix als Konfrontation mit dem dritten Auge, das zurückblickt und so den sexualisierenden Blick des Publikums infrage stellte.

Holzingers Ästhetik erinnert außerdem an jene des Wiener Aktionismus.

Genannt sei hier Günter Brus’ „Zerreißprobe“ oder die berühmte Aktion „Kunst und Revolution“ (in der Presse als Uniferkelei bezeichnet), in der mit Exkrementen hantiert wurde. Auch das explizite Koten von Frauen gehört zum festen Bestandteil des Darstellungskanons von Holzinger.

Hier werden ebenfalls weibliche Körperöffnungen in Szene gesetzt. Das Sexualisierende wird ins Ekelhafte gewendet. Frauen, die kacken, schämen sich nicht selten dafür (wofür genau?!) und die Tatsache, dass sie es tun, scheint sie – abgesehen von einschlägigen Fetischen – als potenzielle ­ Sexobjekte zu disqualifizieren.

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Aber sexistische Klischees werden in den Arbeiten von Holzinger nicht nur gebrochen, sondern auch wiederholt. Sie nimmt Bezug auf (in Teilen schon seit der Antike) tradierte mystische Frauenfiguren, wie etwa Musen, Sylphiden, Hexen, Wasserwesen und -geister und zuletzt Nonnen.

Auch hier übererfüllt sie regelmäßig das patriarchale Frauenbild: Sylphiden sind, um ein Beispiel zu nennen, weibliche Luftgeister. Wenn sie die Performerin an ihrer eigenen Haut aufgehängt in der Mitte der Bühne zum Schweben bringt, übersteigert sie diese Vorstellung fast ins Groteske.

Diese Übererfüllung bringt mit sich, dass mit diesen Klischees nicht nur gebrochen wird, sondern dass sie bis zu einem gewissen Grad auch erfüllt werden. Deshalb ist es sogar möglich, die Performances von Holzinger nur als reinen Porno oder als reine Freakshow zu sehen. Dieser Effekt hat leider mit den großen Spielstätten, in denen ihre Performances seit einiger Zeit zu sehen sind, zugenommen, weil das Publikum hier anonym in weitem Abstand zu den Performer:innen sitzt. Auf den kleineren Bühnen wurde der Blick der einzelnen Publikumsmitglieder aufgrund des intimeren Rahmens viel stärker in Gefahr gebracht. Inzwischen eilt ihren Arbeiten der Ruf des Spektakulären voraus. Diese Betrachtung als Spektakel entschärft ironischerweise das auf der Bühne Verhandelte für das Publikum. Es ist ein Reflex des Patriarchats, das Unliebsame zu skandalisieren. Selbstbestimmte Darstellungen weiblicher Sexualität werden so, wie die Choreografin kürzlich in einem Interview konstatierte, verteufelt.

Neu ist an ihrer Ästhetik in diesem Sinne wenig. Sie ist vielmehr die konsequente Fortsetzung althergebrachter patriarchaler Kunstformen samt ihrer feministischen Aneignung und Umkehrung.

Durch die in Szene gesetzte Übererfüllung des männlichen Blickes und den porösen weiblichen Körpern höhlt sich jedoch das ein oder andere Loch in das oftmals so manifest wirkende Patriarchat. Bestärkt wird das durch die konsequente rein weibliche Besetzung, was in der zeitgenössischen Theaterszene Seltenheitswert hat. Dass dies immer noch aktuell bleibt, bleiben muss, ist der Skandal unserer politisch rückwärtsgewandten Gegenwart. T

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Essay

Ensemble in Szenen aus „Sancta“, von Paul Hindemith, Johanna Doderer, Johann Sebastian Bach, Born in Flamez, Stefan Schneider, Nadine Neven Raihani u.a. Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“ (Libretto: August Stramm). Regie und Choreografie Florentina Holzinger, Musikalische Leitung Marit Strindlund, Bühne und Kostüme Nikola Knežević an der Staatsoper Stuttgart

Die Wunden der weiblichen Körper Florentina Holzingers „Sancta“ löste an der Staatsoper Stuttgart heftige Kontroversen aus – ein Rückblick in die Theatergeschichte Fotos Matthias Baus

Von Elisabeth Maier

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Thema Florentina Holzinger Opernbesucher:innen fielen in Ohnmacht, hatten Kreislaufprobleme und mussten vom Notarzt behandelt werden. 50 erzkonservative Katholiken demonstrierten vor dem Opernhaus in Stuttgart. Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum haben gegen die Opernperformance „Sancta“ von Florentina Holzinger protestiert.

Allerdings standen sie relativ verloren vor dem Haus am Stuttgarter Anlagensee. Die Zuschauer:innen, darunter viele junge Gesichter, diskutierten nach der Aufführung heftig über die Szenen von Sex und Gewalt, die sie auf der Bühne erlebt hatten.

Notärzte und Rettungskräfte begleiteten die Vorstellungen. 18-mal kamen sie zum Auftakt der ausverkauften Vorstellungen in Stuttgart zum Einsatz. Einer Performerin wurde ein Stück Fleisch aus der Haut geschnitten. Das brieten ihre Mitspieler:innen später auf dem Grill. Der Geruch überzog die ersten Reihen des Zuschauerraums. Das verzerrte Bild eines Abendmahls hat viele verstört. Tabubrüche wie dieser sind Teil des Happenings. Dabei ist Holzinger nicht auf den nackten Skandal aus. Ihr geht es darum, die Verletzbarkeit weiblicher Körper in der Kirchengeschichte zu zeigen. Das gelingt ihr und dem Ensemble in der fundiert recherchierten Produktion, in der Nacktheit und Verwundung das ästhetische Konzept prägen.

Mit ihrem radikal-feministischen Zugriff setzte sich ein Großteil der Zuschauer:innen daher auseinander. „Das Publikum unserer Staatsoper ist sehr offen und experimentierfreudig“, findet Miron Hakenbeck, langjähriger Dramaturg an der baden-württembergischen Staatsoper, der die Produktion betreut hat. Obwohl die Stuttgarter auf ihr klassisches Opernrepertoire Wert legen, spürt Hakenbeck da viel Lust auf Neues.

Schon der frenetische Schlussapplaus nach den ersten Vorstellungen zeigte ihm, dass sich der Großteil des Publikums auf die Reibung mit der extremen Bühnensprache der gefeierten Choreografin einließ. Mit zeitgenössischer Oper und mit grenzüberschreitenden Produktionen hat das Haus, das mehrfach als „Opernhaus des Jahres“ ausgezeichnet wurde, viel Erfahrung. In Kurt Weills „Die sieben Todsünden“, 2019 inszeniert von Anna-Sophie Mahler, arbei-

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teten Oper, Schauspiel und Ballett zusammen. Die kanadische Elektroclash-Sängerin Peaches war ebenfalls dabei.

Mit der mutigen Setzung, „Sancta“ mit Florentina Holzinger zu zeigen, haben das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin und die Staatsoper Stuttgart Neuland betreten – und damit auch künstlerisch einen Meilenstein gesetzt. „Sancta“ ist im Mai als eine der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen in Deutschland zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Die Ko-Produktion mit dem Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin, unterstützt von den Wiener Festwochen und der Volksbühne Berlin, spielt mit Symbolen und Konventionen der katholischen Kirche, hinterfragt Lustfeindlichkeit und Gewalt gegen weibliche Körper. Seinem Haus gehe es darum, mit der Produktion „Grenzen auszuloten und lustvoll zu überschreiten“, schrieb Intendant

Viktor Schoner in der Ankündigung. Für ihn begeben sich Holzinger und ihr Ensemble mit dem Abend aber vor allem „auf die Suche nach Spiritualität“.

Respekt vor der Radikalität Im Zentrum der Opernperformance steht der Einakter „Sancta Susanna“, den Paul Hindemith 1921 komponierte. Als Text verwendete er eine Szene von August Stramm aus dem Jahr 1914, „Ein Gesang der Mainacht“. Darin beschreibt der Autor die sexuelle Erweckung einer Nonne. Ursprünglich hatte Hindemith geplant, die kurze Oper zusammen mit seinen anderen Einaktern „Mörder, Hoffnung der Frauen“ und „Das Nusch-­ Nuschi“ in Stuttgart zur Uraufführung zu bringen. Schon damals war die Empörung über die „gotteslästerlichen Inhalte“ so groß, dass die Uraufführung auf Intervention des

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Thema Florentina Holzinger Beherzt ließ sich Dirigentin Marit Strindlund auf diese rauschafte musikalische Reise durch die Jahrhunderte ein.

damaligen Dirigenten abgesagt wurde.

Hindemith wollte die Oper 1921 mit dem Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer in des­ sen Heimatstadt Stuttgart in Szene setzen.

Damals machte die Staatsoper in der pietistisch geprägten Stadt einen Rückzieher.

Seit der Uraufführung in Frankfurt 1922 wird der Einakter an vielen Opernhäusern gezeigt, u. a. 2007 an der New Yorker Metropolitan Opera mit dem Dirigenten Riccardo Muti. Dass das Stück seit der Absetzung „keine Stuttgarter Geschichte mehr hatte“, wollte der Opernintendant Viktor Schoner gemeinsam mit Florentina Holzinger ändern. Musikalisch hat sie den Stoff in die heutige Zeit übertragen. Die österreichische Choreografin und Performerin hat den Einakter mit Neukompositionen von Johanna Doderer, der Produzentin und CJ Born in Flamez, Stefan Schneider und Nadine Neven Raihani ergänzt. Die geistlichen Werke von Johann Sebastian Bach bilden ein Rückgrat der spektakulären Show, die einen Großteil des Publikums zwei Stunden und 45 Minuten fesselte. Metal, Klassik und Pop sind in dem Libretto kein Widerspruch. Beherzt ließ sich Dirigentin Marit Strindlund mit dem Orchester auf diese rauschhafte musikalische Reise durch die Jahrhunderte ein.

Dass Holzingers radikale Theatersprache auch im 21. Jahrhundert in der schwäbischen Landeshauptstadt für Kontroversen sorgen würde, war dem Dramaturgen Miron Hakenbeck bewusst. Deshalb habe man die Debatte in die Stadt getragen. Vor der Premiere in Stuttgart diskutierten der Stadtdekan Christian Hermes und Floren­ tina Holzinger in der Staatsgalerie über die Produktion. Er habe „Respekt vor der Radikalität der Choreografin“, sagte der Theologe in einem Gespräch mit dem Staatsanzeiger. „Sie macht sich verwundbar und legt den Finger in die Wunden nicht nur der Religion, sondern unserer Kultur und einer Welt, in der auch heute zu viel unschuldig

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Blut vergossen wird.“ Dennoch kritisierte der weltoffene Stadtdekan das Verfahren der Künstlerin, denn sie verletze religiöse Werte und diffamiere damit auch die Menschen, die sie vertreten. Dieser offene und kritische Dialog über die Produktion war dem Dramaturgen Miron Hakenbeck wichtig. „Die Offenheit des Stadtdekans, aber auch seine Kritik hat den Austausch über ‚Sancta‘ vorangebracht.“ Bei den Wiener Festwochen war „Sancta“ im Juni 2024 zu sehen. Da fiel die Kritik seitens der Kirche deutlich harscher aus. Der Salzburger Erzbischof Franz Lackner sprach von einem „äußerst bedauerlichen Mangel an Respekt“. Die Freiheit der Kunst habe da ihre Grenzen, „wo sie die religiösen Gefühle und Empfindungen der Gläubigen empfindlich verletzt“. Dieser Sicht schließt sich auch der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler an. Die Performance sei „eine respektlose Persiflage auf die Heilige Messe, die nicht nur im katholischen Glauben das Herzstück des Glaubens dargestellt“.

Sehnsüchte der jüngeren Generation­ Bei den umfassenden Recherchen, die der Produktion vorausgingen, haben sich Holzinger und ihr Team konsequent mit der Geschichte der katholischen Kirche auseinandergesetzt. Dass die Nonnen ihre Gefühle und ihre Sexualität nicht leben durften, zeigt die Geschichte der Sancta Susanna. In der Performance sind die Tänzerinnen als Nonnen verkleidet. Das erinnert manchmal beklemmend platt an den Filmhit „Sister Act“. Damit lockert Holzinger die Performance auf. Das nimmt dem Abend Schwere. Dabei geht die Choreografin dennoch in die Tiefe. Mit radikalem Körpertheater machen sich die Tänzerinnen von den Fesseln frei, die ihnen der Glaube auferlegt. Hol­ zinger peitscht sie bewusst an Grenzen. Die kleinwüchsige Päpstin leitet eine Messe, die der Performance Struktur gibt. Das mag auf den ersten klischeehaft wirken. Die Rolle verkörpert Saioa Alvarez Ruiz, die 2023 für ihren Auftritt in „Ophelia’s Got Talent“ den Nestroy-Preis als beste Schauspielerin bekam.

Klug zeichnet die Künstlerin das Bild eines Kirchenoberhaupts, das sich aus den

Fesseln der körperlichen Einschränkung befreit. Ihre Worte öffnen das Fenster in eine Utopie, die Frauen Macht in den patriarchalen sozialen Strukturen gibt. Alvarez Ruiz‘ Stimme strahlt natürliche Autorität aus. Ausstatter Nicola Knezevic hat einen Raum geschaffen, der die Opernbühne in einen sakralen Tempel transformiert. Blutrote Symbole auf schwarzem Untergrund spiegeln Gewalt. Bei den Kostümen spielt der aus Serbien stammende Künstler mit Ikonen der Kirchengeschichte.

Umstritten war die Produktion auch innerhalb der Staatsoper Stuttgart. Vorbehalte gegen die Produktion habe es im Chor und im Orchester gegeben. „Die Künstler:innen, die nicht dabei sein wollten, haben wir nach Möglichkeit aus der Produktion herausgenommen.“ Zumindest mussten sie nicht auf der Bühne stehen.

Nach Einschätzung des Dramaturgen überwog aber auch da in dem Haus die Neugier, sich auf die radikale Ästhetik der Choreografin einzulassen. Eine große Aufgabe war es für ihn, den Künstler:innen Holzingers Ansatz zu vermitteln, ihr Interesse zu wecken, „sich auf dieses genreüberschreitende Projekt einzulassen“. Spartenübergreifendes Denken ist für den Dramaturgen in der Oper wichtiger denn je. „So gewinnen wir neue Publikumsschichten, gerade unter jungen Menschen“, ist er überzeugt.

Was macht für Hakenbeck den Reiz von Florentina Holzingers „Sancta“ aus? „Die Produktion spricht die Sehnsüchte einer jungen Generation an“, sagt der Dramaturg, der zuletzt mit der polnischen Regisseurin Ewelina Marciniak an der Oper in Bern Richard Wagners „Götterdämmerung“ probte. Jenseits des Bühnenspektakels mit Nonnen auf Rollerskates, die ihre sexuelle Identität suchen, geht es für ihn auch um den Wunsch, eine neue Spiritualität zu finden. In diese Richtung weist der Schluss von „Sancta“, der in ein Happening mündet. Da ist die Hymne „Don’t dream it, be it“ aus dem Kultfilm „The Rocky Horror Picture Show“ zu hören. Der Text wird auf Bildschirme projiziert. Das Happening offenbart auf der Bühne seine große, ungewöhnliche Kraft. In Florentina Holzingers Performances geht es nicht um den Angriff auf Glaubenssätze, sondern um die Suche nach einer freien, weiblichen Identität. T

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Foto Nadine Fraczkowski. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Sprüth Magers, and Park Avenue Armory.

Akteure

Talia Ryder und Levi Strasser in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory

Kunstinsert Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory Porträt Regisseurin Swaantje Lena Kleff

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Akteure Kunstinsert

Michael de la Nuez und Devon Teuscher in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory Jacqueline Bologna, Talia Ryder, und Toon Lobach in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory

Romeo und Julia in der Cadillac-Welt Anne Imhofs „Doom: House of Hope“ in der New Yorker Armory Hall Von Thomas Oberender

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Akteure Kunstinsert

Foto Nadine Fraczkowski. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Sprüth Magers, and Park Avenue Armory

Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory

Sharleen Chidiac (Gitarre), Eva Bella Kaufman (Schlagzeug), Lia Wang (Sängerin) und Jakob Eilinghoff (Bass) in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory

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Oben: Talia Ryder (Mitte) in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory; unten links: Sihana Shalaj wird von Dean Violante tätowiert in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory; unten rechts: Josh Johnson in Anne Imhofs „DOOM“ in der Park Avenue Armory

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Fotos links Nadine Fraczkowski. Courtesy the artist, Galerie Buchholz, Sprüth Magers, and Park Avenue Armory, rechts oben und unten picture alliance / abaca | Berzane Nasser/ABACA

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Anne Imhof, geboren 1978 in Gießen, wurde vor allem mit installativen und performativen Arbeiten im Kontext der Bildenden Kunst bekannt. 2017 gestaltete sie den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig und wurde dafür mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. „Doom: House of Hope“ eröffnete Anfang März in der Park Avenue Armory in New York.

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Akteure Kunstinsert Robert Wilson begründete seine Abneigung gegen psychologischen Realismus und gut gebaute Stücke auf der Bühne einmal mit dem Hinweis, dass er es verabscheut, wenn ihm als Betrachter in jedem Augenblick der Aufführung gesagt wird, was er zu denken hat. Ein Bild hingegen, so Wilson, sagt dir das nicht. Anne Imhof nennt ihre New Yorker Produktion „DOOM: House of Hope“ eine Performance und man kann sie als solch ein offenes Bild empfinden, etwas, das geheimnisvoll und auratisch wirkt, und zugleich ist sie eine big show mit einer großen Geschichte, die ihr fixes ­Timing besitzt und diverse Choreografien, Schauspielszenen, Screenings und Konzertmomente zu Imhofs eigener Meditation über Shakespeares „Romeo und Julia“ vereint.

Am Anfang des Abends schauen die gut 1000 Gäste in der Park Avenue Armory hinter einer Absperrung aus stählernen Bühnenbarrikaden in die dunkle Halle und auf ein riesiges Jumbotron in der Ferne, auf dessen Screens die Spielzeit von drei Stunden in roten Ziffern strahlt. Im Moment, da die sphärische Musik lauter wird, setzt der Countdown ein, die Uhr tickt und vom gegenüberliegenden Ende der Halle schreiten als schlanke Silhouetten im Gegenlicht 40 Performer:innen in Richtung der wartenden Besucher:innen, kühl und ausdruckslos wie in einer Modenschau.

Nahe an der Absperrung lassen sie ihrem Zorn freien Lauf: „We’re ­doomed“, einige erklimmen die metallischen Absperrgitter, andere auf die Dächer der Cadillacs. Shakespeares Stück beginnt mit seinem Ende, der Grablegung der Liebenden, und dann öffnen die Performer:innen die stählernen Bühnenbarrikaden und das Publikum strömt ins Dunkel der 5000 Quadratmeter große Halle. „DOOM“ steht in der Genealogie von Imhofs Opern „Angst I & II“ am Hamburger Bahnhof oder ihrer Ausstellung „Faust“ im Deutschen Pavillon der Venedig Biennale. Wieder kreiert sie einen Raum, den sich Performer:innen und Publikum teilen. Die Besucher:innen sind immer mittendrin in Imhofs Arbeit, nur ist das Werk diesmal größer, direkter an einen Stoff gebunden und bildet ein riesiges, sehr heterogenes Ensemble aus Schauspieler:innen, Flexn und Line Dancers aus New York, klassischen Balletttänzer:innen, Skateboarder:innen, Models wie Levi Strasser als Romeo oder Talia Ryder als Julia und Musiker:innen wie ATK44’s aus Berlin, Jacob Madden oder Lia Wang. Die Rollen von Romeo, Julia, Mercutio und Tybald werden sowohl durch Performer:innen als auch Tänzer:innen und Musiker:innen besetzt, so dass die Identitäten gleiten und auch die künstlerischen Ausdrucksweisen innerhalb des Casts wechseln.

Die Besucher:innen folgen in der Halle einem Geschehen, bei dem oft nicht klar ist, wo gerade sein Zentrum liegt, bis sie den Performer:innen näherkommen, von deren Aura angezogen werden und auf den Screens des Jumbotron die Übertragung der ­Szene sehen, die live gefilmt wird oder parallel an einem anderen Ort stattfindet. „DOOM“ ist eine Revue aus Tableaux vivant und chorischen Szenen und unversehens ist man mittendrin, umgeben von Figuren, die Imhof für diesen Abend zu Shakespeares Cast hinzuerfunden hat, darunter eine Kritikerin, gespielt vom jungen Hollywoodstar Perla Haney-Jardine, die an diesem von Tanz geprägten Abend Rezensionen über Tanzstücke aus der New York Times und dem Guardian verliest. Imhof findet junge Künstler:innen

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Akteure Kunstinsert wie den Darsteller des „revolutionären Regisseurs“ Carl von Bülow oder Coco Gorden Moore, die Tochter von Kim Gordon, die in der Rolle einer Dichterin erscheint.

All diese beigesellten Figuren zeugen von Imhofs eigener Sicht auf Shakespeares Stück. In zwei Jahren Produktionszeit hat sie eine Erzählweise entwickelt, die ich so im Theater noch nie gesehen habe, da so viele brillante Künstler unterschiedlichster Metiers dieses Stück in Imhofs Installation wie durch die Spiegel eines Kaleidoskops erscheinen lassen. So entsteht einer Assemblage verschiedenster Kunstformen und Werkzitate, die „Romeo und Julia“ auf neue Weise wahrnehmen und seine Themen als Tänzer, Performer oder Musiker zum Ausdruck bringen. Das geht über Regietheater weit hinaus und ist auch eine überaus luxuriöse Form der Interpretation, da in diesem internationalen Cast und riesigem Set jeder Wunsch erfüllbar schien. Während unter dem Jumbotron im Zentrum der Halle Tybalt und Mercutio ihr Messerduell tanzen, findet am Rande der schwarzen Cadillac-Escalade-Flotte ein professionelles Fotoshooting unter der geöffneten Heckklappe eines der Wagen statt. Auf der Ladefläche hocken drei Performer und posieren in ihren Baseball- und College-Outfits für eine Fotografin, als würde hier gerade eine Kampagne für GANT entstehen.

Zu ihren Füßen liegen grob ausgerissene Pappstücke, auf die jemand für eine Demo „Transrights“, „God bless the dolls“ und „You can’t control my body“ gekritzelt hat. Um die professionelle Fotografin am Set drängen sich Besucher:innnen und fotografieren die Szene ebenso, während der Romeo-Darsteller in einem rant über die Vergeblichkeit der Fotografie sagt, dass sie nie­ etwas Wirkliches zeigt. Plötzlich gleitet die Rede auf eine andere Ebene und übernimmt den Text einer weiblichen Stimme, die in der Szene auf dem Jumbotron spricht, und es wird klar, dass die Figur nicht der Text ist, den sie spricht, und der Darsteller selbst ein reines Medium ist.

So entsteht die Situation einer vampiristischen Symbiose, in der Gäst:innen und Darsteller:innen sich gegenseitig vom unverblümten Blick des jeweils anderen nähren. Die Show kreiert ihre Darsteller:innen immer wieder zu Tableaux vivant und Chorus Lines, die auf medieninduzierten Bildern beruhen, auf Figuren, die wie am Set einer Modekampagne posieren. Zwischen diesen Posen und Posts entsteht eine Inflation des Sekundären, die von der Suche nach etwas Unmittelbaren angetrieben wird. Aber was ist hier noch unmittelbar? Z. B. der Auftritt von Devon Teuscher, erster Solist am American Ballet Theatre, in John Crankos „Likaste“-Choreografie, getanzt wie in einer Probe, mit Unterbrechungen zum Live-Solo-Rausch von Jacob Madden an der E-Gitarre.

Alles fließt an diesem Ort, das szenische Geschehen, die Bewegung des Publikums, die Identität von Figuren, ihr Geschlecht.

Imhofs vorherige Ausstellung in Bregenz hieß „I wish you were gay“ und angesichts von Trumps Erlass, dass in den USA fortan nur noch zwei Geschlechter existieren, ist diese fluide Welt und ihr enormes Powerplay tatsächlich ein „House of Hope“. Imhofs Cast ist eine Gang von androgynen Models, Tänzer:innen und Darsteller:innen, unkonventionell schön, divers, intelligent und düster. Es ist ein Doomer-Abend in einer Welt, mit der es abwärts geht, und der die „Generation Z“ tief in die Augen schaut.

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Auf Elisa Douglas nacktem Oberarm steht eingestochen „Frankfurt“, die Clubstadt ihrer Jugend, und darunter mit temporärer Farbe „Haha“, „Boo“ und „#ah#“. Das klingt, als sei der Untergang schon längst geschehen. Demna Gvasalia, der georgische Designer und Kreativdirektor von Balenciaga und Gucci, sammelte postsowjetische Modestatements von den Straßen eines kollabierenden Imperiums. Er transformierte die osteuropäische Ästhetik der neunziger Jahre mit ihrer Vorliebe für Trainings­ anzüge, XXL-Silhouetten und billig wirkenden Stoffen zu einer neuen Sprache, die Konsum und Luxus ironisiert und auf die Spitze treibt. So entstand ein Code zwischen der Ästhetik der Armut und Luxusmarken, der in Imhofs Ästhetik resoniert und den Grundton auch für diese Performance setzt. In dieser vom Untergang geprägten Welt lässt Imhof Schönheit einschlagen wie einen Blitz. Es ist die originale Schönheit von Menschen und ein ganzer Kosmos von Werken aus einem bürgerlichen Kanon, der von Genets Romanen über die Doors bis Franz Schubert und Tschaikowskys Streicherserenade Op. 48 reicht.

Aus der Sicht des Theaters erscheint „DOOM: House of Hope“ als devised theatre, also eine szenische Kreation, die kein bestehendes Werk interpretiert, sondern selbst ein originales Werk erschafft. „DOOM“ ist eine Kreation aus Ballett, Konzert und Drama, und im selben Moment eine Megainstallation von Objekten, die wie eine Ausstellung erlebt wird. Drei Stunden laufen die Besucher:innen durch die riesige Halle und betrachten alles aus nächster Nähe.

Doch die physischen Artefakte führen hier ein anderes Leben als im Theater, da sie Requisit und Nicht-Requisit sind, ein aktiviertes Objekt und unberührbares, fetischisiertes Schaustück.

Eine der spannendsten Erfahrungen dieser Inszenierung war die Öffnung des Backstage-Bereichs. In keinem Theaterstück betreten die Besucher:innen die Garderoben und Maskenräume. In Anne Imhofs „DOOM“ gibt es in diesem Sinne keine Garderoben, sondern einen langen Flur, der parallel zur großen Halle verläuft. Er ist weiß ausgestrichen und hell beleuchtet und in diesen White-­CubeKammern ist wiederum alles Ausstellung und Bühne zugleich.

An den Wänden stehen Metallspinde, die 2022 in der Ausstellung „YOUTH“ am Stedelijk Museum zu sehen waren und in ihren geöffneten Türen sind die Kostüme der Darsteller:innen zu sehen. In ihren japanischen Schulmädchenkostümen sitzen vor ihrem Auftritt die Punksängerin Lia Wang und die Musikerinnen Sharleen Chidiac und Eva Bella Kaufmann auf der Bank. Sie checken ihre Nachrichten und werden von den Besucher:innen fotografiert und gefilmt. Diese Backstage-Welt zu öffnen und als Teil der Show zu betrachten, löst einen intimen Rückzugsraum der Darstellenden auf. Hinter der Bühne ist hier auf der Bühne, privat ist öffentlich und Keuschheit und Prostitution sind eins in dieser Welt. Sie zu betrachten, verwickelt die Betrachter:innen in diese ambivalente Situation und nimmt auch ihnen die Unschuld, zumal sie sich nicht durch eine Form schützen können, wie die Darsteller:innen es vermögen, die einfach immer Figur bleiben. „Haha“, „Boo“ und „#ah#“. Sie ziehen sich vor den Augen aller um und vertreiben sich die Zeit mit Computerspielen.

In Imhofs „DOOM“ wurden aus den Clans der Capulets und Montagues die Teams vom „House of Swans“, „House of Wolfes“

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Akteure Kunstinsert und „House of Tigers“, deren T-Logo auf dem Pollunder von Talya Ryder prangt. Alles wird zur Brand. Die Flaggen mit den Signets der Teams hängen in den Garderoben und ihre an Baseball-Clubs erinnernde Ästhetik hat Imhof auch für den Schriftzug und das Logo ihrer Bregenzer Ausstellung 2024 genutzt. In jeder Ausstellung zeigt sich bei ihr eigentlich schon die künftige, sagte sie in einem Interview. Und dieses Morphing bestehender Werke in neue Konstellationen, die mit neuen Werken einhergehen, ist eine völlig andere Arbeitsweise als im Theater. Selten ist in großen Ausstellungen alles komplett neu. Auch Imhofs Umkleidebänke mit dem flüchtig hingeworfenen Basketballshirt waren zuvor in ihrer Bregenzer Ausstellung zu sehen und Tschaikowskis Serenade erklang dort in einem großen Saal, der die Besucher:innen an einer langen Reihe massiver Bühnenbarrikaden aus brüniertem Stahl entlangführt, die Imhof auch in NY verwendet.

Kein Theaterregisseur könnte seine Stücke in dieser Weise morphen und aus bestehenden Partien und Elementen die Teile einer nächsten Inszenierung formen. Im Feld der Bildenden Kunst ist dies üblich. Hier ist der wiedererkennbare Stil des Künstlers viel wichtiger und jede Ausstellung fügt dem Gesamtwerk nur einen Akzent hinzu. Was könnte in „DOOM“ völlig neu sein? In der Armory Hall fährt Anne Imhof eine Armee von schwarzen Cadillac-Panzern auf und konfrontiert den Demna-Stil des ironischen Überlebens mit der Präsenz von Werken, deren Sentiment pur und kraftvoll ist, in Heines Gedichten, in den von Jacob Madden gespielten Patitas von Bach oder den Choreografien von George Balanchine und John Cranko, die von Devon Teuscher als Romeo und Talia Ryder und Remy Young als Julia vollendet getanzt werden. Das ist neu, dieses romantische Sentiment im abgeklärten Welttheater. Das ist Imhofs „House of Hope“. Es verbindet sich mit ihrer Treue zur Jugend und ihrem Widerstand, so zu werden, wie wie das, was sie plagt. „Romeo und Julia“ ist ein Stück über „Youth“.

Es sind jene Anti-Doom-Kräfte, die in einer fragilen Form bleiben, Meisterschaft und Gefühl zeigen, doch oft so, als sei die Performance selbst noch in der Entstehung. Dem gegenüber steht die Gesamtanmutung des dunklen Pomps, der Symbole der Macht und latenten Gewalt dieser Meta-Produktion mit einem globalen Cast und enormen Ressourcen. Deshalb schaltet Anne Imhof ab und an ihr berühmtes Rotlicht ein, das die Halle in die Unterwelt beamt, in die Clubszene, in dieses monochrome, differenz­ aus­löschende Licht, das den Exzess, Sex und das Wegdriften vom ­Untergang begleitet. Imhofs New Yorker Großunternehmen ist mit allen Medienwassern gewaschen und sucht doch die Dunkelheit, die Träume und ist allem zugewandt, was ungezähmt blieb.

Models zu Performer:innen zu machen, ist die Entdeckung von Anne Imhof. Sie zeigen kein Innen. Mit ihrem kühlen, flirrenden Look sind sie die idealen Performer:innen dieser Welt ohne ­Außen.

Die litauische Künstlerin Lina Leipelytė, die durch ihre Oper „Sun & Sea (Marina)“ im litauischen Pavillon der Venedig Biennale 2019 berühmt wurde, hat für ihre szenisch installative Arbeit den Begriff „Performative Visual Arts“ geprägt. Er beschreibt nicht nur ihre eigene Praxis, sondern die Werke vieler zeitgenös­ sischer Künstler:innen, die einen neuen Weg suchen zwischen

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Das Werk ist hier das Ganze, nicht mehr das einzelne Objekt. In einem Freiraum zwischen den etablierten Routinen der Museen und Theater.

Visueller und Darstellender Kunst. Wie Leipelytė s Strandstück entstehen zunehmend öfter ephemere Werke, die raum- und zeitbasiert zugleich sind. Sie haben Öffnungszeiten, keine Anfangszeiten und alle Gäst:innen suchen sich hier ihren eigenen Weg, sind aber Teil einer gemeinsamen Szene. In diesen Werken treten Performer:innen auf wie bei Lina Leipelytėoder Marina Abramovic, Pierre Huyge, Philippe Parreno und Tino Sehgal. Und auch die Objekte selbst können performen und sich zu einem größeren Organismus verbinden, der live agiert und mit dem Publikum eine gemeinsame Szene kreiert wie bei Ragnar Kjartansson oder ­William Kentridge.

In „DOOM“ leben die Cadillac-SUVs, sie beginnen von innen zu leuchten, schalten ihre Scheinwerfer ein oder verwandeln sich dank eines martialischen Exoskeletts in Plattformen, auf denen die Performer:innen tanzen oder Schach spielen oder sich tätowieren. Dieser Entwicklung einer als Performance realisierten Ausstellung entsprechen in der Welt des Theaters die choreografierten Räume, in denen sich die Besucher:innen in Inszenierungen von SIGNA, Sleep no More oder Rimini Protokoll wie in Testgesellschaften bewegen. In ihnen wird ein Spiel in Gang gesetzt, das alle einbezieht und weniger auf eine Handlung hinausläuft als auf eine Situation, deren alternative Regeln neue soziale Erfahrungen vermitteln, aber eben auch neue ästhetische Erfahrungen.

Bei Anne Imhof weiß ich nicht, in welches Stück ich gerate und offensichtlich ist es ein Gesamtkunstwerk genau im Übergangsbereich von visueller Kunst und Performance. Was davon lässt sich in einer klassischen Galerie verkaufen? Kaum etwas.

Das Werk ist hier das Ganze, nicht mehr das einzelne Objekt. Und es entsteht in einem Freiraum zwischen den etablierten Routinen der Museen und Theater, an Festivalorten oder in Biennalen. Der Druck üblicher Formate und Produktionszwänge wird hier außer Kraft gesetzt, auch wenn diese Produktionen oftmals viel teuer sind. Dass Künstler:innen hier neue Wege gehen und neue, lebendige Räume schaffen, belüftet jedoch das gesamte System. Und dafür lohnt sich jede Reise. T

Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

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Akteure Porträt

„Was ihr wollt“ von William Shakespeare in der Regie von Swaantje Lena Kleff am Nationaltheater Weimar

Wie Weimars Hausregisseurin Swaantje Lena Kleff das Nationaltheater zehn Jahre prägte und von ihm geprägt wurde Von Michael Helbing

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Fotos Candy Welz

Ihr offenes Geheimnis: Zusammen

Akteure Porträt Theater auf dem Theater geht eigentlich anders. Hier aber steht Weimars Nationaltheater höchstselbst auf seiner eigenen Bühne: als großes Modell in einer Inszenierung, die gewiss keine Modellinszenierung werden mag. Wir sehen nicht das komplette Gebäude, sondern, latent abschüssig, mit Rutschgefahr, dessen Dachpartie vor blauweißem Himmelsprospekt. Da erhebt sich also ein Ensemble kühn über sein Haus und steigt ihm, nun ja, aufs Dach halt. Dort strandet Viola und fragt: „Was ist das für ein Land?“ Es ist das Land schöner und handfester Illusionen, die hier offenbar werden; in diesem Fall solche in der und über die Liebe. Es ist Illyrien. Es ist: „eine offene Anstalt.“ Und es ist das, es ist dieses Theater. Darin, darauf, daneben schwören sie auf Shakespeare und zwar buchstäblich: Eine Werkausgabe ist ihre Bibel. Sie spielen „Was ihr wollt“, eine Komödie darüber, sich in der Liebe lächerlich zu machen, die Folgen aber würdig zu tragen. Und die Liebe zu diesem Nationaltheater ist, aus Gründen, eingepreist. So hat es Swaantje Lena Kleff angerichtet, zusammen mit ihrem Ensemble sowie u. a. Bühnenbildner Philipp Rubner. „Ich warte auf den Erstaufschlag von Bühnenoder Kostümbild“, sagt sie, „und surfe dann auf dieser Idee.“ Es ist ihre letzte von insgesamt elf Inszenierungen hier. Und eine ihrer besten: inzwischen fast schon erwartbar krachlustig und durchgeknallt, todtraurig jedoch unter der Oberfläche. Zwischen allen verbalen und szenischen Pointen lässt das alles Platz für

Drei Jahre Regieassistenz.

Für sie ein Privileg: zugucken und lernen zu dürfen.

echte Wut, echten Zorn, echte Verzweiflung. Da löst sich nichts in Wohlgefallen auf, da bleiben bittersüße Reste. Auch in den Songs mit Theatermusiker Ludwig Peter Müller. Vieles kommt zusammen. „Aber nichts von Coldplay!“ Der Narr rahmt den Abend mit Taylor Swifts „Fortnight“ hier und Danger Dans „Tesafilm“ dort, Sebastian intoniert „Can’t Fight This Feeling“ von REO Speedwagon, Olivia Nat King Coles „I Don’t Want to See Tomorrow“.

Ihre Zofe macht die Bitch zu Nina Chubas „Wildberry Lillet“, ihr Haushofmeister Malvolio reißt sich im Moment größer Demütigung mit „Boys Don’t Cry“ von The Cure am Riemen …

Viermal geht das so drinnen über die Bühne, ab Mitte Juni elfmal draußen, im Sommertheater. Dann ist Schluss. Generalintendant Hasko Weber gibt an die Teamintendanz Valentin Schwarz, Dorian Dreher und Timon Jansen ab, mit ihm wechselt das Personal hinter der Bühne stärker als darauf. Auch Swaantje Lena Kleff geht. Das hiesige Schauspiel, das sich insgesamt prächtig formieren und entwickeln durfte, prägte sie ein Jahrzehnt lang mit,

Die Regisseurin Swaantje Lena Kleff

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Akteure Porträt

Swaantje Lena Kleff in Proben von „Der Sturm“ am Nationaltheater Weimar

Kollegen empfehlen ihr regelmäßig frotzelnd, es doch mal als Dozentin für Overacting zu versuchen.

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Vom Studium der Theaterwissenschaften in Leipzig kam die Hannoveranerin 2012 nach Weimar. Drei Jahre Regieassistenz.

Für sie ein Privileg: zugucken und lernen zu dürfen. Am Anfang war da nur eine Vermutung, dass Regie für sie selbst etwas sein könnte. Am Ende saß sie hinterm Pult und inszenierte eine Uraufführung: Jens Raschkes „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“, ein Kinderstück über den Zoo für SS-Familien neben dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Dass sie das machen durfte, empfindet sie als etwas Besonderes. Kommilitonen, die andernorts assistierten, durften nach fünf Jahren vielleicht mal eine szenische Lesung einrichten.

Freie Regisseurin Danach war Kleff Freie Regisseurin. Weimar hielt an ihr fest. ­Weitere Arbeiten auf der Studiobühne. Außerdem: Kinder- und Familienstücke in Linz oder Karlsruhe, später auch Münster.

Anfang 2019 erstmals Weimars große Bühne: Yasmina Rezas ­ aus dem ­Ruder laufende Konversationskomödie „Der Gott des Gemetzels“. Das taugt nicht zum Regietheater, braucht aber den Regieblick für jene Pointen, die nicht im Text stehen, sondern im Spiel entstehen. Die Kleff kultivierte ihn.

An selber Stelle folgte bald darauf Charles Dickens’ „Christmas Carol“ als atmosphärisch dichtes, als so tempo- wie ereignisreiches Theatervergnügen. Von einem fröhlichen Grundton getragen, wurde das so erfolgreich, dass es noch im vergangenen Advent auf dem Programm stand; zuvor auch mal zwei Vorweihnachtszeiten hintereinander parallel zu Kleffs Fassung „Das kalte

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Foto Candy Welz

z­ uletzt vier Jahre als Hausregisseurin. Ihre Ensemble und Publi­ kum zugewandten Lust-und-Laune-Arbeiten trugen sehr zum Erfolg bei: mit ihrer Affinität für Fantasie und Albernheiten, aber auch mit Konzepten jenseits erhobener Zeigefinger.

Höchste Zeit also für ein Gespräch mit Theater der Zeit.

Dazu kommt es auch. Doch als es schon zu Ende ist, schiebt die Regisseurin eine Frage hinterher, die kurz sprachlos macht. „Interessiert das denn jemanden, etwas über Swaantje Lena Kleff zu lesen?“ Dabei passt das durchaus zu dieser sehr hellhäutigen Frau, die so wenig gerne im prallen Sonnen- wie im grellen Rampenlicht steht, die lieber den Schatten sucht und in dunklen Räumen arbeitet. Sie liebt die Bühne über alles. Doch schlägt das in Hass um, wenn sie selbst hinausmuss, zum Premierenapplaus. „Es gruselt mich. Ich weiß dann plötzlich nicht mehr, wie Laufen geht.“ Sie kokettiert nicht mit Bescheidenheit, sie ist so. Das Gegenteil von „Hoppla, jetzt komm ich“. Sie nennt sich „ein Puzzleteil unter vielen, die für eine Inszenierung wichtig sind“. Und ist voller Dankbarkeit dafür, wie Hasko Weber und Chefdramaturgin Beate Seidel sie kontinuierlich förderten: „dass ich eine Chance bekomme und immer wieder eine Chance bekommen habe.“

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Herz“. Das Hauff-Märchen hatte ebenso auf ihrer recht kurzen Bucket List gestanden wie „Was ihr wollt“.

Seitdem: Shakespeare im Märchenkomödien-„Sturm“, mit einer Prospera anstatt Prospero, Goldonis „Diener zweier Herren“ pointensatt poppig zwischen Rialto-Brücke und Bällebad im Sommertheater oder Goethes „Werther“ als bunte Geburtstagsshow 250 Jahre nach des Briefromans Erscheinen. „Was für ein Geschenk das war“, betont Swaantje Kleff mit dankbarem Blick auf das Haus. Dass sie ihrerseits auch ein Geschenk für dieses gewesen sein könnte, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Darauf angesprochen, druckst sie erst mal herum. „Das ist tatsächlich nicht so meins“, sagt sie dann über derlei Selbst­ einschätzung und weiß: Sie hat da „eine Baustelle“. Aber ja, räumt sie auf Nachfrage schließlich ein: „Meine Arbeit und Fantasie ­haben dem Haus schon schöne Impulse gegeben.“ Einige Schauspieler meinen, sie seien nur so gut wie ihre Regisseure. Bei der Kleff ist es umgekehrt. Sie interessiert sich für ihre Schauspieler, liebt sie regelrecht, betrachtet sie nie als Erfüllungsgehilfen eines Konzepts, das am heimischen Leipziger Schreibtisch entstand. Sie nehme Impulse auf, sagt sie. „Meine ­Inszenierungen sehen so aus, weil bestimmte Schauspieler bestimmte Rollen spielen.“ Swaantje Lena Kleff arbeitet mit Schauspielern auf Augen­ höhe, getragen von einem Grundvertrauen in deren Können. „Es ist ein gemeinsames Bauen. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen.“ Sie spielt ihnen nie vor, wie sie’s gerne hätte. „Höchstens mal, um die Kollegen zu amüsieren.“ Die empfehlen ihr dann regelmäßig frotzelnd, es doch mal als Dozentin für Overacting zu versuchen.

Danach inszenierte Kleff auch in Schwerin, Oldenburg oder Magdeburg. Und sie würde „schon behaupten, dass ich überall ein gutes Verhältnis zu den Leuten habe und niemand froh ist, wenn ich abreise“. Es sei ohnehin ein Irrglaube, dass nur durch Druck Diamanten entstehen. „So möchte ich jedenfalls nicht arbeiten.“ In 99,9 Prozent der Fälle sei es nicht hilfreich gewesen, so ihre Erfahrung, wenn Regisseure laut wurden. „Das hat nie dazu geführt, dass jemand besser gespielt hat oder ein Umbau schneller funktionierte.“ Kleffs offenes Geheimnis lautet: zusammen. Sie baut auf Expertisen der Kollegen (Beleuchtung, Requisite, Ausstattung, Musik) und vertraut der Strahlkraft des Textes.

Zuletzt besorgte sie pro Saison im Schnitt zwei Inszenierungen in Weimar, zwei außerhalb. Künftig sollen es eben wieder vier als Freie Regisseurin werden, beginnend mit einem Familienstück in Augsburg. Kinder- und Jugendtheater macht sie bis heute liebend gerne. „Oh ja!“ Dort erlebt sie das gnadenloseste Publikum. „Alle, die das nicht für vollwertiges Theater halten, die können sich mal …“ Swaantje Lena Kleff freut sich über jede Chance, die sie bekommt. „Wenn das Telefon allerdings mal nicht mehr klingelt, wäre das zwar schade, aber dann mache ich halt was anderes.“ Derzeit studiert sie unterdessen in München berufsbegleitend Theatermanagement: „eine Weiterbildung für Menschen mit bestimmten Ambitionen.“ Kann also gut sein, dass sie eines Tages das Weimarer Modell der Talentförderung weiterträgt, wohin auch immer. T

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Das Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover sucht zum 01.10.2025 eine

Künstlerische und geschäftsführende Leitung für den Betrieb der Spielstätte „Altes Magazin“ (m/w/d) Das Alte Magazin ist eine etablierte Spielstätte für Kindertheater ab drei Jahren für die Stadt Hannover und Umland und befindet sich im Eigentum der Landeshauptstadt Hannover. Der historische Bau in der Kestnerstraße 18 bietet einen 350 qm großen Theatersaal mit 100 Sitzplätzen, ein 140 qm großes Foyer und barrierefreie WCs, eine Probenbühne, Büros und Garderoben sowie Lagerflächen. Das Gebäude wurde 1894/1895 als Requisitenlager für das Königliche Hoftheater erbaut und wird seit 1988 als Spielstätte genutzt. Im Jahr 2010 wurde das Haus grundlegend saniert. Die freie Spielstätte liegt zentral im Stadtteil Südstadt und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen.

Die Landeshauptstadt Hannover stellt den künftigen Betreiber*innen die Spielstätte sowie eine institutionelle Förderung in Höhe von jährlich 200.000 EUR zur Verfügung. Darüber hinaus sollen eigenständig weitere Drittmittel akquiriert werden. Weitere Einnahmen können über Vermietungen generiert werden. Diese Mittel stehen im Jahr 2025 vollumfänglich zur Verfügung und können zur Anschubfinanzierung und Etablierung der Spielstätte verwendet werden. Aus der Zuwendung und den akquirierten Drittmitteln werden die Personalund Sachausgaben für den Betrieb der Spielstätte finanziert. Der Vertrag wird zunächst befristet auf vier Jahre geschlossen, in diesem Zeitraum ist eine Evaluation vorgesehen. Die Möglichkeit einer Verlängerung besteht.

Gesucht werden erfahrene, mutige und empathische Persönlichkeiten oder ein Team/Kollektiv mit Visionen für die Möglichkeiten des Spielorts, die im einzureichenden Konzept dargelegt werden sollen. Die handelnden Personen müssen als juristische Personen des Privatrechts (z.B. eingetragene Vereine, gemeinnützige Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Stiftungen) organisiert sein bzw. sich organisieren und ihren Lebensmittelpunkt in Hannover haben bzw. dorthin verlegen. Verbände und freie Träger sind in der Regel in einer dieser Rechtsformen organisiert.

Ein zentraler Schwerpunkt in der Neuausrichtung des Spielorts ist ein Kindertheaterangebot, das neue Impulse setzt. Das Angebot soll sich eindeutig in der Kulturlandschaft der Landeshauptstadt Hannover verankern und eine sinnvolle Ergänzung zum bestehenden Kulturprogramm darstellen. Hier ist auch die zeitgemäße Konzeption einer hybriden Nutzung durch ein spartenübergreifendes Angebot im Bereich der spielerischen Vermittlungsarbeit für junge Menschen denkbar. Die Möglichkeit für Dritte, in der Spielstätte Altes Magazin Konzerte zu veranstalten, soll erhalten bleiben. Das Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover unterstützt die Vernetzung sowohl in der lokalen Szene als auch zu weiteren möglichen Förder*innen.

Für den Betrieb werden sowohl künstlerische als auch geschäftsführende Qualifikationen und Kompetenzen vorausgesetzt. Neben Betriebskonzepten von Einzelpersonen sind ausdrücklich Konzepte von Teams/Kollektiven erwünscht. Sich bewerbende Teams oder Kollektive ergänzen sich in ihren Expertisen in künstlerischer und kaufmännischer Hinsicht zu einer Leitung.

Die Jury wird voraussichtlich im Juli 2025 ihre Entscheidung über die Bewerbung treffen, der erforderliche Beschluss der politischen Gremien ist für September 2025 vorgesehen. Daher wird die Programmplanung für den Spielbetrieb wahrscheinlich im Herbst starten. Die Wiedereröffnung der Spielstätte ist für Anfang 2026 geplant.

Die ausführlichen Voraussetzungen sowie Informationen zum Auswahlverfahren (Einreichfrist 15.05.2025, Juryentscheid voraussichtlich im Juli) finden Sie online unter: tdz.de/stellenmarkt

Stück Gespräch Dietmar Dath

Sarah Maria Grünig und Thomas Prazak in „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“, Uraufführung von Dietmar Daths neuem Stück am Staatstheater Augsburg, Regie André Bücker, Bühne Robert Schweer, Kostüme Imme Kachel

Die Grenzen der Freiheit Foto Jan-Pieter Fuhr

Dietmar Dath über sein beim Augsburger Brechtfestival uraufgeführtes Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ im Gespräch mit Lina Wölfel

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Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dichStück nichtGespräch braucht“ Hat Ihnen beim Schreiben eine KI geholfen?

DIETMAR DATH: Ja, und zwar ohne, dass sie groß was tun musste. Also ich habe keine eingeschaltet. Mir hat aber die Idee geholfen, dass es eine gibt. Die Absicht war, mit KI im Nacken, Dialoge und Monologe zu schreiben, die sich ohne einen semantischen Zugriff – also ohne Kontextverständnis – nicht zusammenfassen lassen. Als Beispiel dafür, wie KI solche Zusammenfassungen macht: Eine Schauspielerin hat Geburtstag, man schreibt einen Text dazu und lässt sich von einer KI Zwischenüberschriften vorschlagen. Im Text erwähnt man beiläufig, dass sie eigentlich Nonne werden wollte, spricht dann aber über viele andere Dinge, die wichtiger für ihre Laufbahn waren. Am Ende wird einem als Zwischenüberschrift angeboten: vom Nonnentraum zur Stilikone.

Und woher kommt der Nonnentraum?

DD: Im Text steht er nicht. Das, was wir KI nennen, sind Algorithmen, die mit Trainingsmaterial konfrontiert wurden und darin Muster finden. Das Wort „Traum“ steht in den Trainingsdaten in der Nähe von „Kind will einen Beruf“. Die KI macht dann ein Muster daraus: Ein Kind wünscht sich, Nonne zu werden, und das ist der Traumberuf des Kindes. Was dabei fehlt, ist: Was, wenn diese Schauspielerin das gar nicht als Traumberuf gesehen hat, sondern sie aus einer streng katholischen Familie kommt? Ein Mensch würde da zögern. Ich habe versucht, so viel von diesem Zögern wie möglich in die Figuren zu legen. Sie sollten sich gegen ihr reines Aufgehen in der ihnen zugeschriebenen Sozialfunktion sperren.

Und gleichzeitig sind sie ja ganz klar an ihre Funktionen gebunden?

DD: Der Drahtseilakt war, sie sollen sich einerseits gegen Sozialzusammenfassungen durch die KI sperren und andererseits doch ganz klar erkennbar sein als jemand, der eine bestimmte Rolle in dieser Welt zu erfüllen hat. Das wollte ich darüber lösen, die Figuren so anzulegen, dass, wenn man der KI als Prompt den Stücktext mitgibt und sie fragt: Wer ist diese Figur und was zeichnet sie aus, dann bitte eine falsche Antwort ausgegeben wird.

Was wären denn z. B. so falsche Antworten?

DD: Wenn man z. B. fragen würde: Was begründet den Sinneswandel des ehemals linken Philosophen, der sich jetzt selbst einen Faschisten nennt? Die Maschine würde möglicherweise sagen: die ganze Insektensache. Weil er im Stück begründet: Ich war früher ein Mensch, der mit anderen Menschen mitfühlte und den es grauste vor einem Insektenkosmos, und heute habe ich Angst vor Menschen und will Insekt sein. Das war toll zu erleben: Weder der Schauspieler noch die anderen Figuren und am allerwenigsten das Publikum haben ihm diese Stelle abgekauft.

Apropos: Diese Sache mit dem Insektenstaat, was hat es damit auf sich?

DD: Also das erste Bild waren die Borg aus „Star Trek“. Die sind ja nach dem Modell gebaut: Du hast eine Königin und den bienenstockartigen Würfel. Mein Hauptproblem war die Aufspaltung der technischen und sozialen Gegebenheit des Insektenstaats. Die soziale Seite ist der Chor – viele Stimmen, die extrem unter Dampf stehen.

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Auf einer bildlichen Ebene sieht alles offen aus, entpuppt sich aber doch als Gefängnis.

Für die technische Seite habe ich mir etwas mit klar unterschieden segmentierten Gliedmaßen und kameraartigen Augen vorgestellt – da hat man schnell ein Insekt vor Augen. Aber wodurch unterscheiden sich die soziale Seite und die technische Seite noch? Und die Antwort war: die Anzahl. Die technische Seite muss eine singuläre Figur sein!

Auch, weil autoritäre Leute die Vorstellungen von Singularität – also der König, der Führer, „das Internet“ – mögen. Ich brauchte eine Figur, die der autoritäre Denker, Nick, anbeten kann.

Ich würde sagen, dass das Insekt die kohärenteste Figur ist.

DD: Das ist richtig, weil sie auch keine eigenen Zwecke suchen muss. Die anderen haben das Problem: Warum mache ich, was ich mache? Diese Frage stellt sich für das Insekt nie. Das fasziniert mich, weil ich gerne an die Grenze dessen gehe, wie herausfordernd eine Einladung, sich in jemanden reinzuversetzen, sein kann. So, dass dafür ein Maximum an Beteiligung verlangt wird. Dass man nicht einfach ein Schildchen dran trägt: Das ist übrigens der Gute.

Aber das Grundproblem ist eine Arbeitssituation?

DD: Niemand findet die Lösung, die wäre: Wir müssen es zusammen machen. Es kommt einmal das Wort Gewerkschaft vor, wird dann aber direkt vermurmelt. Dazu reicht es eben nicht. Die Frage war, wie ich jeder Figur ihr eigenes Scheitern an der schweren Aufgabe der Solidarität mitgebe, ohne mit der Moral um die Ecke zu kommen: Wir sind eben alle kleine Sünderlein oder der Kapitalismus ist halt blöd, ohne zu sagen, warum, was genau, wie genau.

Wo finden sich diese Widersprüchlichkeiten noch?

DD: Es gibt bei Brecht diesen Satz: In den demokratischen Ländern ist der Gewaltcharakter der Ökonomie nicht enthüllt, d. h. verhüllt, während in den autoritären Ländern der ökonomische Charakter der Gewalt verschleiert wird. Den Satz sagt Brecht auch im Stück. Das bedeutet: Die Freiheit in der bürgerlichen Demokratie ist ökonomisch durch den Erwerbsarbeitszwang eingegrenzt, und die scheinbar rein politische Gewalt in den Diktaturen wiederum hat ökonomische Parameter. Aber das kann nur ein Lehrsatz sein, das ist eine Abstraktion. Drama geht anders.

Was ist das überhaupt für ein Raum, in dem dieses ganze Geschehen spielt?

DD: Einer, der von kaufen und verkaufen handelt. Man versteht nicht genau, was da verkauft oder gekauft wird und was die überhaupt herstellen. Es sollte abstrakt gültig und übertragbar sein. Der Punkt ist, dass die Wege rein und raus, die geöffneten, aber auch die versperrten, diesen Raum viel mehr bestimmen als eine innere Ordnung, die er haben könnte.

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Stück Gespräch Dietmar Dath

Das spiegelt ja auch die Widersprüche wider, die sich nicht nur in der Bühne, sondern in allen Aspekten des Textes – dem Chor, den Figuren selbst, ihren Überzeugungen und ihrem Interagieren miteinander – finden.

DD: Diese Identifikation mit den Vorgaben muss bis in die körperlichen Bewegungen der Spieler:innen übergehen, das ist fast Biopolitik. Z. B. als Lars, der Programmierer, die Leiter vom Aufzug runterklettert und gleichzeitig einen sehr komplexen Monolog darüber spricht, wie die Büro-KI funktioniert, dachte ich: Mann, der muss schon gucken, wo er da hintritt, da kannst du echt runterfallen. Gleichzeitig hat er dabei eine Beiläufigkeit, einen Plauderton. Im Gegensatz dazu, wenn er mit Menschen direkt persönlich redet und immer sehr angestrengt wirkt. Aber wenn er erklärt, wie etwas funktioniert, ist er relaxed.

Wurde der Text viel mit den Spieler:innen weiterentwickelt?

DD: Ich bin einmal zu einer ersten Gruppenlesung gegangen und habe den Spieler:innen gesagt, dass sie mir sofort eine Mail schicken sollen, wenn irgendwas nicht hinhaut. Was dann als Nachfragen kamen, waren wahnsinnig gute Prompts. Also: Ich verstehe die Rolle so, aber dann macht sie das, warum? Ich hätte eine Idee, warum, aber stimmt diese Idee? Und es ist was Spannendes passiert: Eine Figur hat bei mir drei Stellen, die einer vollständig mit sich im Lot befindlichen Figur selber anstößig wären. Eine davon ist mit den Thesen verknüpft, um die es im Text geht. Die anderen beiden sind dramaturgisch oder kommen aus Plaudereien mit anderen Figuren. Und das Irre war, dass die Spieler:innen tatsächlich immer die eine Stelle gefunden haben, die am engsten mit der These verknüpft ist.

Wie hat die Zusammenarbeit zwischen Ihnen, André Bücker und den Spieler:innen stattgefunden?

DD: Das Ganze fing vor vielen Jahren in Mannheim an, mit „Waffenwetter“. Bei einem anderen Stück, das wir zusammen gemacht haben, ist eine Schauspielerin immer an der gleichen Stelle hängen geblieben. Auf einer Probe habe ich sie gefragt, ob sie mir erzählen kann, warum sie da hängen bleibt. Und dann sagte sie: Es stimmt etwas an der Figur und der Szene nicht. Die Figur ist doch arrogant. Warum erklärt sie anderen Leuten, warum sie tut, was sie tut? Wir haben es dann mal ohne den Erklärmoment gespielt und sie hatte recht, es funktionierte. Ich beschäftige mich zwar länger mit dem Stück, was heißen soll mit allen Figuren, ihrem sozialen Hintergrund, mit der Ästhetik, mit den Thesen, aber ich beschäftige mich natürlich im Leben nicht so lange mit der einzelnen Figur wie die Schauspielerin. Und die Idee war, das im Grunde immer mehr zu erweitern.

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Was heißt das für Sie als Autor?

DD: D. h., dieses Öffnen für Leistungen aller anderen Beteiligten bedeutet nicht, dass ich einen vagen Text schreibe. Es heißt, dass ich einen Text schreibe, der nicht zusammenstürzt, wenn ich einen Input bekomme, der sagt, wir müssen etwas ändern.

Das Team in Augsburg hat mir z. B. Mails geschrieben, mit der Bitte, Textpassagen umstellen zu können, weil sie den Rhythmus durchbrechen und die Vorstellung dadurch holpert. Manchmal habe ich einen Text hinzugefügt, der die Stelle erklärt. Einige Tage später meldet sich dann André und sagte mir, sie haben den neuen Text wieder gestrichen. Weil die Erklärung den beiden geholfen hat, es ohne die Erklärung zu spielen. D. h., es ist dabei Wegschmeißtext entstanden, der weiter keine Funktion hatte, als das Projekt voranzutreiben.

Was ja gar nicht vorkommt, sind die guten Seiten von Digitalität und Social Media – also Vernetzung, Sichtbarkeit, Empowerment.

DD: Das ist deshalb der Fall, weil der Fokus auf der Arbeitssituation liegt. Dieses Internet, welches Sie beschreiben, das diese positive Seite hat – die ich nicht nur nicht bestreite, sondern emphatisch bejahen würde –, wird gerade abgemurkst und eben zur Kontrollinstanz für neue Ausbeutungsverhältnisse. Ich frage mich, ob wir vielleicht das kurze Fenster erlebt haben, in dem das Internet tatsächlich ein Ort des Austauschs und der Vernetzung war. T

Dietmar Dath schreibt Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Sachbücher und Gedichte.

Er arbeitet als Journalist, ehemals als Chef­ redakteur der Spex und aktuell im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Foto Jörg Steinmetz

Auf einer bildlichen Ebene sieht alles offen aus, entpuppt sich aber doch als Gefängnis. Der Aufzug ist kaputt, im Erdgeschoss gibt es einen Wasserschaden. Diese nierenförmigen Plateaus lassen viele Assoziationen zu: Es hat was Biologisches – von synthetischer Biologie –, es sind Zellen, im mehrfachen Sinne, oder Venn-Diagramme. Da gibt es Mengen, Schnittmengen, Einschluss, Ausschluss, Teilhabe, keine Teilhabe.

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Theater der Zeit

Stück Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht Eine Übung in digitalem Dämonenfaschismus Dietmar Dath

Rollen PERSEPHONE: Aus einem östlichen Kriegsgebiet geflohene Informatik-Hilfskraft LARS: Programmierer, Genie INSEKT: Ausgestorben NICK: Faschistischer Philosoph NELLEKE: Ehemalige Berufsschullehrerin esoterisch-kritischer Gesinnung JÖRN: Unternehmer in Zement, Beton und dergleichen BERTOLT BRECHT: Zeitweise verkleidet als Sigmund Freud, beide sind längst tot DIE LEUTE: Chor und Cloud

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Stück Dietmar Dath

D

SZENE 1: KORRIDOR, ELFTER STOCK (Lars, Persephone) PERSEPHONE: Oh, du bist ja doch da!

LARS:

Vielleicht.

PERSEPHONE: Was denn, „vielleicht“? Vielleicht bist du doch da, oder was?

LARS:

Nich so eifrig am frühen Morgen, du Modellmitarbeiterin du.

Dein Zeug da interessiert mich nicht.

PERSEPHONE: Aber mich interessiert’s. Ich brauche nämlich Hilfe mit der Software von den Aufzügen. Und du bist genau der Richtige dafür. Ich dachte allerdings, du wärst im Home Office. Du bist aber hier, siehste. Also mal zur Sache, bitte, weil, gleich kommt meine Vermieterin, und wenn die ewig unten steht, weil kein Aufzug kommt, dann hat sie einen Zusammenbruch.

LARS:

Wieso kommt deine Vermieterin in den Laden?

PERSEPHONE: Die ist mein Gast. Das passiert im Rahmen der Initiative. Weißt du, die … na, jede und jeder von uns soll ja irgendwen mitbringen. Für die Evaluation.

LARS:

Hab‘ ich noch nie was von gehört.

PERSEPHONE: Ach ja? Und wieso machst du mich dann dauernd so dumm an, von wegen „Modellmitarbeiterin“? Das Wort kommt doch aus dem Folder für die Initiative!

LARS:

Kommt es das?

DIE LEUTE (einige nur, aus dem ur-anfänglichen Rübendunkel des gruseligen Überall) Fressen … Fressen …

LARS:

Was?

PERSEPHONE: Was meinst du mit „was“?

LARS:

Hast du das nicht gehört gerade?

PERSEPHONE: Gehört? Nein. Echt, wenn ich dir den Quatsch mit der Initiative nochmal vorkauen muss jetzt, weil du nie irgendwas zur Kenntnis nimmst, keinen Vortrag vom Chef … sorry, ja, ich weiß, es heißt nicht mehr Chef jetzt, es heißt Coach, ist klar … Alter, du ignorierst das alles immer so mit „interessiert mich nicht“, aber …

LARS:

Aber dich kann ich hier gerade nicht ignorieren. Stimmt

schon. Gut, komm, sei lieb, fass es mir doch nochmal zusammen. Initiative wie, was?

PERSEPHONE: Und dann hilfst du mir?

LARS:

Vielleicht.

PERSEPHONE: Lars! In zehn Minuten steht die unten!

LARS:

Na, dann fang mal an mit deiner Zusammenfassung.

PERSEPHONE: Herrgottnochmal. Okay. Also schön. Die Stadt hier hat sich einer landesweiten Initiative angeschlossen, die ermitteln soll, welche Betriebe im Bereich der IT, besonders Software-Entwicklung, aber auch Training und Ausbildung und KI-Einsatz, für eine nachhaltige Innovations- und Mittelstandspolitik Vorbildfunktion haben. Wir und andere Klitschen sollen Strukturen und Workflows in einer Dokumentation festhalten, dabei dann eine Modellmitarbeiterin oder einen Modellmitarbeiter ermitteln, eine Person, die für die stärksten Seiten in unserem Betrieb steht, und … Und diese Person wird dann, wenn Alle Rechte liegen beim Autor

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unser Betrieb bei der Endauswahl gewinnt, die von einer internationa-

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Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ len Jury aus Fachleuten, Investoren, Venture-Kapitalgestalten vor allem, und schließlich Verwaltungspersonal vorgenommen wird, zur Liaison zwischen den staatlichen Stellen und dem Betrieb bestimmt, die ein großzügiges Förderbudget optimal …

LARS: Danke, reicht. Und deine Vermieterin gehört jetzt wie dazu, zu diesem Wettbewerb der Scheiße?

PERSEPHONE: Ja, der Teil ist halt schon der dümmste von dem Ganzen. Aber wir machen eben mit, der Chef will es und die Stadt will es … wir sind angewiesen, irgendwelchen Menschen unsere Arbeit zu erklären, und zwar Menschen, die am Ende den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von dieser ganzen nachhaltigen Innovations- und Mittelstandspolitik haben sollen. Die schreiben dann Protokolle, das kommt in den Bewertungsfolder für die Endauswahl, für diese Typen aus Silicon Valley oder aus China oder wer auch immer da sitzt in dieser Jury.

DIE LEUTE: (murmelig maulend) FRESSEN! FRESSEN! Fast hätten wir’s vergessen!

Wir wollen Daten fressen, Denn Daten tun uns GUT. PERSEPHONE: Was? LARS: Wie meinst du das, „was“?

PERSEPHONE: Da war ein… nein. Da war … keine Ahnung. Geräusche. Oder? So Lärm aus … ach was. Jedenfalls, die Idee ist, es müssen Leute sein, die mit unserer Arbeit normalerweise nichts zu tun haben, Bürgerinnen und Bürger, am besten solche, die es nicht interessiert, die müssen wir uns holen. Die Desinteressierten LARS: Dann muss ich ja niemanden mitbringen.

PERSEPHONE: Wieso?

LARS: Du hast gesagt, es sollen Leute sein, die mit unserer Arbeit nichts zu tun haben und die es nicht interessiert. Das heißt, ich kann mein Protokoll einfach selber schreiben. Denn ich merke hier jeden Tag, jede Stunde und jede Minute, dass ich mit meiner Arbeit hier nichts zu tun habe, und dass sie mich nicht interessiert.

PERSEPHONE: Klugscheißer! Mann, weißt du, wie schwierig das ist, jemanden dazu … Ich musste der Frau drei Tage schmeicheln, bevor sie … die geht eh nicht gern aus dem Haus. Die hat Depressionen, seit ihr Kind gestorben ist. Aber ich kenne sonst niemanden, die oder der … ich bin nicht von hier, das weißt du doch.

LARS: Ja, bla bla, du kommst aus einem Land, das mich nicht interessiert, wo ein Krieg stattfindet, der mich nicht interessiert, und hast da eine Tochter zurücklassen müssen, die mich noch viel mehr nicht interessiert.

PERSEPHONE: Schön, hack wieder auf mir rum, wenn du das brauchst.

Aber der Chef, der nimmt das mit dem Einladen dermaßen ernst, der hat sogar zwei Leute eingeladen, die ihm Protokolle schreiben, nicht nur eine Person. Zwei. Und zwar erstens diesen Zementheini, den Unternehmer da, den er aus der Industrie- und Handelskammer kennt, und dann zweitens noch so einen Denker. Einen Philosophen. Die müssten auch eigentlich schon hier sein. Und wo der Chef es so ernst nimmt, da kann ich mir das halt nicht leisten, es nicht ernst zu nehmen. Von wegen „Modellmitarbeiterin“! Ich muss einfach. Von mir erwartet er das, als Dank für seine Bereitschaft, eine wie mich hier … Klar, du siehst das anders. Du machst nicht mit. Du bringst niemanden mit, und er wird dir das auch durchgehen lassen, weil du hier das Genie am Rechner bist. Aber ich, die Ausländerin, die … die Lehrerin, wie er immer sagt, weil er sich nicht merken kann, dass ich zuhause Deutsch studiert habe und das Computerzeug, damit ich in die internationalen digital humanities reinkann, und hier jetzt Hilfsarbeiterin

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bin an diesen verrosteten Maschinen, weil ich sonst keinen Job… LARS: Wirklich, es interessiert mich alles null. Null Komma Null. Und was du immer mit deinem Chef willst … also die Organisation läuft doch hier längst anders, Mädchen. Man hat alle Chefs im Haus von Seiten des Aufsichtsrats erst gefeuert und dann wieder per Ausschreibung zurückgeholt. Sie mussten sich neu bewerben, sie kriegen weniger Geld und es heißt nicht mehr Chef, es heißt jetzt „Coach“, und dann …

PERSEPHONE: Ja, dann … dann leck mich einfach am Arsch. Die Zeit reicht eh nicht mehr. Scheiß-Aufzüge. Ich geh jetzt einfach die Treppe runter.

LARS: Elf Stockwerke? Sportlich. Und dann schleppst du sie auf dem Rücken hoch, deine depressive Vermieterin?

PERSEPHONE: Nein. Aber ich leiste ihr Gesellschaft, bis der Scheiß-Aufzug dann vielleicht doch mal kommt, damit sie nicht umfällt, weil du dich nicht in das dumme Programm für mich reinhackst und das mal wenigstens für heute abstellst, diese Optimierung, dass man auf den Fahrstuhl warten muss, bis er genügend Bestellungen gesammelt hat, wegen der Nachhaltigkeit, was dann heißt, wenn man aus dem Elften runter will oder von unten in den Elften, dass er für die bestmögliche Auslastung am Ende in jedem Stockwerk hält, jemanden reinnimmt oder ausspuckt, und deshalb muss meine Vermieterin warten, und das weiß sie aber alles nicht, und …

LARS: Dann geh hin und erklär’s ihr, du Modellmitarbeiterin du!

PERSEPHONE: Und du? Du bleibst hier und machst was genau?

LARS: Vielleicht.

PERSEPHONE: Ja, dann mach halt dein scheißiges „Vielleicht“, du Sack. (ab) DIE LEUTE: (schwungvoll breit) FRESSEN! FRESSEN! Fast hätten wir’s vergessen!

Wir wollen Daten fressen, Denn Daten tun uns GUT. FRESSEN! FRESSEN! Und nicht zu knapp bemessen!

Wir müssen Daten fressen, Sonst kriegen wir die WUT!

SZENE 2: WORKSPACE, ENTSCHEIDUNGSEBENE (Jörn, Insekt) JÖRN: Guten Morgen! Gehören Sie zum Betrieb hier?

INSEKT: Bssss. Nein. Ich gehöre ins naturkundliche bsss Museum.

JÖRN: Haha, gut gegeben! Nein, ich wollte nur … und zwar suche ich den Chef! Er wollte mir hier von ganz oben alles zeigen. Nein, ich weiß schon, es heißt nicht mehr Chef, es heißt jetzt „Coach“. Aber das sind letztlich Formalitäten. Ich bin in diesem Haus ein Gast, wissen Sie. Wegen der Initiative. Und das ziehe ich durch. Da kenne ich nix. Ich versuche ja immer, hundert Prozent zu geben. Wenn ich hier also ein Protokoll schreiben soll, dann will ich schon alles kennen! Gründlichkeit, die habe ich bei meinem eigenen Betrieb gelernt, ich, als Chef: Beton und Bauen, das sind die Fundamente, nicht? Auch von so einem IT-Laden hier. Ohne Beton und Bauen, was wäre das denn?

INSEKT: Das wäre bsss wegen paralleler Veranstaltungen eine bauliche Notlage, bei der bsss die Stellplätze in der Tiefgarage nicht in vollem Umfang bssss zur Verfügung stehen. Bitte bsss planen Sie Ihre Anfahrt ent-

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Stück Dietmar Dath sprechend und buchen Sie Ihren Parkplatz bei Bedarf rechtzeitig im Voraus. Bsss. Und ssssolche Sssssachen.

JÖRN: Äh?

INSEKT Sssssolche Ssssachen.

JÖRN: Ja. Ach. Na, da würde ich … nein, jedenfalls: Beton und Bauen.

Wie ich das hier sehe: Vierzehn Stockwerke, drei davon mietet dieser Laden, und dann wird die Zukunft gemacht, mit Apps und allem. Aber wenn nun den Turm keiner baut? In Apps kann man keine Büros einrichten, das geht nur in Bauten! Wir müssen alle mehr zusammenarbeiten, die Welt ist eine Baustelle. Deshalb helfe ich hier gern, und deshalb will ich auch überhaupt meine Erfahrungen einbringen in alles. Als Unternehmer, als Erbe, als Verantwortungsträger, als Motivator. Und wenn Sie jetzt sagen: So so, er strebt ein politisches Amt an! – na, dann sage ich: Streben nicht, ich bin kein Streber. Aber könnte es der Stadt wirklich schaden, wenn sie einen Bürgermeister hätte, der weiß, wie man baut, und trotzdem nicht so ein altmodischer Baulöwe ist, sondern eben auch …

INSEKT: Ich bsss.

JÖRN: Bsss?

INSEKT: Ich ssssuche meinen eigenen Chef. Und bssss mein Chef sucht denselben Chef wie sie. Denn der Chef, den sie suchen, hat meinen bsss Chef eingeladen, weil mein Chef ihm helfen kann, die Gespenssssster der Vergangenheit loszuwerden. Denn mein Chef ist der dunkle Herrscher aller Geister der Vergangenheit bsss und der Beschwörer alle Geissssster der Tssssukunft. Mein Chef ist nämlich ein posthumaner, bssss digitaler, faschisssssstischer Philosoph.

JÖRN: Ein Philosoph! Na sieh mal an! Und Sie sind Assistent dann?

Referent? Student?

INSEKT: Ich bin der Grund für den Befund. Ich bin der Sssssenssssor.

Ich finde die Gespenster, weil ich sensssssibel bin für die Geräusche, die das macht, was es nicht gibt. Bsss. Es ist egal, ob es das, was es nicht gibt, im Einzelfall NICHT MEHR gibt oder NOCH NICHT gibt. Ich höre allesssss, was es nicht gibt, denn ich bin der bsss Grund für den Befund.

JÖRN: Der… äh, der Grund für … aha. Und äh …

INSEKT: Pssst. Still! Bsss. Hören Sie das?

JÖRN: Was? Ich … ich höre nichts.

INSEKT: Doch, da ist … da sagt was … (erstarrt) JÖRN: Was sagt was?

INSEKT: Microsssssoft meldet momentan sporadische Aussetzer bei seinen Cloud-Diensten.

JÖRN: Wie? INSEKT: Betroffen sind Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook,

SharePoint Online, OneDrive for Businessssss, Microsoft Graph, Power BI und Azure Infrastruktur. Wenn Sssssie Probleme mit dem Programm bsss Outlook haben, können Sie alternativ versuchen …

JÖRN: Nein, wieso, ich habe … keine Probleme mit … wie ich schon sagte, ich suche hier nur den Chef von …

INSEKT: Es sind mittlerweile vereinzelt auch bssss Einschränkungen der Telefonie bekannt. Sollten Sssssie Probleme haben, weichen Sie bsss bitte, falls vorhanden, auf ein Handy aus. Der Hersteller isssssst an einer Lösung der Probleme dran. Wir werden bsss Sie auf dem Laufenden halten.

JÖRN: Entschuldigung, ähm? Ist bei Ihnen alles in Ordnung?

INSEKT: Oh ja. Bss. Ich höre Ssssstimmen, das ist mein Beruf. Mehr Stimmen sind gut. Ssssssuper Stimmen sind das. Sie verhindern, dass man sich was denkt. Denn wer sich was denkt, wird traurig. Mein Chef sagt, es isssst die Aufgabe der Philosophie, so viele Stimmen wie möglich zu mobilisieren, damit keiner denkt und damit nicht irgendein beliebiger Intellekt sich am Ende noch anmaßt, das Unausweichliche zu verhindern, die Durchsetzung der Sssssstärke des Ssssstärkeren, der Zukunft, die kommen muss. Mein Chef sagt, er arbeitet mit neuesten bsssssss naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Intellekt, bsss, schlecht! Das ist sie, die Wissenschaft.

JÖRN: Ach so? Ja, ja. Der Intellekt. Das stimmt schon, der erzeugt viele Probleme! Weil Intellektuelle nun mal keine Macher sind. Weil sie nicht bauen, weil sie keine Apps erfinden und keine Verantwortung tragen. Ich weiß, wovon ich rede! Stimmt’s oder hab ich Recht?

DIE LEUTE: Der IN-TEL-LEKT Bei diesen Leuten ist VERRECKT! Das kannst du deuten wie du magst Solang du’s ihnen nur nie sagst, sagst, sagst, sagst, sagst!

SZENE 3: KORRIDOR, ELFTER STOCK (Nick, Persephone) NICK: Entschuldigen Sie! Haben Sie mein Insekt gesehen? Es ist ungefähr so groß. Vielleicht wirkt es verwirrt. Das kommt daher, dass es fortwährend Zeug aus der Cloud empfängt und wiedergibt. Teams-Nachrichten, Mails, kleine Videos …

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THEATERRAMPE.DE

APRIL 2025

UNMEET / UNACADEMY GESPRÄCH

von United Networks

COMMUNITY

WICKED KIKI BALL

STAYING ALIVE

TANZ

PERFORMANCE

COMMUNITY

von Serve. Ballroom Community Stuttgart

KUNST BRENNT VOR LANGEWEILE PERFORMANCE

TRY OUT

von Wir Alle Sind ABK

INTERFACE X SITU MUSIK

PERFORMANCE

von Orakle Ngoy

AFRICAN OPEN MIC MUSIK

TANZ

PERFORMANCE

COMMUNITY

Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ PERSEPHONE: Insekt? Ich habe kein … vorhin war Lars hier, unser Coding-As. Vielleicht ist der ihm begegnet, Ihrem Insekt. Wenn es irgendwie mit der Cloud … ich suche aber auch wen. Eine Frau. Meine Vermieterin, ich bin … ich habe versucht, die Treppe runter … aber es ist gesperrt da. Ein Wasserschaden oder eine elektrische Scheiße oder beides … entschuldigen Sie. Ich heiße Persephone, ich arbeite hier …

NICK: Ah, Sie sind die Geflüchtete aus dem Krieg! Ja, ich weiß von Ihnen.

Ihr Chef hat’s mir erzählt. Wobei, entschuldigen Sie, die Sprachregelung, ich vergesse das immer, es heißt ja nicht mehr Chef, es heißt jetzt „Coach“. Nur, wissen Sie, solche Wortklaubereien sind für mich als Philosoph ja eigentlich irrelevant. Ich ignoriere im Allgemeinen die Ebene der Erscheinung und halte mich ans Wesen der Sache. Ich bin schließlich ausdrücklich als Philosoph hier, das heißt, als Gast vom Fach, für die Evaluation.

PERSEPHONE: Ah, Sie auch, als Gast! Meine Vermieterin auch. Sie sind nicht der Betonunternehmer?

NICK: Nein, ich bin Philosoph, wie gesagt, und ich heiße Nick und …

PERSEPHONE: Stimmt, der Denker. Wissen Sie, ich muss … es ist so: Der Betonkerl, der Baufirmentyp, der darf nicht … meine Vermieterin darf dem nicht begegnen. Das wäre eine Katastrophe. Deshalb will ich … die dürfen nicht zusammen im Aufzug … die dürfen nicht mal zusammen am Aufzug warten, sonst entsteht noch ein Gespräch und dann kracht es und dann gibt’s eine Kettenreaktion und … Lieber Gott, das ist der stressigste Tag, wirklich, seit ich in Deutschland angekommen bin! Und nur, weil ich nicht wusste, was ich schon wusste.

NICK: Sie wussten nicht, was Sie wussten?

PERSEPHONE: Naja, ich wusste was und habe es aber nicht begriffen.

Sehen Sie, meine Vermieterin, eine, wie sagt man denn? Eine herzensgute Frau, aber verbittert… sie ist neunundvierzig Jahre alt …

NICK: Das ist ja noch kein Alter.

PERSEPHONE: Wenn man verbittert ist, dann ist das wie achtzig. Sie sagt immer: Ach, ich bin ja jetzt schon neunundvierzig, und ich erwarte mir schon nix mehr vom Leben. Sie geht immer noch zum Elternabend, obwohl das Kind tot ist, die anderen Eltern haben sie eingeladen, dass das weitergeht. Damit sie nicht vereinsamt.

NICK: Bizarr.

PERSEPHONE: Ja, und sie ist jetzt Mystikerin, sie arbeitet als Heilerin und Medium. Früher Berufsschullehrerin, aber sie sagt: Ich bin ja jetzt schon neunundvierzig, ich habe dem System immer kleine abgerichtete Drohnen gefüttert, und das muss jetzt aufhören. Das System ist ein Todestrip, wir brauchen keine Berufsausbildung, wir brauchen spirituelles Erwachen! Sogar das hört sich bei ihr verbittert an. Das Kämpferische.

NICK: Und weshalb ist sie verbittert?

PERSEPHONE: Die Tochter … ihre Tochter Zoe wurde im Alter von fünfzehn Jahren von einem Zementmischer überfahren, als sie sich auf einer Straße festgeklebt hatte, um gegen den Klimawandel zu protestieren.

Der Fahrer des Zementmischers war sehr wütend und zeigt bis jetzt keinerlei Reue.

NICK: Das ist die Tragödie unserer Zeit.

PERSEPHONE: Dass die Leute nichts bereuen? Oder dass sie protestieren?

NICK: Dass sie nicht wissen, wo sie hingehören. Im Insektenstaat ist das besser. Insekten brauchen keinen individuellen Intellekt. Menschen haben ihn, und er macht sie unglücklich. Wir wissen aus Studien, dass intensive Denkarbeit ein Signalmolekül freisetzt, das auf die Dauer die Hirnfunktionen schädigt, also: Wer denkt, macht das Hirn kaputt. Denken ist ein Selbstwiderspruch. Carmen Sandi, eine Verhaltens-Neurowissenschaftlerin in Lausanne, hat das rausgekriegt. Oder nehmen Sie die Sensitivität für Ton und Klang und wie sie mit unseren sprachlichen Fähigkeiten zusammenhängt – da gibt es eine Krankheit, das Williams-Beuren-Syndrom, verursacht durch die Abwesenheit einiger Einträge im Genom, also Kopierverlust, da fehlen bis zu siebenundzwanzig Gene. Wie Experimente an Mäusen belegen, führt dieser Schaden zu einer Veränderung am auditorischen Kortex, einem wichtigen Hirnbereich. Die betreffenden Mäuse können deshalb sensibler hören, und die entsprechenden Menschen sind verbal intelligenter. Also, was vom intellektuellen Standpunkt aus individuell „besser“ ist, das ist dann eigentlich eine Abweichung von der Norm, die man aus einer anderen Perspektive eine Krankheit nennen muss. Da sage ich: Wir müssen umdenken.

PERSEPHONE: Ja, das ist alles voll interessant, aber ich würde dann doch lieber gerne …

NICK: Was wir gerne würden, das ist eben das Problem! Ich zum Beispiel war mal links, können Sie sich das vorstellen? Politisch links. Ich dachte, wir müssen Ausbeutung und Unterdrückung abschaffen und den Krieg – die Achtziger, auch die Neunziger, da hatten wir Angst vor dem Atomkrieg, und einer der Sprüche war: Nur die Insekten werden überleben! Die Kakerlaken sind so robust, so anti-fragil, die halten auch den nuklearen Fallout aus. Diese Kollektivmonster, ohne Persönlichkeit … und als Intellektueller hatte ich also riesige Angst um meine Persönlichkeit, Angst vor dem Zeitalter der Insekten. Da bin ich dann auf Demos gegangen. Aber zwanzig Jahre später habe ich verstanden: Wir sind so viele Menschen geworden jetzt, eine solche Riesenzahl, dass wir die Erde gar nicht mehr nachhaltig bewirtschaften können, wenn wir weiter

THEATER DER JUNGEN WELT LEIPZIG

SOUNDS OF RESISTANCE

Musiktheatrales Kooperationsprojekt in Leipzig und Duisburg zu Jugendwiderstand gegen NS-Unrecht

Leipzig ab 24. April 2025 Duisburg am 08. Mai 2025 Das Projekt wird in der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.

Stück Dietmar Dath Fleisch essen und Auto fahren und … und plötzlich hieß es: Wir müssen Insekten essen! Das ist der nachhaltigste Weg, um an Proteine zu kommen! Und das war die Erleuchtung: Ich hatte im Namen der Menschen Angst vor den Insekten gehabt, aber man muss im Namen der Insekten Angst vor den Menschen haben.

PERSEPHONE: Gruselig.

NICK: Es gibt nur einen Weg: Wir selbst müssen die Insekten werden!

Ich habe daher ein Insekt erzeugen lassen, das altmodische Geister findet, die sich auf ihre Individualität und ihren Intellekt und ihren Durchblick etwas einbilden. Ein Insekt, dessen Gehörsinne ich genetisch habe verbessern lassen, in Lausanne, so dass sein Tympanalorgan schon weit unter 30 bis 50 Dezibel …

PERSEPHONE: Wie gesagt, es ist wirklich superinteressant alles, aber ich kann Ihnen hier nicht bei Ihrer … Geisterjagd … helfen mit Ihrem …

Insekt, sondern …

NICK: Keine Sorge, ich will Sie nicht rekrutieren. Das Insekt findet die Geister ohne jede Hilfe und ermöglicht mir, sie zu vernichten. Mit Argumenten, hauptsächlich. Ich wünsche mir einfach ein System wie bei den Insekten, und das erkläre ich, und das überzeugt irgendwann alle. Ob ständisch-korporatistisch, oder monopol-kapitalistisch, oder absolutistisch, oder monarchisch, das ist mir gleich. Ich habe zu allen diesen Einrichtungen ein instrumentelles Verhältnis. Mit einem schon etwas angejahrten Wort für so ein instrumentelles Verhältnis zu stabilen und nicht diskutierbaren Herrschaftsverhältnissen könnte man sagen: Ich bin Faschist.

PERSEPHONE: Oh. Okay. Hmmm. Heftig. Dann … also, ich würde da ja ein bisschen was dagegen sagen wollen, weil Faschismus, das ist dann doch … aber ich kann … ich muss leider erstmal die Frau finden. Meine Vermieterin. Es ist nämlich so, sie reagiert nicht auf Anrufe mit dem Handy und auf SMSe. Was, wenn sie unten am Aufzug steht? Verstehen Sie, ich hatte nicht dran gedacht … im Intra-Net stand die Liste, wer alles kommt für diese Bürgerinnen-und-Bürger-Protokolle, und ich habe zwar gesehen, der Chef hat diesen Baulöwen eingeladen, aber ich habe es einfach nicht verstanden, dass … Die ganze Stadt weiß ja, wer der ist, er will nämlich unbedingt Bürgermeister werden und erzählt es dauernd der Zeitung und jedem Hammel, aber sein Kerngeschäft ist natürlich … also, wenn der jetzt heute meiner Vermieterin über den Weg läuft …

NICK: Ich verstehe Ihr Dilemma.

PERSEPHONE: Im Moment suche ich einfach den Chef. Meinen. Den könnte ich bitten, die Besuche irgendwie zu entzerren, oder er entscheidet schnell, welcher Teil der Tour durch die Firma wann und wo mit wem …

NICK: Das halte ich für aussichtslos. So ein Problem wie Ihres wird kein Chef unserer Zeit lösen.

PERSEPHONE: Wieso nicht?

NICK: Ein Chef heutzutage … wie soll ich sagen … (singt) Mit dem Fußvolk endlos plaudern Aber beim Entscheiden zaudern!

So geht heute Chef, Chef, Chef.

PERSEPHONE: Das ist Ihre Beobachtung … Ihr Urteil als Philosoph?

NICK: Mit dem Fußvolk endlos plaudern Aber beim Entscheiden zaudern!

So geht heute Chef, Chef, Chef.

PERSEPHONE: Na ja, es ist was dran. Man hat zum Beispiel alle Chefs im Haus erst gefeuert und dann wieder per Ausschreibung zurückgeholt, aber sie mussten sich neu bewerben, sie kriegen weniger Geld und es heißt nicht mehr Chef, es heißt jetzt „Coach“, und dann … Aber wer soll’s dann machen, wenn kein Chef mehr da ist? Die Angestellten sind ja auch kaum besser.

NICK: Wie sind sie denn, die Angestellten?

PERSEPHONE: Wir Angestellten heutzutage … Wie soll ich sagen …

Hier in diesem Laden geht es ja noch, weil wir ein so kleines Team sind, da gibt es zum Beispiel kaum Mobbing, das bräuchte ja klare Mehrheitsverhältnisse. Aber ich kenne andere Läden in der Branche, und war auch aushilfsweise schon mal da, da belauern alle einander gegenseitig und bedauern sich zugleich individuell selbst. Sogar Leute, die wirklich nichts mit dem Tratsch und den Intrigen zu tun haben wollen, müssen in der Kaffeeküche irgendwie mitlästern, möglichst giftig, um nicht verdächtig zu sein.

Man mobbt vielleicht nicht mit, aber man distanziert sich vom MobbingOpfer. Sogar aktiv. Weil man muss. Man kann nicht überleben, ohne ab und zu jemanden ans Messer zu liefern. Alle sind dauernd damit beschäftigt, das richtige Maß an … wie soll ich sagen … vorauseilend gemeinschaftsstärkendem Sozialverhalten zu suchen.

NICK: Ja, da kann man sich leicht verschätzen. Ein falsches Wort, und du hast jemanden in den Selbstmord getrieben.

PERSEPHONE: Sie sind schon widerlich, muss ich sagen.

NICK: Nicht so widerlich wie die Situation der abhängig Beschäftigten, die Sie, als selbst abhängig Beschäftigte, mir hier gerade beschrieben haben.

PERSEPHONE: Manchmal durchschaue ich Sie wirklich überhaupt nicht. Das klingt ja jetzt fast, als würden Sie die Gesellschaft kritisieren, weil sie so schlimm ist.

NICK: Tu ich auch. Sie ist mir nämlich längst nicht schlimm genug. Ich merke mir jedenfalls: Man kann sich selbst bedauern und andere belauern.

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32. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik bis 18.04.

Sasha Waltz & Guests

Highlights April

Beethoven 7 24. & 25.04.

11. Lange Nacht der Dresdner Theater 26.04.

Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ Oder war es: sich selbst belauern und andere bedauern? Helfen Sie mir nochmal, bitte. Wie war es genau …

PERSEPHONE: Nein, tut mir leid, ich würde ja gerne noch plaudern, aber ich muss irgendwen finden, den Chef oder die Vermieterin oder den Baulöwen, bevor ein Unglück passiert.

NICK: Na dann, viel Glück!

PERSEPHONE: Danke! (ab)

ERTES ZWISCHENSPIEL IM REICHLICH ALLGEMEINEN DIE LEUTE (singen das Monopolistenlied) Amazon! Was? Google! Wo? Meta! Wer? Microsoft! Warum?

Apple! Weswegen?

Microsoft!

Apple!

Zerschlagt die Internetgiganten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Bei Meta kocht der Höllenbrei: Gefasel, Kotze und Geschrei.

Amazon!

Google!

Meta!

Microsoft!

Apple!

Zerschlagt die Internetgiganten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Bei Microsoft geht’s oft um Text.

Schreib’ ihn da rein, bis du verreckst!

Zerschlagt die Internetgiganten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Amazon!

Google!

Meta!

Microsoft!

Apple!

Bei Amazon wird viel bestellt: Der Laden ruiniert die Welt.

Amazon!

Google!

Meta!

Microsoft!

Apple!

Zerschlagt die Internetgiganten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Zerschlagt die Internetgiganten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Wacht endlich auf, Ihr Ignoranten!

Das tolle Apple-Telefon Killt dein Gehirn per Klingelton!

Bei Google wird zuviel gesucht.

Wer’s tut, ist böse und verflucht!

(diverse Formen von Durcheinander)

Amazon!

Google!

Meta!

30 STUNDEN PERFORMANCE

SELBSTERNANNTE LA FLEUR MANNEQUINS

Auf den Routen der Textilproduktion 4.4.

PERFORMANCE

Forum Freies Theater

fft-duesseldorf.de

Stück Dietmar Dath

SZENE 4: WORKSPACE, ENTSCHEIDUNGSEBENE (Lars, Insekt) LARS: Hey, ist ja scharf! Wer bist du denn?

INSEKT: Ich bin ein bsss. Ein Insekt.

LARS: Geil. Ich dachte nur, hier ist niemand. Ich dachte, du bist vielleicht das Neueste aus KACKE. INSEKT: Was isssst KACKE? LARS: Der KI-Assistent unseres Untergangs, sorry, unseres Unternehmens. KACKE, das steht für „Künstlicher Aufpasser bei Computerarbeit, Kanteninenbewirtschaftung und Entropievergrößerung“. ­KACKE dient und hilft allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dieses leistungsfähige KI-Tool wurde inhouse mit Fokus auf den Einsatz in lebensbedrohlichen Notsituationen und vor allem in alltäglicher Routine entwickelt. In den letzten Wochen sind viele neue Aufgabenstel­ lungen ergänzt worden, so dass das Tool mittlerweile praktisch den gesamten Arbeitsablauf abbilden kann. KACKE basiert auf den fortschrittlichen GPT-Sprachmodellen von OpenAI. Die Anwendung ist einfach und intuitiv: Sie können mit vordefinierten Anweisungen ­KACKE anleiten, verschiedene Aufgaben auf standardisierte Weise zu erledigen. Dazu wählen Sie eine konkrete Aufgabe aus dem Menu aus und geben den entsprechenden Text ein. Zusätzliche Anweisungen sind meist nicht erforderlich, da passende Systemprompts bereits hinterlegt sind.

INSEKT: Klingt scheusssssslich.

LARS: Klarer Fall. Aber du bist ein … Insekt jetzt, hm? Wieder was Neues. Insekt also. Ich wollte hier nur kurz untertauchen. Weil ich erst aufs Treppenhaus raus bin, wie die Persephone mir so auf den Zeiger gestiegen ist mit ihrer Vermieterin. Da dachte ich, setzt du dich am besten kurz auf die Treppe, spielst bisschen mit dem Rechner, aber da kam dieser Idiot runtergepoltert und schrie nach dem Chef … dieser Typ, weißt du? Der immer bei jeder Einweihungsfeier für jeden Möbelmarkt und auf jedem Schützenfest und auf jeder Seite der Regionalzeitung, also, auf der Webseite, ich lese ja kein Papier … der wollte mich schier packen und schrie da rum, immer mit diesem bescheuerten Grinsen, wo der Chef wäre, hier wär’ ja nix los, alles wie ausgestorben, nur Fliegen und Philosophen, wie an der Uni! Da hab’ ich gesagt, keine Ahnung. Da ist er weitergepoltert Richtung untere Stockwerke … ich bin also hoch, erstmal, weil unten ist Dachschaden, falsch, Wasserschade … Und jetzt

eben noch weiter hoch, denn ich hab’ mir gedacht, wo der herkommt, da ist es ruhig, denn der ist da weg, um anderswo Krawall zu suchen …

Fliegen und Philosophen, da kann ich untertauchen, dachte ich. Bist du jetzt die Fliegen? Oder bist du die Philosophen?

INSEKT: Bsss … hören Sie das?

LARS: Was? Ich … ich höre nichts.

INSEKT: Doch, da ist … da sagt was … (erstarrt) LARS: Was sagt was?

INSEKT: Wir laden Sie zu Beginn des neuen Jahresssss zu einem gemeinsamen digitalen Frühjahrssssputz ein. Für eine optimale Nutzung des zur Verfügung stehenden Speicherplatzes in Microsoft Teamssss und Sharepoint machen Sssssie sssich bitte in den nächsten Wochen auf die Suche nach alten Dateileichen und entfernen Ssssie diese.

LARS: Was? Was ist das denn jetzt hier? Ich dachte, ich tauche hier unter, dabei ist das hier voll die Psycho-Vision! Da summt ja die Cloud persönlich!

INSEKT: Laut Ssssstudien sind etwa fünfundachtzig Prozent der Unter­ nehmensdaten redundant, obsssssolet und trivial. Bssss. In Cloudssss, Microsoft Teams und Sharepoint entstehen regelrechte Datenfried­höfe. Diese fresssssssen nicht nur sehr viel bssss Speicherkapazität, sie verursachen hohe Kossssssten, einen erhöhten CO2-Ausstoß und vergeuden wertvolle Zeit bsss durch Suche nach der richtigen Datei.

LARS: Das ist jetzt aber wirklich das Geilste, Alter! Wenn das nicht geil ist, dann gibt’s ja wohl kein geil!

INSEKT: Typische Beissssspiele sind: Duplikate, nahezu identische Versionen von Bildern, Recherche-Informationen und Mood-Bilder alter Projekt, veraltete Excsssssssssel-Dateien, Entwurfsvarianten längst abgeschlossener Projekte, zum Download bsss bereitgestellte Daten, die längst runtergeladen wurden, alte Präsentationsdateien bsss und Ausschreibungsssssunterlagen, Dateien, die am falsch Ort abgelegt wurden und so nicht auffindbar sind, Dateien mit veralteten Informationen, nicht mehr benötigte Dateien. Die Lösung für das Problem des immer geringer werdenden Ssssspeicherplatzessss und langer Suchen ist dabei so bsss einfach: Einfach löschen. Jeder kann mit seinem alltäglichen Handeln dazu beitragen, Daten bewusssssssst zu produzieren, zu sammeln und zu speichern.

LARS: Ich bin sprachlos, Kumpel. Wozu untertauchen, wenn man sich hier direkt das Denken aus dem Hirn brummen lassen kann? Du bist ja wohl dermaßen drauf … sag mal, was muss man nehmen oder rauchen, um so hart drauf zu kommen wie du, Amigo?

(Numinoser Lichtwechsel)

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Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ DIE LEUTE: Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht!

Keiner muss ertrinken, wenn er mal untertaucht.

Denken ist ein Muskel, du hast ihn dir verstaucht.

Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht!

SZENE 5: TREPPENHAUS (Nelleke, Nick) NELLEKE: Hallo? Ist hier wer? Persephone?

NICK: Die sucht Sie, nehme ich an. Falls ich richtig liege, was bedeuten würde, dass Sie die Vermieterin sind, die als Gast zum Evaluationstag …

NELLEKE: Das ist so stickig hier …

NICK: Sind Sie also die Vermieterin, oder sind Sie jemand anders?

NELLEKE: So stickig hier! Ja, ich bin Nelleke Fiedler und ich bin als Gast hergekommen, um der armen Frau zu helfen. Der Persephone.

NICK: Ich bin auch Gast. Ich bin Philosoph. Mich interessiert dieser Betrieb ganz abstrakt.

NELLEKE: Mich interessiert kein Betrieb mehr. Mich interessiert nur noch der Mensch! Er ist so kostbar. Jeder einzelne Mensch. Meine Tochter wusste das.

NICK: Na ja, wie man’s nimmt. Der Mann, der, wenn ich richtig informiert bin, Ihr Kind überfahren hat, kommt mir nicht besonders kostbar vor.

NELLEKE: Weil er sich mit seiner zerstörerischen Arbeit identifiziert!

Weil er nicht der Mensch ist, der er sein könnte, nein, sogar sein müsste!

Er ist ein Ignorant! Er schläft – das ist das Verrückte, dass die Menschen in dem ganzen Krach und mit eingeschaltetem Handy und Bildschirmen überall nicht etwa dauerwach sind und dauernd Schlafstörungen haben, sondern im Gegenteil, sie schlafen! Diese Ignoranten müssen aufwachen!

Meinen Sie nicht auch?

NICK: Ich bin Philosoph. Ich beobachte die Leute, abstrahiere aber von den empirischen Individuen, weil individueller Intellekt ein Selbstbetrug ist bei der Art, wie wir jetzt leben, arbeiten, verwalten und verwaltet werden. Ich betrachte die Cloud als Akkumulation einer kritischen Masse bewusstloser Human-Einheiten auf dem Weg zu dem Insektenstaat, den ich herbeisehne, weil er allerlei schmerzliche Widersprüche auflöst in kollektiver, über- und nachmenschlicher Intelligenz, und …

NELLEKE: Das sind ja alles Albtraumvisionen. Ich bin ich! Ich will nicht aufgelöst werden in irgendwas!

DIE LEUTE: FRESSEN! FRESSEN! Das ordnet die Interessen!

Das klärt am besten, wessen Interessen das dann sind.

FRESSEN! FRESSEN! Wir müssen Daten fressen, wir sind darauf versessen, wir trauern um kein Kind!

NELLEKE: Was war das denn jetzt?

NICK: Ich nehme an, das war die Cloud. Das Netz. Das Web. Alles das, was hier in diesem Betrieb die Rolle spielt, die das Erdreich für die Bergbau-Industrie mal gespielt hat. Aber ich weiß es nicht genau. Ich bin nämlich, wie gesagt, auch nur ein Gast. Ich weiß aber immerhin, dass Frau Persephone Sie oben sucht. Drei Stockwerke höher! Wir sollten ihr nachgehen.

NELLEKE: Sehen Sie, jetzt reden Sie vernünftig. Wie ein Mensch! Diese ganze zynische Menschenverachtung gerade, da dachte ich, was ist das denn für einer? Aber es war eine Provokation, richtig? Sie wollten mich aus der Reserve locken, gut so! Wir sollen keine Schafe sein! Und Sie haben recht, wenn wir, die Gäste, in die Protokolle schreiben, wie wir das hier erleben, dann werden die bei der Jury schon erkennen, dass diese ganze Sache hier der falsche Weg ist, dass das keine nachhaltige Zukunft ist – wir müssen nur unsere menschlichen Stimmen mit Herz und Seele in die Bresche werfen!

NICK: Ehrlich gesagt, ich spekuliere auf das Gegenteil. Die Jury wird etwas lernen, ja. Aber nicht das, was Sie glauben. Sie wird lernen, wie überflüssig, unkooperativ und schwachsinnig Ihre sogenannten menschlichen Stimmen sind, weil die nie was zur Sache sagen und immer nur was zu den gleichgültigen individuellen Zuständen irgendeines idiotischerweise zufällig zu irgendeinem Charakter individuierten Nervensystems …

NELLEKE: Sie sind ein grässlicher Typ, ich muss schon sagen.

NICK: Nein, überlegen Sie doch …

NELLEKE: Ich will das mit Ihnen nicht mehr diskutieren. Sie haben gesagt, Sie wissen, wo Frau Persephone hingegangen ist, um mich zu suchen. Bringen Sie mich da hin, und verschonen Sie mich mit Ihren …

Spinnereien!

NICK: Wie Sie wünschen. Hier entlang.

DIE LEUTE: Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht!

Spür den ganzen Tag lang, wie die Tour dich schlaucht.

Spür den Hauch des Todes, wie er eiskalt haucht.

Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht!

WAR GAMES SKART & MASTERS OF THE UNIVERSE #PERFORMANCE »SCHWINDEL« #LESUNG HEMGAMEH YAGHOOBIFARAH #DISKUSSION # GESPRÄCH WAGNER WELTWEIT SOUNDING SITUATIONS MIGRANTPOLITAN #MUSIKTHEATER # PERFORMANCE #NETZWERK COMMUNITY COOKING #COMMUNTY #ESSEN KINDER MILO RAU MEDEAS #THEATER #MUSIK [STILL] CLAIMING COMMON SPACES #PERFORMANCE #DISKUSSION #GESPRÄCH SCHWERPUNKT

MIT CHOKE HOLE, RABIH MROUÉ, LANI MAJDALANIE, OOZING GLOOP U.V.M.

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Stück Dietmar Dath

SZENE 6: KORRIDOR, ELFTER STOCK (Brecht als Freud, Jörn) DIE LEUTE: Der IN-TEL-LEKT Bei diesen Leuten ist VERRECKT! Das kannst du deuten wie du meinst Solang du es nur nicht verneinst, neinst, neinst, neinst, neinst.

Der IN-TEL-LEKT Bei diesen Leuten Ist VERRECKT! Das wirst du hören, Wenn du hörst, Solang du sie nur niemals störst, störst, störst, störst störst!

Der IN-TEL-LEKT Bei diesen Leuten Ist VERRECKT! Das wirst du sehen, Wenn du schaust, Damit du’s frisst und dann verdaust, daust, daust, daust, daust!

BRECHT ALS FREUD: Hört auf damit! Ihr lügt!

JÖRN: Pardon? Ich suche meinen Freund, wissen Sie. Den Chef hier von dem Laden, ich lüge nicht! Was soll ich denn gelogen haben? Wer sind Sie überhaupt?

BRECHT ALS FREUD: Sie meinte ich nicht. Ich meinte diese TeamsNachrichten, diese, diese, diese … E-Mails … Ich will hier nicht sein. Ich habe eine Aufgabe, draußen.

JÖRN: Das kenne ich gut. Immer irrt man irgendwo rum oder hockt in Sitzungen, dabei hat man was zu tun, was zu bauen. Was ist das denn für eine Aufgabe, die Sie da draußen haben, guter Mann? Ich interessiere mich nämlich immer und überall für Menschen, müssen Sie wissen. Nicht nur, weil das Wähler sind. Ich interessiere mich als Macher! Was machen Sie? Was würden Sie draußen machen wollen müssen?

BRECHT ALS FREUD: Ich muss der Stimme des Intellekts Gehör verschaffen, bevor alles im Blödsinn ersäuft. Schwierig ist, diejenigen zu belehren, auf die man zornig ist. Es ist aber besonders nötig, denn sie brauchen es besonders.

JÖRN: Wie? Was braucht wer besonders?

BRECHT ALS FREUD: Die Stimme des Intellekts. Die brauche ich für die, auf die ich zornig bin. Sonst verblöden wir beide, die und ich, an meinem Zorn. Und so kommt man ja nicht weiter. Daher: Stimme des Intellekts.

JÖRN: Ach, Sie sind auch Politiker? Stimme des Intellekts, das muss ich mir merken.

BRECHT ALS FREUD: Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzähligen oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf.

JÖRN: Das merke ich mir wirklich. Das haut richtig rein. Wo wollen Sie denn hin?

54

BRECHT ALS FREUD: Ich muss hier raus. Ich muss hier weg … dieser Lärm … diese Leute … (ab) JÖRN: Was diese Intellektuellen immer wollen. Spricht man sie etwas herzlicher an, als sie gewohnt sind, kriegen sie gleich ihre Tage.

(Persephone) PERSEPHONE: Im Treppenhaus ist er auch nicht. Oh. Guten Tag. Haben Sie den Chef gesehen? Kennen Sie den … den Chef von dem Laden hier?

JÖRN: Ob ich den Chef kenne? Und wie ich den kenne! Wir sind so dick miteinander, ha! Ich bin hier sein Gast, für die Evaluierung. Sie etwa auch?

PERSEPHONE: Nein, ich arbeite hier, ich … warten Sie mal, ich kenn’ Sie! Sind Sie nicht der … der Zement …

JÖRN: Der Zementkönig, ja, so sagt man. In aller Bescheidenheit nehme ich diesen Titel gerne an. Tja, man kennt mich, was soll ich sagen, und möglicherweise kennt man mich bald noch besser. Sie arbeiten hier? Was arbeiten Sie denn hier?

PERSEPHONE: Mal dies, mal das, mal wieder was anderes. Ich bin so ein bisschen computer literate von meinem Studium her, aber manchmal muss ich auch einfach soft skills anwenden, team building, mit Menschen Sachen ausknobeln, der Chef, oder wie man jetzt sagen soll, der Coach, delegiert zum Beispiel immer alle Besprechungen mit unserem Programmierergenie an mich, weil …

JÖRN: Ach, Sie sind die aus dem Osten! Da aus Georgien oder so, richtig?

PERSEPHONE: Nein, also … ich heiße … Persephone…

JÖRN: Ja, angenehm, sagen Sie Jörn zu mir, so heiße ich, also das ist ja was, da suche ich den Chef, dass er mir mal den Laden zeigt, und dann isser nicht da, und dann denke ich, such ich mir’s selber zusammen, und kaum zeigt man ein bisschen Initiative, schon läuft’s, schon erwische ich hier seine Spitzenkraft, also, nein, schütteln Sie nicht bescheiden den Kopf, Sie werden hier noch die Modellmitarbeiterin, Sie kommen aus Georgien und sind der Star von Morgien! Haha, verstehen Sie? Von morgen, aber mit Georgien drin: Morgien. Und dann feiern wir Orgien. Haha.

Kleiner Scherz. Ernsthaft, an mir soll’s nicht liegen, Sie sind ja hier so offen und nett und auskunftsfreudig, das vermerke ich natürlich in meinem Protokoll, und wenn ich, wirklich, wenn ich sonst noch was für sie tun kann, ich habe ja eine immense Sympathie für Leute, die sich hocharbeiten müssen, ich musste das auch, also ich habe natürlich geerbt, das Dings, aber eben deshalb hat mir niemand was zugetraut, ich musste die alle überzeugen, alle gewinnen, praktisch meinen eigenen Laden erobern Mann für Mann, Frau für Frau …

DIE LEUTE: Mit dem Fußvolk endlos plaudern Aber beim Entscheiden zaudern!

So geht heute Chef, Chef, Chef.

JÖRN: Wie bitte was?

PERSEPHONE: Äh, nein, Moment, nur weil Sie sagen, dass Sie, wenn Sie was für mich tun können, da wäre tatsächlich was. Und zwar, es ist mir jetzt ein bisschen peinlich, aber ich habe auch einen Gast eingeladen für die Protokollsache, und ähm also das ist eine Frau, die, wie soll ich sagen …

(Nick und Nelleke) NELLEKE: Du lieber Gott! Da bist du ja endlich, Kind! Dieser Mensch hier kaut mir ein Ohr ab, dass ich …

JÖRN: Hallohallo, na sowas, das ist ja mein alter Freund, der Philosoph …

NELLEKE: Ein Faschist ist das! Und wer sind Sie? PERSEPHONE: Nelleke, lass, warte, du, wir gehen mal in ein Besprechungszimmer, ich mach dir einen schönen Tee und dann …

Theater der Zeit 4 / 2025

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JÖRN: Wer ich bin? Ich bin hier Gast! Und muss mich so nicht anpflaumen lassen! Der Chef hat mich persönlich eingeladen, weil er meine Expertise schätzt, als Bürger, Unternehmer und …

NELLEKE: Ja, das könnte euch Unternehmern so passen, dass ihr euch gegenseitig die Gutachten schreibt ...

PERSEPHONE: Bitte, komm, Nelleke, sei vernünftig, wir gehen erstmal hier in den …

NELLEKE: Nein, jetzt ist Schluss mit diesen seelischen Vergiftungen und Unternehmereien, mit diesen Betonschädeln hier …

JÖRN: Betonschädeln? Machen Sie sich über meine Arbeit lustig, ja? Ich will Ihnen mal was sagen, wenn Sie sich ihre eigene Hütte aus Pappe und Wellblech gebaut haben, und wenn dann der Wind da durchpfeift, dann werden Sie sich wünschen, dass ein Betonschädel …

NICK: Der Mann ist Bauunternehmer und Politiker, liebe Nelleke, der nimmt alles wörtlich und alles Wörtliche persönlich, denn er ist ein Macher, kein Denker, und …

NELLEKE: Unternehmer, Baggermonster, und dann noch faschistische Philosophen! Aber wir sind auch noch da! Stimmt doch, Persephone! Und das ist hier jetzt die Linie, das ist jetzt der Bürgerkrieg …

PERSEPHONE: Bitte, jetzt komm …

NELLEKE: Nein, ich weiß, du willst nicht eskalieren, du willst nur Zeichen setzen, aber jetzt ist der falsche Zeitpunkt für deine Bescheidenheit!

Und hier ist der falsche Ort dafür! Du hast mir doch tausendmal erzählt, was das für eine Hölle ist, diese Arbeit hier, wo angeblich die Zukunft verbrochen wird: Der Wechsel von Büro und Home Office macht die Arbeitszeiten undokumentierbar, der Fahrstuhl, der Strom sparen soll für die Firmen, die hier eingemietet sind, klaut den Beschäftigten die Pausenzeit, die Software spinnt andauernd, alles zickt und schikaniert euch, die ganze Digitalisierung ist ein reiner Schund – und dann kommt noch der Typ hier an und bläst die Backen auf und sagt … na, was sagt er? Was haben Sie zu sagen, Sie Betonbagger? Na los, baggern Sie mich an!

JÖRN: Ich verwahre mich in aller … jeglicher … (erstarrt) Wir laden Sie zu Beginn des neuen Jahres zu einem gemeinsamen digitalen Frühjahrsputz ein. Für eine optimale Nutzung des zur Verfügung stehenden Speicherplatzes in Microsoft Teams und Sharepoint machen Sie sich bitte in den nächsten Wochen auf die Suche nach alten Dateileichen und ...

NELLEKE: Was? Wovon redet der Idiot?

NICK: Das ist die Stimme, die ich suche! Das sind sie, meine Dämonen!

Das sind die Geister, die mir den Weg weisen zu den uralten Gespenstern des Intellekts, die ich auslöschen muss!

JÖRN: Laut Studien sind etwa fünfundachtzig Prozent der Unternehmensdaten redundant, obsolet und trivial. In Clouds, Microsoft Teams und Sharepoint entstehen regelrechte Datenfriedhöfe.

PERSEPHONE: Nick? Entschuldigung? Mir ist vorhin auf der Treppe ein Typ begegnet, der ging dann aber hoch, wo sonst der Chef ist, und dieser Typ hat mich gar nicht gesehen, und der quatschte was von der Stimme des … des Intellekts … dass sie leise wäre und …

NICK: Ah, das ist er! Der schlimmste von den Alten! Das ist so ein alter … so eine Idee, so eine gefährliche Durchblicker … das ist der Freud! Der Sigmund Freud! Der die individuelle Psychologie für letzlich doch durchschaubar gehalten hat, Unbewussstes hin oder her, und den Leuten einreden wollte …

JÖRN: Diese fressen nicht nur sehr viel Speicherkapazität, sie verursachen hohe Kosten, einen erhöhten CO2-Ausstoß und vergeuden wertvolle Zeit durch Suche nach der richtigen Datei.

NICK: Eben, aber ich suche keine Datei! Ich suche den Ungeist der Intel-

Theater der Zeit 4 / 2025

MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND

Von Tankred Dorst // Mitarbeit: Ursula Ehler Premiere: 10. Mai 2025 im Theater Krefeld

MERLIN FEAT. GINEVRA

Nach Merlin oder Das wüste Land von Tankred Dorst Premiere: 10. Mai 2025 im Theater MG | Studio

Tickets: www.theater-kr-mg.de TdZ_Merlin.indd 1

12.03.2025 12:14:33

Stück Dietmar Dath lektualität, und Persephone sagt, sie hat ihn gesehen – kommen Sie, kommen Sie mit, Herr … kommen Sie, ich brauche Sie, ich brauche ihre Stimme aus der Cloud gegen den …

JÖRN: (lässt sich von Nick wegführen) Typische Beispiele sind: Duplikate, nahezu identische Versionen von Bildern, Recherche-Informationen und Mood-Bilder alter Projekt, veraltete Excel-Dateien …

NELLEKE: Hey! Hiergeblieben! Ich rede mit Ihnen, Sie Zementschwein!

PERSEPHONE: Lass ihn, bitte. Komm, lass ihn einfach … lass die beiden …

(Nick und Jörn ab)

SZENE 7: TREPPENHAUS (Schatten von Personen, infernalischer Lichtwechsel) DIE LEUTE: Wir sind hier nicht als Masse Wir sind hier nicht als Klasse Wir sind hier nicht als Masse Wir sind der Einzelfall Wir sind hier nicht als Rasse Im Schrank fehlt keine Tasse Wir sind hier nicht als Rasse Wir haben keinen Knall Wir sind hier nicht als Masse Wir sind hier nicht als Klasse Wir sind hier nicht als Masse Wir sind der Einzelfall

SZENE 8: KORRIDOR PERSEPHONE: Tut mir leid, Nelleke, aber das ist alles abgeschlossen hier. Ich komme einfach nicht in die Besprechungszimmer. Meine Karte funktioniert nicht. Es gibt also keinen Tee. NELLEKE: Wie du dich immer um alle sorgst! Zoe war genauso. Wenn es nur zehn Leute wie sie und dich gibt auf der Welt, zehn Gerechte, dann kriegen wir das alles wieder hin. Wir müssen die seelische Mitte der Welt wiederfinden, zur Gesundung! Nicht nur an uns selbst denken! Nachhaltigkeit, das bedeutet in Wirklichkeit Holismus, das bedeutet Eintracht statt Zwietracht … dein mutiger Kampf hier gibt mir den Lebensmut zurück!

Ich bin schon neunundvierzig, aber an deiner Seite fühle ich mich wieder wie fünfzehn!

PERSEPHONE: Du, das ist superlieb, aber das ist ein Missverständnis.

Ich kämpfe gar keinen Kampf. Dass hier der Betrieb irgendwie insgesamt schöner wird für alle, für die anderen, für den Lars zum Beispiel, das ist überhaupt nicht mein Ziel, genauso wenig wie ich Modellmitarbeiterin werden will. Der Lars unterstellt mit Streberei, und du unterstellst mir, dass ich eine halbe Heilige wäre. Aber ich …

NELLEKE: Ja?

56

PERSEPHONE: Ich will einfach nur hier arbeiten und hier Geld verdienen und … es aushalten, bis ich vielleicht nachhause kann, zu meinem Kind. Aber so, wie das hier eingerichtet ist, mit den Updates und TeamsNachrichten und dem Aufzug, kann man eben die Arbeit gar nicht machen, für die man eingestellt ist. Und deswegen, nur deswegen mache ich hier dauernd … ja, wie soll ich das sagen, was ich da mache, es ist eben kein Aufstand, es ist nur …

(Lars) LARS: Holla, Mädels! Wer ist denn die da?

PERSEPHONE: Lars, echt jetzt. Hör doch mal auf. Das ist meine Vermieterin. Nelleke, das ist der Lars, der …

LARS: Ihr müsst mit hochkommen! Das ist die Wahnsinns-Supershow da oben! Der Zauberer, dieser Nick, der hat mit seiner Fliege und dem Zombie-Typen, dem Betontrottel, ein Gespenst gefangen. Das machen sie jetzt kaputt. Und zwar mit Beschwörungen und Scheiß, sowas habt ihr noch nicht gesehen. Ich bin nur kurz … ich wollte in mein Büro, die Kamera holen, aber da ist ja alles abgeschlossen. Wahrscheinlich zentral und automatisch, wegen dem Wasserschaden, wer weiß … na, und da komme ich hier rein und finde ich euch, da sag’ ich mir doch: Die nimmste gleich mal mit hoch, je mehr Publikum, desto abgefahrener die Show!

PERSEPHONE: Typ. Wirklich. Du bist so kaputt. Du kannst doch nicht einfach … dich einfach amüsieren, wenn hier alles zusammenbricht! Die Aufzüge, die Software, jetzt der Wasserschaden und dass das Licht hier dauernd so … so Zicken macht. Ich meine, du musst als IT-Fachkraft dann doch den Chef suchen und dem …

LARS: Chef? Was denn für einen Chef?

PERSEPHONE: Oder Coach, das ist doch wirklich egal.

DIE LEUTE: Mit dem Fußvolk endlos plaudern Aber beim Entscheiden zaudern!

So geht heute Chef, Chef, Chef.

LARS: Da tust du immer so, als würde ich nicht zuhören! Du kennst die elementaren Gegebenheiten hier nicht mal, du Modellmitarbeiterin …

PERSEPHONE: Was für elementare …

LARS: Man hat alle Chefs im Haus erst gefeuert und dann wieder per Ausschreibung zurückgeholt, aber sie mussten sich neu bewerben, sie kriegen weniger Geld und es heißt nicht mehr Chef, es heißt jetzt „Coach“.

NELLEKE: Augenwischerei! Das sind diese Lügen, mit denen …

PERSEPHONE: Außerdem weiß ich das längst, also was willst du …

LARS: Immer unterbrichst du mich an der Stelle! Es heißt jetzt „Coach“, aber es ist in Wirklichkeit gar niemand mehr da, den man so nennt. Die Cloud hat ihn gefressen. Genau wie sie diese internationale Jury gefressen hat. Hast du denn gedacht, diese Jury entscheidet, welcher Betrieb den Zuschlag kriegt für die Subventionen, und wer da Modellmitarbeiterin und Modellmitarbeiter wird? Hast du nicht kapiert, was das heißt, dass Bürgerinnen und Bürger Protokolle schreiben? Es gibt keine Chefs mehr. Es gibt nur noch die Leute, die einander flexibel und modular jeweils gegenseitig ausbeuten, unterdrücken, verpetzen, als Daten behandeln und als Daten verarbeiten und …

DIE LEUTE: FRESSEN! FRESSEN! Fast hätten wir’s vergessen!

Wir wollen Daten fressen, Denn Daten tun uns GUT. FRESSEN! FRESSEN! Und nicht zu knapp bemessen!

Wir müssen Daten fressen, Sonst kriegen wir die WUT!

Theater der Zeit 4 / 2025

Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ NELLEKE: Das ist doch alles unmenschlich! Das ist doch alles entsetz-

drauf hingewiesen, dass die Kinder agil sein müssten, denn es ist nicht wie

lich!

früher. Frau Leitner sah dann immer zu mir und sagte zum Beispiel: „Wir

PERSEPHONE:

Da, siehst du’s, Lars, was du mit deinem Geschwätz

machen schon Online-Übungen, wir machen, seit wir Pandemie haben,

anrichtest? Du machst sie ganz … Nelleke, kommt, wir gehen jetzt erst

auch zuhause ganze Einheiten im Unterricht.“ Man käme dabei, sagte sie,

mal in die …

„von sukzessiven und getrennten Lern- und Praxisphasen zur integrierten

NELLEKE:

Entsetzlich!

Kompetenzentwicklung, wo die Lehrkraft nicht mehr eine unantastbare

LARS: Kommt ihr jetzt mit zur Show oder nicht? Jetzt kommt halt mit!

Autorität sein darf, weil die Situation der Telepräsenz sie schon genug fern

NELLEKE:

rückt, sondern es ist ein Coaching auf Du und Du“.

Tödlich!

PERSEPHONE:

Komm, ich bring dich … wir gehen ins Treppenhaus,

Da geht es also letztlich darum, die Kleinen zu befähigen in der „Potenzial-

wir schaffen das schon nach unten, Wasserschaden hin oder her …

erreichung des Sollzustandes einer digitalen Ergebnis Erfassung der Lern-

NELLEKE: Aber wir … ich muss … wir müssen ihnen zeigen, dass

inhalte“, so nennt das die Frau Seifert. Der Grund ist, die denken alle, dass

wir … dass es nicht … (erstarrt)

morgen bereits die Zukunft ist, weil es „die Berufe in Büro und Sekretariat

PERSEPHONE:

und im Verkauf und Post und Zustellung und Bankkassiererin und kauf-

Nelleke?

NELLEKE: Microsoft meldet momentan sporadische Aussetzer bei sei-

männische und technische Betriebswirtschaft bald nirgends mehr gibt“,

nen Cloud-Diensten.

sagt die Seifert. Auf die scherzhafte Frage eines Vaters, vierzehn und sech-

PERSEPHONE:

zehn Jahre sollen die angeblichen Töchter sein, der sich als Busfahrer zu

LARS:

Nelleke?

Geil!

erkennen gab, was denn für Berufe seine Kinder noch haben dürfen, sag-

NELLEKE: Betroffen sind Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook,

ten die beiden erst nichts. Aber die Deutschlehrerin Farina Kose kam dann

SharePoint Online, OneDrive for Business, Microsoft Graph, Power BI

zu Hilfe. Die sagte: „Es geht nicht nur um Berufe. Wir wollen den Men-

und Azure Infrastuktur. Wenn Sie Probleme mit dem Programm Outlook

schen bilden, nicht nur ausbilden. Ihre Töchter lernen, was kein Computer

haben …

kann“. Als Beispiel führte sie die schöne Literatur ins Feld, zunächst

PERSEPHONE:

Nelleke? Nelleke? Hallo?

(Lichtsturz)

selbstredend Jean Paul, kein Franzose, der Name täuscht sehr! Das konnte endlich einmal erklärt werden, viele fragten sich nicht nur von der AfD aufgehetzt, warum unser Gymnasium so heißt. Sie nannte auch Goethe,

SZENE 9: ÖFFENTLICHKEIT

Shakespeare, und freilich die Deutschen der jüngeren Zeit, nämlich Herta Müller, Robin Walser und Eckhard Henscheid, sowohl welche mit Nobelpreis wie vorerst noch ohne. Von einem Henscheid werde aber die Tochter nicht schlau für die Zukunft, grummelte eine Mutter, die selbst ebenfalls, wie der Busfahrer, sich auf Töchter berief, aber eher noch jüngere. „Sie

DIE LEUTE: Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

haben“, sagte sie zu dem Rektor und der Konrektorin, „doch gesagt, die

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

IT-Kompetenz, die Medien-Kompetenz, das Digital Citizenship, die Kolla-

Wenn’s PASSIERT ist, distanzieren wir uns SCHNELL!

boration, die Data Literacy, das Selbstmanagement wären im Vorder-

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

grund. Das kann doch bei Walser und Müller und Henscheid nicht drin-

UND JETZT ALLE!

stehen!“ Herr Leitner grinste wohlwollend und sagte: „Das wohl nicht,

ALLE:

aber ein gutes Menschenbild, und das brauchen wir auch, nicht, Frau

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

Kose?“ So spielte er den Ball mit seiner berühmten Raffinesse fast wie ein

Wenn’s PASSIERT ist, distanzieren wir uns SCHNELL!

Politiker zur Deutschlehrerin zurück. Diese erwiderte: „In ‚Maria Schnee‘

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

von Henscheid gibt es eine zärtliche, aber nicht naive Idylle. Das kann keine Maschine so.“ Der Busfahrer fand sich als Vater jedoch selber zärt-

ZWEITES ZWISCHENSPIEL, DIESMAL PERSÖNLICH

lich genug und sagte, ihm mache die Effizienz Sorgen. Dem pflichtete die dicke Mutter bei, die aber sich auch wieder andererseits vom Busfahren als Job distanzierte, sie nannte das „nicht zeitgemäß und zielführend“, worauf es noch mehr Ärger gab in der Runde. Alles taten Herr Leitner und Frau Seifert dafür, dass sich die Wogen glätteten. Sachfremdes wurde aber

NELLEKE:

jetzt mehrfach gesagt, auch gestisch und mit Gebrüll unterstrichen, spe-

(Allein in halbaktuellen Erinnerungen)

ziell auch von den Migranten und Migrantinnen, die da ja sehr recht ha-

Sie wollen nämlich nicht, dass ich ganz vereinsame. Und weil ich ja früher

ben. Tapfer und ganz gut rhetorisch ließ immerhin die Deutschtante nicht

auch Lehrerin war, darf ich zum Elternabend, weiterhin. Aus Empathie.

locker mit ihrem Henscheid: „In Henscheids Roman über die Matratze des

Am Jean-Paul-Gymnasium hier in der Stadt, und da war jetzt eben wieder

Bischofs wird einmal gefordert, man müsse vierstimmig pfeifen und kom-

ein Elternabend zur Information für alle Eltern und Gäste, wieder sehr

ponieren können wie der Teufel oder wenigstens wie Mozart. Das sind die

konstruktiv, wie oft. Rektor Harald Leitner und seine treue Perle, Kon-

Fähigkeiten, die man braucht, wenn man nicht mehr arbeiten muss, weil

rektorin Gabriele Seifert, hatten alle Interessierten eingeladen, zunächst

alles automatisch und programmiert ist, nur ich nicht! Busfahren kann der

einen Vortrag zu belauschen, den sie abwechselnd mit Schaudiagrammen

Bus alleine, aber vierstimmig pfeifen kann er eben nicht!“ Die Ironie war,

zusammen hielten. Darin wurde vordringlich aus der Sicht der Schule

dass daraufhin ein Pfeifkonzert stattfand. Es kam zu Rufen wie: „Buh!“

Theater der Zeit 4 / 2025

57

Stück Dietmar Dath Klug warteten jedoch der Boss und seine Tussi ab, dass sich alle erschöpf-

NICK:

ten. Mehr oder weniger kam es so. Nur eben nicht die feine Madame

jage! Es ist eine Tarnung! In dem Gespenst, das so tut, als ob es die Psy-

Deutschlehrerin Farina Kose, die sich möglicherweise für was Besseres

chologie der Einzelnen versteht, steckt ein schlimmeres Gespenst! Denn

hielt. Mit leicht lächerlichem Ernst und Getue ging es von ihr grad so

wer behauptet, der Intellekt könnte den Intellekt verstehen …

weiter: „Ihr müsst sein wie Henscheid, nämlich gescheit! Es reimt sich

BRECHT ALS FREUD: … für die Zukunft der … Menschheit … optimis-

doch sogar, das kann sich selbst ein verfickter Kretin merken! Hen-Scheid,

tisch …

Ge-Scheit! Hen-Scheid! Ge-Scheit! Hen! Ge! Hen!“ schrie aus lautem

INSEKT:

Hals die arme Frau, bevor wir sie gewaltsam wegmachten. Leider! Sonst

NICK:

aber war es nett.

behauptet heimlich auch, er könnte das verstehen, was den Intellekt her-

DIE LEUTE:

vorbringt, durchkreuzt, stärkt, schwächt prägt, vernichtet und neu aufle-

Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht.

Das ist Sigmund Freud, aber der ist nicht das Gespenst, das ich

Weiche! Bsss!

Wer behauptet, der Intellekt könnte den Intellekt verstehen, der

Stopf dich voll mit Neuem, bis der Schädel raucht.

ben lässt! Die Gesellschaft!

Sauf dich dumm mit Wissen, bis der Kater faucht.

BRECHT ALS FREUD: Opti … misti … opti … misti …

Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht.

NICK:

SZENE 10: WORKSPACE, ENTSCHEIDUNGSEBENE

Im Namen Satans! Im Namen des Nichts! ENTHÜLLE DICH!

BRECHT: Opti … na … Na gut. Aber Ihr habt angefangen mit dem Verhüllen.

NICK:

Ach ja? Ich? Ich verhülle nichts! Ich bin für die Diktatur! Ich bin

Faschist! Ich bin gegen die Demokratie! Ich verhülle niemals etwas! Diktatur! Heil Satan!

(Nick, Insekt und Jörn gegen Brecht als Freud)

BRECHT:

NICK:

Ökonomie nicht enthüllt, das heißt verhüllt, in den autoritären Ländern

Enthülle dich! Enthülle dich! Weiche zurück und enthülle dich!

In den demokratischen Ländern ist der Gewaltcharakter der

Sint mihi Dei Acherontis propitii! Valeat numen triplex Jehovae! Ignei,

steht es so mit dem ökonomischen Charakter der Gewalt.

aerii, aquatani spiritus, salvete!

NICK:

Oh hilf, Luzifer! Ich habe es geahnt! Das ist der Bertolt Brecht!

INSEKT:

LARS:

Klar, wir sind ja in Augsburg. Voll episch!

Orientis princeps Belzebub, inferni ardentis monarcha, et De-

mogorgon, propitiamus vos, ut appareat et surgat Mephistophilis.

BRECHT:

BRECHT ALS FREUD:

Und so wenig Freunde!

(widersteht dem Zauber unter Schmerzen)

So viele Verbrechen

Die … Stimme … des Intellekts ist leise, aber sie … ruht … nicht, ehe sie

NICK:

… sich … Gehör verschafft hat. Am Ende, nach … unzähligen … oft wie-

tenschwein!

derholten Abweisungen …

BRECHT:

NICK:

NICK:

Du elende Kommunistensau! Ich spreche mit dir in der Sprache

Keine Panik. Ich … Warte! Ich mach dich klein, du KommunisJa, mach nur einen Plan …

Hört meinen Befehl! Hört her, Besessene! Kinder der Nacht!

der Magie! Da kommst du nicht dagegen an, mit deinem Intellekt! Das

INSEKT:

sind Zitate aus der Hölle, das ist die Sprache der Magie!

line, OneDrive for Business, bsss Microsoft Graph, Power BI und Azure

BRECHT ALS FREUD:

Infrastuktur …

Ein Zitat ist unpersönlich. Was sind die besten

Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook, SharePoint On-

Söhne? Jene, welche den Vater vergessen machen!

JÖRN: Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook, SharePoint Online,

NICK:

OneDrive for Business, Microsoft Graph, Power BI und Azure Infrastuk-

Enthülle dich! Enthülle dich! Weiche zurück und enthülle dich!

Quid tu moraris? per Jehovam, Gehennam et consecratum aquam quam

tur …

nunc spargo, signumque crucis quod nunc facio, et per vota nostra, ipse

NELLEKE: Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook, SharePoint

nunc surgat nobis dicatus Mephistophilis!

Online, OneDrive for Business, Microsoft Graph, Power BI und Azure

INSEKT:

Infrastuktur …

JÖRN:

Enthüllte dich! Bss! Betroffen sind Microsoft Teams, Exchange Online, Outlook,

RECHT:

Und weil der Mensch ein Mensch is t…

SharePoint Online, OneDrive for Business …

NICK:

(Lars, Persephone, Nelleke)

BRECHT:

LARS: Freunde, ist das der Hammer hier! Was geht denn? Wie im Kino!

NELLEKE:

Fressen!

Voll der Superheldenkampf gegen den … Typen da!

BRECHT:

Als der … Denkende in einen großen Sturm kam, saß er in

NICK:

einem großen Wagen…

Enthülle dich!

Fresst ihn, Besessene! Fresst ihn! Fresst ihn auf!

Als der Denkende in einen großen Sturm kam …

INSEKT: Weiche bsssssssssss und enthülle dich!

INSEKT:

Fressen!

BRECHT ALS FREUD:

BRECHT:

… saß er in einem großen Wagen und nahm viel Platz ein. Das

… nach unzähligen oft wiederholten Abweisun-

gen findet sie … es … doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen

erste war, dass er aus seinem Wagen stieg …

man …

JÖRN:

JÖRN:

Microsoft Graph, Power BI und Azure Infrastuktur.

Fressen!

BRECHT:

Das zweite war, dass er seinen Rock ablegte.

NELLEKE: Wenn Sie Probleme mit dem Programm Outlook haben, kön-

NELLEKE:

Fressen!

nen Sie alternativ versuchen über outlook.office.com auf Ihre E-Mails zu-

BRECHT:

Das dritte war, dass er sich auf den Boden legte.

zugreifen.

INSEKT:

Fressen!

BRECHT:

So überstand er den Sturm in seiner kleinsten Größe.

PERSEPHONE:

Nelleke? Nelleke, was hast du nur? Nick, können Sie …

Lars, was hat Sie? Was ist das hier?

58

(Nelleke, Insekt und Jörn beißen Brecht tot.)

Theater der Zeit 4 / 2025

Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ BRECHT:

Die … Soli … dari … tät … tät …

heldendrama, dann würde man im Sinne sowohl der Hollywood-

INSEKT:

FRESSEN!

Dramaturgie wie des Sozialistischen Realismus zweifellos sagen, ein positi-

JÖRN:

FRESSEN!

ver Held muss her oder eine positive Heldin. Ich weiß das, weil ich mal

NELLEKE: FRESSEN!

Marxist war. Ich habe aber gelernt, solche alten Ideen bringen nichts. Syste-

(Stille. Grauen)

me, ha! Lehren! Nein. Die Pointe ist entscheidend, nicht das System oder die Methode. Und die erste Pointe von drei Pointen, die das Ding hier hat,

DRITTES ZWISCHENSPIEL: TANZ UND SELBSTERKENNTNIS

das wir eben erlebt haben, liegt auf der Hand: Der einzige positive Held, die einzige positive Heldin kann in unserem Ding hier niemand anders sein als das von einem Baufahrzeug überrollte Kind dieser dummen Frau hier.

NELLEKE: Der Hersteller ist an einer Lösung der Probleme dran. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.

(Insekt tanzt, Persephone staunt, Leute singen)

LARS:

DIE LEUTE: (sakraler Gesang)

Heldin ist?

Man weiß, wozu Insekten taugen:

NICK:

Sie haben sehr spezielle Augen.

müsste.

Sie wissen: Etwas anzusehen

LARS:

Weshalb?

Bedeutet NICHT, es zu verstehen.

NICK:

Weil die Konstellation von unserem Ding hier aus einer inneren

PERSEPHONE:

Logik heraus notwendigerweise so ist, dass genau diese Person den ganzen

(Versmaßwechsel. Sie singt nicht, sondern spricht ein Solo.)

Theaterabend lang nicht in Erscheinung treten kann. Unsere Geschichte

Wir sind wie Mäuse.

gibt es nur, wenn die positive Heldin und der positive Held längst tot sind.

Der Vogel muss uns jagen.

Gestorben vor dem Drama. Ermordet. Verunfallt. Die Pointe ist: Früher

Das ist das Schicksal.

war es so … im alten Schema ist es so: Da stirbt die heroische Figur, um

Mehr gibt es nicht zu sagen.

die Leute zu erlösen. Hier ist sie gestorben, um uns zu verdammen. Und

Wieso ist das eine Pointe? Dass das Kind von der Frau da die Weil es etwas über die Realität sagt, von der so ein Film handeln

Hurra, es hat geklappt!

Der Vogel hält uns.

LARS:

Pfff. Total uninteressant, wenn du mich fragst.

Wir werden nicht tief fallen.

NICK:

Eben, das ist die zweite Pointe! Dass es dich nicht …

Die Welt gefällt uns.

LARS:

Nee, echt, interessiert mich null.

Wir wohnen zwischen Krallen.

PERSEPHONE: Ich höre den Scheiß von dir jetzt, seit ich dich kenne:

DIE LEUTE: (Sakraler Gesang wird wieder aufgenommen.)

„Interessiert mich nicht.“ Dass hier alles kaputt ist. Dass hier alle kaputt-

Das ist es, was Insekten taugen:

gehen. Wenn dich das alles nicht interessiert, obwohl es dich direkt angeht

Sie können an der Wahrheit saugen.

… du könntest doch der nächste hirnlose Idiot sein, der einfach irgendwel-

Die Wahrheit ist was, das sie wissen:

che Kacke brabbelt, wie diese Kaputten da! Hast du davor keine Angst?

Wer nur blöd glotzt, ist ANGESCHISSEN.

LARS:

Nö, das interessiert mich auch nicht.

PERSEPHONE: Wenn dich das nicht interessiert, was interessiert dich

SZENE 11: Nichtauflösung

dann denn überhaupt?

LARS:

Was mich interessiert? Jedenfalls nicht euer Sozialdreck! Eure

Psychoprobleme! Eure dumme persönliche Geschichte und noch dümmere Weltgeschichte! Krieg, Innovation, Arbeitslosigkeit, Ausbildung! Langweilig! Naaaachhaltig, ich höre immer naaachhaltig! Naaachhaltet alle

NICK: Das … war … harte Arbeit.

mal die FRESSE! Ich bin ein GENIE! Mich interessiert Matrizenmultipli-

LARS:

kation, mich interessieren Künstliche Neuronale Netze, mich interessieren

Hammermäßig. In 3D, Leute. Sie sind echt der Nekromant. Der

Saruman. Hart. Ein Held, und die Monster gehorchen ihm alle.

Tensorzerlegungen in Räumen mit endlichen Faktoren! Mich interessiert

NICK: Ach woher denn, Held. Im Gegenteil.

Deep Reinforcement Learning!

PERSEPHONE:

PERSEPHONE: Wie bitte?

LARS:

Allerdings.

Wieso, weil du selber immer die Heldin sein musst, du Modell-

PERSEPHONE:

LARS:

Mich interessiert, du blöde arme Sau, dass wir als Menschen seit

tausenden von Jahren denken, es gibt uninteressante Arbeit und interes-

mitarbeiterin?

Nicht mal jetzt kannste das lassen. Dir haben sie echt

sante Arbeit, und dass die intelligentesten von uns seit jeher denken: un-

ins Hirn geschissen. Ich hab einfach nur versucht, meinen Job zu machen.

interessant ist Steine schleppen, das kann ein dressierter Affe oder eine

LARS:

Maschine auch, und interessant ist geistige Arbeit, also Mathe machen

Alle anderen belauern

Und sich selbst brutal bedauern!

und Theaterstücke schreiben – und jetzt haben wir aber Maschinen, die

So geht heute Job, Job, Job

können Mathe machen und Theaterstücke schreiben. Und während die

PERSEPHONE:

Miesepeter denken, damit ist die interessante Arbeit jetzt auch noch un-

Du mich auch.

NICK: Bitte. Meine Lieben. Es ist ganz unnötig, dass Sie einander hier

interessant geworden, denke ich, und finde ich interessant: Wenn das, was

beharken. Wäre das, was wir hier machen, tatsächlich ein Film, ein Super-

wir bis jetzt für die interessante Arbeit gehalten haben, gar nicht interes-

Theater der Zeit 4 / 2025

59

Stück Dietmar Dath sant ist, ist es dann nicht das Interessanteste, rauszufinden, was die inter-

Denn Daten tun uns GUT.

essante Arbeit sein könnte?

FRESSEN! FRESSEN!

PERSEPHONE:

Wow. Meine Fresse. Wow. So … so habe ich dich ja

Wir müssen Daten fressen,

noch nie … reden gehört … warum … warum machst du das dann nicht?

Sonst kriegen wir die WUT!

Warum, keine Ahnung, suchst du dir nicht einen Job, wo solche Fragen …

(Sie beißen Persephone kaputt.)

ich weiß nicht, aber … werde doch auch Philosoph und dann …

(Betretenes Herumstehen der Ungeheuer und ihres Beschwörers)

LARS: Philosoph werden kannste heute nur, wenn du den Unterschied

NICK:

zwischen interessant und uninteressant gar nicht siehst, sonst kriegst du Är-

schmerzen.

ger mit der Wirtschaft und der Politik, die das automatisieren wollen, was

LARS:

Der Hersteller …

eben noch interessante Arbeit war. Nur als Idiot oder als Faschist, wie der da,

NICK:

Lass stecken. Wir sollten … hier ist … ja. Also, hier ist … die …

nehmen sie dich ernst, wenn du sagst, das, was du machst, ist Philosophie.

die Hindernisse sind … wir haben der Innovation den Weg frei gemacht.

NICK: Kann ich bestätigen.

Soviel steht … ja, das steht fest. Wir sollten … wir sollten hier nicht mehr

PERSEPHONE: Das heißt …

… es ist unproduktiv. Kommt, wir … wir sollten uns …

LARS: Das heißt, ich muss halt irgendwie Geld verdienen wie alle. Und

Wir sollten unsere Arbeit in einem … erweiterten Kontext…

die Regeln sagen mir, such dir irgendwas aus, wir sind ein freies Land, hier

NELLEKE, LARS, INSEKT, JÖRN: Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

wird niemand gezwungen, hier ist Demokratie, aber …

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

PERSEPHONE:

Wenn’s PASSIERT ist, distanzieren wir uns SCHNELL!

Aber das wiederum heißt …

Und nicht zu knapp bemessen!

Na gut. Schön. Das Schlimmste wurde verhindert. Ich habe Kopf-

LARS: Ja, das heißt …

Wir sind UN-schuldig und IN-dividuell!

PERSEPHONE:

NICK:

(erstarrt)

Könnte … ja, so ungefähr könnte das … ja, das … fein, das ma-

In den demokratischen Ländern ist der Gewaltcharakter der Ökonomie

chen wir. So machen wir das.

nicht enthüllt, das heißt verhüllt, in den autoritären Ländern steht es so

(Nick führt Nelleke, Lars, Insekt und Jörn hinaus.)

mit dem ökonomischen Charakter der Gewalt.

(Lichtunsicherheiten)

INSEKT:

(Die Leichen von Brecht und Persephone erheben sich mühsam.)

JÖRN:

Bsss! Bsss! Modellmitarbeiterin!

BRECHT, PERSEPHONE: (tot)

Modellmitarbeiterin!

NELLEKE:

Modellmitarbeiterin!

Wir dürfen nicht gefunden werden.

(Insekt, Jörn und Nelleke umzingeln Persephone.)

LARS: Tja. Ich wollte ja eigentlich lieber nicht drüber reden.

NICK:

Hast du aber! Unglücksrabe! Was ist das, willst du mit ihr zu-

sammen … eine … eine … einen Aufstand, eine …

LARS: Das Wort, das dir nicht einfällt, ist: Gewerkschaft!

INSEKT: JÖRN:

Gewerkschaft! Bsss!

Gewerkschaft!

NELLEKE:

– FINIS –

Gewerkschaft!

(Insekt, Jörn und Nelleke lassen von Persephone ab und nähern sich Lars drohsam.)

NICK:

Hochmütiger! Wahnsinniger! Gewerkschaft? Einzelne Insekten,

die sich verbünden! Wozu? Um andere zu erpressen! Streik! Krawall!

Schäden in Millionenhöhe! Büße! Widerrufe!

LARS: Ja, ja. Schon gut. My bad.

PERSEPHONE:

Und weil der Mensch ein Mensch…

LARS: (erstarrt) Microsoft meldet momentan sporadische Aussetzer bei seinen Cloud-Diensten.

JÖRN, INSEKT, NELLEKE:

Microsoft meldet momentan sporadische

Aussetzer bei seinen Cloud-Diensten.

NICK:

Ganz recht! Genau! So ist das! Der Hersteller ist an einer Lösung

der Probleme dran!

JÖRN, INSEKT, NELLEKE, LARS: Wir werden Sie auf dem Laufenden halten!

NICK:

Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch! Auf dem Laufenden! Und

jetzt fresst! Fresst sie, Besessene! Fresst sie! Fresst sie auf, Ihr Kinder des Bildschirmschoners!

JÖRN, INSEKT, NELLEKE, LARS:

FRESSEN! FRESSEN!

Uns kann man nicht erpressen!

Wir wollen Daten fressen,

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Theater der Zeit

Foto By Maxime Raynal from France - Orage PLN, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42048641

Diskurs & Analyse

Serie Dramaturgie der Zeitenwende: Annemie Vanackere „Die Signatur unserer Zeit“

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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #07

Die Signatur unserer Zeit Dramaturgien in einer Welt der Dauerkrise Von Annemie Vanackere

Die belgische Festivalkuratorin und Theaterleiterin Annemie Vanackere. Seit 2012 leitet sie als Intendantin und Geschäftsführerin das Theater Hebbel am Ufer in Berlin

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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #07 Spielplandramaturgie ist meist weniger ‚Plan‘ als ‚Zufall‘. Oder um es anders zu sagen: Sie ist ‚kontingent‘, abhängig von den realen Gegebenheiten. In diesem Sinne ist sie immer eine Wette auf die Zukunft, da sie Vorlauf braucht. Wir wollen, dass das, was wir planen, in einer produktiven Beziehung zur Gegenwart steht, wenn es erscheint. Aber wir wissen weder, wie das Geplante noch diese Gegenwart, die heute noch Zukunft ist, dann jeweils aussehen wird.

Da die Vorlaufzeiten für ein internationales Produktionshaus wie das HAU Hebbel am Ufer relativ kurz sind, kann man erwarten, dass die Korrespondenz zwischen Bühne und Wirklichkeit direkter sein kann – im Vergleich z. B. zu Opernhäusern, die mehrere Jahre im Vorhinein disponieren müssen. Ich denke, dass das stimmt, auch wenn diese Kurzfristigkeit in der Planung vor allem von einer prekären Förderpraxis in unserem Metier zeugt.

Die zur Verfügung stehenden Mittel sind in der Regel projektbezogen und nicht strukturell, und die Planungsunsicherheit eher ein Symptom der Unterfinanzierung als eine bewusste Flexibilität.

Dennoch spielt uns der Zufall öfters in die Hände und wir haben gelernt, dies für unsere Praxis produktiv zu machen.

Foto Annette Hauschild

„Give Peace a Chance“ Es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir ‚die Welt‘ nach Berlin holen wollen, mit ihren Geschichten und aufregenden ­Ästhetiken, d. h. aber auch mit ihren Problemen und Konflikten.

Wenn dann die Weltpolitik von einer Krise in die nächste gerät und sich die Ereignisse überschlagen, merken wir, dass stimmt, was John Lennon gesagt haben soll: „Life is what happens to you while you’re busy making other plans.“ Die Geschichte macht uns Striche durch den Text.

Wir haben das, wie alle, erfahren, als 2020 die Corona-Pandemie einsetzte. Von einem Tag auf den anderen haben wir unser Festival zur digitalen Wirklichkeit „Spy on Me“ von den analogen Bühnen des HAU ins Internet verlegt. Unser bereits 2019 gefasster Plan, uns mit den ‚künstlerischen Manövern für die digitale Gegenwart‘ zu beschäftigen, war auf einmal auf beinahe unangenehme Weise aufgegangen. Die Idee, eine dauerhafte digitale Bühne zu gründen, bekam so aber einen mächtigen Anschub. Und seitdem ist das HAU4 – so wie wir diese ‚Sparte‘ nennen – ein wichtiger Pfeiler im HAU-Kosmos.

Ganz anders 2022, als Russland am 24. Februar die Ukraine überfiel. Wir waren kurz vor der Eröffnung der vom HAU ausgerichteten Tanzplattform Deutschland und konnten am Programm nichts mehr verändern. Die freudvolle Zusammenkunft von Tanzschaffenden und ihren Netzwerken schien uns aber nicht mehr möglich, ohne wenigstens in unseren Gedanken das eine mit dem anderen in Bezug zu setzen, und das habe ich in meiner Eröffnungsrede auch versucht, mit dem Publikum zu teilen. In einer Art Mikrodramaturgie haben wir die Rede mit einem vorgeschalteten musikalischen Prolog kombiniert: Sun Ras „Nuclear War“, das am Ende fließend überging in John Lennons „Give Peace A Chance“, von vielen im Saal mitgesungen. (Wir wollten es – Mikro­dramaturgie – nur anspielen, nicht ausspielen; aus technischen Gründen wurde das alles länger als gedacht. Kontingenz halt.)

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Erst in Berlin habe ich gelernt, dass ich mit dem sogenannten Postdramatischen Theater aufgewachsen bin.

So sehe ich auch unser gesamtes Programm, das mit Theater, Performance, Tanz, Musik und Diskurs auf unterschiedlichen Ebenen, in Zusammenhang, kommuniziert. Da gibt es für mich keine Hierarchie. Wenn wir aktuell die Diskursreihe „On Justice“ veranstalten, hat das unmittelbar mit den Umständen zu tun, die die Künstler:innen, die bei uns produzieren und präsentieren, erleben: die Erosion von Bürgerrechten in autoritären Gesellschaften, aber vor allem auch die politischen Verschiebungen und Normalisierungen rechtsradikaler Positionen in der deutschen Politik und Gesellschaft, die vielen zu schaffen machen.

Denn zu den Veränderungen in der Welt und in der deutschen Gesellschaft gehört, dass nach dem 24. Februar 2022 eine Künstlerin und Kuratorin wie Marina Davydova in Berlin eine Exilheimat finden konnte, auch dank des Programms „Weltoffenes Berlin“, das Künstler:innen und Medienschaffenden, die in ihren Herkunftsländern bedroht werden, Schutz bietet. (Einiges läuft in Berlins Politik dann doch noch richtig.) Wobei „Herkunftsland“ bei Marina Davydova und Russland kein zutreffender Begriff ist. Und davon handelte dann auch ihr vom HAU und den Wiener Festwochen produziertes Projekt „Museum of Uncounted Voices“: von Russlands imperialer Gegenwart und der damit verbundenen Geschichte, die viele ungestellte Fragen und Problematiken einer Vielvölkergemeinschaft, wie der damaligen Sowjetunion, aufgreift. Es war eine Art immersiver Diskurs, in einem verwandelbaren Raum, in den die Besucher:innen eintauchen konnten. Damit gelang ein ‚dramaturgischer Zugriff auf unsere Gegenwart‘, eine Form, die wir schon mal mit Marina und der Bühnenbildnerin Vera Martynov entwickelt hatten. In „Eternal Russia“, der ersten Theaterproduktion der vor allem als Theaterkritikerin und Festivalmacherin bekannten Marina Davydova, hat sie sich schon 2017 dem fatalen Verlauf der russischen und sowjetischen Geschichte gewidmet.

Genauso hatten wir 2021 einen Schwerpunkt der bela­ rusischen künstlerischen Dissidenz widmen wollen als Reaktion auf die Proteste und die damit verbundene Repression nach den Wahlen in 2020. Da hatte uns die Corona-Pandemie dann nochmals einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mittlerweile ist die Krise zur Dauerkrise mutiert. Das Bemerkenswerte an den aktuellen politischen Phänomenen ist: Sie sind von Dauer oder sie kommen wieder, siehe Trump. So könnte man sagen, wir können unsere Spielpläne mittlerweile saisonübergreifend an der Katastrophe ausrichten. Kontingenz hin oder her. Die Opposition in Belarus war auch im Jahr 2022 nicht freier, als sie endlich bei uns ihre Arbeiten präsentieren konnten. Sie war nur zum großen Teil ausgewandert, auch nach Berlin.

Wenn wir nach Belarus schauen, aber auch, wenn wir mit der Autorin und Theatermacherin Nicoleta Esinencu, die in unserem

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Diskurs & Analyse Serie: Dramaturgie der Zeitenwende #07 Festival „Every Day. Feministische Kämpfe im post-sozialistischen Europa“ ihre Trilogie „Sinfonie des Fortschritts“ abschließt, nach Moldau schauen, sehen wir in Europa Gesellschaften, wie es sie weltweit schon seit Jahrzehnten gibt: prekäre Gesellschaften, in denen Gewalt, unkontrollierte politische Macht und unmittelbare außenpolitische Bedrohung alltägliche Realität sind. Dabei interessiert uns immer die Frage: Was hat das mit uns zu tun – uns in Berlin, Deutschland, Westeuropa? Was ist unsere Rolle und Verantwortlichkeit darin? Was können wir von diesen Künstler:innen lernen? Welche Erfahrungen können wir teilen?

Moderation der Verschiedenheit Auch in unserer Gesellschaft haben sich die Realität und die damit verbundenen Alltagserfahrungen z. B. für viele migrantisierte Menschen verschärft. Für sie ist Olaf Scholz’ „Zeitenwende“ keine. Zuallererst für sie ist die immer lauter werdende anti­ demokratische Opposition in Deutschland eine reale Bedrohung.

Und so prägte unseren Spielplan auch das Treffen in Potsdam, an dem Reaktionäre und Faschist:innen ihre „Remigrations“-Fantasien ausformulierten. Wir haben das Jahrestreffen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser umgewidmet zu einem Festival für die Feier und die Verteidigung der Migrationsgesellschaft, kuratiert zusammen mit Transforming Solidarities, einer zivil­ ­ gesellschaftlich-wissenschaftlichen Initiative in Berlin. Dabei sind diese Bündnistreffen immer schon künstlerische und diskursive Kulminationspunkte von Transformationsthemen: der Versuch, die Veränderungen aktiv zu begleiten, unser aller Alltag im Wandel, künstlerisch und diskursiv zu begreifen und die Vielstimmigkeit ins Zentrum zu rücken.

Für uns ist eine Dramaturgie in der Dauerkrise die Moderation dieser Verschiedenheit. Und das im hellen Licht der medialen Öffentlichkeit und der Politik mit ihren Ansprüchen – die oft so völlig sachfremd sind, so wenig bereit zu sein scheinen, zu differenzieren, Ebenen auseinanderzuhalten und von Kunst- und Diskursräumen nicht das Gleiche zu verlangen wie von Staatsbeamt:innen.

Die aktuelle politische Lage macht es nicht einfacher, allen Erwartungen und Ansprüchen, manchmal auch unseren eigenen, entsprechen zu können. Können wir und unsere Besucher:innen und Arbeitspartner:innen die „Mikrodosen“ als ausreichend akzeptieren, die wir herstellen, wenn wir unsere eigenen Wahrnehmungen zunächst nur einfach, aber sehr konkret reflektieren? Wenn wir erkennen, dass wir nicht die ganze Welt zusammenbringen können, doch wenigstens die Räume offenhalten können, für Kommunikation, Austausch und künstlerische Erfahrungen?

Die Diversität und auch die Ausdifferenziertheit der eingeladenen Künstler:innen und des Publikums, verstanden als kontinuierlichen Prozess, betrachte ich als eine dramaturgische Signatur unserer Zeit. Sie ist eine Herausforderung, weil die Aufgabe, wie ich sie mir selbst stelle, darin liegt, all diese Heterogenität zu akzeptieren und zu ermöglichen, aber dennoch auch etwas Verbindendes zu kreieren. Ein Theater als Ort des Streites und der Versöhnung, der Ermutigung, ein lebendiger Raum,

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aber auch ein Raum des Ausruhens. Transformieren, mutieren, aktivieren, all das macht doch auch sehr müde. Die erste Botschaft, die wir als neues HAU-Team im Herbst 2012 auf einer Postkarte lancierten, sagte: „Auch wenn ihr müde seid, kommt vorbei!“ Die könnten wir wieder neu auflegen. Das Theater als Ort, an dem wir zusammenkommen können, ist wieder neu mit Bedeutung aufgeladen.

Erst in Berlin habe ich gelernt, dass ich mit dem sogenannten Postdramatischen Theater aufgewachsen bin: Das Theater, über das Hans-Thies Lehmann in seinem epochalen Buch geschrieben hat, war meine Jugend. An dieser Art von Theater- und Tanzmachen habe ich immer geschätzt, dass die Ästhetik auf der Bühne eine Gruppe von Menschen präsentiert, die gemeinsam agieren, die keinen fremden Regeln oder Gesetzen folgt, die nichts vorgeben zu sein, was sie nicht sind. Das hat noch immer eine emanzipatorische Kraft.

Zugleich schreitet die Zeit voran. Es scheint mir, dass es Zeit ist für ein Post-Postdramatisches Theater, was dann zugleich einen besseren, aktiveren Namen verdienen würde. Ich bin mir sicher, es wird keine Rückkehr, keine Wende. Aber die Konflikte, die unser Leben herausfordern, fordern auch unsere Kunst heraus. Ich habe Vertrauen in die Künstler:innen der ersten und zweiten und aller danach kommender Generationen der Postdramatiker:innen, dass sie sich nicht auf ihrem ‚Mittel-Kanon‘ ausruhen und auch nicht müde werden, neue Theaterwirklichkeiten auf die Bühne zu bringen. Und ich bin genauso gespannt, wie Künstler:innen, die eher aus der Bildenden Kunst kommen, wie Anan Fries oder allapopp, in Zukunft nach neuen Darstellungsmöglichkeiten suchen und das HAU – und nicht nur das HAU4! – als ihre Bühne begreifen, so wie Leila Hekmat nach ihrem fulminanten „Gloriette“-Abend im HAU1 weiter neue spannende Formen erfinden wird, um mit historischen Theatermitteln Zeitgenossenschaft auf der Bühne ­heraufzubeschwören.

Mit Dank an Aenne Quiñones und Sven Schabram. T

Weitere Texte zur Serie Dramaturgie der Zeitenwende finden Sie im Dossier unter tdz.de/zeitenwende

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Foto Camilo Venegas

Report

„La posibilidad de la ternura“ von Teatro La Re-sentida. Regie Marco Layera und Carolina de La Maza beim chilenischen Theaterfestival Teatro a Mil

Chile Eine Reise durch chilenische Theaterlandschaften und das Theaterfestival Teatro a Mil Krefeld/ Mönchengladbach Das Zwei-Städte-Theater Krefeld / Mönchengladbach wird 75

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Eine Reise durch chilenische Theaterlandschaften Von Manuel Harder

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Das große Plus an Menschlichkeit

„HUMANIDAD“ (Mehr Menschlichkeit) lautet das Motto des diesjährigen Festivals Teatro a Mil (Theater für Tausend), das Vorzeichen wie eine Reminiszenz auf die eigene Geschichte: Mit der Kampagne NO+! (Nicht mehr!) wurden nach einem Plebiszit Diktatur und Folterregime 1990 endgültig abgeschafft. Noch vor zwei Jahren, anlässlich des Gedenkens an den Putsch gegen die einzige frei gewählte sozialistische Regierung vor 50 Jahren, widmete sich das Festival der Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung (siehe TdZ 03/2023). Jetzt soll es weitergehen. Aber Traum und Trauma liegen nah beieinander, wirken bis ins Heute.

Foto 1 Ramiro Contreras, 2 Franco Barrios,

1: „Kipppunkt“ von Theater Titanick in Kooperation mit Bodytalk 2: „Vampyr“ von Manuela Infante in eigener Regie 3: „Liminal“ von Stefany Duarte. Eine Produktion von Laboratorio de creación interdisciplinar 4: „La posibilidad de la ternura“ von Teatro La Re-sentida. Regie Marco Layera und Carolina de La Maza

Report Chile Santiago de Chile, es ist Januar, die Sommerferien haben gerade begonnen. Ich sitze im GAM, dem Kulturzentrum Gabriela Mistral, Epizentrum des kulturellen Schaffens. Die PLATEA25 wird eröffnet – die internationale Plattform innerhalb des Festivals für Theaterproduzierende und Booker, dem wohl größten „Fenster des Südens für performative Künste Lateinamerikas zur Welt“. Ich trage kein Plastikkärtchen, ich bin kein Produzent oder Journalist. Ich bin deutscher Schauspieler mit Festengagement und Hang zu Eigenarbeiten, geboren in Chile, im Gepäck mein gesammeltes Halbwissen über das chilenische Theater. Der Autor und Regisseur Guillermo Calderón provoziert gleich zu Beginn: Festivals erregten die Illusion, Theater sei wichtig – für genau zwei Wochen. Dann kämpften alle wieder für sich allein.

Im Crossfade der Disziplinen In Chile bedeute das weiterhin: prekäre Arbeitsverhältnisse und erschwerte Professionalisierung. Hinzu käme eine depressive Lähmung nach den Ereignissen der letzten Jahre. Neben dem bestürzenden Gefühl, dass die Probleme überall auf der Welt gleich seien, sei der Traum Chiles von einem Plus an Menschlichkeit wieder einmal im neoliberalen Trauma erstickt. Er zeigt Videos der Proteste von 2019 rund um das GAM. Die blutige Niederschlagung der Bewegung, gefolgt vom Ersticken in härtesten Coronamaßnahmen, schließlich das Scheitern, die alte Verfassung der Diktatur durch eine neue, progressivere zu ersetzen (Rechte für Frauen, Indigene, die Natur; auf Bildung, Kultur, Gesundheit und Wasser; Verstaatlichung des eigenen Rohstoffabbaus) – dies alles stelle die Frage nach einem Warum und Wofür in der Theaterarbeit. Es wirkt, als mache sich Hoffnungslosigkeit breit. Mir aber scheint, es schlummert auch etwas darin, mit welcher Klarheit die Probleme hier in Chile besprochen werden – und wie hartnäckig die kommunitären Bemühungen sich gestalten: Überall bilden sich Kollektive, lösen sich auf, formieren sich neu – im Crossfade der Disziplinen von Text bis Musik, von Party bis Performance, von Suppenküche bis Happening.

Direkt nach Calderón stellt sich beispielhaft ein Autorinnenkollektiv vor: eine Gruppe junger Frauen, die sich in den Zeiten der Krisen zusammentat, um an öffentlichen Plätzen mit den jeweiligen Nachbarschaften Texte, Lesungen und Solidaritäten zu entwickeln. Es liegt gesamtgesellschaftlich viel Hoffnung auf der jungen feministischen Bewegung Chiles wie den kommunitären Erfahrungen des Landes.

Erst nach diesen Stimmen der Künstler:innen folgen die formellen Grußworte der Politik wie der Kulturministerinnen von Chile und Brasilien – geopolitisch sicher nicht unwichtig als diesjähriges Gastland des Festivals geladen.

Draußen auf dem Platz des GAM findet offiziell eine indigen anmutende Performance statt, ein Art Begrüßungsritual – direkt daneben probt eine Hip-Hop-Dancegroup – ein offenes Angebot an junge Frauen, selbst organisiertes Empowerment. Das Festival bemüht sich bei allem Erfolg und Wachstum, seine Wurzeln im subversiven Straßentheater der Diktaturzeit nicht zu verlieren, ein Festival für alle soll es sein. Auch wenn der Eintrittspreis von

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Was macht für mich, Theaterschaffender vom anderen Ende der Welt, das „Seelenvolle“ des chilenischen Theaters aus?

1000 Pesos (1 Euro) nicht mehr zu halten war, gibt es GratisVeranstaltungen, vor allem draußen: viel Straßentheater wie die berühmten Walks riesiger Symbolpuppen, der 3,5-Meter großen Mädchenmarionette Amal der südafrikanischen Kompanie The Handspring Puppet oder des 7,5 Meter großen Marionettenjungen aus Weidengeflecht, „Mo y la cinta roja“, eine Kriegsfluchtgeschichte als Prozessionstheater der französischen Compagnie L’Homme Debout. Vom Goethe-Institut kommt der Klimawandel als Spektakel auf öffentliche Plätze: „Kippunkt“ vom Theater Titanick aus Leipzig und Münster und der Tanzkompanie Bodytalk. Natürlich gibt es auch die Stars der Szene zu sehen – die auch in Deutschland bekannt sind, Manuela Infante z. B. Sie lehnt in „Vampyr“ ihr nonhumanes Theater schwarzhumorig an den alten, europäischen Mythos an. Von Marco Layera sehe ich „La posibilidad de la ternura“ (Die Möglichkeit der Zärtlichkeit) in der Matucana 100, einer mit imposanter Holzvertäfelung zu einem Zentrum zeitgenössischer Kunst umgebauten Lagerhalle.

Im Zuschauerraum ein auffallend junges, urbanes Publikum, auf der Bühne die Szenerie einer Jagd in der Steinzeit: Wild agierende, Felsen werfende Höhlenmänner erlegen ein in einer Erdgrube gefangenes Mammut. Dahinter tauchen die Schatten der Spieler auf, Urlaute von sich stoßend. Ein furioser Einstieg, der in seiner zirzensischen Bewegungslust nicht abreißt, auch wenn er im Verlauf durch kluge Dramaturgie von Gruppenszenen und Einzelmonologen irgendwann domestiziert wirkt. Berührend ist die agile Spielkraft dieser sieben Adoleszenten und ihrer Geschichten selbst erlebter Mannwerdung, von Erniedrigungsritualen und schließlich der Abkehr von tradierten Männlichkeitsbildern – zugunsten der Zärtlichkeit. Im chilenischen Nationaltheater gleich neben dem Präsidentenpalast – einer kleinen Guckkastenbühne mit dem Charme eines alten Kinos – mischen sich auch Ältere unter das Publikum. In „Navegar por el Neva“ erprobt ein Ensemble, 13 Jahre nach der letzten Vorstellung, noch einmal das Stück „Neva“ von Guillermo Calderón, versucht, sich an den Text und die damalige Rollenbefragung des Theaters anhand von Tschechows Figuren zu erinnern – in einer lustvoll-bewegenden Zeitreise durch ihr Schaffen als Schauspieler:innen. In zitathaft schwarz verhangener Bühne, selbst ganz in Schwarz gekleidet, mit nur einem Zweisitzer, Klavier, dem Bodenscheinwerfer in Rampenmitte und einem Teppich, dessen Ecke zentral knapp über die Bühnenkante hängt, feiert diese Gruppe das Theater in seiner eigenen Vergänglichkeit und erneuten Auferstehung, grandioses Schauspielertheater über die Bedingungen des Berufs, veränderte Zeiten, gealterte Körper, ewig wiederkehrende Ideale gesellschaftlicher Relevanz und den Verlust der Seele, eben weil man sie schon so oft gebrauchte.

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Szene aus „La posibilidad de la ternura“ von Teatro La Re-sentida beim Festival Teatro a Mil

Was macht für mich, Theaterschaffender vom anderen Ende der Welt, das „Seelenvolle“ des chilenischen Theaters aus? Wenig Fremdes begegnet mir, ästhetisch nicht Unbekanntes, aber in Herangehensart, Thematik und Spielfreude oft Mich-Überraschendes.

Es hat etwas Berührendes – dieser immer frische, spielerische, oft selbst organisierte Zugang zu Stilen und Themen unserer Zeit.

Etwas Großherziges im Umgang miteinander, immer wieder Inspiration aus Hoffnung und Verzweiflung zu ziehen. Gemeinschaft zu bilden. Bei allen Zeitströmungen und diskursiven Spieltechniken eine körperliche Leidenschaft und Nähe herzustellen. Oft mit befreiender Selbstironie. Eine konkrete Kontaktsuche. Eine stete Utopiearbeit.

Man kann ein starkes Selbstbewusstsein im Verhältnis zur Welt spüren. Im Verhältnis zu Deutschland sind zwar immer wieder die Einflüsse von Brecht bis Castorf, von Pollesch bis Ostermeier spürbar, aber eher in Anwendung, weniger als epigonale Kopien. Das Festival hebt denn auch eher die offen das Land ­Bereisenden als wichtige künstlerische Gäste des deutschsprachigen Raumes hervor, wie Christoph Marthaler und Pina Bausch.

Zudem richtet es den Blick stark auf die eigenen geschichtlichen und indigenen Wurzeln, Verwerfungen und Chancen. So passt auch in die Haltung, sich zunehmend weniger für das kulturelle ImportExport-Geschäft zu interessieren als vielmehr für echte Kollaborationen. Als hoch entwickeltes, stets mit Europa, nicht zuletzt mit Deutschland, eng verbundenes Land des globalen Südens bietet es daher eine wichtige Position in der Pluriversumsdebatte, in der Auseinandersetzung mit dem globalen Norden und seinen krisenhaften Entwicklungen. Ein Austausch in gegenseitiger Bespiegelung, Aufarbeitung und Entdeckung anderer Erzählungen.

Der Ableger des Festivals in Valparaíso heißt entsprechend Valpo A Mil. Die Hafenstadt, Weltkulturerbe, schwappt mit ihren bunten Häusern auf vielen Hügeln ins einst wichtigste Hafen­ becken Südamerikas.

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Ein urbanes Amphitheater, das sich Stefany Duarte mit ihrer Tanztheater-Performancetruppe zunutze macht. Vom Cerro Artilleria blickt man auf die Dächer des Hafenviertels herunter, alles vom Zerfall bedroht – die Szenerie unter freiem Himmel für LIMINAL. Szenen sozialer Krisen und kriegerischer Konflikte ­ können so auf den Dächern und in den Straßen der realen Stadt quasi im Draufblick erlebt und die assoziativen Verbindungen von lokalen Problematiken zu globalen Konflikten gezogen werden – in Duartes’ Erzählung immer mit dem Anspruch, sie in Freiheit und sozialem Kompromiss aufzulösen.

Spannungen sind hier nicht nur im Hafenviertel real. Überall wird man als „Gringo“ gewarnt. Tatsächlich erlebt Chile derzeit eine Straßenkriminalität, die es in ihrer bewaffneten Gewalt noch nicht kannte. Schnell wird die Einwanderung aus Kolumbien und Venezuela genannt. Allerdings heize die zumeist rechtskonservative Presse die Angstmacherei noch an, höre ich. Kein unbekanntes Muster: Tatsächliche Probleme der Migration werden propagandistisch befeuert. Ein Problem auch für die Theater der großen Städte: Eine Zeitlang mussten sie mit früheren Vorstellungszeiten die Menschen, die Angst vor der Nacht hatten, aus ihren Häusern und zu ihnen locken. „Wir kriegen ernste Probleme mit der mentalen Gesundheit.“ Franziska Tuñón Vidal, Butoh-Tänzerin und Dozentin für gestisches Theater an den Universitäten von Santiago und Viña del Mar treffe ich am Rande einer Pitch-Veranstaltung, in der sich die Freie Szene im Rahmen des Festivals vorstellt. Der Parque Cultural, ehemals Gefängnis, ist jetzt ein offener Ort der Stadt mit Veranstaltungen, Ausstellungen, wenig Geld und viel Rasenfläche für Familien und Freaks. Die äußerst aktive Subkultur der Hafenstadt hatte die Gebäude in den ersten Jahren nach der Diktatur erobert, mittlerweile thront hier ein Neubau als Kulturzentrum über der Stadt. Was nicht heißt, dass es der Kulturszene gut gehe. „Hier kämpfen alle ums Überleben“, sagt Franziska. Um Fördergelder, Spielorte, Zuschauer:innen für mehr als drei Vorstellungen – zunehmend auch gegeneinander. Unsicherheit und Misstrauen seien eingebrochen, wo vorher großer Aufbruch gewesen sei. Die Unruhen vor sechs Jahren hätten eine enorme Energie unter den Studierenden freigesetzt, viel Solidarität und Mut, nicht zuletzt in der feministischen Bewegung. Jüngere Studierende aber seien in den Jahren der Niederschlagung der Proteste von 2019, des Shutdowns, der gescheiterten Verfassung und neoliberalen Depression großgeworden. Eine Lähmung sei eingetreten, bis ins Körperliche spürbar. Mit meinem Freund aus dem Kulturministerium, dem einzigen Ministerium, das nicht in der Hauptstadt sitzt – ein Tribut an die Künstler:innenstadt Valparaíso –, esse ich mittags in einer Hafenkneipe, wo uns alte Damen eine fantastische Fischsuppe servieren. Er ist im Exil in Deutschland aufgewachsen und in den neunziger Jahren zurückgekehrt. Auf meine Frage, was er sich von einer Ko-Produktion Deutschland/Chile erhoffen würde, antwortet er sofort: Aufarbeitung. Immer noch seien die Verwicklungen der deutschen Regierung und Botschaftsadministration in den Fragen von Putsch und Folter, gedeckten Verbrechern und entführten Kindern nicht gänzlich geklärt beziehungsweise anerkannt. Auch brauche die Colonia Dignidad

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Foto links Camilo Venegas, rechts Ramiro Contreras

Report Chile

Report Chile dringend politische Nachbearbeitung und einen Gedenkort. Mein Freund berät Antragstellende der kulturellen Förderprogramme, die um nationale und internationale Produzenten, Gastspiele und Tour-Programme kämpfen. Es gebe viel Geld in den Töpfen, vielleicht sogar mehr als früher, vermutlich auch wegen der anstehenden Wahlen, aber die zahlreichen bürokratischen Umstellungen machen ihre Verteilung schwer. Obwohl man sich bemühe, Projekte auch von Anfang bis Ende finanziell zu begleiten, bleibe die Situation der Künstler:innen häufig prekär. Eine Reaktion auf die Missstände in der chilenischen Theaterlandschaft sind etwa die sogenannten Espácios – Orte und Räume für Entwicklung, Research und Proben. Da die meisten Theater eher Veranstaltungsräume für gebuchte Vorstellungen fertiger Produktionen sind, oft neben anderem Entertainment aller Kategorien, fehlte es der sich notgedrungen selbst finanzierenden Theaterszene an professionellen Arbeitsorten und -bedingungen. In dieser Lücke entstanden in den Jahren nach der Diktatur und vermehrt in den letzten zehn Jahren die Espácios. Von Valparaíso aus fahre ich in die Berge, in den „kleinen Süden“ mit seinen großen Seen und Vulkanen zu Claudio Ansoreno. Es ist das Land der Mapuche, aber auch der Nachkommen vieler Einwanderer:innen. Claudio hat sich hier sein eigenes Refugium realisiert: Ko-Panqui (Puma-Wasser) ist ein idealer Rückzugs- und Produktionsort. Als ehemaliger Tänzer und Performer, der selbst fünf Jahre in Deutschland arbeitete, beherbergt er internationale Tanz- und Filmgruppen, Zirkus und Körpertheater, die hier ihre Produktionen entwickeln. Aber auch die lokale Wirkung ist ihm wichtig: Zusammen mit den ortsansässigen Mapuche entwickelt er Kurse für die kulturelle Arbeit der Community – von Musik- und Kunstprojekten bis hin zu den traditionellen und geschichtstragenden Handwerken des Webens und Töpferns. „Unser Land wechselt ständig von links nach rechts die Regierungen. Wir reden immer über das Trennende. Vielleicht sollten wir über das Verbindende nachdenken“, so Claudio. Im März dieses Jahres werden sich zum ersten Mal alle Espácios des Landes in Ko-Panqui treffen, um sich auszutauschen und politisches Gewicht jenseits des Einzelkampfs zu erlangen.

Hoffnung und Verzweiflung Zurück in Santiago besuche ich zwei urbane Espácios, die wie ­Ko-Panqui ihr zehnjähriges Bestehen feiern: die Espácios Checoeslovaquia und NAVE. Sebastian de la Cuesta wirkt etwas erschöpft, gerade führt er anstrengende Verhandlungen zur Finanzierung des von ihm und Rodrigo Leal gegründeten Espácio mit dem eigentümlichen Namen Checoeslovaquia. Etwas abseits in einem Wohnviertel gelegen, erschufen sie eine kleine Kunstfabrik, die auch Netflix-Produktionen schon als Basis nutzten, wo Manuela Infante ihre auf dem Festival a Mil gezeigte Produktion „Vampyr“ entwickelte und für die Nachbarschaft Yogakurse und Urban Gardening angeboten werden. Das Gebäude war einst eine Lampenölfabrik eines deutschen Einwanderers, dann Werkstatt eines Tschechoslowaken – daher der vom Vorbesitzer übernommene Name. Das überzählige „e“ in der Mitte stehe für „Emigration“, meint Sebastian, was ihm gefalle: Wanderung, Überschreibung,

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Der Autor und Regisseur Guillermo Calderón provoziert gleich zu Festivaleröffnung: Festivals erregten die Illusion, Theater sei wichtig – für genau zwei Wochen. Dann kämpften alle wieder für sich allein.

ohne Ursprünge zu verdecken, Neues schaffen. Sebastian wird munter, als ich ihm von Milo Raus Idee einer neuen Internationale der Theaterschaffenden als Reaktion auf die weltweite Bedrohung von rechts erzähle. Auf meine Bitte, mir einen Satz mitzugeben, kritzelt er auf einen Zettel: „Um effizient zu sein und so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen, muss man es nur versuchen.“ Ihr Satz wäre: „Unsere Leidenschaft, euch zu bewegen!“, erklärt Jennifer McColl vom Espácio NAVE. Hier sehe ich die letzte Veranstaltung – die Eröffnung des Santiago-Off-Festivals, eine Antwort auf Teatro a Mil, „Territmia“ der Gruppe Proyecto Sismo, einem Kollektiv von neun Künstlern aus Kolumbien, Chile, Uruguay und Brasilen: Protagonist ist ein riesiger, luftgefüllter Schlauch, der am Boden eine Tarkowski-artige Landschaft bildet, aus der sich vier Tänzer erheben, bald aber von dem nun belebten und sich auftürmenden Ungetüm verschluckt und umhergetrieben werden.

Das Verschwinden der menschlichen Körper und der Künstler als starkes Bild. Hoffnung und Verzweiflung über die Situation in Chile äußert auch die in Deutschland geborene chilenische Schauspielerin, Regisseurin, Performerin und DJane Amalia Kassai. Diese große Enttäuschung des Gefühls von 2019, dass alles möglich gewesen sei, mit allen zusammen. Und dann zu sehen, wie dem keine Würde, sondern Unterdrückung widerfährt. Aber sie versuche, Kreativität und Inspiration aus all dem erzwungenen Multitasking zu gewinnen, immer weiter zu lernen. Das Übereinanderlegen von Südamerika und Europa funktioniere nicht, merke sie, die auch in Deutschland sechs Jahre studiert und gearbeitet hat, die Schlucht bleibe. So sehr sie dankbar für die Einflüsse von der anderen Seite der Welt sei, immer weniger interessiere sie ein eurozentrierter Blick. Sie wende sich gerade eher der Geschichte Lateinamerikas zu, den Mythen, der Magie. Da seien Erzählungen verborgen, die im Hier und Jetzt Kraft zu Entdeckung und Neuerung gäben, die nicht nur die chilenische Theaterszene dringend benötigt. T

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Kein Platz für Machtspielchen Das Zwei-Städte-Theater Krefeld/Mönchengladbach wird 75 und gilt bundesweit als Vorbild für eine funktionierende Fusion Von Stefan Keim

Theater Mönchengladbach

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Theater Krefeld

Rückblende. Mitte der neunziger Jahre in Thüringen. Die Theater in Altenburg und Gera müssen fusionieren. Ein gewaltiger Einschnitt, beide Städte haben eine starke eigene Geschichte. Damit es klappt, nahmen sich die Verantwortlichen das Zwei-Städte-Theater in K ­ refeld und Mönchengladbach zum Vorbild. Intendant der neu gegründeten Altenburg-Gera Theater GmbH war Michael Grosse.

Heute leitet der Schauspieler und Regisseur die Vierspartenbühne am Niederrhein. 75 Jahre alt wird das Fusionstheater in diesem April.

Am 19. April 1950 haben die Räte der Städte Krefeld und Mönchengladbach den bis heute gültigen Fusionsvertrag unterzeichnet.

Seitdem hält die Theaterehe, auch wenn es zwischendurch einige Veränderungen gab. Mönchengladbach hat der Bühne vor 19 Jahren das Schauspielhaus weggenommen, weil die Stadt von einer Zukunft als Musicalmetropole träumte. Das war ein Flop, ein voll funktionsfähiges Theater rottete vor sich hin, wie manches in Mönchengladbach. Das Theater spielt seitdem komplett im Stadtteil Rheydt. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Der berühmte Satz aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ zu Goethes „Faust“ gilt am Niederrhein. Oper und Schauspiel bieten die erprobte Mischung aus Klassikern und Novitäten. Eine Reihe mit außereuropäischem Theater hat internationale Perspektiven in den Spielplan gebracht, bevor auch andere Bühnen sich für Stimmen außerhalb der erprobten Festivalproduktionen interessiert haben. Und vor fünf Jahren wählte das Schauspielensemble seine neue Leitung selbst. Die Kandidat:innen mussten sich nicht beim Intendanten oder bei einer Findungskommission vorstellen, sondern beim Ensemble. Christoph Roos ist es geworden, der seitdem lebendige und oft auch humorvolle Inszenierungen zeigt.

Generalintendant und Geschäftsführer Michael Grosse ließ dem Ensemble bei der Auswahl absolut freie Hand. Er setzte damit ein bundesweit wahrgenommenes Zeichen für Vertrauen und Zusammenarbeit auf Augenhöhe. „Machtspiele sind ohnehin schlimm“, sagt der 64-Jährige. „Aber ein Fusionstheater ist dafür noch ungeeigneter als andere Bühnen.“ Denn hier kommt es vor allem auf die Kommunikation an. Manche Fusionen – wie das Schillertheater NRW aus Wuppertal und Gelsenkirchen – sind gescheitert, weil das Publikum sich nicht mitgenommen fühlte. In Krefeld und Mönchengladbach schaut niemand neidisch, wenn eine „Zauberflöte“ zuerst in der anderen Stadt Premiere hat. „Das spielt wirklich keine Rolle“, erzählt Michael Grosse und ergänzt mit leicht hochgezogenem Mundwinkel. „Manchmal ist die zweite Premiere ohnehin die bessere.“ Beide Städte bekommen alle Stücke zu sehen. Sogar wenn es um Fußball geht. Eine Revue zum Jubiläum von Borussia Mönchengladbach lief in Krefeld genauso erfolgreich. Und „Das Wunder der Grotenburg“ fand auch in Mönchengladbach ein begeistertes Publikum. Ein Stück Stadthistorie und gleichzeitig deutsch-deutsche Geschichte. Im Europapokal der Pokalsieger schlug Bayer Uerdingen den DDR-Spitzenclub Dynamo Dresden 7:3. Der Kabarettist und Autor Rüdiger Höfken aus Krefeld hat darüber ein Stück geschrieben, Michael Grosse war als Schauspieler mit auf der Bühne. Ein typisches Projekt eines Stadttheaters, aber weil es um die Stasi und die DDR ging, war es auch für Mönchengladbach interessant.

Michael Grosse und sein Team müssen immer beide Städte im Blick haben und auf Parität achten. „Ich mach den Intendanten-

Fotos oben Von © Alice Wiegand, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=114809196, unten Von Oliver Schöpgens - Eigenes Werk,

Report Krefeld / Mönchengladbach

Report Krefeld / Mönchengladbach job seit 35 Jahren ohne einen einzigen Tag Unterbrechung“, sagt Grosse. „Es geht immer um das Wechselspiel, die Erwartungs­ haltungen des Publikums zu bedienen und es dann wieder herauszufordern. Man kann das als Gemischtwarenladen bezeichnen oder als das Theater, das die Menschen vor Ort brauchen.“ Vor der allseits grassierenden Sparwut ist das Fusionstheater erst einmal gesichert. Schon Ende der neunziger Jahre hat die Unternehmensberatung Actori das Haus analysiert und keine Sparmöglichkeiten gefunden. Nur die Umwandlung in eine GmbH brauchte noch Sparpotenzial, und das war der Moment, an dem Michael Grosse Intendant wurde. Seitdem entscheiden die Stadträte alle fünf Jahre über einen Finanzplan. „Ich komme aus dem Osten,“ knurrt Grosse grinsend. „Fünf-Jahres-Pläne sind in meiner DNA enthalten.“ Der aktuelle reicht bis 2030, eine dringend nötige Generalsanierung des Krefelder Theaters ist bereits beschlossen.

Und das Publikum? Vor Corona war Krefeld/Mönchengladbach mit 75 Prozent Auslastung und 212 000 Zuschauer:innen pro Spielzeit gut besucht. 200 000 verkaufte Karten mit einem Durchschnittspreis von 25 Euro stehen auch im Finanzplan. Doch davon ist die Bühne im Augenblick noch ein Stück entfernt. Vielleicht 175 000 Zuschauer:innen und 69 Prozent Auslastung sind die aktuelle Prognose. „Das ist ein kontinuierlicher Aufwärtstrend seit Corona“, sagt der Intendant. „Wir würden uns natürlich wünschen, dass es schneller geht.“ Die Eintrittspreise sollten laut Plan längst erhöht werden, in der laufenden Saison wurden sie um 18 Prozent angehoben. Die Abozahlen wurden gehalten, aber die Finanzlücke ist noch da. Grosse kann das nicht schrecken: „Wir müssen schauen, wie wir das hinkriegen.“ Wer wissen will, wie ein Fusionstheater funktioniert, muss beim Chefdisponenten vorbeischauen. Denn hier laufen alle Fäden zusammen. Christoph Erpenbeck ist Bariton und war lange am Haus engagiert, bevor er 2011 den neuen Job übernommen hat. „Das ist zwar ein mittelgroßes Haus“, erklärt er, „aber eins der kompliziertesten in ganz Deutschland. Wir haben viel mehr Zwänge als Möglichkeiten.“ Bestes Beispiel ist der Karnevalssonntag. Natürlich wünschen sich Niederrheiner:innen etwas Fröhliches auf der Bühne. Es ging aber in Mönchengladbach nur die Oper „Margarethe“ von Charles Gounod, die Opernfassung von Goethes „Faust“.

Das findet auch Christoph Erpenbeck nicht optimal. Geht aber nicht anders. Er dreht seinen großen Bildschirm und erklärt seine Arbeit. In Krefeld und Mönchengladbach gibt es 23 Abos mit jeweils zehn Vorstellungen. Also schon mal 230 Abende pro Spielzeit. „Die sollten gleichmäßig laufen, nicht unter zwei Wochen Abstand, nicht über sechs. Dann fängt man an zu zählen.“ Christoph Erpenbecks Dispo beginnt mit den Sinfoniekonzerten. Sieben Wochen lang ist das Orchester mit jeweils vier Konzerten und den Endproben geblockt. Da können also auch keine Proben mit dem Gesangsensemble stattfinden. Das Ballett bringt jedes Jahr ein neues Stück mit Live-Orchester und eins mit Musik vom Band oder einem Kammerensemble heraus. Das ist die Grundbedingung, um überhaupt spielfähig zu sein. Opern kann Erpenbeck auch nicht an aufeinander folgenden Tagen ansetzen, weil die Stimmen einen Tag Pause brauchen. Und das

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Wer wissen will, wie ein Fusionstheater funktioniert, muss beim Chefdisponenten vorbeischauen.

Schauspiel muss zwei Aufführungen produzieren, die parallel auf den großen Bühnen gespielt werden können. Im Moment sind das die Uraufführung „Das vierte Verhör“ von Zaza Muchemwa aus Zimbabwe (die Reihe mit außereuropäischem Theater) und Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“. „Ansonsten stolpert das Schauspiel relativ unkompliziert durch den Spielplan“, lächelt Christoph Erpenbeck, „weil die kein Orchester brauchen.“ Die neuen Tarifverträge machen die Planung allerdings noch komplizierter. Bei Orchester und Chor war es schon lange so, dass maximal zehn „Dienste“ mit vier Stunden Arbeitszeit pro Woche möglich sind. Jetzt werden auch bei den Solisten die Arbeitsstunden gedeckelt. Was Erpenbeck als Sänger gut findet: „Früher sind Leute am Theater untergegangen, die wurden verschlissen. Heute ist ein regelmäßiger freier Tag selbstverständlich.“ Und wer vier Stunden rumsitzt, aber nur für eine halbe Stunde gebraucht wird, hat seinen Dienst erfüllt. Das soll die Regieteams anleiten, effektiver zu planen.

Bei einem Fusionstheater, dessen Städte nicht besonders toll durch öffentlichen Nahverkehr verbunden sind, geht es auch um die Wege zu Proben und Aufführungen. Das Musiktheater ist in Mönchengladbach zu Hause, das Schauspiel in Krefeld. Da fahren ständig Kleinbusse und Taxen hin und her. Andererseits ist es natürlich nachhaltig, Inszenierungen häufiger zu spielen. Michael Grosse tauscht nicht nur die Aufführungen zwischen den beiden Häusern, er übernimmt auch immer wieder Produktionen von anderen Häusern, die ihn überzeugen. Das entlastet die Werkstätten und spart Geld.

Und bei all dem muss er immer wieder darauf achten, dass alles gleich und gerecht zu geht. „Ich bin zwei Öltanks“, sagt er mit voluminöser Schauspielerstimme. „Jede Stadt behauptet, wir sind ihr eigenes Stadttheater. Die Kunst besteht darin, dass die Identität der einzelnen Bühnen so anmutet, als wäre es das eigene Theater.“ Die Jubiläumspremieren im Frühjahr sind gut verteilt. Mönchengladbach bekommt den Abschiedsabend „Überraschung“ des scheidenden Ballettdirektors Robert North, Krefeld die Premiere der grandiosen Oper „Die Passagierin“ von Mieczyslaw Weinberg.

Und das Schauspiel wagt etwas Neues für das Fusionstheater.

Tankred Dorsts „Merlin oder das wüste Land“ wird zeitgleich in beiden Theatern gespielt. In Krefeld inszeniert Christoph Roos auf der großen Bühne, in Mönchengladbach Luis Liun Koch eine eigene Fassung „Merlin feat. Ginevra“ im Studio. Per Videoübertragung wird von einer Bühne auf die andere geschaltet.

Und kann Krefeld/Mönchengladbach mit seiner 75-jährigen Geschichte weiterhin ein Vorbild für andere Bühnen sein? Michael Grosses Antwort: „Fusionen machen für mich Sinn, wenn sich die Partner auf Augenhöhe begegnen. Wenn das nicht so ist, sollte man die Finger davon lassen, weil sonst im Alltag nur Probleme entstehen.“ T

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Gestern und heute Festivals für das Publikum, die Stadtgesellschaft und die Künstler*innen Von Anke Meyer

„Jeder von uns kann davon profitieren, vor allem diejenigen, die etwas zu sagen haben, aber nicht wissen, wie sie es sagen sollen, die bei ihrer Wahl zögern, zaudern und verzweifeln. Das Wunderbare an diesem Abenteuer ist, dass es Gefahr vermeidet, in einer fatalen Uniformität zu enden; die ganze Bandbreite der Möglichkeiten wird angeboten, die ganze Palette der Modi und Genres wird an diesem einzigartigen Ort vereint, wo jeder, wenn er will, sich selbst beurteilen, testen und vergleichen kann …“1 Man könnte fast glauben, dies sei ein Kommentar zum internationalen figuren. theater.festival Erlangen, Nürnberg, Fürth und Schwabach, vielleicht anlässlich der schwierigen finanziellen Lage, in die es 2024 aus Gründen, die weder eingeladene Theater noch die ausrichtenden Kulturämter im Geringsten zu verantworten hatten, geraten war. Um den Politikern, die über Gedeih und Verderb dieses einzigartigen Theaterfestes zu entscheiden hatten, die Augen zu öffnen über dessen besonderen Wert. Ein flammendes, vielleicht etwas altmodisch formuliertes Plädoyer für das Weiterbestehen dieses so vielfältigen, breit aufgestellten und für Randständiges immer offenen Festivals.

Nährboden und Resonanzkörper Doch das Zitat stammt weder aus dem Jahr 2024 noch aus 2011, dem Jahr, in dem das Festival schon einmal vor dem Aus stand.

Nein, die zitierte Aussage traf A. M. Julien, Gründer und Direktor des Festival international d’art dramatique de Paris, im Jahr 1955 in einem Magazin des Internationalen Theaterinstituts. Und er stellt bereits damals einen Aspekt ins Zentrum, der für internationale Festspiele neben der wichtigen Aufgabe der kulturellen Bereicherung eines Stadt- oder Großraums nicht aus dem Blick geraten sollte: gegenseitige In-

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spiration, Kritik und Ermutigung der teilnehmenden Künstler*innen. Dazu gehört auch die Chance für Newcomer, sich in einem für sie noch unübersichtlichen Genre zu orientieren, Vorbilder zu finden, vielleicht sogar Mentor*innen – eine Chance, die das Junge Forum als Teil des Erlanger Festivals in hohem Maße bietet, wie die im Kapitel „Festival Goes University“ versammelten Stimmen bezeugen mögen.

Dass diese Chance von jungen Künstler*innen genutzt wurde, erweist sich in über fünf Jahrzehnten Programm sehr deutlich. Nur ein Beispiel: Das Materialtheater Stuttgart war erstmals 1989 zu Gast, in Erlangen und Nürnberg zeigten die beiden jungen Absolvent*innen des ersten westdeutschen Studiengangs Figurentheater ihren „Lästerreigen“, ein lustvoll-ätzendes Spektakel zu François Villon, und in Fürth ihre später zum Objekt-Kultstück mutierte Zweisamkeitskomödie „Das Frühstücksmärchen“. Beim Festival 2023 entführte die inzwischen mehrfach preisgekrönte, in Ensemble Materialtheater umbenannte und auf eine zweistellige Zahl fester sowie temporärer Mitglieder angewachsene Gruppierung das wie immer erwartungsfrohe Publikum in „Dingdarium“, eine Wunderkammer der Dinge, verborgen in einem labyrinthischen Zelt im Erlanger Schlossgarten. In den Jahren dazwischen zählt man 18 Insze­ nierungen des (Ensemble) Materialtheater beim figuren.theater.festival – eine enge und treue Wegbegleitung, von beiden Seiten aus betrachtet. Kein Einzelfall. Mehrere Künstler*innenstatements in diesem Buch resümieren ein sich verstetigendes Interesse an der künstlerischen Entwicklung junger und später gar nicht mehr so junger Theatermacher*innen und im Gegenzug eine Art Treue zum Veranstaltungsort.

Nicht zu vergessen sei das offensichtliche Faible des Publikums zu einigen Stammkünstler*innen.

Der Gedanke liegt nahe, dass derartige Solidarität zwischen Veranstaltungsteams, Künstler*innen und Publikum auch zur Bildung eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer gemeinsamen Szene beiträgt, überdies in einem Theatergenre, dessen allgemeine Reputation noch immer nicht seiner tatsächlichen künstlerischen Präsenz, seiner immensen Vielfalt, Wandlungsfähigkeit und Strahlkraft entspricht, und dessen Protagonist*innen überwiegend dem Freien Theater zuzurechnen sind, also in eher fragilen, oft gefährdeten Strukturen arbeiten. Dieses andere Theater ist „den Vaganten des Mittelalters näher als den etablierten Theater-Institutionen (…).

Nicht Subvention und Apparat, sondern allein die Qualität ist die Basis des Überlebens. Und die Festivals, die dem Figurentheater in aller Welt ausgerichtet werden, sind notwendiger Nährboden und Resonanzkörper.“ (Aus dem Vorwort zum Programmheft 1987)

Theatrale Verschiebungen Resonanzkörper einer alten, sich rasant erneuernden Kunst, für die in den 1990er Jahren der Begriff „das andere Theater“ geprägt wurde, zu verstehen als „medienübergreifendes Theater, in dem Grenz- und Spartenüberschreitungen selbstverständlich geworden sind, auch wenn das traditionelle Puppentheater weiterhin seinen festen Platz hat“ (Programmheft 1991). Letzteres scheint eine der Besonderheiten im Genreverständnis des Theaters mit Puppen, Figuren, Objekten, Material – oder, wie es heute auch genannt wird, im Theater animierter Formen zu sein: der immer präsente, nicht selten auch geforderte Rückbezug auf tradierte Formen, dem man im Schauspiel oder Tanztheater so nicht begegnet.

Vielleicht macht es tatsächlich einen Teil seiner Attraktion aus, dieses Oszillieren zwischen altbekanntem Figurenpersonal,

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck vertrauten und manchmal an Kinderzeiten rührenden Theaterritualen auf der einen Seite und äußerst produktivem, lustvollem Überschreiten jeglicher Genregrenzen auf der anderen. Und das sowohl innerhalb einer Inszenierung beziehungsweise Performance als auch in der Programmierung von Festivals. Wobei das figuren.theater.festival eine besonders große Spannweite aufweist.

Da kann sich ein fränkischer HandpuppenFaust neben den symbolhaften Tanz-BildVideo-Rätseln eines Jo Fabian oder den furiosen „para-theatralischen Aktionen“ des Katalanen Joan Baixas ebenso behaupten wie die fragwürdigen (Bühnen-)Orte und genialen (bildnerischen) Täuschungen der belgischen Gruppe Berlin neben Adeline Rüss’ Bauchladentheater der entscheidungsschwachen Eistüten, florschütz & döhnerts elektrischen Schatten oder Annina Mosimanns szenisch-philosophischen Abhandlung über Körperbilder und Hefeteig. Niemals aber fehlt die Irritation, der doppelte Boden des Spiels oder der selbstbestimmte Akt der Zuschauenden, der ja beunruhigende theatrale Verschiebungen zwischen lebendig und nicht-lebendig überhaupt erst möglich und fruchtbar werden lässt. Und diese essenzielle Beunruhigung erscheint in einer Zeit, in der weltweit mit Hochdruck an der Aufhebung der Blutschranke zwischen lebendigen Wesen und 0-1-(bzw. Qubit-)Rechenmaschinen gear­ beitet wird, von nie geahnter Relevanz.

Damit wäre vielleicht auch schon die sich angesichts der noch immer zunehmenden Verflüssigung von Genregrenzen, die sich sehr deutlich im Programm des figuren.theater.festivals abbildet, aufkommende Frage, wozu es dann eigentlich noch Genrefestivals braucht, beantwortet.

Es ist eben keine beliebige Zusammenstellung von irgendwie schlecht einzuordnenden Inszenierungen oder irgendwie gerade hochgejazzten Theatern, der wir in Erlangen, Fürth, Nürnberg und Schwabach begegnen. Eher ist hier der Versuch zu erkennen, in der Zusammenschau von radikal unterschiedlichen ästhetischen, inhaltlichen und dramaturgischen Ansätzen sich immer wieder neu dem Kern des Genres zu nähern. Wobei wahrscheinlich selbst dieser Kern nicht unverändert bleiben kann in einer Welt der hyperschnellen

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Offen! Das internationale figuren.theater.festival Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach herausgegeben von André Studt und Anke Meyer Verlag Theater der Zeit, 176 S., € 15 Erscheint im Mai 2025

Veränderungen, politischen, gesellschaftlichen und nicht weniger einflussreichen der natürlichen Umwelt, Veränderungen, die vor allem auf die Sujets, die inhaltlichen Fragestellungen, aber auch auf das Selbstverständnis der Künstler*innen sowie ästhetische Entscheidungen und Arbeitsweisen einwirken.

Ressourcen Noch einmal zurück zu der alten, zerfledderten, kürzlich in einem Antiquariat entdeckten Ausgabe von Le théâtre dans le Monde, in der noch ein weiterer Punkt zur Sprache kommt: das Theaterfestival als Produktionsort, als Kooperationspartner. Zum einen wird zwar konstatiert, dass die Anzahl der Festivals nach Ende des Zweiten Weltkriegs immens gestiegen sei, zum anderen aber auch, dass diese Festivals wichtige Funktionen erfüllen, darunter die, aufwendige Produktionen zu ermöglichen. So wird vermutet, dass ohne die Gelegenheit und die ökonomischen Ressourcen, die das Festival de Bordeaux ihm bot, Jean Louis Barrault seine bewundernswerte „Orestie“ wohl nicht hätte auf die Bühne bringen können, und „der Welt eine der großartigsten Inszenierungen dieser Zeit entgangen wäre“.2

Auf wie viele großartige Inszenierungen des Theaters mit Puppen, Figuren und Objekten der letzten Jahrzehnte mag diese Äußerung wohl zutreffen! Mir kommt „Manto“ vor Augen, ein fast beängstigend magisches Puppensolo der Numen Compagnie, 2015 u. a. vom figuren. theater.festival koproduziert. Ein Beispiel aus jüngster Zeit wäre die vom figuren. theater.festival 2023 in Auftrag gegebene, so verzweifelte wie kunstvoll vitale Open-Air-Performance „Ikarus“ der aus Sankt Petersburg geflohenen Künstlergruppe AKHE – dazu ist Genaueres in Christine Auernheimers kenntnisreichem Beitrag nachzulesen. Oder „The ceremony of weight“ von Rafi Martin & Julika Mayer, ebenfalls 2023 im Erlanger Programm und koproduziert gemeinsam mit drei weiteren internationalen Festivals.

Die Beteiligung von Festivals als Förderer oder Koproduzent von Inszenierungen ist längst keine Ausnahme mehr, ein im Wortsinne großes, bildstarkes Werk wie „On the Concept of the Face, Regarding the Son of God“ von Romeo Castellucci/Socìetas Raffaello Sanzio wurde gar von einem Dutzend Theaterfestivals koproduziert und unterstützt, gastierte viele Jahre weltweit, 2019 konnte Bodo Birk die Inszenierung endlich auch in Erlangen zeigen und damit einen lange verfolgten Programmwunsch realisieren. Der seit 2003 amtierende Festivalleiter zeichnet in einem eigenen Beitrag im Abschnitt „Fördernd und kritisch begleiten“ nach, wie sich beim Kuratieren der Schwerpunkt vom Präsentieren zum Ermöglichen verlagert hat. T

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„À chacun de nous d‘en tirer profit et particulièrement à tous ceux qui ont quelque chose à dire et qui ne savent comment le dire, à ceux qui hésitent dans le choix de leur engagement, qui se morfondent et se désespèrent. Le merveilleux de l‘aventure, c‘est qu‘elle évite le risque d‘aboutir à une redoutable uniformité; c’est toute la gamme des possibilités qui se trouve offerte, toute la palette des modes et des genres rassemblés dans ce lieu unique, où chacun peut, s‘il le veut, en se jugeant soi même, se controler, se comparer …“ A. M. Julien. Directeur général du Festival d’art dramatique de Paris, A propos d’un théâtre des nations. in: Le théâtre dans le monde. Hiver 1955/56. Revue trimestrielle publiée par l’Institut internationale du théâtre avec le concours de UNESCO, S. 17.

2

Ebd., S. 70.

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Stiller Abbau?

Dem nationalen Kunst- und Theater­ institut Tschechiens droht eine zweifelhafte Umstrukturierung Von Lara Wenzel

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Von der Organisation der Prager Quadrenniale, dem größten Festival für Szenografie weltweit, über die Professionalisierung der tschechischen Kunstszene bis zur Archivierung des nationalen Theaters – das Kunstund Theaterinstitut (IDU) vereint unzählige Aufgaben. Von außen ist es schwer, den Umfang und die Bedeutung dieser Institution für das tschechische Theater zu erfassen.

Ein Äquivalent in Deutschland gibt es dazu nicht. Dass das tschechische Ministerium für Kultur plötzlich ankündigte, das IDU mit dem Nationalen Informations- und Beratungszentrum für Kultur (NIPOS) zu fusionieren, erregte nationalen und internationalen Protest. Im Jahr 2007 hatte der damalige Kulturminister Václav Jehlička einen ähnlichen Plan angebracht, um Einsparungen in den beiden dem Ministerium unterstellten Institutionen zu erwirken. Was damals abgewendet wurde, scheint heute mit größerem Nachdruck vorangetrieben zu werden. Auch bei Ondřej Svoboda, dem stellvertretenden Leiter des Theater Instituts, traf diese Ankündigung auf Unverständnis: „Beide Institutionen erfüllen eine wichtige Aufgabe, aber sie richten sich an verschiedene Zielgruppen. Das IDU fokussiert sich auf die Förderung der professionellen Kunstszene und übernimmt im Bereich Theater auch die Dokumentation, Sammlung und Forschung,

während sich NIPOS der Förderung von regionaler, nicht-professioneller Kultur widmet. Uns ist nicht klar, welche Vorteile es bringen soll, wenn diese Institutionen in kurzer Zeit zusammengeführt werden und wir wurden auch nicht in diese Entscheidung miteinbezogen“, erklärt Svoboda.

Derzeit arbeitet das Theaterinstitut an der Digitalisierung ihres Archivs, indem sie die Geschichte und Gegenwart der immateriellen Kunstform aufbewahren. Jetzt herrscht Unsicherheit, ob dieses wichtige Projekt, das die Forschung am Material erheblich vereinfachen würde, fortgesetzt werden kann. Zwar kam die Zusicherung vom Ministerium, dass während der Fusion alle Stellen erhalten bleiben würden und dass sie zum Ziel hätte, Arbeitsabläufe zu vereinfachen, an einen reibungslosen Übergang glaubt man im IDU jedoch nicht. Besonders kurzfristig und prekär beschäftigte Mitarbeiter:innen, die ihre Expertise in der Beratung und Förderung von Künstler:innen einbringen, bangen um ihre Verlängerung.

In einer Petition ruft deshalb Theaterwissenschaftler Pavel Drábek, Professor an der Universität Hull und dem Institut in langjähriger Zusammenarbeit verbunden, dazu auf, die undurchsichtige und überstürzte Fusion aufzuschieben. Unter den über 1000 Unterzeichner:innen sind zahlreiche internationale Kooperationspartner:innen, die mit dem IDU seit Jahren forschen und sich künstlerisch austauschen.

Gefährdete Internationalisierung Die Förderung weltweiter Vernetzung macht Events wie das Welttheater-Festival in Brno erst möglich. Für die Leitende Dramaturgin Barbara Gregorová ist das IDU „ein wichtiger Partner bei der Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit“. Aus ihrem Arbeitsalltag wären die Services des Instituts nicht wegzudenken: „Ich und meine Kollegen vom Dramaturgieausschuss nutzen die Unterstützung immer wieder für Auslandsreisen, Festivals, die Gewinnung von Partnern für internationale Koproduktionsprojekte und nicht zuletzt für die Vernetzung mit Fachleuten aus aller Welt.“ Aber auch als Dramaturgin am Nationaltheater Brno durchsucht Gregorová regelmäßig die Datenbanken der Forschungseinrichtung, um neue Produk­ tionen zu entwickeln. Deshalb unterstützt sie uneingeschränkt die Petition. Bei einer un-

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Foto By Jakub Hałun - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92312339

Magazin Bericht

Magazin Bericht Welche konkreten Ziele das Kulturministerium verfolgt und wie eine Fusion in der Praxis aussehen soll, bleibt intransparent.

2025 zufolge liegt die rechtspopulistische Partei ANO mit 34,4 Prozent momentan 16,3 Prozentpunkte vor SPOLU. Während der Wahl würden sich IDU und NIPOS nach aktuellen Plänen mitten in einem Umstrukturierungsprozess befinden. 2018 stand bereits das in ähnlicher Funktion arbeitende Theaterinstitut in Polen unter politischem Druck. Unter der PiS-Regierung hatte das Ministerium für Kultur und nationales Erbe überraschend angekündigt, den Vertrag der damaligen Direktorin Dorota Buchwald nicht zu verlängern, obwohl sie großes Ansehen in der Theaterszene genoss. Nach einem zähen Entscheidungsprozess wurde daraufhin kommissarisch Elżbieta Wrotnowska-Gmyz eingesetzt, die bei den Kommunalwahlen auf der PiS-Liste kandidierte.

Unter der seit 2024 amtierenden Leiterin Justyna Czarnota-Misztal solidarisiert sich das polnische Theaterinstitut heute mit seinem tschechischen Partner und adressierte den tschechischen Kulturminister Martin Baxa in einem Brief: „Die Leistungen der IDU bei der Bewahrung des Erbes der viel-

durchdachten Fusion laufe das IDU Gefahr, „seine langfristigen Beziehungen und die kontinuierliche internationale Zusammenarbeit abzubrechen, welche ich gerade in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation für sehr wichtig halte“, erklärt die Dramaturgin.

Auf die unsichere politische Situation macht auch Svoboda aufmerksam. Nach der letzten Parlamentswahl 2021 bildete sich eine Koalition aus dem Mitte-rechtsBündnis SPOLU und dem Mitte-links-Bündnis. Ob dieses Bündnis wieder möglich sein wird, ist angesichts aktueller Prognosen fraglich. Der STEM-Umfrage vom 14. Januar

fältigsten aller Künste, des Theaters, sind bewundernswert“, verteidigte sie die bestehende Institution.

Weniger internationale Solidarität erhält die Institution NIPOS, weil sie vor allem auf lokaler Ebene wirkt, doch auch für sie bedeutet die Fusion Ungewissheit für ihre zahlreichen Aktivitäten im Bereich Statistik und Laienkunst. Lenka Havlíková, die als Dramaturgin und Mitgründerin des Freien Theaters X10 sowohl die Daten­ banken der IDU als auch die statistischen Angebote von NIPOS nutzt, betont, dass eine Verbindung beider auch gute Seiten haben könnte: „Die Fusion von NIPOS und IDU kann mehr Dynamik und Verbesserungen für den Freien Sektor bringen, insbeson­ dere bei der Datenverarbeitung.

Es bleibt jedoch die Frage, ob die Idee in relativ kurzer Zeit gut umsetzbar ist.“ Welche konkreten Ziele das Kulturministerium mit dem Prozess verfolgt und wie eine Fusion in der Praxis aussehen soll, bleibt intransparent. Bis dahin strömen weitere Solidaritäts­bekundungen zum IDU. T

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nternationale

01 — 31 05 2025

Staatstheater: Wiesbaden:

Schauspiel

Schauspiel The Shadow The Schauspiel Schauspiel whose Prey Visitors Blutstück Futur4 the Hunter Tanz becomes Schauspiel Schauspiel Achilles Schauspiel The Hamlet Schauspiel ein Stück Silence mit Ferse Parallax Rimini Protokoll

Constanza Macras / Dorky Park

Leonie Böhm

Back to Back Theatre

Karin Henkel

Falk Richter

Kornél Mundruczó

Antú Romero Nunes

Magazin Bücher

Der Preis der Freiheit Édouard Louis’ zweites Buch über die Emanzipation seiner Mutter Von Lara Wenzel

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Mit 500 Pfund im Jahr und einem Zimmer für sich allein bezifferte Virginia Woolf die Bedingungen, um als Autorin große Literatur zu produzieren. Die Freiheit zu schreiben war für sie an eine Zahl geknüpft, die es ihr erlaubte, sich von den Erwartungen und Pflichten an eine Frau zu lösen. Doch woher kommt das Geld, wenn man nicht bereits dem Bürgertum angehört? Für Édouard Louis ist das eine einfache Rechnung: „Kein Leid in meiner Kindheit = keine Bücher = kein Geld = keine Freiheit“, folgert er in seinem aktuellen autobiografischen Bericht. „Ich könnte sagen, dass Freiheit und Leid zwei Seiten derselben Medaille sind, zwei Sätze derselben Symphonie. Schließlich könnte ich sagen, dass ich keine Freiheit kenne, die nicht gleichzeitig ein Ausbruch ist, eine Befreiung von Gewalt und damit in gewisser Weise eine Folge von ihr.“ Indem er das Erwachsenwerden unter Arbeiter:innen, die Gewalt der Eltern und seine Klassenscham in Büchern wie „Das Ende von Eddy“, „Die Freiheit einer Frau“ und „Wer hat meinen Vater umgebracht“ durcharbeitete, schaffte er nicht nur für sich Unabhängigkeit. In „Monique bricht aus“, seinem zweiten Buch über die Emanzipation seiner Mutter, beziffert er, wie viel ihre Befreiung aus einer gewaltsamen Beziehung kostete.

Der kurze, essayistische Text beschreibt einerseits die Logistik der Befreiung Moniques – Taxi rufen, Essen bestellen, eine neue Wohnung mieten –, die Louis von Athen aus für die Mutter in Paris übernimmt, andererseits dreht er sich um die Gleichung zwischen Geld und Leid. Er hat die Gewalt und die sozialen Umstände, in denen er sie erfuhr, öffentlich gemacht. Damit überschritt er nicht nur das Schweigen aus Klassenscham, er griff auch das heilige Gebot der Familie an. Obwohl gerade für Kinder und Frauen die nächsten Angehörigen statistisch gesehen am häufigsten zu Tätern werden, gilt dieser private Ort als friedlich und harmonisch. Sollte mal etwas „vorfallen“, gilt die Regel, dass dreckige Wäsche zu Hause gewaschen wird. Diese Erwartung bringt Überlebende von Gewalt zum Verstummen.

Dass sich Louis dennoch äußerte, führte zum Bruch mit der Schwester, obwohl sie dieselbe Gewalt erlebt hatte. Eines Tages tauchte seine Mutter bei einer Lesung des ersten Buches auf und meldete sich vor den Journalisten. Louis verließ den Saal, schloss aber später: „Ich bereue nichts, denn meine Mutter war nur deshalb verletzt, weil ich meine eigene Verletzung zum Ausdruck

gebracht hatte.“ Jetzt ist es die Mutter, die ein Auftragswerk über ihren erneuten Ausbruch aus einer missbräuchlichen Beziehung vom Sohn fordert. Nach der Trennung von Louis’ Vater zog sie bei einem Mann in Paris ein, der sich abermals als Säufer und Schläger herausstellte. Schließlich wollte sie sich endgültig befreien, zum ersten Mal mit 55 allein leben und nur für sich sorgen. Sobald sie in Louis’ Wohnung angekommen ist, verändert sich seine Mutter. Sie ist fröhlich, möchte Neues ausprobieren und lernt sogar, einen Computer zu bedienen. Louis ist geschockt über die Erfahrungen, die sie noch nicht gemacht hat: „Mit über fünfzig Jahren hatte sie manches Essen noch nie probiert, manche Gewürze noch nie geschmeckt, eine Art kulinarische und geschmackliche Entrechtung.“ Während sich der Autor den weltgewandten Geschmack einer anderen Klasse bereits einverleibt hatte, führt die Mutter noch „Krieg gegen eine ganze Armee von Noch-Nie“.

Jede Undenkbarkeit, die sich Monique aneignet, wird zur Rache gegen ihre Männer und die Verhältnisse, die sie festhielten. Den emotionalen Höhepunkt bildet der Besuch einer Inszenierung von „Die Freiheit einer Frau“ in Hamburg. Auf ihrer ersten Auslandsreise besucht sie eine Aufführung von Regisseur Falk Richter, die von ihrer eigenen Emanzipation als mutige und inspirierende Geschichte erzählt. Als sie unter Applaus auf die Bühne tritt, skandiert das Publikum ihren Namen. In diesem Moment kulminiert ihr Triumph über die Wahrscheinlichkeiten. Unabhängigkeit wurde ihr nicht als angeborenes Recht mitgegeben, sie musste dem Leben die Möglichkeiten abtrotzen. Jetzt wurde sie für diese unzähligen Kämpfe im bürgerlichen Theater gefeiert – als Frau ihrer Klasse. T Édouard Louis: Monique bricht aus S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 160 S., € 22 Anzeige

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Theater der Zeit 4 / 2025

Magazin Bücher

Die ganze fucking Zeit Helene Hegemanns neuer Roman „Striker“ erzählt von einer verschlungenen Gegenwart in Angst Von Nathalie Eckstein

Theater der Zeit 4 / 2025

N ist Boxerin, nicht aus Talent, sondern aus Angst. Ihr Leben, in dem sie sich auf einen Kampf vorbereitet, besteht aus „einer Aneinanderreihung von Vorbereitungen darauf, sich das nächste Mal die Fresse einschlagen zu lassen“. Überhaupt ist das Berlin, in dem sie lebt, eines, das von Angst geradezu durchsetzt ist. Es ist nicht die Angst, selbst getötet zu werden, sondern die Angst, zu töten, die Helene Hegemann in ihrem neuen Roman fasziniert. Es ist Angst, die ganze fucking time. Und der Kampfsport eine Welt, die sich um Macht, Unterwerfung und Kontrolle dreht. Des anderen und von N selbst.

Das Berlin, durch das sich die Protagonistin N bewegt, ist unwirtlich und dreckig. Meistens ist sie allein. „Striker“ lanciert als postmoderner Großstadtroman, in dem Hochglanzkapitalismus und größte Nöte kollidieren. Es ist eine Stadt, in der Taylor Swift, Veganismus und Kriminalität ineinandergreifen, denn „es ist schwer, die Rich Kids von den Obdachlosen zu unterscheiden, weil Mode nicht mehr ohne diese verwitterte, gewalttätige Aura auskommt, für die Balenciaga gerne mal 1.500 Euro pro T-Shirt kassiert“.

Da sind die Obdachlosen am Kanalufer, „die Junkies und die Schizophrenen, ihre Kämpfe, ihre arteriellen Verschlusskrankheiten und Geschwüre, die Scheiße an ihren Ärmeln, weil sie sich damit den Arsch abwischen, Gewebe, dem man beim Absterben zugucken kann“, die Menschen, denen sich N näher fühlt als ihrem Trainer Jürgen – eine Art Greifswalder Samurai –, und ihrer Affäre, eine Politikerin im Verteidigungsausschuss – just Berlin things. Eine Welt in einer Stadt, in der die Menschen, die sie bevölkern, eine „Existenz allesamt unter einem Fallbeil führen, als könnten sie jederzeit geköpft werden“.

Eines Tages sind an der Brandmauer vor Ns Fenster Zeichen zu sehen. Rätselhafte Semantik, schwebend. Gleichzeitig taucht im Hausflur eine Frau auf, Ivy. Sie ziehe mit ihrem Partner, mit dem sie telepathisch verbunden sei, in der Nachbarwohnung ein. Ihr Realitätsstatus ist für N anfangs so unklar wie jener der Zeichen, die sie in der Stadt sieht. Nach und nach wird Ivy jedoch von einer Art internen Bedrohung zu einer Romanfigur, anhand derer Ns eigene Sorgen um sozialen Abstieg ausagiert werden. Überhaupt, die verschlungene Gegenwart und die Angst, die sie auslöst, wo Gefühle zu Fakten und Fakten zu Einbildung werden können, kann auch der Nährboden für Verschwörungstheorien werden, die die

junge Frau verbreitet. Urheber dieser Überzeugungen scheint ein Mann namens Striker zu sein, ein Sprayer, in dessen Szene es „manchen um nichts anderes gehe, als sich selbst zu spüren, in irgendeiner illegalen, suizidalen Extremsituation“. Wie beim Kampfsport, wie in der Angstbewältigung.

Das bei Helene Hegemann obligatorisch gewordene Quellenverzeichnis verweist auf die „Spiritual Letters“ von Mr Paradox Paradise, die das reale Berlin markieren und auch tatsächlich zeichnen.

Helene Hegemann erzählt mit gewohnter Wucht und Eindringlichkeit von der Welt, in der wir leben, und von deren Gleichzeitigkeiten und Ungerechtigkeiten. Sie erzählt von der Gegenwart, oder, wie sie schreibt, von der „komplizierten Verflochtenheit […], die eine echte Auseinandersetzung mit dem bedeutet, was Gegenwart heißt“. Es ist keine zynische Erzählhaltung, obwohl man die vermuten könnte angesichts der im Text aufgezählten Schrecken, es ist eine Erzählhaltung der Traumaresponse, der Hyperwahrnehmung von Zeichen und der Bewältigung der Todesangst. Der Erzählhaltung liegt eine rohe, ungeschützte Weltwahrnehmung zugrunde, eine „Generalisierte Zittrigkeit“ der Protagonistin, die sie schwanken lässt zwischen „Absurdität und Ernst, Gefahr und Sicherheit, Tod und Leben“. Und die die Wahrnehmung eines nihilistischen Abgrunds in den Augen von Ns Umfeld ermöglicht – ein Nichts, angesichts der Schrecken der Welt, in der wir leben –, die die Angst gleichsam begründet und perhorresziert. So verzweifelt die Politikerin nicht am Zustand von Geiseln, deren Freilassung aus einer nicht näher definierten Gefangenschaft sie verhandelt, sondern am Transport eines Esstischs über Ebay-Kleinanzeigen.

Eine Gegenwartsdiagnose der Angst und der permanenten Überforderung angesichts unvorstellbarer Gefahren: „Das Absurde befreit nicht, es bindet“ laut Camus. T Helene Hegemann: Striker Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 192 S., € 23

Weitere Besprechungen finden Sie unter tdz.de/buchrezensionen

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Magazin Kolumne

Wir gehen rein Von Lina Wölfel

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Donnerstag, 23. Januar 2025, 22:30 Uhr. Auf meinem Handy ploppt eine Benachrichtigung in einem Theater-Chat auf: „Hallo, liebe Leute in diesem Chat! Irgendjemand wird es sicher wissen: Von wem ist dieses ganz merkwürdige Cover von ‚Wicked Game‘ von einer weiblichen Stimme gesungen? Also so wütend auf einmal und nicht so ‚schön‘ gesungen?“ Ich denke mir: Du meinst „I am a victim of this song“ von Pippilotti Rist und Anders Guggisberg. Warum? Hat’s den Song nicht seit den Neunzigern in genug Performances gegeben? Was hat es mit diesem Song auf sich, dass er so eine Anziehungskraft auf Theatermacher:innen hat?

Montag, 24. Februar 2025, 10:20 Uhr. Ich redigiere den Text einer Kollegin. Im letzten Absatz zu Lena Braschs „Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“ im Gorki Theater heißt es: „Am Ende des Abends lauscht das Publikum einem Cover von Chris Isaaks ‚Wicked Game‘, das die Schauspielerin wütend überschreit.

No, I don’t wanna fall in love, brüllt sie das Lied an.“ Ich denke mir: again. Da gehen wir jetzt rein.

„Wir gehen rein“ – An dieser Stelle greift TdZ-Redakteurin Lina Wölfel Phänomene der ­ Theaterwelt auf.

Theater der Zeit 4 / 2025

Foto Ute Langkafel MAIFOTO

„Brasch – Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“ mit Texten von Thomas Brasch. Regie Lena Brasch am Maxim-Gorki-Theater

„I am a victim of this song“ von Pippilotti Rist ist 1995 als Musikvideo erschienen.

Darin überschreibt sie Chris Isaaks „Wicked Game“. Fügt dem melodisch-melancholischen Sujet der Originalmusik eine schreiende weibliche Stimme hinzu.

In Theatertexten seit der Antike, psychoanalytischen Theorien und medizinischen Abhandlungen wurden laute, wütende, weiblich gelesene Körper oft als hysterisch beschrieben. Immer aus einem male gaze heraus galt Hysterie als Zeichen für ein Ungleichgewicht der Säfte – durch die Regelblutung –, die Bewegung der Gebärmutter – sich danach sehnend, ein Kind zu gebären –, als teuflische Besessenheit oder Ausdruck unterdrückter Wünsche – besonders sexueller Art. Beim Nachdenken über das Lied bin ich auf Platons chora gestoßen. Die chora wird als präödipales Stadium der Psyche beschrieben, das nicht-hierarchisch ist und dadurch das Potenzial besitzt, bestehende Ordnungen zu stören. In diesem Sinne tritt das Schreien in „I am a victim of this song“ als Ort des Abjekts hervor. Ein Ort, der sich außerhalb patriarchaler Ordnungen befinden und ein emanzipatorisches Moment hervorrufen kann. Es ist ein kathartischer Ausbruch aus etablierten Vorstellungen und Projektionen von Weiblichkeit. Das Schreien fungiert als kulturelles Phänomen, das die neue Wirklichkeit des female gaze hervorbringt und sich in seiner Zeichenhaftigkeit vom ausführenden Subjekt löst. Damit ist es ultimativ performativ, stellt den Prozess über das Produkt – es geht nicht ­darum, dass dieses Lied andere gesungen haben, sondern es zu singen, nicht darum, ihm zugehört zu haben, sondern es zu ­hören.

Das Lied fasziniert, weil das performative Befreiungsmoment so körperlich spürbar erfahrbar wird. Und schon denke ich mir: Ich würde das auch gerne mal auf der Bühne schreien. T

Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Autorinnen / Autoren 4 / 2025 Anna Bertram, Dramaturgin, Zürich Łukasz Drewniak, Kritiker, Warschau Christian Fuchs, Filmkritiker, Wien

Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing, Stefan Keim, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Manuel Harder, Schauspieler, Berlin Tomáš Kubart, Tanzkritiker, Prag Thomas Oberender, Kurator und Essayist, Berlin Sophie Schiel, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Vibeke Tandberg, Schriftstellerin, Oslo Annemie Vanackere, Theaterleiterin, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand.

Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin

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80. Jahrgang. Heft Nr. 4, April 2025. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 07.03.2025 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit X.com/theaterderzeit tdz.de

Vorschau 5 / 2025

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Mai 2025 Die Theater entwickeln ihre digitalen Anwendungen ständig weiter.

Nicht nur mit praktischen Übersetzungs-Apps und Bestellsystemen samt Programmheft-Downloads und QR-Code-Rundumbegleitung des Publikums. Auch im künstlerischen Bereich gibt es Updates mit Perspektiven, für die heute Digitaldramaturg:innen antreten. Wie die Digitalisierung die Ausbildung aller Theaterberufe verändert und was

Theater der Zeit 4 / 2025

die Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität in ihrem ersten Studiengang dafür aufstellt – dazu ein Schwerpunkt.

Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, die Theater waren eine Spielzeit lang auf Goebbels’ Befehl für den totalen Kriegseinsatz aller Kulturschaffenden geschlossen gewesen. Wie 1945 alles wieder anfing, eine Erinnerung mit Daten, Orten und ersten Aufführungen.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Michael Helbing

Jörg Hartmann aus Herdecke, geboren 1969, begann seine Schauspielkarriere 1994 in Meiningen und landete, nach Mannheim, 1999 unverhofft dort, wohin er längst gewollt hatte: an der Schaubühne Berlin. Deren Ensemble gehört er, nach längerer und kürzerer Unterbrechung, noch heute (wieder) an. Prominent machte ihn „Tatort“-Kommissar Peter Faber. Letzteren spielte er zehn Jahre lang an der Seite von Anna Schudt.

Ihr begegnet er jetzt an der Schaubühne neu. 2024 erschien bei Rowohlt Berlin sein autobiografisch-literarisches Buch „Der Lärm der Welt“, veranlasst durch die Demenz und den Tod des Vaters.

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Herr Hartmann, seit Ihrem Buch wissen wir: Sie sind schuld am bevorstehenden Weltuntergang.

JÖRG HARTMANN: (lacht) Ja, weil ich Schauspieler geworden bin und nicht der Ökologe, der ich einst ernsthaft werden wollte, um die Welt zu retten. Aber Trump hätte ich so wahrscheinlich auch nicht verhindern können.

Nun machen Sie sich indes Gedanken um den ökologischen Fußabdruck der Schaubühne.

JH: Darüber hätte ich wohl nie nachgedacht, wenn wir nicht immer mit solchen Riesenkisten durch die Welt geflogen wären. Andererseits haben wir so deutsche Theaterkultur im Ausland präsentiert. Thomas Ostermeier und die Schaubühne sind in vielen Ländern absolute Stars. Und ohne solche Gastspiele wäre dieses Privattheater finanziell kaum zu stemmen. Als ich zuletzt mit in Paris war, sind wir aber Zug gefahren.

Sie geben zwei Stimmen in der Brust Raum.

Eine hadert und sagt: „Niemand braucht das Theater, wenn die Welt dabei ist, sich abzuschaffen.“ Die andere meint: „Jegliche Kunst ist unsere Rettung.“ Warum blicken Sie kritischer aufs Theater als auf Film und Fernsehen?

JH: Theater ist mein Fundament. Da komme ich her, das hat mich geprägt. Letztlich gibt es bei beidem ähnliche Krisen oder Zweifel. Mit Fernsehen erreicht man eben nur mehr Leute. Neulich habe ich mit Anna Schudt mal ausgerechnet: Wenn wir mit „changes“ von Maja Zade, worin wir beide seit Ende November insgesamt 23 Rollen spielen, so viele Zuschauer erreichen wollten wie mit einem „Tatort“, müssten wir jetzt jeden Tag damit auftreten – bis wir 86 sind.

Anna Schudt ist dafür nach 23 Jahren ins Ensemble der Schaubühne zurückgekehrt, Sie, nach einem Jahr Pause, auch wieder mal. Sie haben zweimal gekündigt und sind zweimal wiedergekommen.

JH: Tja, die Schaubühne und ich, das ist eine echte On-Off-Beziehung. Beim ersten Mal, 2009, ging ich, weil ich Frau und Tochter kaum noch sah. Das hat mich ­regelrecht zerrissen, noch dazu als Vater eines Kindes mit Mukoviszidose. Es gab Momente, in ­denen es um Leben und Tod ging,

ich als Theatersoldat aber nicht da gewesen bin. Zudem dachte ich: Wenn ich jetzt nicht – ich ging auf die 40 zu – den Sprung zum Film schaffe, wird’s nichts mehr. 2016 rief ­Thomas Ostermeier an und fragte, ob ich nicht zurück ins Ensemble möchte. Er hätte da ein Stück für mich: „Professor Bernhardi“.

Sieben Jahre danach wollten Sie wieder frei sein?

JH: Das hatte viel mit dem Schreiben zu tun und der Lesetour, die ich anschließend machen wollte. Ich war aber nie ganz weg, sondern Gast. Es gab seit 1999 kein Jahr, in dem ich dort nicht gespielt hätte. „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler läuft immer noch beziehungsweise immer wieder?

JH: Jetzt läuft er wieder regelmäßig und ist nach über acht Jahren immer noch ausverkauft. Der Abend hat an Relevanz so gar nichts verloren. Der Ton, den wir damals versuchten einzufangen, hatte was Aktuelles: dieses Erstaunen darüber, was gerade in der Welt passiert. Das hat sich inzwischen sogar noch verstärkt. Das ist ein so unglaublich kluges Stück und ein echter Sprachthriller!

Aus Ihrem Buch spricht eine gewisse Hassliebe zum Theater. Und in der Coronazeit spürten Sie jedenfalls, dass Ihnen „das ­Theater nicht fehlte“…

JH: Das war im ersten Lockdown, als ich anfing zu schreiben. Dabei habe ich eine große Freiheit empfunden: mein eigener Herr zu sein, nicht nur Interpret. In jenem Moment vermisste ich das Theater nicht.

Als ich wieder gespielt habe und die Kollegen wieder hatte – sie sind ja doch auch eine „Familie“ –, war das aber sehr schön.

Es sind ja mehr die Fesseln des Betriebs als das Spielen selbst, die mich zweifeln lassen, sobald diese Kralle des Theaters mich packen und einschnüren will. Obwohl ich neulich auch mal im Spiel eine kleine Krise hatte und dachte: Warum gehe ich da raus und setze mich ständig diesen Bewertungen aus? Gott sei Dank war das am Tag darauf schon wieder verflogen. T

Theater der Zeit 4 / 2025

Foto By Ulli Weber - Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29726544

Was macht das Theater, Jörg Hartmann ?

Mit Laurie Anderson, Kurdwin Ayub , Mario Banushi, Carolina Bianchi Y Ca ra de Cavalo, Séverine Chavrier, Chokri Ben Chikh a& Action Zoo Humain, Julian Hetzel, Srećko Horvat, Lisaboa Houbrechts, Satoko Ichihara, Lagartijas tiradas al sol, Moved by the Motion / Wu Tsang, Mariano Pensotti, Nat Randall & Anna Breckon, Milo Rau, Lia Rodrigues, Tiago Rodri gues, Christopher Rüping, SIGNA, Itay Tiran, Benjamin Verdonck & Jet se Batelaan, Thomas Verstraeten, Miet Warlop, Lea Ypi und vielen mehr!

Gestaltung: SIRENE Studio / © Anna Breit

! e r V o o s Vi f l

42. Heidelberger Stückemarkt 25.4.— 4.5.2025

Das Theater Festival Gastland China