Lektionen 8: Neue Dramatik

8

Lektionen

Neue Dramatik

Hannah von Sass (Hg.) | Stoffe finden | Texte formen | Alltagserfahrungen übersetzen | Sprach-Codes | Szenische Performanz | Dramatik im Schulunterricht | Ausbildungsstätten

Mit Beiträgen von Adrienn Bazsó | Anton Bröll | Paul ­Brodowsky | Edith Draxl | Anne Fleig | Pola Groß | Tina Hartmann | Fabian Hinrichs | Maria Kuberg | Felix Lempp Ilja Mirsky | Ramona Mosse | Clemens Özelt | Artur Pełka Kathrin Röggla | Hannah von Sass | Martin Jörg Schäfer Martin Schneider | Nele Stuhler | Irina Sulaver | Giulia Weis

Lektionen 8

Neue Dramatik

Lektionen

8

Neue Dramatik Hannah von Sass (Hg.)

Theater der Zeit

Unser Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die großzügige Förderung der vorangegangenen dreijährigen Netzwerkarbeit und Finanzierung dieser Publikation sowie Giulia Weis für die Mitarbeit an der Herausgabe des Sammelbandes.

Lektionen 8 Neue Dramatik Herausgegeben von Hannah von Sass © Theater der Zeit, 2025 Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Verlag Theater der Zeit Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de | info@tdz.de Gestaltung: Gudrun Hommers Korrektur: Sophie-Margarete Schuster Printed in Germany ISBN 978-3-95749-581-5 (Paperback) ISBN 978-3-95749-582-2 (ePDF)

Weitere Texte und Publikationen zum Thema finden Sie unter tdz.de/dramatik

5

INHALTSVERZEICHNIS

7

Einleitung Anne Fleig / Hannah von Sass

18

Anfangen Clemens Özelt

30

Finden Edith Draxl

40

Vertonen Martin Schneider

48

Veropern Tina Hartmann

55

(Zu)Hören Artur Pełka

64

Betrachten Hannah von Sass

74

Deuten Maria Kuberg

83

Übersetzen Kathrin Röggla

90

Pausieren

96

Lachen Fabian Hinrichs

111 Sprechen Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis 121 Verkörpern Paul Brodowsky 130 Erkennen Ramona Mosse 140 Visualisieren Martin Jörg Schäfer 149 Wertschätzen Anton Bröll 157 Kritisieren Ilja Mirsky 165 Vermitteln Felix Lempp 175 Schlussmachen Pola Groß

185 Textverzeichnis 191 Kurzbiografien

7

WER LIEST NOCH DRAMEN? ODER: PLÄDOYER FÜR DIE PAUSE Herausforderungen der Gegenwartsdramatik Ein Gespräch zwischen Anne Fleig und Hannah von Sass

HANNAH VON SASS: Wenn man sich mit Gegenwartsdramatik befasst, kommt schnell die Frage auf, was Gegenwart eigentlich ist. Es gibt verschiedene Ansätze, dies zu beantworten, etwa eine historische Setzung. Oder man konzentriert sich auf Theatertexte von lebenden Autor:innen. Im Netzwerk Untersuchungen zur Gegenwartsdramatik haben wir uns gefragt, welche Herausforderungen sich uns aus Forscher:innenperspektive gegenwärtig stellen, wenn wir uns mit jüngeren Theatertexten auseinandersetzen. In diesem Band versuchen wir, die Herausforderungen zu benennen und verschiedene Zugänge zum Theatertext zu erfassen. Daraus ergibt sich eine Suchbewegung, die durchaus auch Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten mit sich bringt. So beschäftigt uns etwa die Frage, wie man sich der erneuten Hinwendung zum Figürlichen, zum Chorischen, zur Kollektivität annähern kann. Mit anderen Worten: Was kommt nach der Postdramatik, sofern man diese überhaupt als gegeben hinnimmt? Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, welches Vokabular uns überhaupt zur Verfügung steht? Fehlen uns vielleicht Begriffe oder auch Methoden zur Untersuchung von Gegenwarts­dramatik? Welche Inhalte, welche formalen Tendenzen gibt es und welche konkreten Optionen haben wir in der theoretischen Annäherung an diese oft auch rätselhaften Texte? Und schließlich: Was heißt es überhaupt, einen Theatertext zu lesen? Wo findet man neue dramatische Literatur eigentlich? Wie geht man mit der Differenz von Text und Inszenierung um? Mit Fragen der Identität, der Repräsentation?

ANNE FLEIG: Ja, viele Fragen! Danke für diesen anregenden Aufschlag.

Auch aus meiner Sicht ist es müßig, sich zunächst mit einer Definition von Gegenwart zu beschäftigen. Das Interesse an unserem Thema erwächst aus der Spannung im Begriff Gegenwartsdramatik. Wir haben aktuell das starke

8

Anne Fleig / Hannah von Sass

Gefühl, dass wir es mit gravierenden, politischen Zäsuren zu tun haben und entwickeln deswegen besonderes Interesse an Dramatik und Theater als einer Form, die sehr schnell auf Herausforderungen reagieren kann. ­Herausforderungen, die in der Zeit liegen, in den vielen Krisen und Kata­ strophen, mit denen wir umgehen müssen, aber auch Herausforderungen, die speziell mit der Form zu tun haben, auch mit dem Wandel von Öffentlichkeiten, die unmittelbar mit Drama und Theater verbunden sind, auf den diese aber auch reagieren.

HvS: Hierauf antwortet die Dramatik in spezifischer Weise: Dabei spielen die Schnelligkeit, mit der Theatertexte zum Teil entstehen, aber auch die Publikationsformate eine Rolle; oft wird ja nur in PDF-Form publiziert. Das alles zeugt von Flüchtigkeit. Was Theatertexte aber auch auf ganz eigene Weise thematisieren, ist die Frage, wer oder was im wahrsten Sinne des Wortes eine Bühne erhält. Welche Personen z. B. werden sichtbar auf einer Bühne? Es gibt diese Differenz zwischen dem, was gesagt wird und der Identität der sprechenden Schauspieler:innen. Das sind Themen, die extrem prominent sind im öffentlichen Diskurs. Theater wird auch daher wieder in verstärkter Weise als öffentlicher und politischer Raum beschrieben.

AF: Hier nehme ich eine große Widersprüchlichkeit wahr. Gibt es jetzt mehr Figuren und mehr figürliches Sprechen oder gibt es eher weniger Sprechen? Und wer spricht da eigentlich? Sprechen Figuren als Subjekte, die handlungsmächtig sind, oder sprechen sie eher als Diskursfiguren? Wenn wir Figur sagen, was stellen wir uns eigentlich vor? Sind das Charaktere, die in gewisser Weise realistisch oder psychologisch plausibel sind, sodass ich mir vorstellen kann, das könnte meine Schwester sein oder meine Nach­ barin? Oder sind das Positionen, die für etwas stehen, die vielleicht einfach stellvertretend sind? Das ist wirklich eine Frage der Repräsentation. Und diese kommt mir im Moment eher unentschieden vor.

HvS: Ja, das würde ich ähnlich beschreiben. Im Rahmen der Mülheimer Theatertage 2024 wurde auf Nachtkritik versucht, Tendenzen aktueller Theatertexte einzugrenzen. Und ich hatte den Eindruck, der Artikel be-

Einleitung

9

schreibt postdramatische Positionen und Formate, die jedoch bereits wieder zehn, fünfzehn Jahre alt sind. Einerseits finden sich Theatertexte, in denen keine psychologischen Figuren, sondern Haltungen und Positionen über Textträger markiert werden. Und andererseits gibt es eine Hinwendung zu Geschichten mit konkreten Handlungen, die erzählt werden. Diese beiden Tendenzen werden auch gerne kombiniert. Es gibt mittlerweile postpostdramatische Texte, wie Rainald Goetz vor Kurzem (womöglich in ­Anlehnung an eine Formulierung von Wolfram Lotz) in einem Gespräch anmerkte. Hier zeigt sich der Versuch, die verschiedenen Formen zusammenzubringen: eine psychologische Figurenführung mit postdramatischen Positionen. Das heißt, man hat eine große Formenvielfalt, die vielleicht auch absichtlich unentschlossen bleibt.

AF: Diese Vielfalt spricht mit Sicherheit auf ganz unterschiedliche Weise Öffentlichkeit an. Für mich ist das tatsächlich eine zentrale Frage: Geht es darum, dass ich als Zuschauerin konkret angesprochen werde? Dass ich gemeint bin und herausgefordert werde? Und wie wird auf diese Weise das Moment der Präsenz im Theater genutzt? Oder werde ich eher – zugespitzt formuliert – mit einem gesprochenen Zeitungskommentar oder wissenschaftlichen Text konfrontiert, der mich zwar zur Reflexion einlädt, aber letztlich keine weitere Reaktion hervorruft? Was ist das für ein Sprechen?

Wird damit das Medium der Rede, die sich als Handlung auf der Bühne zeigt, um an eine klassische Dramendefinition zu erinnern, gar nicht voll ausgeschöpft? Bringt es dafür aber vielleicht andere Gefühle oder Gedanken hervor? Es geht mir nicht darum, das zu bewerten, aber wenn ich das so beschreibe, setze ich doch an ganz unterschiedlichen Punkten an.

Dies betrifft auch die Träger:innen der Rede – das ist genau die Frage: Spreche ich für mich oder gebe ich wieder, was andere schon gesagt und aufgeschrieben haben? Und wofür steht das dann? Das finde ich ungeheuer brisant. Zumal vor dem Hintergrund möglicher Einschränkungen der ­Redefreiheit. Vielleicht müsste man den Theatern sagen, dass sie ihre Redemöglichkeiten viel offensiver nutzen sollten, anstatt nur das, was passiert, einmal mehr zu bebildern.

10

Anne Fleig / Hannah von Sass

HvS: Da kommt auch eine neue Dimension des Handlungsbegriffes auf.

Also rede ich „nur“ über etwas, gebe ich eine Position wieder oder performe und vollziehe ich auf der Bühne eine Handlung? Wie wird in diesem Sinne auch Handlungsfähigkeit erprobt? Und was Sie gerade ansprachen: Was darf überhaupt gesagt werden? Stichwort Kunstfreiheit. Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers hat jüngst in einem Vortrag für Literaturwissenschaftler:innen gefragt, ob es nötig sei, dass wir die Kunstfreiheit im Gesetz juristisch verankern, oder ob nicht die Meinungsfreiheit genüge. Und wo eigentlich der Unterschied zwischen beiden liege. Das ist nicht einfach zu beantworten. Wird das eine nicht schon durch das andere abgedeckt? Wenn nicht, was wird darüber hinaus im Namen der Kunst geleistet? Wie gefährlich ist eigentlich Kunst? Wie gefährlich muss sie vielleicht auch sein? Und warum haben wir das eigens in unseren Gesetzesbüchern verankert?

AF: Und hat er dafür argumentiert, dass es einen Unterschied geben sollte, oder hat er sich nicht festgelegt?

HvS: Er meinte, dass ihm nicht klar sei, warum es die Kunstfreiheit gebe – juristisch gesehen. Ich denke, wir haben den Bildungsauftrag der Theater; sie werden im deutschsprachigen Raum gottseidank staatlich gefördert, was aber vielleicht auch einen prekären Aspekt hat, da Staat und Förderung so eng zusammen liegen. Anders als in anderen Ländern braucht es vielleicht nochmal einen besonderen Schutz, um die Freiheit zu garantieren, wenn die Kunst stark staatlich gefördert wird. In der Wissenschaft kommt das ja gerade auch sehr kritisch zusammen.

AF: Ich hätte gedacht, dass Kunst in dem Sinne keine Meinung ist. Und dass es deswegen unterschieden wird, aber vielleicht ist das juristisch gar nicht haltbar. Aus der Perspektive der Kunsttheorie würde ich jedoch dafür plä­ dieren. Denn ein Kunstwerk kann natürlich verschiedene Meinungen in sich enthalten oder kann darum streiten, um bewusst Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zuzulassen. Eine Meinung ist demgegenüber eindeutiger und leichter zu bestimmen. Und insofern ist Kunstfreiheit, denke ich, weitgehender.

Einleitung

11

HvS: Es ist auch interessant, wie dann wiederum Autor:innen mit diesen Ambivalenzen spielen, indem sie sich in Texte hineinschreiben. Sicher, da sprechen dann nicht Wolfram Lotz oder Elfriede Jelinek, sondern die Kunstfiguren Lotz und Jelinek – doch wer sind die wiederum? Überhaupt lässt sich ein spezieller Wiedereinzug des Figürlichen beobachten: Es gibt zwar wieder mehr Figuren, aber sie sind nicht mehr vertrauenswürdig.

AF: Die haben ihr Vertrauen verloren, ja.

HvS: Da wird vielleicht ein anderer Identitätsbegriff angesetzt, einer mit Widersprüchlichkeiten und Brüchen. Darüber hinaus wird der Autor:innenbegriff in Frage gestellt, sowohl in den Produktionsprozessen als auch im Theaterbetrieb, indem kollektive Formen des Schreibens forciert werden, also Stückentwicklungen und prozessuales Schreiben, etwa wenn ein Regieteam mit Autor:innen zusammenarbeitet. Es kommen Diskussionen auf, wem diese Texte eigentlich gehören. Zum einen ganz konkret im Sinne von Urheberrechten, zum anderen ist da wieder die Frage: Wer spricht durch diesen Text? Ist es nicht eine ganze Gruppe, die durch den Text spricht statt einer einzelnen Stimme?

AF: Wir hatten vorhin schon kurz das Verhältnis von Drama und Theater und entsprechend Literatur- und Theaterwissenschaft gestreift, aber wie steht es um das Verhältnis von Dramentext und Literaturgeschichte? Auch bei kanonischen Autoren, wie Kleist oder selbst Schiller, bei dem alles klar zu sein scheint, erkennt man bei genauerem Besehen, wie gebrochen viele Figuren schon sind, wie schwierig und gebrochen auch die Verse. Bei Kleist ist es evident, und das wissen natürlich einerseits alle und andererseits wird dann trotzdem immer so getan, als wäre früher irgendwann, in so einem diffusen Früher, alles klar gewesen und Figuren waren Figuren, und die Rede war die Rede. Das stimmt so aber nicht, weder damals noch heute.

Außerdem sieht man gerade beim Postdramatischen deutlich, wie immer wieder Wissenschaft und Textproduktion ineinandergreifen – bis hin zu den vielen Autor:innen, die heute in der Regel studiert haben oder die womöglich schon von Haus aus Literaturwissenschaftler:innen sind. Bei einer

12

Anne Fleig / Hannah von Sass

Autorin wie Caren Jeß zum Beispiel – mit ihren Fußnoten im Theatertext, durch die es sich so offensichtlich mischt.

HvS: Bei den sogenannten Klassikern denkt man gleich an das Ideal der Einheitlichkeit von Ort und Zeit, das immer gerne mit dem Drama verbunden wird – doch welcher Text hält das ein? Diese Einheit ist eine Illusion, die vielleicht auch schon immer als Illusion kenntlich war. Mit diesen Konzeptionen wird ja auch aufseiten der Schreibenden gespielt. Das ist durchaus eine Herausforderung für uns Rezipierende. Wie gehen wir damit um, dass sich zum Beispiel jüngere Texte schon wieder reflexiv zum Oberflächenbegriff, der durch Jelinek so prominent wurde, den sie selbst schließlich schon wieder als neuen Modebegriff abgelehnt hat, verhalten? Und wie kann darauf wiederum ein Analysevokabular reagieren? In diesem Band haben wir – das war eine Idee von Sandro Zanetti, die er uns netterweise überlassen hat – zum Beispiel Verben als Titel eingesetzt, um die konkreten Möglichkeiten, sich praktisch und theoretisch neuer Dramatik anzunähern, zu betonen. Grundsätzlich haben wir noch zu wenig Begriffe für diese Auseinandersetzung, und das ist, glaube ich, ein interessantes Betätigungs- oder Forschungsfeld.

AF: Da würde ich gerne anschließen, weil das etwas ist, was mich wirklich beschäftigt: Wie kann man überhaupt über das Drama sprechen? Insbesondere über das Gegenwartsdrama. Also über Stücke, die all diese Herausforderungen, über die wir jetzt reden, an uns stellen und die uns irritieren, weil wir nicht mehr genau wissen, wer da spricht und was das überhaupt für eine Art von Text ist. Wir haben eine unheimlich stark vorgeprägte Vorstellung davon, was ein Drama ist, obwohl man eigentlich fragen muss, wo uns das in dieser Reinform begegnet? Diese irgendwie überlebte und trotzdem so wirkmächtige Form macht es uns heute schwer, darüber zu sprechen, und verunsichert ganz offensichtlich. Ich habe das selbst an der Uni erlebt und begriffen, dass die Texte erst gelesen werden müssen, laut gelesen. Dann merkt man: Hier gibt es ein theatrales performatives Moment, was sich auch mitteilt, wie der Rhythmus von Sprache. Und da rücken wir dann an die Bühnensituation heran. In dem Moment, wo das erfahrbar wird, öffnet sich vielleicht etwas. Das kann man ein bisschen mit dem

Einleitung

13

­Lesen von Lyrik vergleichen, bei dem sich im Seminar durch das gemeinsame Lesen, Vorlesen und Zuhören, in diesem schon wechselseitigen Prozess eines Publikums selbst sozusagen, etwas Lebendiges mitteilt, was sich nur bedingt fassen lässt. Ich glaube, – auch Kolleg:innen geht es so – es ist schwer darüber zu sprechen und deswegen gibt es auch vergleichsweise wenig Arbeiten zum Gegenwartsdrama. Und auch wenn man fragt, was lesen Sie denn gerade, wer würde dann Elfriede Jelinek oder Thomas Köck oder wen auch immer nennen? Es wird erwartet, dass man einen Roman liest; manche lesen vielleicht auch eine aktuelle Essay-Sammlung oder eine Biografie, aber im Grunde ist das so ungefähr das Spektrum. Lyrik wäre schon ungewöhnlich, und Dramen liest, glaube ich, niemand.

HvS: Dabei bietet sich da ein wunderbares Potential an: das Lautlesen als ein sehr sinnlicher Akt, die akustisch-körperliche Erfahrung von Text, die Stimme, die zum Einsatz kommt, das gemeinsame Lesen. Neue Theatertexte wirken auf den ersten Blick oft störrisch oder spröde und man weiß nicht, wie man sie verstehen soll. Vielleicht gibt es keine Figuren, sondern monologische Blöcke oder auf einmal erscheinen Figuren nach Textflächen, das heißt die Textform ändert sich. Oft ist eine große Experimentierlust auf ­Seiten der Schreibenden zu finden und das schreckt erstmal ab. Sobald man aber in einen Leseprozess mit einer Klasse oder einem Seminar geht, kommt eine Freude auf. Plötzlich wird es lebendig, es kriegt eine ganz ­eigene Dynamik. Danach ist die Berührungsangst oft nicht mehr so groß.

Ich glaube, es liegt eine Chance darin, diese sehr lebendigen Dimensionen von Theater, von Literatur im wahrsten Sinne des Wortes zum Klingen zu bringen. Richtig herausfordernd wird es dann – auch eine Ähnlichkeit, die Dramatik mit Lyrik aufweist – wenn Autor:innen beginnen, mit dem Format der Seite zu spielen. Auf einmal haben wir Querformate, Fußnoten oder drei Textspalten wie bei Wolfram Höll. Das fordert interessierte ­Leser:innen oder Theatergänger:innen provokativ heraus …

AF: Das sehe ich auch so. Mir fiel jetzt gerade Mitwisser, dieser schöne Text von Enis Maci, ein, wo sie sich mit dem Landscape Play auseinandersetzt.

Das ist ein Text im Querformat und man hat das Gefühl, es begegnet einem

14

Anne Fleig / Hannah von Sass

quasi die weiße Seite als Landschaft, nur weil sie nicht im Hochformat ist, wie man sonst das DIN-A4-Blatt nutzt. Das ist interessant, aber auch das verunsichert. Wir sprechen jetzt im Grunde dafür, dass wir uns nicht ­verunsichern lassen wollen, oder werben dafür, dass andere sich nicht verunsichern lassen, aber natürlich muss man schon zugestehen: Die Texte arbeiten auch damit, dass sie irritieren. Sie suchen das. Sie gehen damit um, dass man das als Widerspruch empfindet, zum Beispiel die Fußnoten.

Und dass man denkt, was ist das jetzt eigentlich? Das trauen sich zum Beispiel, um das mal zu vergleichen, Romanautor:innen nur begrenzt. Umso interessanter, dass Dramen wieder vermehrt gedruckt werden. Wenn wir davon reden, Dramen zu lesen, stellt sich schon die Frage, wo und wie man eigentlich an die Texte herankommt. Als Seminarleiterin schreibe ich den Verlag an oder vielleicht das Theater und frage nach. Meine Erfahrung ist, dass die Verlage sehr schnell antworten und es insofern leicht ist, an die Texte zu kommen. Aber ich arbeite an der Universität und habe hier keine Berührungsangst. Doch wenn ich ohne diesen Kontext zu Hause sitze und denke, jetzt würde ich gerne ein Stück lesen, dann ist die Frage nicht trivial: Wo bekomme ich den Text eigentlich her?

HvS: Diesem Band hier ist eine Übersicht der Verlage und Ausbildungsstätten für neue Dramatik beigefügt, denn die Zugänglichkeit ist nicht genug gegeben. Es kommt auch immer seltener vor, dass Theatertexte bei den Vorstellungen im Theater als Print zu kaufen sind. Die Praxis des Lautlesens von Prosa-Autor:innen wird zwar zunehmend erforscht, aber Theatertexte werden ja direkt für die Bühne geschrieben. Also, wenn man sich für Lesungen und das Performative des Textes interessiert, ist natürlich so ein Theatertext ein gefundenes Fressen.

AF: Generell sollte das Theater selbst auch eine Form sein, die eine gute ­Zugänglichkeit hat. Auf einer bestimmten Ebene ist das gegeben, aber auf einer anderen Ebene gibt es selbstverständlich immer noch eine Schwelle, ins Theater zu gehen und sich da Stücke anzusehen. Obwohl die Theater sich meines Erachtens sehr bemühen, diese Schwelle zu senken, bleibt hier eine gewisse Herausforderung. In Seminaren hat das Lesen eigentlich gut

Einleitung

15

funktioniert, und seitdem beschäftigt mich das – wann hat das aufgehört, dass man Dramen liest? Wurde Dürrenmatt noch zuhause gelesen? Was ist zum Beispiel mit den dokumentarischen Stücken von Peter Weiss?

Wurden die von einem breiteren Publikum gelesen oder waren das auch schon nur noch Literaturwissenschaftler:innen? Ich bin wirklich nicht sicher, wann das aufgehört hat, dass das Lesepublikum selbstverständlich auch Dramen gelesen hat. Als ich heute Morgen unser Gespräch vorbereitet habe, dachte ich: Okay, Werther hat noch Emilia Galotti irgendwo liegen. Haben die Leute Emilia Galotti gelesen oder hat sich Goethe das auch nur ausgedacht?

HvS: Heute wird Emilia Galotti jedenfalls nur noch von Schulklassen gelesen.

AF: Natürlich, da wird Drama ganz traditionell behandelt.

HvS: Und es gehört selbstverständlich zum Curriculum dazu.

AF: Absolut.

HvS: Im Deutsch-Leistungskurs dann vielleicht auch mal den Faust II, das wäre dann schon sehr …

AF: … das ist für Fortgeschrittene. Oder Maria Stuart. Jetzt kommt Der zerbrochne Krug ins Abitur. Da wird eindeutig die klassische Tradition, sei es der Komödie, sei es der Tragödie, aufgerufen und unterrichtet. Das finde ich auch gut …

HvS: Und gleichzeitig müsste man das Curriculum mal befragen und sagen: Wollen wir nicht doch mal Sasha Marianna Salzmann auf den Schulplan setzen?

AF: Oder Maxi Obexer oder Felicia Zeller, die vielleicht gar nicht so schwer zugänglich sind. Aber bei Gegenwartsliteratur denkt eben fast niemand an Dramatik.

16

Anne Fleig / Hannah von Sass

HvS: Immerhin gibt Reclam ja nun diese eigene Reihe mit Theater der Gegenwart heraus, die bewusst auf Schulklassen ausgerichtet ist. Das sind gut verständliche, zugängliche Texte und vielleicht kommt man von dort zu experimentellen Formen, weil man dazu angeregt wird, sich die unglaub­ liche Diversität in der Gegenwartsdramatik anzuschauen.

AF: Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sollten wir uns auch stärker darum bemühen, zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft zu vermitteln, weil das Gegenwartsdrama in besonderer Weise zwischen die Stühle der beiden Fächer fällt, und das ist einfach sehr schade. Spätestens seit der Rede von der Postdramatik fühlt sich die Literaturwissenschaft dafür nicht mehr so richtig zuständig, weil sie denkt, das ist nicht mehr Dramatik – es wird im Probenprozess hergestellt, es gibt keinen eindeutigen Autor usw. Und die Theaterwissenschaft hat umgekehrt mit der postdramatischen Wende nur allzu gern den Texten „Adieu“ gesagt. Jetzt ist niemand mehr zuständig, und das macht sich bemerkbar. Im Verhältnis zur wissenschaftlichen Nicht-Befassung gibt es übrigens extrem viel Gegenwartsdramatik. Aber man muss eben Entdeckungslust mitbringen und immer wieder über die Schwelle des Unbekannten gleiten.

Und was passiert dann, was erwartet mich da? Der inzwischen in die Jahre ­gekommene Trend, Romane auf die Bühne zu bringen, antwortet genau darauf – die Texte sind bekannter, man hat zumindest schon mal die Titel gehört.

HvS: Oder die Klassiker-Überschreibungen – dann ist es wenigstens Henrik Ibsen im Hintergrund. Was ich aber gar nicht abwerten will. Es ist ja meist nicht so, dass es das Original gibt und seitdem nichts mehr passiert ist. Jede Inszenierung ist eine Überschreibung. Das Risiko gehen wir ja auch gerne ein, wenn wir uns die hundertste Neuinszenierung von Romeo und Julia anschauen. Ich frage mich gerade, ob daher die Inszenierung allein schon so viel Risiko birgt, dass man sich dann nicht auch noch auf einen unbekannten Text einlassen will. Im Zweifel hängt man dann ja einen ganzen Abend in einer Theatervorstellung fest, die einen nicht anspricht. Vielleicht müsste man auch wieder mehr dafür plädieren, aus Protest zu gehen, wenn es einem nicht gefällt, so wie wenn man ein Buch zur Seite legt. Man könnte ja einfach nach der Pause nicht wiederkommen.

Einleitung

17

AF: Es gibt kaum noch Pausen.

HvS: Ja, es wird kürzer inszeniert. Also ein Plädoyer für die Pause, damit man das Experiment abbrechen kann? (lacht.)

AF: Ich bin absolut für die Pause. (lacht.)

HvS: Und falls es gut läuft, muss man auch nicht gehen, sondern kann schon in der Pause das Erlebte zusammen diskutieren. Und das trifft sich gut mit der Mehrstimmigkeit der Texte selbst. Die Diskussion von Theatertexten ist ein großartiges Feld, um politische Meinungen zu schärfen, um Diskursfreudigkeit zu entdecken, vielleicht auch neue Formen des Poetischen.

AF: Ja, zumal gerade bei den Studierenden der Wunsch unheimlich groß ist, danach zu fragen, wie Literatur – ich komme jetzt wieder zum Anfang zurück – auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren kann. Ich denke, da es schon aufgrund der Produktionsbedingungen nur eine bestimmte Zeit für diese Probenprozesse gibt oder vielleicht sogar auch für das Verfassen von Stücken, ist eine bestimmte Schnelligkeit gegeben, auch eine bestimmte Unmittelbarkeit auf Dinge zu reagieren. Gerade deshalb würde ich mir wünschen, mehr über Gegenwartsdramatik zu sprechen.

HvS: So ein Abend wird meist aus Steuergeldern finanziert. Das ist den Theaterbetrieben bewusst, sodass die Relevanzfrage sehr dringlich gestellt wird. Es muss nicht tagespolitisch sein, aber es braucht einen starken Bezug zur Gesellschaft. Diese Texte werden geschrieben, um gemeinsam geteilt zu werden – zwischen Publikum und denen, die auf und hinter der Bühne agieren. Auf diese Weise gibt es eine Form von kritischer Öffentlichkeit, die grundlegend durch die Form gegeben ist. Und die, glaube ich, sehr gut auf Fragen der Gegenwart antworten kann – vielleicht jetzt noch dringender als vor wenigen Jahren noch.

18

Clemens Özelt ANFANGEN

principiis enim cognitis multo facilius extrema intellegetis – hat man den Anfang erfasst, so wird man auch das Übrige viel leichter verstehen.1 Cicero formulierte diesen Grundsatz zunächst in einer Gerichtsrede, Quintilian hat ihn später in sein Lehrwerk Ausbildung des Redners aufgenommen. Die zeitgenössische Literaturwissenschaft, die sich mit Textanfängen beschäftigt, kann dieser alten rhetorisch-hermeneutischen Maxime noch immer etwas abgewinnen. Denn Anfänge werden stets als neuralgische Stellen für das Textverständnis wahrgenommen. Für Peter-André Alt ist der Anfang zugleich „der Ursprung, aus dem das Ganze hervorgeht“2. Auch Monika Schmitz-Emans macht die Beobachtung, dass Anfänge „eine Grundlage […] schaffen“ und deshalb zu den wichtigsten Passagen „poetischer Autoreflexion“3 zählen. Anfänge leiten also nicht nur zum Nachfolgenden über, sondern geben Auskunft über die Beschaffenheit des Ganzen. So spricht vieles dafür, dass wir auch die Gegenwartsdramatik von ihren Textanfängen her besser verstehen.

‚Unsichtbarkeit des Dramenanfangs‘ Allerdings haben sich im Drama andere Muster des Anfangens ausgebildet als in Erzähltexten, die Schmitz-Emans und Alt ihren Überlegungen zugrunde legen. Andrea Polaschegg konstatiert eine größere Zurückhaltung, die zur „renitente[n] Unsichtbarkeit des Dramenanfangs“4 führe. Sie meint damit, dass Dramen seltener mit einem sprachlichen Paukenschlag einsetzen. Dem können sich Erzähltexte oft nicht einmal durch Verweigerung entziehen; beispielsweise beginnt Heinz Strunk einen Roman mit den ­Worten: „Dem ersten Satz eines Buches wird für gewöhnlich eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen.“5 Polaschegg stützt ihre These von der Unsichtbarkeit des Dramenanfangs auf ein klassisches Expositionsideal, das den harten Einsatz meidet. In Anlehnung an Johann Wolfgang von Goethe folgert Polaschegg: „Da man vom dramatischen Text im Unterschied zum

Anfangen

19

epischen ein ‚ewiges Fortschreiten‘ fordere, müsse […] auch sein Anfang immer schon ‚im Gange‘ sein.“6 Diese Tradition des unscheinbaren Anfangens verschärft sich im Vorfeld der ‚Gegenwartsdramatik‘, also dem Drama nach der Jahrtausendwende.

Denn zur notorischen Unsichtbarkeit gesellt sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Anfängen hinzu. Im Kontext der Nachkriegsliteratur wurde die Rede vom Neubeginn zunächst politisch verdächtigt, dem Vergessen zu dienen. Juliane Vogel hat die kulturelle Leistung der österreichischen Nachkriegsliteratur sogar dahingehend zugespitzt, dass sie „die Sprache nach 1945 als eine zur autoritativen Setzung von Anfängen nicht berechtigte kennzeichnet“7. Dieses politische Misstrauen gegenüber Anfängen universalisiert sich dann im Zuge der Postmoderne. Denn verschiedene poststrukturalistische Theorien insistieren darauf, dass sich jedes Anfangen in Widersprüche verstrickt, da es notwendigerweise immer auf Vorausliegendes zurückgreifen muss (→ Übersetzen).

Im Drama macht sich dieses universale Misstrauen gegenüber Anfängen zunächst auf der Ebene der histoire bemerkbar. Für Gerda Poschmann ist der „Stillstand der dargestellten Handlung“8 ein typisches Symptom postdramatischer Texte. Ohne Handlung kann auch keine Geschichte anfangen. Diesem Umstand versucht Poschmann mit einer Reihe geometrischer Figuren Ausdruck zu verleihen (→ Betrachten), die allesamt die Eigenschaft verbindet, dass sie keine Anfänge haben.9 In den Dramen von Thomas Brasch, Werner Schwab oder Elfriede Jelinek nimmt sie Punkt-, Kreis- und Flächenstrukturen wahr, aber keine Handlungsverläufe mit ­Anfang und Ende.10 Bei Hans-Thies Lehmann, der sich dem Phänomen von theaterwissenschaftlicher Seite nähert, finden sich begriffliche Entsprechungen, wenn er „Zeitkristalle“ wahrnimmt oder von der „Zeitskulptur“, der „Bild-Zeit“ oder der „Zeitfläche“11 im Theater spricht.

Blickt man von der Ebene der histoire auf die des discours, vermitteln gerade die vieldiskutierten Sprachflächen ein anschauliches Bild, wie die uniformen Textblöcke typografische Anfangssignale, die sich im Laufe der Dramengeschichte ausgebildet haben, zum Verschwinden bringen. Die späten Theatertexte von Elfriede Jelinek, die meist als archetypische Beispiele für Sprachflächen herangezogen werden, verzichten bekanntlich auf

20

Clemens Özelt

Akt- und Szeneneinteilungen, auf Kennzeichnungen der Figurenrede oder die Unterscheidung von Haupt- und Nebentext. Darüber hinaus haben die zunehmend verflüssigten Grenzen zwischen Text und Paratext im modernen Drama zur Verunsicherung beigetragen, wo die Texte überhaupt beginnen. In den Theatern kann man die entsprechende Beobachtung machen, dass weder das Licht noch die Saaltüren, der Vorhang oder die Lautsprecherdurchsagen verlässliche Zeichen dafür sein müssen, dass die Aufführung beginnt.

Anfänge im Gegenwartsdrama Die suspendierten Anfänge, die Poschmann und Lehmann im ausgehenden 20. Jahrhundert beobachten, prägen auch die ‚Gegenwartsdramatik‘ nachhaltig: in Form von Anziehung wie Abstoßung. Die prominenteste Dramatikerin, die nach der Jahrtausendwende die angesprochene Entwicklung fortführt, ist zweifellos Elfriede Jelinek selbst. Ein programmatischer Text, der darüber Auskunft gibt, ist die Nobelpreisrede Im Abseits. Jelinek reflektiert darin ihr Schreiben im Rückgriff auf zahlreiche Gedankenfiguren der Anfangs- und Ursprungslosigkeit. So sieht sich die Autorin einem „Gerede“ gegenüber, das ein „Weiterreden, ohne Anfang und Ende, […] ist“; sie meint, ihre „Sprache hat ihren Anfang wohl vergessen“, und sie stellt fest, dass das ‚Nachsagen‘ „jetzt das eigentliche Sagen“12 sei. In den Theatertexten zeigt sich die Suspendierung von Anfängen beispielsweise in dem Stück Sonne, los jetzt! Obwohl der Titel ein Startsignal gibt und ein traditionsreiches Symbol des literarischen Anfangens enthält, enttäuscht der Anfang diese Erwartung. Auf die initialen Fragen, wer hier spricht, antwortet der Text: „Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang“13. Wir befinden uns also in einem Echoraum und sind auf die Tradition verwiesen, was das Zitat aus dem Prolog im Himmel aus Goethes Faust in intertextueller Hinsicht unterstreicht. Ein emphatischer Anfang sieht anders aus. Aber schließlich geht es in dem Drama auch um das Ende der Welt.

In Reaktion auf diese fortgesetzten Aushöhlungen des Anfangs kann man im Gegenwartsdrama jedoch auch eine erneute Ausdifferenzierung der Anfangsformen beobachten. Sie widersetzen sich dem postdramatischen Diktum, wonach der „Text nur Basismaterial“14 sei (→ Wertschätzen)

Anfangen

21

und nicht zuletzt deshalb auf dramatische Gestaltungsmöglichkeiten verzichtet wird. Diese Gegenbewegung möchte ich an Anfängen festmachen, die den Texteinsatz so nachdrücklich reflektieren, dass sie auch mit der traditionellen ‚Unsichtbarkeit des Dramenanfangs‘ brechen. Die Anfänge verbindet, dass sie in der Tradition des dramatischen Prologs stehen, der dramentheoretisch meist als Gegenpol zur klassischen Exposition fungiert: als eine abgesonderte, handlungsexterne, nicht verwebte und nicht handlungsinterne Anfangsform.15 Um die Vielfalt dieser Entwicklung sichtbar zu machen, möchte ich drei Spielarten der neuen Prologkonjunktur vorstellen: den Metaprolog, das Intro und den Epiprolog. Prologe sind als abgesonderte, handlungsexterne Dramenanfänge oft metadramatische Texte, weil sie über das nachfolgende Drama sprechen. Aber sie thematisieren auch regelmäßig sich und ihre Selbstständigkeit. Im Prolog zu William Shakespeares Troilus und Cressida heißt es zum Beispiel: „I come, / A prologue armed, but not in confidence / Of author’s pen or actor’s voice“.16 Solche selbstreflexiven Prologe bezeichne ich als Metaprologe, die im Gegenwartsdrama vermehrt anzutreffen sind.

Schon dadurch heben sie sich stärker vom weiteren Geschehen ab als Anfangsszenen, die als primus inter pares eine Szenenfolge eröffnen.

Intro ist eine neue Gattungsbezeichnung, auf die man in dramatischen Texten nach der Jahrtausendwende vermehrt stößt. Sie tritt als modernisierte Variante des Prologs auf, ohne dessen theaterhistorische Vorgeschichte mitaufzurufen. Die Bezeichnung sucht vielmehr die Nähe zur Popkultur: zum Intro des Songs, des Musikalbums oder des Videoclips. Als intermediale Referenz macht der Begriff auf Parallelen zwischen Drama und Musik aufmerksam und streicht die Klanglichkeit (→ Vertonen) und Zeitlichkeit beider Kunstformen hervor. Dadurch grenzt sich das Intro auch implizit von intermedialen Referenzen ab, die in das Feld der Geometrie führen, wie man sie in den Arbeiten zum Postdramatischen Theater gehäuft antrifft.

Epiprolog ist eine Wortschöpfung aus Werner Schwabs Coverdrama Troiluswahn und Cressidatheater.17 Der Begriff verdichtet ein zentrales Organisationsprinzip des Coverdramas, das popliterarischen Schreibverfahren nahesteht: nämlich die zeitliche Verschlingung von Hypotext und Hypertext, also von Vorlage und Bearbeitung, Vorausliegendem und Nachfolgen-

22

Clemens Özelt

dem. Solche Verschränkungen von Anfang und Ende sind in Prologen keine Seltenheit, weil die Textanfänge oft auf die nachfolgende Handlung bis hin zum Ende vorausweisen. Im Gegenwartsdrama gewinnt diese Struktur besonders an Attraktivität in Texten, die sich mit der Klimakrise auseinandersetzen. Diese beginnen auffallend häufig mit dem Ende (→ Schlussmachen), nicht zuletzt um das drohende Ende (der Spezies) mit dem notwendigen Anfang (des politischen Handelns) in Verbindung zu bringen. Die drei Prologformen bezeichnen also ähnliche Phänomene, rücken aber unterschiedliche Gestaltungsakzente in den Mittelpunkt: die Selbstreflexivität im Metaprolog, die Intermedialität und die Interkulturalität im Intro und die Inversion im Epiprolog.

Metaprolog Selbstreflexivität ist eine Möglichkeit, die Sichtbarkeit von Phänomenen zu erhöhen, so auch von Anfängen. Während man in Expositionen so gut wie nie auf den Begriff Exposition stößt, wird man in Prologen regelmäßig mit dem Begriff Prolog konfrontiert. Das hängt, wie Troilus und Cressida zeigt, mit der Doppeldeutigkeit zusammen, dass ‚Prolog‘ sowohl die Figur, die den Prolog spricht, als auch den ersten Abschnitt eines Dramas bezeichnet.

Traditionell wird zu Beginn häufiger über Figuren wie den geharnischten Prolog als über die Dramenarchitektur gesprochen. Im Gegenwartsdrama kann man aber eine Verschiebung hin zur zweiten Form feststellen. Das hängt auch mit den verflüssigten Grenzen zwischen Text und Paratext, Haupt- und Nebentext zusammen. Die gewöhnlich als nichtgesprochenen imaginierten Textbestandteile, zu denen u. a. Gliederungsbezeichnungen wie Akt, Szene, Prolog, Zwischenspiel usw. zählen, rücken nun in die Figurenrede.

Der große Marsch von Wolfram Lotz beginnt zum Beispiel mit den Worten: „ANNA DAS KIND Ich sage jetzt den Prolog auf.“18 Kinder sind topische Figuren des Anfangens. Besonders Prologspecher:innen machen sich im wörtlichen wie im übertragenen Sinne klein vor dem Publikum, um den Effekt der captatio benevolentiae zu erzielen. Das reicht von Amor in den Schäferspielen des 17. Jahrhunderts bis zum Kuhmädchen bei Bertolt Brecht. In Annas Ankündigung schwingt allerdings ein kindlicher Wider-

Anfangen

23

willen mit, etwas auf Wunsch von Erwachsenen tun zu müssen. So zeichnet sich schon im ersten Satz ein Generationenkonflikt ab, um den sich der Prolog dreht. Am Ende meint Anna: Meine Mutter sagt: / Das Theater ist ein Punkt oder ein Ort / oder sonst was / aber es ist wie die Welt / und die Welt ist so, wie sie ist / und das nennt man Wirklichkeit. / Und jetzt räum dein Zimmer auf! / Ich räume es aber nicht auf / und ich glaube ihr auch nicht. // Anna das Kind verlässt im Hüpfschritt die Bühne.19 Annas spielerischer Trotz setzt sich gegen Ordnungen im Kleinen wie im Großen zur Wehr. Sie plädiert dafür, dass sich Spielräume wie das Kinderzimmer oder das Theater nicht den Gesetzen der Wirklichkeit fügen. Damit rückt der programmatische Einsatz in die Nähe von Lotz’ Plädoyer für ein unmögliches Theater (→ Visualisieren).20 In Der große Marsch macht sich diese Unmöglichkeit in der „permanente[n] Parekbase“21, also der konsequenten Illusionsdurchbrechung, bemerkbar.

Der Prolog zu Roland Schimmelpfennigs 100 Songs ist genauso ein metadramatischer Text. Eine Gruppe von Figuren spricht über eine Gruppe von Figuren, in deren Vergangenheit sich eine Katastrophe, möglicherweise ein Terroranschlag, ereignet hat. Aber er entzieht sich der Wahrnehmung und der Beschreibung. Diese Nachträglichkeit kommt auch in der Selbstreflexion der dramatischen Gliederung zum Ausdruck: EIN MANN Dann sagt jemand aus der Gruppe: / 100 Songs. / Kurze Pause. / EINE FRAU Ein Requiem. / Kurze Pause. / EIN MANN / Prolog: / EINE FRAU „Prolog“, das sagt jemand aus der Gruppe von ganz normalen Leuten, die nichts miteinander zu tun haben. / DER MANN VOM ANFANG Prolog. / EINE FRAU Das hätte jemand vielleicht schon etwas früher sagen sollen.22 Mit diesem Anfang führt Schimmelpfennig typische Merkmale von Exposition und Prolog eng. Wie in einer Exposition ist die Handlung schon im Gange, aber durch die Katastrophe entzieht sich ihr Anfang. Um diese Uneinholbarkeit bewusst zu machen, greift der Text auf die prologtypische Strategie zurück, vom Anfang und der Vorgeschichte zu erzählen.

24

Clemens Özelt

Intro Intros tauchen zum ersten Mal im Umfeld der Popliteratur auf. Benjamin von Stuckrad-Barre, der als typischer Vertreter des Genres gilt, hat auf verschiedenen Ebenen versucht, seine Literatur der Popmusik anzunähern.

Seine Lesungen wurden zum Beispiel als popkonzertartige Events vermarktet, dann als CDs mit Titeln wie Bootleg veröffentlicht und mit Ankündigungstracks versehen, wie man sie von Musikalben kennt.23 In Transkript, der Transkription einer Lesung, taucht der Begriff „Intro“ explizit auf. Es setzt sich aus einer Serie aus Zitaten zusammen, die das Anfangen bewusst machen, wie „die Leude woll’n, daß was passiert“ (Fünf Sterne deluxe), „unsere Zeit ist gekommen“ (Falco) oder „Die Show geht jetzt los“ (Deichkind).24 Die Collage ist ein Musterbeispiel popliterarischen Schreibens, das man mit Eckhard Schumacher ein „Verfahren der Serialisierung des Jetzt“25 nennen kann. Es potenziert den Präsenzeffekt (→ Deuten), der mit dem expliziten Hinweis auf das Anfangen einhergeht.

Auf Intros stößt man ferner in Stoffbearbeitungen, die sich um eine Transposition der Handlung in die Gegenwart bemühen. Rebekka Kricheldorfs Der goldene Schwanz. Eine Aschenputtel-Variante nach den Brüdern Grimm beginnt genauso wie Martina Clavadetschers THIS IS A ROBBERY! mega frei nach Friedrich Schiller mit einem Intro.26 Die Transpositionsverfahren weisen Affinitäten zum popliterarischen Schreiben auf; Popmusik spielt aber in beiden Texten auch eine konkrete Rolle, um diese Transposition zu organisieren. Eine ähnliche Beobachtung kann man in dem Stück keeping up with the penthesileas von Thomas Köck und Mateja Meded machen, das sich als Mashup von vergangenen und gegenwärtigen Mythen präsentiert, u. a. von Heinrich von Kleists Penthesilea und den viral gegangenen Clips von Kim Kardashian. Hier führt ein „intro als video einspieler“27 in den postdigitalen Raum ein.

In Necati Öziris GET DEUTSCH OR DIE TRYIN’ ist die Transposition eines konkreten Intros besonders gut zu fassen. Der Dramentitel nimmt auf das Album Get Rich or Die Tryin’ von 50 Cent Bezug, das mit einem Intro beginnt – man hört Geräusche einer Münze und einer Waffe, die mit nichtsprachlichen und nichtmusikalischen Mitteln auf den Albumtitel verweisen. Öziri verschiebt im Titel den Fokus vom ökonomischen auf das

Anfangen

25

kulturelle Kapital und führt aus anderssprachiger Perspektive auf das fremde Deutsche als Fluchtpunkt hin. Öziris Intro nimmt dann wie das Musikintro die titelgebende Spannung auf: hier zwischen dem Deutsch- und dem Totsein. Es beginnt mit den Worten: „ARDA Stell dir vor / du bist tot / stell dir vor / du bist tot / und ich bin auf deiner Beerdigung […] und dann erzähle ich: von Deutschland“.28 Die Eingangsworte spiegeln eine fragmentierte Selbstreflexion, wenn sich die Vokalfolge des Wortes Intro (i/o) in vier Assonanzen fortsetzt: Stell dir vor / du bist tot / stell dir vor / du bist tot (e/i/o u/i/o e/i/o u/i/o). Die unklare Adressierung führt in einen Raum der Mehrdeutigkeit, der sich als Raum der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit erweisen wird. Im weiteren Verlauf klärt sich auf, dass der Vater des Protagonisten angesprochen wird.

Er ist, wie man im Outro, der Grabrede 3, erfährt, zwei Monate vor Ardas Geburt zurück in die Türkei gegangen. Während das Intro also auf eine ungewisse Zukunft verweist, auf die Zeit nach dem Tod des Vaters, führt das Outro zurück in eine unbekannte Vergangenheit, vor der Geburt des Protagonisten und zu einem unbekannten Vater. Das Transitorium dazwischen macht eine Migrationserfahrung kenntlich. Arda lebt zwischen Räumen, Zeiten und Kulturen.

Epiprolog Öziris Prolepse im Intro und die Analepse im Outro erinnern an dramatische Inversionen, wie sie zum Beispiel Ludwig Tiecks Stück Die verkehrte Welt kennzeichnen, das mit einem Epilog beginnt und einem Prolog endet.

In zahlreichen dramatischen Texten zur Klimakrise spielen solche Verschlingungen von Anfang und Ende eine zentrale Rolle, allerdings stehen sie in keinem symmetrischen Verhältnis mehr. Das Ende spielt zwar am Anfang eine zentrale Rolle, nicht jedoch der Anfang am Ende. Thomas Köck wandelt in der „priamel“ zu eure paläste sind leer (all we ever wanted) den bekannten Hermann-Hesse-Vers „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“29 um zu: „jedem anfang / wohnt sein abschied inne“, worauf die einschränkende Bemerkung folgt: „wenn dieses stück also einen anfang hätte“.30 Diese Einschränkung zeigt, dass die Klimakrise zu neuen Anfangsschwierigkeiten führt. Aber die Schwierigkeiten suspendieren das Anfan-

26

Clemens Özelt

gen nicht grundsätzlich, sie führen vielmehr eine neue Bedingung ein: wenn ein Anfang, dann im Horizont des Endes.

Kathrin Rögglas Drama Das Wasser beginnt in ähnlicher Weise damit, das Anfangen zu problematisieren. Es setzt mit folgendem Dialog aus einem Nachrichtenstudio ein: „Ansagerin: Die schlechte Nachricht zuerst. / Moderator: Nein, so fängst du nicht an. / Ansagerin: Ich fange überhaupt nicht an. / Moderator: Doch doch! (schubst sie nach vorne)“.31 Ob und wie angefangen werden kann, bleibt in dem Drama nicht unhinterfragt: aber wenn, dann mit einer schlechten Nachricht, hier einer Flutkatastrophe. Wie Köck mit seiner Priamel rekurriert Röggla mit ihrer Ansagerin auf die Prologtradition. In Hugo von Hofmannsthals Jedermann verkündet der Spielansager zu Beginn, dass „unsere Tag und Werk auf Erden / Vergänglich sind“32. Bei Röggla tritt die Figur in zeitgenössischer Gestalt als Fernsehansagerin auf und führt uns, wie es wortspielerisch heißt, auf „eine Katastrophe mit Ansage“33 hin.

Diese dramatischen Anfänge, denen ständig das Ende in die Quere kommt, reagieren meines Erachtens auf eine neue imaginäre Herausforderung. In der klimapolitischen Debatte versucht man, die Gegenwart als Vergangenheit einer drohenden Zukunft zu perspektivieren, in der entscheidende Weichen gestellt werden. Die Schwierigkeit, im futurum exaktum zu denken und zu fühlen, stellt Das Wasser zu Beginn aus, wenn es apodiktisch heißt: „Wir wissen wie immer nichts und werden nachher alles gewusst haben.“34 Gegenwart und Vorzukunft trennt eine unüberbrückbare Kluft: hier „alles“, dort „nichts“. Denn das Ende ist am Anfang nicht unmittelbar sichtbar, es muss mit dramatischen Kunstgriffen sichtbar gemacht werden.

Der Einsatz der Vorvergangenheit ist eine von mehreren Möglichkeiten, die man in Prologen wiederholt beobachten kann. Eine ähnliche Funktion erfüllt ein Plot-Element der fantastischen Literatur, auf das Anne Jelena Schulte und Anah Filou in den Prologen ihrer Stücke Zukunftsmusik und Aus aktuellem Anlass: Delphine in Triest zurückgreifen: die Zeitreise.35 Auch im wohl prominentesten Theatertext zur Klimakrise, Thomas Köcks Klimatrilogie, konstituieren sich die abgesetzten Anfänge im Rekurs auf das Ende. Der Prolog zu paradies fluten macht daraus sogar ein Wortspiel. Das Drama beginnt mit einer overtüre, keiner Ouvertüre.36 Der Prolog

Anfangen

27

übernimmt also nicht die französische Bezeichnung für Eröffnung, sondern überschreibt die erste Worthälfte mit dem englischen over. Der Anfang steht so im Zeichen des Vorbeiseins. Die Ersetzung in overtüre hält wie die Vermischung im Begriff Epiprolog beide Zeitpole präsent. Darüber hinaus sind in der overtüre auch Signale in Richtung der beiden anderen Gegenwartsformen erkennbar. Das Wortspiel regt dazu an, wie im Metaprolog über Signifikant und Signifikat der Bezeichnung nachzudenken; die Anspielung auf die Ouvertüre führt als Pendant zum popkulturell markierten Intro in den Bereich der musikalischen Hochkultur. So zeigen sich immer wieder Berührungen zwischen den neuen Spielarten des Prologs: jenen, die selbstbezüglich Anfänge thematisieren und problematisieren, jenen, die über die intermediale Referenz auf eine bestimmte Klanglichkeit und Subkultur Bezug nehmen, und jenen, die in der Verschlingung von Anfang und Ende auf eine existenzielle oder politische Frist aufmerksam machen.

Dennoch sind mit der jeweiligen Akzentsetzung unterschiedliche Weichenstellungen verbunden. Sie signalisieren uns, dass wir neuen Darstellungsformen (Metaprolog), kulturellen Zwischenräumen (Intro) und zeitlichen Verschlingungen (Epiprolog) begegnen werden. Hat man das erfasst, versteht man auch das Übrige viel leichter.

1

Marcus Tullius Cicero: Die Prozessreden, Bd. 1, hg. und aus dem Lat. v. Manfred Fuhrmann, Zürich 1997, S. 372f.; Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, 1. Teil: Buch I-VI, hg. und aus dem Lat. v. Helmut Rahn, Darmstadt 1972, S. 436f.

2

Peter-André Alt: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben …“. Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten, München 2020, S. 11.

3

Monika Schmitz-Emans: „Etüden über das Anfangen“, in: Kurt Röttgers/Monika SchmitzEmans (Hg.): Anfänge und Übergänge (= Philosophisch-literarische Reflexionen, 5), Essen 2003, S. 203–226, hier: S. 203.

4

Andrea Polaschegg: Der Anfang des Ganzen. Eine Medientheorie der Literatur als Verlaufskunst, Göttingen 2020, S. 14.

5

Heinz Strunk: Heinz Strunk in Afrika, Reinbek 2011, S. 8.

6

Polaschegg: Der Anfang des Ganzen, S. 44.

7

Juliane Vogel: „Apfelgarten und Geschichtslandschaft. Fallszenarien bei Thomas Bernhard und Peter Handke“, in: Inka Mülder-Bach/Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus, Paderborn 2014, S. 187–199, hier: S. 188.

28

Clemens Özelt

8

Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse (= Theatron, 22), Tübingen 1997, S. 35.

9

Vgl. Polaschegg: Der Anfang des Ganzen, S. 76–83; Claude Haas/Andrea Polaschegg: „Der Einsatz des Dramas. Erste Schritte zu einer Dramenpoetik des Anfangs“, in: dies. (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, Freiburg i. Br. 2012, S. 7–23, hier: S. 14–17.

10

Vgl. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 123, 186, 199.

11

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 329, 331, 337, 343.

12

Elfriede Jelinek: Im Abseits (https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2004/jelinek/25215elfriede-jelinek-nobelvorlesung, Zugriff am 15.3.2025).

13

Elfriede Jelinek: „Sonne, los jetzt!“, in: Theater heute 2023, H. 2 (Beilage), S. 3–8, hier: S. 3.

14

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 27.

15

Vgl. Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse (= SM, 188), Stuttgart 72009, S. 102.

16

William Shakespeare: Troilus und Cressida (= Englisch-deutsche Studienausgabe der Dramen Shakespeares, 6), hg. v. Werner Habicht, aus dem Engl. v. Werner Brönnimann-Egger, Tübingen 1986, S. 47.

17

Werner Schwab: [Troiluswahn und Cressidatheater. Ein Spiel von Werner Schwab nach TROILUS UND CRESSIDA von William Shakespeare in der deutschen Übersetzung von Michael Wachsmann], in: ders.: Werke. Coverdramen, Bd. 8, hg. v. Ingeborg Orthofer, Graz 1994, S. 121–187, hier: S. 123.

18

Wolfram Lotz: [Der Große Marsch], in: ders.: Drei Stücke, hg. v. Friederike Emmerling/Stefanie von Lieven, Frankfurt a. M. 2016, S. 7–71, hier: S. 11.

19

Ebd., S. 12.

20

Wolfram Lotz: [Rede zum unmöglichen Theater], in: ders.: Drei Stücke, S. 227–230.

21

Simon Hansen: Nach der Postdramatik. Narrativierendes Text-Theater bei Wolfram Lotz und ­Roland Schimmelpfennig, Bielefeld 2021, S. 62.

22

Roland Schimmelpfennig: „100 Songs“, in: Uwe B. Carstensen u. a. (Hg.): Theater, Theater.

Aktuelle Stücke 29, Frankfurt a. M. 2018, S. 431–482, hier: S. 435.

23

Benjamin von Stuckrad-Barre: Bootleg, Wölpinghausen 2000, Track 1.

24

Ders.: Transkript, Köln 2001, S. 9f.

25

Eckhard Schumacher: Gerade eben jetzt. Schreibweisen der Gegenwart (= es, 2282), Frankfurt a. M. 2003, S. 37.

26

Rebekka Kricheldorf: Der goldene Schwanz. Eine Aschenputtel-Variante nach den Brüdern Grimm, Berlin 2020, S. 3f.; Martina Clavadetscher: THIS IS A ROBBERY! mega frei nach Friedrich Schiller, Berlin 2023, S. 5–7.

27

Thomas Köck/Mateja Meded: keeping up with the penthesileas. from white feminism to neoliberal feminism. eine quasimythologische remythifizierung, Berlin 2023, S. 5.

Anfangen

29

28

Necati Öziri: GET DEUTSCH OR DIE TRYIN’, Reinbek 2018, o. S.

29

Hermann Hesse: [Stufen], in: ders.: Sämtliche Werke. Die Gedichte, Bd. 10, hg. v. Volker ­ ichels, Frankfurt a. M. 2002, S. 366.

M

30

Thomas Köck: eure paläste sind leer (all we ever wanted). eine missa in cantu, Berlin 2022, S. 13.

31

Kathrin Röggla: Das Wasser, Frankfurt a. M. 2022, S. 5.

32

Hugo von Hofmannsthal: [Jedermann], in: ders.: Sämtliche Werke. Dramen, Bd. 7, hg. v. Heinz Rölleke, Frankfurt a. M. 1990, S. 35.

33

Röggla: Das Wasser, S. 5.

34

Ebd., S. 7.

35

Anne Jelena Schulte: Zukunftsmusik, Berlin 2022, S. 5–7; Anah Filou: Aus aktuellem Anlass: Delphine in Triest, Berlin 2021, S. 1f.

36

Thomas Köck: [paradies fluten (verirrte sinfonie)], in: ders.: Klimatrilogie, Berlin 2017, S. 5.

30

Edith Draxl FINDEN

Wenn man zeitgenössische Dramatik im deutschsprachigen Raum lesen will, braucht es Findigkeit und Wissen. Das hat verschiedene Gründe: zum einen institutionelle, denn Theatertexte werden von Theaterverlagen vertreten, Literatur von Literaturverlagen. Theaterverlage richten sich nicht an Leser:innen, sondern an Expert:innen aus dem Theaterbetrieb (→ Kritisieren). Sie publizieren nicht, sondern geben meist nur Typoskripte mit Aufführungsrechten aus der Hand. Ein weiterer Grund: Oft betrachtet man Theatertexte als Arbeitsmaterial für die Aufführung und erachtet sie daher nicht als lesenswert. Außerdem gibt es die Sorge, dass Texte von jemandem widerrechtlich verwendet werden, wenn sie allzu leicht zugänglich sind.

Man will also die Autor:innen schützen, indem man ihre Texte verborgen hält. All diese Gründe führen dazu, dass viele Texte schwer zugänglich sind und das wiederum verhindert die Beschäftigung mit zeitgenössischer Dramatik in Schulen und Universitäten und auch für interessiertes Publikum (→ Vermitteln). Nur wenige Texte sind für den Buchmarkt verlegt, für die Mehrzahl ist die Distribution auf den Bereich des Theaters beschränkt. Das hat sicher einen Anteil daran, dass zeitgenössische Dramatik fast wie ein Nischenprodukt gehandelt wird.

Was also findet man auf dem Buchmarkt?

Alle Erscheinungen von Theatertexten auf dem Buchmarkt sind kuratiert und oft mit Marktlogiken verknüpft. Sehr gut möglich, dass interessante Theatertexte es oft nicht schaffen, publiziert zu werden, weil sie den dort herrschenden Logiken nicht entsprechen. Autor:innen, die nicht von einem der großen Theaterverlage vertreten werden, haben noch geringere Chancen, dass ihr Buch erscheint. Allgemein ist noch anzumerken, dass zurzeit immer weniger Theatertexte publiziert werden.

Auf dem Buchmarkt findet sich etwa Reclam mit seiner Reihe Theater der Gegenwart. Der Verlag knüpft ein wenig augenzwinkernd an seine große Tradition an, die darauf abzielt, sämtliche kanonischen Theatertexte im

Finden

31

Drama – dramatischer Text – Theatertext In pragmatischer Hinsicht bezeichnen „Drama“ und „Theatertext“ oft dasselbe.

Für viele Texte, die einen Bühnenbezug beinhalten und häufig als Vorlage für Theaterproduktionen dienen, finden sich in der Forschung beide Bezeichnungen.

Mit der Einführung des Begriffs „Theatertext“ wollte die Forschung der 1990er und 2000er Jahre markieren, dass viele Textvorlagen nicht den aristotelischen Konventionen der Figur, des Dialogs und der Handlung entsprachen. Dies gelte nicht zuletzt für Texte, die in Probenprozessen entwickelt oder auf der Bühne extemporiert wurden. Der herkömmliche „dramatische Text“ beruhe demnach auf „Figuration“ und „Narration“: Schauspieler:innen repräsentieren auf der Bühne Figuren bzw. die Bühnen-Handlung repräsentiert ein fiktionales Geschehen. Für „nicht mehr dramatische Theatertexte“ (Gerda Poschmann) und „postdramatische“ Formen (Hans-Thies Lehmann) treffe dies nicht mehr zu. Eine daraus manchmal abgeleitete normative Unterscheidung von „Drama“ und „Theatertext“ ist in der heutigen Forschung umstritten; allerdings spricht man im aktuellen Theaterbetrieb häufiger von „Theatertext“ als von „Drama“. Wenn vom „Drama“ die Rede ist, kommt es vor allem darauf an, ob ein enger Begriff zugrunde gelegt wird, der die Gattung auf die genannten Kriterien festlegt, oder ein weiter, der neue Formen als Erweiterung einbezieht.

handlichen Format einer Postkarte allgemein zugänglich zu machen. Alle kennen die gelben Heftchen. Mit den Veröffentlichungen der neuen Texte wird indirekt behauptet, dass der Kanon weitergeschrieben wird.

Viele Werke zeitgenössischer Autor:innen findet man im Suhrkamp Verlag in der Theaterreihe Spectaculum, die von 1956 bis 2008 heraus­ gegeben wurde. In dieser Zeit erschienen 79 Sammelbände, die moderne und zeitgenössische Theaterstücke enthalten. Im Jahr 2013 erlebte Spectaculum einen Neustart mit einem überarbeiteten Konzept: Statt Sammelbänden wurden nun autor:innenbezogene Einzelbände herausgegeben, um aktuelle Stücke zeitgenössischer Dramatiker:innen zu präsentieren.

Diese neue Reihe trägt den Titel suhrkamp spectaculum. Des Weiteren gibt es die Reihe Theater im Suhrkamp Verlag. Hier werden einzelne aus­ gewählte Werke von Autor:innen verlegt, wobei auf die Buchgestaltung besonders Wert gelegt wird.

In Österreich versuchen seit kurzem die Wiener Wortstätten, mit der Publikationsreihe Goldstücke Theatertexte zugänglicher zu machen. Auch Rowohlt veröffentlicht Theatertexte unter Rowohlt Theater. Es sind häufig

32

Edith Draxl

Bände mit mehreren Theatertexten eines Autors, einer Autorin oder auch Einzeltexte von Autor:innen. S. Fischer gibt seit 2019 in unregelmäßigen Abständen einen Sammelband mit ausgewählten Theatertexten heraus: die Dramatische Rundschau beinhaltet die neuesten Theatertexte. Ältere Texte findet man auch im Sammelband Theater Theater, den der Verlag bis 2018 herausgegeben hat. Der letzte Band ist sehr umfangreich und auch als ­E-Book erhältlich. Außerdem veröffentlicht der Verlag Einzelbände mit ­Texten von erfolgreichen Autor:innen und das Digitale Textbuch.

Letzteres wendet sich schon mehr an den Theaterbetrieb als an eine allgemeine Leser:innenschaft. Das gilt auch für eine Datenbank, betreut vom Verband der deutschen Bühnen- und Medienverlage: theatertexte.de.

Hier sind die Hürden, um an einen Text zu gelangen, bereits deutlich ­höher; die Datenbank richtet sich an Theater und nicht an Leser:innen. Man muss sich daher registrieren und – wenn man als Privatperson anfragt – auf Nachfragen gefasst machen. Das jemand aus Jux und Tollerei, aus purem Interesse einen Theatertext lesen will, scheint für den Verband schwer vorstellbar. Das hat sicher auch damit zu tun, dass man Theatertexte vielfach als Gebrauchstexte definiert, als Spielanleitungen und nicht als literarischen Text, der einen Eigenwert besitzt. Daran hat die Entwicklung des Regietheaters im deutschen Sprachraum einen erheblichen Anteil. Theatertexte werden infolgedessen oft als Material betrachtet, ihre sprachliche Gestaltung scheint dann unerheblich. Gegenwärtig wird auch der Plot immer wichtiger, formale Gestaltungsmomente werden in diesem Zuge teils als unwichtig betrachtet. Zu sagen ist, dass Theatertexte zwischen zwei Polen changieren: sie sind einmal eher Spielanleitung, ein andermal wieder ein klar gestalteter literarischer Text. Darauf hinzuweisen ist sicher wichtig und auch im Sinne vieler Autor:innen.

Wo kann man noch fündig werden?

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet ein Verzeichnis aller in Deutschland erschienenen Theatertexte. Und: Es gibt im deutschen Sprachraum zwei Magazine, die sich ausschließlich mit dem Theater beschäftigen: Theater Heute und Theater der Zeit. Beide erscheinen monatlich und veröffentlichen neben Rezensionen von Aufführungen, Essays, Portraits auch jeden Monat

Finden

33

einen neuen Text. Es handelt sich dabei um Texte, die gerade großen Zuspruch erfahren und von der Kritik gelobt werden.

Was noch bleibt, ist die Möglichkeit, sich direkt an die Verlage zu wenden und nach den Texten zu fragen. Alternativ kann man Texte auch über die einzelnen Ausbildungsstätten bekommen (eine Liste gibt es im Anhang). Außerdem veröffentlichen manchmal Festivals Texte, so zum Beispiel die Mülheimer Theatertage, die für eine gewisse Zeit die nominierten Texte auf ihrer Homepage zum Lesen zur Verfügung stellen. Man kann sie aber nicht downloaden.

Anzumerken ist noch, dass die Situation in anderen europäischen Ländern durchaus unterschiedlich ist. Zwei Beispiele seien genannt: In Frankreich werden Theaterstücke wesentlich häufiger für den Buchmarkt verlegt.

Dasselbe gilt auch für Großbritannien. Das Land ist führend, was die ­Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Theaterstücken in gedruckter Form angeht. Theatertexte werden systematisch veröffentlicht, sowohl für den Bühnenbetrieb als auch für den Buch- und Bildungsmarkt.

Das steht sicher damit in Verbindung, dass in Großbritannien den Autor:innen auch im Theater sehr große Wertschätzung entgegengebracht wird (→ Wertschätzen). Theatertexte werden wie Romane behandelt und fast jeder neu zur Uraufführung gebrachte Text wird publiziert. Es gibt auch Reihen, die sich gezielt an den Bildungssektor richten.

Werden Theatertexte für den Buchmarkt verlegt, werden sie natürlich auch beworben und sind allgemein sichtbarer. Dadurch werden Autor:innen bekannter, und das lockt wieder mehr Besucher:innen zu den entsprechenden Aufführungen. Es liegt also auf der Hand, dass es im höchsten Maße sinnvoll wäre, auch im deutschen Sprachraum die Texte für Leser:innen zugänglicher zu machen.

34

Edith Draxl

Studiengänge und Förderprogramme für Szenisches/Literarisches Schreiben Drama Forum Förderprogramm für Szenisches Schreiben Leitung: Edith Draxl edith.draxl@chello.at Drama Forum von uniT Jakominiplatz 15/1 | AT-8010 Graz Dramenprozessor Einjähriges Förder- und Ausbildungsprogramm für szenisches Schreiben Leitung: Fadrina Arpagaus & Hannah Steffen dramenprozessor@winkelwiese.ch Theater Winkelwiese Winkelwiese 4 | CH-8001 Zürich Literarisches Schreiben Bachelor Leitung: Dr. Leonie Achtnich lit@hkb.bfh.ch Hochschule der Künste Bern Schweizerisches Literaturinstitut Seevorstadt 99 | CH-2502 Biel/Bienne Literarisches Schreiben Bachelor und Master Leitung: Prof. Dr. Michael Lentz lentz@uni-leipzig.de Universität Leipzig Literarisches Schreiben Wächterstraße 34 | D-04107 Leipzig

Finden

35

Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus (B.A.) / Literarisches Schreiben und Lektorieren (M.A.) Bachelor und Master Leitung: Prof. Dr. Annette Pehnt dekanat2@uni-hildesheim.de Universität Hildesheim Literaturinstitut Domänenstraße 1 | D-31141 Hildesheim Sprachkunst Bachelor und Master Leitung: Uni.-Prof. BA Olga Grjasnowa & Univ.-Prof. MA Gerhild Steinbuch sprachkunst@uni-ak.ac.at Universität für angewandte Kunst Wien Institut für Sprachkunst Expositur Salzgries Salzgries 14/6.OG | AT-1010 Wien Szenisches Schreiben Diplom Leitung: Prof. Dr. John von Düffel & Prof. Paul Brodowsky studyguide@udk-berlin.de Universität der Künste Darstellende Kunst Postfach 120544 | D-10595 Berlin Wiener Wortstaetten Drama Lab Interkulturelles Autor:innentheaterprojekt Leitung: Bernhard Studlar & Martina Knoll office@wortstaetten.at Theater am Werk Oswaldgasse 35A | AT-1120 Wien

36

Edith Draxl

Verlage Ahn & Simrock Bühnen- und Musikverlag Deichstraße 9 | D-20459 Hamburg | www.ahnundsimrockverlag.de ATHENA Verlag e.K. Mellinghofer Straße 126 | D-46047 Oberhausen | www.athena-verlag.de Aufbau Verlag GmbH & Co KG Prinzenstraße 85 | D-10969 Berlin | www.aufbau-verlage.de Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH Oranienstraße 164 | D-10969 Berlin | www.boosey.com Bühnenverlag Weitendorf GmbH Max-Brauer-Allee 34 | D-22765 Hamburg | www.buehnenverlag-weitendorf.de Deutscher Theaterverlag GmbH Grabengasse 5 | D-69469 Weinheim | www.dtver.de Diogenes Verlag AG Sprecherstraße 8 | CH-8032 Zürich | https://www.diogenes.ch/theaterverlag Drei Masken Verlag GmbH Herzog-Heinrich-Straße 18 | D-80336 München | www.dreimaskenverlag.de Eva Bieler Verlag Klederinger Straße 62/17 | A-1100 Wien | www.bieler.at Felix Bloch Erben GmbH & Co. KG – Verlag für Bühne, Film und Funk Hardenbergstraße 6 | D-10623 Berlin | www.felix-bloch-erben.de Geest-Verlag Marienburger Straße 10 | D-49249 Visbeck | https://www.geest-verlag.de/theater

Finden

37

Gerhard Pegler Verlag (gehört zu Hartmann & Stauffacher) Maximilianstraße 21 | D-80539 München | www.hartmann-stauffacher.de Hans Pero Bühnen- und Musikverlag Bäckerstraße 6 | A-1010 Wien HARLEKIN Theaterverlag Wilhelmstraße 103 | D-72074 Tübingen | www.harlekintheater.com Hartmann & Stauffacher GmbH Verlag Bismarckstraße 36 | D-50672 Köln | www.hartmann-stauffacher.de henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH Lausitzer Platz 15 | D-10997 Berlin | www.henschel-schauspiel.de Karl Mahnke Theaterverlag Hardenbergstraße 6 | D-10623 Berlin | www.mahnke-verlag.de Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb Schweinfurthstraße 60 | D-14195 Berlin | https://www.kiepenheuer-medien.de Litag Theaterverlag GmbH & Co. KG Maximilianstraße 21 | D-80539 München | www.litagverlag.de mtt-Marianne Terplan Theaterverlag August-Wendel-Straße 72 | D-40880 Ratingen | www.mttverlag.de Österreichischer Bühnenverlag Kaiser & Co. Ges.m.b.H. Am Gestade 5/2 | A-1010 Wien | www.kaiserverlag.at Per H. Lauke Verlag Deichstraße 9 | D-20459 Hamburg | www.laukeverlag.de

38

Edith Draxl

Reclam Verlag Siemensstraße 32 | D-71254 Dietzingen | https://www.reclam.de/magazin/theater Residenz Verlag GmbH Mühlstraße 7 | A-5023 Salzburg-Gnigl | www.residenzverlag.com Rowohlt Theater Verlag Kirchenallee 19 | D-20099 Hamburg | www.rowohlt-theaterverlag.de rua. Kooperative für Text und Regie Weisestraße 7 | D-12049 Berlin | www.ruakooperative.de schaefersphilippen Theater und Medien GbR Lindenstraße 43 | D-50674 Köln | www.schaefersphilippen.de S. Fischer Verlag GmbH Theater & Medien Hedderichstraße 114 | D-60596 Frankfurt a. M. | www.fischer-theater.de Suhrkamp Theaterverlag Torstraße 44 | D-10119 Berlin | www.suhrkamptheater.de Theaterverlag Eirich GesmbH Korneuburger Straße 86 | A-2103 Langenzersdorf | www.theaterverlag-eirich.at Theaterverlag Elgg Eigerstrasse 73 | CH-3007 Bern | www.theaterverlage.ch Theaterverlag Rieder Birkenweg 3 | D-86648 Wemding | www.theaterverlag-rieder.de Theaterverlag Hofmann-Paul Naumannstraße 24 | D-108793 Berlin | www.ulrikehofmann-paul.com

Finden

39

Thomas Sessler Verlag Johannesgasse 12 | A-1010 Wien | www.sesslerverlag.at Ueberreuter Verlag Ritterstraße 3 | D-10969 Berlin | www.ueberreuter.de Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage Pariser Straße 47 | D-10719 Berlin | www.theatertexte.de Neue Pegasus Medienverlag AG Bleibtreustraße | D-10623 Berlin | https://pegasus-agency.de/theaterverlag Verlag der Autoren GmbH & Co KG Taunusstraße 19 | D-60329 Frankfurt am Main | www.verlagderautoren.de Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten GmbH Buchweizenkoppel 19 | D-22844 Norderstedt | www.vvb.de Wallstein Verlag Geiststraße 11 | D-37073 Göttingen | www.wallstein-verlag.de

40

Martin Schneider VERTONEN

I. Wer sich mit Rezensionen von Gegenwartsdramen beschäftigt, wird schnell bemerken, dass diese nicht selten auf musikalische Vergleiche zurückgreifen. Bei Felicia Zellers 2008 uraufgeführtem Drama Kaspar Häuser Meer handelt es sich laut Nachtkritik um eine „Sprechoper“1, Björn SC Deigners In Stanniolpapier aus dem Jahr 2019 wiederum ist Theater der Zeit zufolge eine „Textkomposition“2, sei es doch der „musikalische Zugang“ zum Theater, den sämtliche Dramen Deigners teilten.3 Diese Metaphorik ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Zahlreiche Gegenwartsdramatiker:innen verweisen mit den Titeln, Untertiteln und Schauplätzen ihrer Texte auf die Musik, sie nennen sie Coda4 und „Sinfonie“5 oder lassen sie in einer Disko6 spielen. Folgerichtig bedienen sich nicht nur Journalist:innen, sondern auch die Autor:innen selbst des musikalischen Vergleichs. „Der Text“, so Ewald Palmetshofer, „ist nur die Partitur für eine Aufführung, die das eigentliche Kunstwerk ist“7, während Thomas Köck in seiner Dankesrede zur Verleihung des Mülheimer Dramatikpreises 2019 bekannte, er sei „angehöriger eines bestimmten sounds“ und „vertreterin einer melodie“8. Dass einige der genannten Autor:innen als Musiker:innen tätig waren oder sind, verwundert deshalb nicht.

Auch wenn noch keine quantitative Untersuchung vorliegt, sind Häufigkeit und Persistenz der musikalischen Referenzen in der Gegenwartsdramatik bzw. der musikalischen Metaphern in der Rede über die Gegenwartsdramatik auffällig.9 Grund genug, der Sache einmal nachzugehen und zu fragen, wie die Forschung das Verhältnis von Musik und Literatur definiert und wie sich, darauf aufbauend, das Verhältnis von Musik und Dramatik beschreiben ließe. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Tendenz zur ‚Vertonung‘ kein Phänomen allein des Gegenwartstheaters ist, sondern bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prominent zu beobachten war.

Der Vergleich mit einer ‚Partitur‘ spielt schon in Friedrich Dürrenmatts

Vertonen

41

Überlegungen zum Drama eine zentrale Rolle.10 Auch die Texte Thomas Bernhards wurden häufig mit ‚Sprachpartituren‘ verglichen. Seine Dramen leben von der Musikalisierung der Sprache, die in Stücken wie Die Macht der Gewohnheit (1974) durch musikalische Referenzen noch verstärkt wird: In dessen Zentrum steht die permanent unterbrochene Probe von Schuberts Forellenquintett. Wie prominent das Phänomen in den Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende war, lässt sich auch am Welterfolg von Patrick Süskinds Der Kontrabaß aus dem Jahr 1981 ablesen, ein einaktiges Monodrama über einen frustrierten Orchestermusiker und sein ambivalentes Verhältnis zur Musik.

II. Zunächst sei aber grundsätzlicher gefragt: Wie kann Sprache „vertonen“, wie kann sie sich überhaupt der Musik annähern (→ Veropern)? Schließlich sind dramatische Texte keine musikalischen Notationssysteme. Wenn Thomas Köck den ersten Teil seiner Klimatrilogie eine „Sinfonie“ nennt, wird der Text deshalb nicht von einem Orchester aufgeführt. Aus diesem Grund geht man in der Forschung von Imitationen, Referenzen und Analogiebildungen aus. Mit den grundlegenden Studien Steven Paul Schers11 unterscheidet man seit den späten 1960er Jahren zwischen ‚verbal music‘ und ‚word music‘, wobei der erste Begriff allgemein die literarische Beschreibung musikalischer Phänomene meint, der zweite die sprachliche Imitation von Musik durch Rhythmisierung und Intensivierung von Klang. Dieses binäre Schema hat Werner Wolf in ein differenziertes, strukturalistisch informiertes Modell von Intermedialität überführt, in dem ‚Wortmusik‘ neben Phänomenen wie ‚musikalischer Ekphrasis‘ und Liedtext-Zitaten als eines von mehreren Verfahren der Imitation bzw. des ‚showing‘ fungiert.12 Diesem stellt Wolf nicht-imitative Verfahren des ‚telling‘ gegenüber, etwa bloße Thematisierungen von Musik.13 In der nun enger gefassten Wortmusik wird Wolf zufolge „die lautlich-rhythmische Oberfläche der Sprache affiziert“14 – bekannte Beispiele hierfür sind Kurt Schwitters’ Ursonate oder das Sirenen-Kapitel in James Joyces Ulysses. Solche Phänomene literarischer Klangerzeugung sind es auch, die im Zuge der ‚Sound Studies‘ in jüngerer Zeit in den Fokus gerückt sind.15 Neben der Wortmusik sind laut Wolf auch

42

Martin Schneider

‚Strukturanalogien‘ eine formale Imitation. Auch hier entstehe „der Eindruck einer mehr oder weniger großen Abweichung von literarischen Konventionen“, da das „Organisations- und Kohärenzprinzip“ des Textes nun explizit auf musikalische Formen anspiele. Als Beispiel fungiert hier Heimito von Doderers Erzählung Sonatine, I. Satz, die wie ein Sonatensatz in ABA-Form gehalten ist.16 Auch wenn dieses Modell, wie die ‚word and music studies‘ insgesamt, ausschließlich am Beispiel von Prosa und Lyrik entwickelt wurden, kann man es auf Theatertexte übertragen. Ein gutes Beispiel für Wortmusik und damit für ein lautlich und rhythmisch stark affiziertes Drama ist Der Fiskus (2019) von Felicia Zeller, das permanent mit Wortwiederholungen, Assonanzen, Alliterationen und Aposiopesen arbeitet.17 Ebendort finden sich auch, in der Terminologie Wolfs, ‚Teilreproduktionen‘ von Liedtexten, etwa als die Figuren ein amerikanisches Gospel anstimmen.18 Bei der von Köck gewählten Bezeichnung ‚Sinfonie‘ für den ersten Teil seiner Klimatrilogie handelt es sich wiederum um eine Strukturanalogie. Die Inszenierung der Handlung in einer Disko in Wolfram Hölls gleichnamigem Stück wäre eine ‚Thematisierung von Musik‘ auf Ebene des telling. Dass Studien zur Musikalität von Dramentexten ein Desiderat bilden, zeigt sich jedoch daran, dass nicht alle Konzepte der Intermedialitätsforschung auf Dramen übertragbar sind. So bedarf das Phänomen der ‚Strukturanalogie‘, laut Wolf, in einem Erzähltext der expliziten Referenz: Von Doderers Text ist mit seiner ABAForm nur als ‚Sonatine‘ lesbar, weil der Titel eine solche ankündigt. Wenn Köck allerdings die musikalischen Strukturparallelen nur in den Para- und Nebentexten seines Dramas und nicht in der Figurenrede explizit macht, gehen diese für die Zuschauer:innen verloren – es sei denn, die Regie schafft hier Abhilfe.

Auch die Definition der Wortmusik muss im Hinblick auf Dramentexte differenziert werden. Wolf knüpft sie an die Bedingung einer „zumindest imaginäre[n] akustische[n] Realisierung des Gelesenen“19. Tatsächlich zeigen Untersuchungen zur Lyrik des 20. Jahrhunderts, dass deren Verfahren der Klangerzeugung auf performative Praktiken zielten.20 Auf Dramentexte trifft dies bekanntlich in einem noch viel stärkeren Maß zu. Sie werden für die Bühne geschrieben und lassen sich als Vorgaben bzw. Angebote lesen,

Vertonen

43

die von den Akteur:innen des Theaters dann in der Aufführung umgesetzt werden können. Richtet man den Blick auf die spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Gegenwartsdramatik, gewinnt dieser Befund noch an Relevanz. Anders als in der Dramatik um 1800 oder um 1900 werden aktuelle Theatertexte nur selten in Publikumsverlagen gedruckt. Meist zirkulieren PDF-Dateien der Stücke, die von den Theatersparten der Verlage vertrieben werden (→ Finden). Sie richten sich also in der Regel nicht an eine breite Leser:innenschaft, die den Text nur imaginär zur Aufführung bringen könnte, sondern an die künstlerisch produktiven Akteur:innen eines Theaters: Intendanz, Dramaturgie, Regie und Schauspieler:innen. Die Aufführung dieser Texte ist kein Nebeneffekt, sondern ihr eigentlicher Zweck.

Damit haben Musikalisierungen in Texten der Gegenwartsdramatik in pragmatischer Hinsicht einen anderen Status als in aktuellen Romanen, Erzählungen oder Gedichten. Schreiben Autor:innen heute einen Theatertext, rechnen sie in der Regel damit, dass dieser in Proben von Schauspieler:innen durch Lautlesen eingeübt wird (→ Sprechen). Klangliche und rhythmische Akzentuierungen, Zeilenumbrüche, Lautmalereien etc. bilden in diesem Fall tatsächlich ein mit der Partitur vergleichbares Notations­ system, das sich für die Realisierung auf der Bühne anbietet. Dabei gewähren die kollektiven Produktionsverhältnisse des Theaters den Ausführenden allerdings einen gewissen Freiraum. Textpassagen können im Proben­ prozess geändert werden, ‚musikalische‘ Theatertexte werden in jeder Inszenierung wieder anders rhythmisiert, die Betonungen unterschiedlich ausgelegt (→ Verkörpern). Deshalb bleiben die Konsequenzen, die die Wortmusik eines Dramas für dessen Bedeutungsebene hat, zu einem hohen Grad kontingent. Wie bereits in den Dramen Thomas Bernhards zu beobachten ist, verschiebt die starke Musikalisierung eines Textes die Aufmerksamkeit vom Signifikat auf den Signifikant, vom Bezeichneten und Vorgestellten auf den sprachlichen Ausdruck selbst. Figuren, die musikalisch sprechen, scheinen häufig Nonsens zu reden – ein Phänomen, dass sich auch in den Texten Zellers beobachten lässt. Zugleich machen es solche wortmusikalischen Texte den Schauspieler:innen leicht, durch Interpretation des Sprechrhythmus, der Satzmelodie und der Silbenbetonung die ­Semantik eines Textes zu variieren und frei flottieren zu lassen. Wer die

44

Martin Schneider

Aufführungen von Zellers Der Fiskus am Staatstheater Braunschweig und im Wiener Burgtheater gesehen hat, wird dies bestätigen können.

III. Abschließend sollen nun anhand von Passagen aus Dramen Thomas Köcks, Wolfram Hölls und Björn SC Deigners textnahe Beispiele des ‚Vertonens‘ in der Gegenwartsdramatik gegeben und Kombinationsmöglichkeiten zwischen Strukturanalogien und Wortmusik aufgezeigt werden. Die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung „verirrte Sinfonie“, die Köck dem ersten Teil seiner Klimatrilogie. paradies fluten gibt, wurde bereits erwähnt. Blickt man in den Aufbau des Textes, setzt der Autor diese Analogie konsequent fort. Der Prolog wird zur „overtüre“21, die „nach den fluten“ spielt und in der „zwei sehr sehr sehr alte frauen“ als „postparzen“ auftreten.22 Eine Konstellation, die sich als Kontrafaktur von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen lesen lässt. Im Vorspiel des letzten Teils, der Götterdämmerung, treten drei Nornen auf, am Ende des Zyklus versinkt die Welt in den Fluten des Rheins. paradies fluten ist in drei Akte (bzw. ‚Sätze‘) unterteilt, der erste wird als „serenade“23 bezeichnet. Die Szenen sind mit Nebentexten versehen, die an Bezeichnungen von Symphoniesätzen des 19. Jahrhunderts erinnern („marziale fuoco“, „mormorendo morendo“24). Diese Angaben des Nebentextes lassen sich, mehr noch als die abstrakte Gattungsbezeichnung „sinfonie“, als Vorgaben des Autors lesen: zur Spielweise der Szenen, ihrem Tempo, ihrer Lautstärke, ihrem Charakter – ähnlich einem Komponisten, der in der Partitur der Dirigentin eines Orchesters Hinweise zu Tempo und Charakteristik gibt. Die Kommunikationsbahnen des Textes verlaufen hier ausschließlich zwischen Autor und Produktionsteam, der Einfluss der musikalischen Strukturanalogien auf die Aufführung bleibt den Zuschauer:innen verborgen.

Deutlicher noch arbeitet Wolfram Hölls Disko in Analogie zu musikalischen Notationssystemen. Die Figuren sind wie die Instrumente einer Partitur nebeneinander angeordnet, allerdings nicht horizontal, sondern vertikal.

Die Rede der Figuren ist in den ihnen zugeordneten Spalten notiert, wobei Höll die horizontalen Zeilen fortlaufend von eins bis acht nummeriert und damit ‚taktet‘. Gleich zu Beginn des Stücks entsteht so ein antilabisch er-

Vertonen

45

zeugter Schlagzeugrhythmus, gesprochen von den Figuren „Single“ und „Helferin“: „Bums/Tschick/Bums/Tschick/Bums/Tschick“25 usw. Über diesen Rhythmus sprechen dann andere Figuren ihren ebenfalls rhythmisierten Text. Strukturanalogie und Wortmusik konvergieren und verstärken sich gegenseitig. Zwar findet sich auch in paradies fluten klingende und rhythmisierte Wortmusik26, diese ist aber nur indirekt mit den musikalischen Formreferenzen verbunden. Das in Disko gewählte Modell der in Spalten angeordneten ‚Textpartitur‘ verwendet Höll auch in seinem 2024 erschienenen Stück Niederwald; und auch wenn er auf die Zeilentaktung verzichtet, dient die Anordnung abermals der Visualisierung und Verdeutlichung des dem Sprecherwechsel eingeschriebenen Rhythmus, etwa in folgenden, auf die Figuren „Alice“ (A), „Tochter“ (B) und „Uroma“ (C) verteilten Repliken: „A: sie schreit/ B: Ich/ C: er will sie/ A: sie schreit/ B: kann/ C: schütteln/ A: sie schreit/ B: das/ C: er will sie/ A: sie schreit/ B: Ich kann das/ C: rütteln“.27 Dennoch ließe sich behaupten, dass die in Disko gewählte Kombination von Thematisierung (der Schauplatz ist eine Disko), Strukturanalogie und Wortmusik den Text in einem höheren Grad zu einem ‚musikalischen Drama‘ werden lässt als dies in Niederwald und paradies fluten der Fall ist.

Am anderen Ende der Skala wäre ein Stück wie Björn SC Deigners Die Polizey aus dem Jahr 2020 anzusiedeln. Dessen Analogie zu musikalischen Formen ist nur mittelbar zu erschließen, der Einsatz von Wortmusik ist subtiler. Der Text beginnt mit einer langen Rede des Chores. Aus ihm „löst“ sich die Figur des Verbrechers „Vidocq“28, der nun mit dem Chor in einen Dialog tritt. Mit dem Einsatz eines Chores in einer Schiller-Adaption könnte Deigner auf Schillers Überlegungen zum Einsatz des Chores im Theater in seiner Vorrede zur Braut von Messina rekurrieren. Diese haben eine musikästhetische Komponente, auf die ein halbes Jahrhundert später Richard Wagner in seiner theoretischen Schrift Oper und Drama zurückgreifen wird. Hier fungiert das Heraustreten des Sprechers aus dem Chor in der antiken Tragödie als Vorbild für das Heraustreten der Melodie aus dem ­Orchester im Musikdrama. Solche musikalischen Bezüge werden nicht während der Aufführung, sondern nur indirekt und während der genauen, kulturgeschichtlich informierten Lektüre des Dramas sichtbar (→ Kritisieren),

46

Martin Schneider

auch wenn Deigner den Sprecherwechsel zwischen Chor und Vidocq an einigen Stellen rhythmisiert: „C: Noch Weiteres Vidocq/ V: hab einen erstochen/ beim Duell/ und einen anderen/ vermutlich auch/ C: weiter/ V: war Freibeuter/ C: weiter/ V: verkehrte bei Huren/ C: weiter“.29 Wie die Beispiele zeigen, lassen sich in Texten der Gegenwartsdramatik unterschiedliche Formen und Grade des ‚Vertonens‘, das heißt der intermedialen Bezugnahme auf die Musik ausmachen. Dennoch sollte die Verwendung von Musik-Metaphern in der Rede über die Gegenwartsdramatik heuristisch davon unterschieden werden. Wenn eine Rezension ein Drama als „Partitur“ oder ein Autor sich selbst als musikalischen Schriftsteller bezeichnet, kann dies Gründe haben, die nicht unbedingt mit den ästhetischen Verfahren der Texte korrelieren. Möglich ist, dass die häufige Bezugnahme auf musikalische Formen (nach) der Postdramatik (und anders als zu Zeiten Dürrenmatts, Bernhards und Süskinds), die Möglichkeit bietet, ästhetische Kohärenzen zu suggerieren, die nicht mehr durch genuin dramatische Formen und Gattungen garantiert werden sollen.

1

Ute Grundmann: „Auf dem Stempelkissen des Schicksals“, in: Nachtkritik.de, 5. September 2010 (https://nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/thueringen/weimar/nationaltheaterweimar/kaspar-haeuser-meer-meik-priebe-ueberzeugt-in-weimar-mit-felicia-zellers-sprechoper, Zugriff am 16.4.2025).

2

Erik Zielke: „Die Geburt der Neuen Dramatik aus der Theatermusik. Björn SC Deigner“, in: Dorte Lena Eilers/Anja Nioduschweski (Hg.): Stück Werk 6. Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt (=Theater der Zeit Arbeitsbuch 2020, Heft 7/8), S. 34–36, hier: S. 34.

3

Ebd., S. 35.

4

Elfriede Jelinek: „Coda“, in: dies.: Die Schutzbefohlenen. Wut. Unseres, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 131–158.

5

Thomas Köck: „paradies fluten (verirrte Sinfonie). teil eins der Klimatrilogie“, in: ders.: Klimatrilogie, Frankfurt a. M. 2022, S. 86.

6

Wolfram Höll: Disko, in: Theater heute 60. Jg., Februar 2019. Für diese Publikation hat der Autor eine gekürzte Fassung des Stückes erstellt.

7

Christoph Leibold: „Der Rhythmus des Denkens. Ewald Palmetshofer“, in: Stück Werk 6, S. 104–108, hier: S. 106f.

8

Thomas Köck: „shakespeare sein schädel und das publikum“, in: Logbuch Suhrkamp (https:// www.logbuch-suhrkamp.de/thomas-koeck/shakespeare-sein-schaedel-und-das-publikum, Zugriff am 16.4.2025).

Vertonen

47

9

Aktuell forscht Hannah von Sass zur terminologischen Darstellung von Theatertexten als Musik, der ich für nützliche Hinweise danke.

10

Thorsten Roelcke: Dramatische Kommunikation. Modell und Reflexion bei Dürrenmatt, Handke, Weiss, Berlin/New York 1994, S. 59–62.

11

Steven Paul Scher: Verbal Music in German Literature, New Haven u. a. 1968; Scher: „Notes toward a Theory of Verbal Music“, in: Comparative Literature, 22. Jg. (1970), H. 2, S. 147–156.

12

Werner Wolf: „Musik in Literatur: Showing“, in: Nicola Gess/Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur & Musik, Berlin/Boston 2017, S. 95–113, hier: S. 96–109.

13

Ebd., S. 98.

14

Ebd., S. 104.

15

Frieder von Ammon: „Poetophonie. Für eine Klangforschung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Alexander Honold/Christine Lubkoll/Steffen Martus/Sandra Richter (Hg.): Jahrbuch der deutschen Schillerforschung, 64. Jg. (2020), S. 241–259; Britta Herrmann/Lars Korten (Hg.): Diskurse des Sonalen. Klang – Kunst – Kultur, Berlin 2019; Wolf G. Schmidt (Hg.): Faszinosum „Klang“. Anthropologie – Medialität – kulturelle Praxis, Berlin / Boston 2014.

16

Vgl. sowie Zitate: Wolf: Musik in Literatur, S. 105–107.

17

Felicia Zeller: Der Fiskus, Berlin 2019. Unveröffentlichtes PDF des Verlags Felix Bloch Erben.

18

Ebd., S. 15.

19

Wolf: Musik in Literatur, S.104.

20

Von Ammon: Fülle des Lauts. Aufführung und Klang in der deutschsprachigen Lyrik seit 1945. Das Werk Ernst Jandls in seinen Kontexten, Stuttgart 2018.

21

Köck: paradies fluten, S. 13.

22

Ebd., S. 14.

23

Ebd., S. 19.

24

Ebd., S. 62, 69.

25

Höll: Disko, S. 2.

26

Vgl. etwa die erste Szene des ersten ‚Aktes‘. Köck: paradies fluten, S. 20-25.

27

Höll: Niederwald, Frankfurt a. M. 2024, S. 34.

28

Björn SC Deigner: Die Polizey. Nach Friedrich Schiller, Frankfurt a. M. 2020. Unveröffentlichtes PDF des S. Fischer Verlags, S. 7.

29

Ebd., S. 9.

48

Tina Hartmann VEROPERN

– klingt weniger schmeichelhaft als (→ Vertonen), eher nach „herunterbrechen“. Tatsächlich entspricht „verkleinern“ sowohl dem Wortsinn Libretto (= italienisch: Text-Büchlein) als auch dem Entstehungsprozess. Kleiner an Umfang, umfasst das Libretto gegenüber seiner Stoffvorlage – verglichen mit einem Theaterstück, beispielsweise Friedrich Schillers – maximal ein Drittel, bei Romanen je nach Umfang ein Zehntel oder weniger des ursprünglichen Textes. Mit der Notwendigkeit extremer Verknappung ist das Libretto nach literarischen Vorlagen (Literaturoper) dabei nicht selten dem Vorwurf der ‚Verflachung‘ ausgesetzt.1 Stoffvorlagen bearbeiten die meisten Libretti der Operngeschichte,2 auch wenn erstere mitunter gegenüber den Opern heute kaum mehr gespielt werden, wie die Dramenvorlagen von ­Rigoletto (Victor Hugo, 1851) oder La Traviata (Alexandre Dumas d. J., 1853) von Francesco Maria Piave für Giuseppe Verdi. Neue Geschichten, sogenannte Originallibretti wie Hugo von Hofmannsthals Der Rosenkavalier (1911), sind in der Operngeschichte eher die Ausnahme. Der zentrale Vorteil einer Stoffbearbeitung liegt darin, dass dem Publikum die Geschichte bereits bekannt ist und die Oper sich statt auf das „Was“ ganz auf das „Wie“ der Darstellung konzentrieren kann. Ab dem 20. Jahrhundert werden Opern zunehmend von Filmen inspiriert, wie Lost Highway von Elfriede Jelinek für Olga Neuwirth 2003. Filme kommen der Oper in vielerlei Hinsicht besser entgegen als Theaterstücke, da Film wie Oper in Bildern erzählt, wohin­ gegen Dramatik klassischerweise von Konflikten vorangetrieben wird. Seit der Erfindung des Tonfilms ist der Film als gesprochener Text über einer Musik- oder Tonspur ohnehin als strukturelles Melodrama beschreibbar und greift damit eine Sonderform des Musiktheaters aus dem späten 18. Jahrhundert auf. Indem sie nicht nur dramatisch vergegenwärtigen, sondern auch episch erzählen, sind Filme oft und Oper insbesondere seit dem 20. Jahrhundert als epische (Theater-)Formen beschreibbar. Tatsächlich gestaltet sich die Veroperung eines umfangreichen Romans, aus dem ein

Veropern

49

zentraler Handlungsstrang ausgewählt werden kann, oft einfacher als die eines Theaterstücks mit klassischer Intrigenstruktur. Allerdings greifen die Dramatik der Avantgarde seit den 1920er Jahren, das Absurde Theater ­sowie das Postdramatische Theater3 ihrerseits epische Strukturen auf und nähern sich damit der Dramaturgie der Oper an. Die epische Tendenz der Oper manifestiert sich besonders in den Arien beziehungsweise Gesangspassagen. Mit und in ihnen halten die Figuren reflektierend die Handlungszeit an. Die Barockoper hat dieses Moment in der Da-capo-Arie gefeiert; das 19. Jahrhundert versucht, es mit der Handlungsarie zu verschleiern; die Moderne hat es spätestens mit Elisabeth Hauptmann und Bertolt Brechts Dreigroschenoper für Kurt Weil als Chance der Abstraktion entdeckt, und ­György Ligeti und Michael Meschkes Le grand Macabre (1978/1996) auf La balade du Grand Macabre von Michel de Ghelderode darin sogar die ­große Belcanto-Koloraturarie wiederbelebt.

Die Beurteilung des Librettos als literarischer Text wird erschwert durch seine mit dem Autonomiegebot der Avantgarde konfligierende Ausrichtung auf die Komposition. Opernlibretti werden produktionsästhetisch auf die Komposition hin entwickelt, jedoch werden rezeptionsästhetisch strukturelle Qualitäten in der Regel der Komposition zugeschlagen, während dramaturgische Schwächen dem Operntext angelastet werden. Als dessen autonomes Spezifikum verbleibt allein die Sprache. Was aber ist die viel beschworene „musikalische Sprache“?

Komponierende beantworten diese Frage verständlicherweise sehr subjektiv aus ihrer jeweiligen kompositorischen Vorstellung; sie könnten beispielsweise Thomas Bernhards wiederholungsreiche Sprache als musikalisch empfinden. Technisch ist die Frage dagegen vergleichsweise einfach zu beantworten: Vokalreiche Sprache ist leichter zu singen als konsonantische, klingende Vokale besser als Frikative und offene Vokale eignen sich besser für hohe Töne innerhalb der jeweiligen sängerischen Tessitura.4 Das Libretto ist kein ‚Vokalsalat‘, doch lohnt es sich, schon beim Schreiben eine gesangliche Artikulation auszuprobieren (→ Sprechen). Mindestens bis zu Richard Wagner war das Libretto grundsätzlich ein Verstext. Wagner reflektiert in seinen Libretti zwischen Lohengrin (1850), Ring des Nibelungen (1876) und Parsifal (1882) die Bedeutung der Versform für die Musikform, weil ers-

50

Tina Hartmann

tere nicht in der Komposition verschwindet, sondern zu deren Phrasierung wird. Heute verwenden die meisten Libretti Prosa. Versifizierung kann beispielsweise in ungereimten freien Versen jedoch eine gute Strategie sein, mittels rhythmischer Textstruktur der Phrasierung der Vertonung zuzuarbeiten, und sorgt überdies für eine gute Singbarkeit.

Singen ist Gratwanderung und Primatsabwechslung zwischen Musikklang und Sprachbedeutung. Ein Libretto analog zum Schauspiel auf die Verständlichkeit eines rein sprachlichen Elements („to be or not to be“) hinzuleiten, wäre daher ein Roulette-Spiel. Dies gilt auch, wenn Text in einer Arie repetitiv hervorgehoben würde, da damit der Modus vom DramatischSituativen zum Epischen verschoben wird und das sprachliche Ereignis zur Trägersubstanz von Klang wird. Da rein sprachlicher Esprit in der Vertonung überwiegend verlorengeht, kombinieren handlungs- und spannungsgetriebene Formen des Musiktheaters, die auf ein direktes Verständnis des Texts angewiesen sind – darunter Operette, Musical, aber auch Musiktheater für Kinder5 wie Flora Verbrugge und Leonard Evers Gold! (2012) – häufig gesprochene Handlungspassagen mit Liedern und Arien oder wählen eine sprachnahe Kompositionsweise.

Die rezeptionsästhetische Schieflage und die damit korrespondierenden methodischen Probleme der Librettoforschung (im Unterschied zur etablierten Opernforschung)6 werden weiter verschärft, indem der gesun­gene Text auch aus außerlibrettistischen Gründen in der Oper schwerer ­verständlich sein kann. Produktionsästhetisch gehört zu den basalen technischen Herausforderungen der Opernkomposition die Ponderation zwischen dem Orchester und der Stimme als Trägerin des Texts. Ferner gibt es für jede Gesangsstimme innerhalb der individuellen Tessitura Tonareale, die die Artikulation verständlicher Sprache schwierig machen. In der Regel sind dies die Randbereiche der Stimme, insbesondere hohe Lagen, weshalb experimentelle Stimmbearbeitungen häufig mit Textverständlichkeit konfligieren. Diese Aspekte entziehen sich dem Zugriff des Librettos. Die schwierige Sprachverständlichkeit in der Oper liegt nicht nur an der Konkurrenz mit dem Orchester, sondern im Prinzip an der gesungenen im Unterschied zur vertonten Sprache. Als pragmatische Lösung verwenden die meisten Opernhäuser auch für deutschsprachige Opern inzwischen Übertitel (→ (Zu)Hören).

Veropern

51

Das Libretto argumentiert im doppelten Wortsinn a-logisch. „A-logisch“ bedeutet keinesfalls „unlogisch“, vielmehr wird die Wortbedeutung zum szenisch-räumlichen und idealerweise klanglichen Ereignis transformiert.

Diese Verklanglichung kann sich in der Thematisierung von Musik und Gesang auf der Ebene der Motivik und Handlungsführung spiegeln, wie in Hannah Dübgens Kyros für Jörn Arnecke (2011), die damit sowohl an die Orpheus-Bearbeitungen wie Die Zauberflöte Emanuel Schikaneders für Wolfgang Amadeus Mozart anknüpft. Die Herausforderung des Librettos liegt darin, die Figuren weniger über das, was sie sagen, zu charakterisieren, und mehr darüber, wie sie es tun, womit Bedeutung als Modus vom Libretto in den Partiturtext wandern kann. Wenngleich Libretto und Vertonung sich heute nicht mehr in verbindlichen Konventionen bewegen, sind deren Formen noch immer so stark im kulturellen Gedächtnis verankert, dass Koloratur, (gereimtes) Lied oder populärmusikalische Elemente wie Rap als ­protomusikalische Struktur im Libretto zur Figuren- und Situationscharakterisierung verwendet werden können. Der gelungene Operntext ist damit eine Ermöglichungsstruktur für Musik. Eine treffende kritische Würdigung ist zwar auch nach aktuellem Stand der Forschung noch immer eine Herausforderung, gleichwohl sind die vielen Kriterien für gelungene Libretti auch ohne Vertonung anwendbar.

Eine der zentralen Stärken des Librettos liegt zweifellos in einem Bereich, der sich direkter sprachlicher Artikulation entzieht, entsprechend schwer dramatisierbar, jedoch mit dem auf den Ton hinführenden Text darstellbar ist: Gefühle. Oper und Musiktheater sind auch deshalb die performativen Gattungen, die sich der Pathos-Diskreditierung der Avantgarde weitgehend widersetzten. Bereits die Musiktheatertheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reflektiert die Überlegenheit gesungener und pantomimischer musikalischer Darstellung als nicht-arbiträres und damit übersprachliches Ausdrucksvermögen. Zugleich bleibt das sprachliche Skript unverzichtbare literarische Grundlage, auch wenn es – wie im Handlungsballett – in der Aufführung nicht mehr sprachlich in Erscheinung tritt.7 Nicht zufällig entsteht das Opernlibretto als musikalisches Drama um 1600 aus einer Geschichte über eine Liebe, die mit der Magie des Gesangs den Tod überwindet und wieder in tödlichen Schmerz zurückfällt. Die Ge-

52

Tina Hartmann

schichte von Orpheus und Eurydike hat in fast 500 Jahren kaum an Attraktivität für die Opernbühne verloren. Beat Furrers Begehren. Musiktheater in 10 Szenen (2010) auf Texte von Cesare Pavese, Günter Eich, Hermann Broch, Ovid, Vergil und Briefe von Ingeborg Bachmann und Paul Celan steht exemplarisch für ein postdramatisches Musiktheater, das mittels universell bekannter Geschichten aus Mythologie und Märchen Musik zu Textflächen komponiert, die keinen direkt narrativen Anspruch haben.

Diese Dramaturgie bestimmte mit dem Diktum autonomer Musik und Komponisten wie Heiner Göbbels und Karlheinz Stockhausen die Opernavantgarde von den 1960er Jahren bis zur Jahrtausendwende. Helmut ­Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997) realisiert sich auf der Basis der Dramaturgie von Hans Christian Andersens bekanntem Märchen vollständig ohne gesungenen Text, mit einem geräuschmusikalischen Chor, während die Sänger:innen als ‚Instrumente‘ ins Orchester integriert sind und als Höhepunkte Texte Gudrun Ensslins und Leonardo da Vincis verlesen werden.

Demgegenüber steht seit dem 21. Jahrhundert ein neues narratives ­Musiktheater, das mit Rekurs, u. a. auf die Libretti Bachmanns für Hans Werner Henze, die Literaturopern auf eigene Libretti von Aribert Reimann und Manfred Trojahn sowie das angloamerikanische Musiktheater, versucht, unter den Bedingungen zeitgenössischer Opern wieder Geschichten zu erzählen. Darunter die Literaturopern Detlev Glanerts (von Der Spiegel des großen Kaisers, 1995, Text Detlev Glanert mit Ulfert Becker, bis Die Jüdin von Toledo, 2024, Text Hans-Ulrich Treichel), Anno Schreiers (u. a. Die Stadt der Blinden, 2011, Text Kerstin Maria Pöhler nach José Saramago, und­ Turing, 2022, Originallibretto Georg Holzer), über die Schwetzinger Trilogie (Bluthaus, 2011, Thomas, 2013, Koma, 2016) von Händl Klaus für Georg Friedrich Haas bis hin zu Constantin von Castensteins Original-Operettenlibretto Südseetulpen für Benjamin Schweitzer.

Eine Sonderform der Literaturoper bilden repetitive Dramaturgien, die Literaturvorlagen mehrmals mit veränderten Perspektiven ablaufen lassen, und das dramatische Handlungsmoment damit in eine musikalische Rondo­ form verschieben – wie Péter Eötvös gemeinsam mit Claus H. Henneberg und Krzysztof Wiernicki entwickelte Drei Schwestern (1998) nach Anton

Veropern

53

Tschechow oder Salvatore Sciarrinos La porta della legge (2009, nach Franz Kafkas Vor dem Gesetz).

Eine Mittelposition zwischen textlich-musikalischer Autonomie und Handlungsoper bilden Opern mit textlich und oder musikalisch collagenartigen Strukturen und struktureller Reflexion literarischer Vorlagen, deren Figuren oder Autor:innen.8 Darunter die Opern Neuwirths, u. a. Lost Highway, The Outcast (2016, Neuwirth und Barry Gifford nach Herman Melville) und Orlando (2019, Olga Neuwirth und Catherine Filloux nach Virginia Woolf).

Dokumentarische Verfahrensweisen verwenden bereits u. a. Luigi Nono, für Intolleranza 1960 (1961), Hans Werner Henze für El Cimarrón (1969/70, nach Miguel Barnet) und im amerikanischen Musiktheater Steve Reich und Peter Sellars Doctor Atomic (2005) für John Adams.9 Dokumentarische Oper schließlich schöpft ihr Potenzial aus der Spannung zwischen maximal realitätshaltigem dokumentarischem Text- und Bildmaterial und einer forciert ungegenständlichen zeitgenössischen Musiksprache, die zwischen Skandal- und Schockmomenten sowie deren ästhetischer Überformung vermittelt (→ Übersetzen). Aus Text- und Bildmaterial der Shoa und der Völkermorde in Ruanda und Bosnien entwickelte ich 2008 Dreimaldrei gleich unendlich für Karola Obermüller und Peter Gilbert zu Phänomen der Täter-Opfer-Umkehr. Justice (2024) von Hèctor Parra auf das Libretto von Fiston Mwanza Mujila prangert mit der Umweltkatastrophe in der Demokratischen Republik Kongo im Februar 2019 die Ausbeutung durch internationale Konzerne an. Mit der „dokumentarischen Naturoper“ Wölfe (2022) lotet Helena Tulve mit Nina Gühlstorff den lokalen Streit von WolfGegner:in­nen und -Befürworter:innen aus.10 Dem Libretto stehen damit fast alle Formen moderner Dramatik offen.

Auch wenn die Klassifizierung des Librettos als eigenständige literarische Gattung langsam voranschreitet, sorgt vor allem das neue Erzählen im Musik­theater für eine Neubewertung seiner spezifischen poetisch-dramatischen Leistung.

54

Tina Hartmann

1

Zum Transformationsprozess vgl. Swantje Gostomzyk: Literaturoper am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine interdisziplinäre Studie am Beispiel der Opern von Detlev Glanert, Frankfurt a. M./ Berlin/Bern/Wien [u. a.] 2009, S. 36–52. Ferner Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikliterarischen Gattung, Darmstadt 2011. Zur Librettokritik vgl. Tina Hartmann: „Zeitgenössische Librettistik zwischen neuer Erzählkunst, Avantgarde und Formsuche.

Programmatisch-analytische Überlegungen“, in: Albert Gier (Hg.): Sirenengesänge: Neun Bamberger Vorträge zu Libretto und Musiktheater, Bamberg 2018. Sowie: Pia Janke/Christian Schenkermayr/Susanne Teutsch (Hg.): LIBRETTO. Zukunftswerkstatt Musiktheater (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 21), Wien 2020.

2

Für eine Zusammenstellung der zwischen 1945 und 1976 vertonten und uraufgeführten Libretti des deutschen Sprachraums siehe Karen Achberger: Literatur als Libretto. Das deutsche Opernbuch seit 1945. Mit einem Verzeichnis der neuen Opern, Heidelberg 1980.

3

Vgl. Regine Elzenheimer: Pause. Schweigen. Stille. Dramaturgien der Abwesenheit im postdramatischen Musik-Theater, Würzburg 2008.

4

Klaus Kaindl: Die Oper als Textgestalt. Perspektiven einer interdisziplinären Übersetzungswissenschaft (Studien zur Translation), Tübingen 1995.

5

Christiane Plank-Baldauf: Handlungsbegriff und Erzählstrukturen im zeitgenössischen Musiktheater für ein junges Publikum, Stuttgart 2017.

6

Tina Hartmann: Grundlegung einer Librettologie. Musik- und Lesetext am Beispiel der ‚Alceste‘Opern vom Barock bis zu C.M. Wieland (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte), Berlin/Boston 2017, S. 9–23; Tessa Singer: Das Libretto im zeitgenössischen Musiktheater. Transformationsprozesse von Text, Musik und Aufführung, München 2025, S. 18–23.

7

Matthias Sträßner: Tanzmeister und Dichter. Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre, Berlin 1994.

8

Lora Knapp: „Experimentelles Musiktheater mit Literatur“, in: Nicola Gess/Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur & Musik, Berlin/Boston 2017, S. 576–587.

9

Kornelius Paede: Dokumentarisches Musiktheater. Strategien der Authentifizierung im amerikanischen Musiktheater, Darmstadt 2020, S. 24, 37–45.

10

Arndt Voß: „Schwerin heult mit den Wölfen. Eine dokumentarische Naturoper von Helena Tulve“, in: Neue Musikzeitung, (https://www.nmz.de/kritik/oper-konzert/schwerin-heult-mitden-woelfen-eine-dokumentarische-naturoper-von-helena-tulve, Zugriff am 1.7.2025).

55

Artur Pełka (ZU)HÖREN

Theater ist ein im besonderen Maße sinnliches Medium, in dem als eine wesentliche Dimension der Wahrnehmung das Sehen und Hören hervortreten. Im Falle der auditiven Rezeption ist allerdings zwischen Hören und Zuhören zu differenzieren, was mit der Verankerung der Sprache als interface1 zwischen Natur und Kultur zusammenhängt. Als theatrales Zeichen besitzt die Sprache ein materielles Sein, das weder allein in seiner besonderen Phänomenalität noch ausschließlich in seiner spezifischen Funktionalität für die theatrale Inszenierung von Bedeutung ist (→ Veropern). Während Hören eine eher sinnliche Perzeption, eher ein Vernehmen als Verstehen der auditiven Wirklichkeit impliziert, bedeutet Zuhören eine Apperzeption, die das akustisch Vernommene durch verstandesmäßige Reflexion in einen Bewusstseinszusammenhang einordnet.2 Dabei bezieht sich das Hören nicht nur auf unartikulierte Klänge oder natürliche Laute, sondern umfasst auch den reinen, spezifischen Klang der Sprache, so etwa bei einer Fremdsprache. In dieser Hinsicht wird die Sprache des Theaters laut Andrzej Wirth zu einer „Kunstsprache, [die] Nationalsprachen [transzendiert], die sie nur als Material benutzt, und singt in den Ohren der Theaterliebenden“.3 Folgt man der Etymologie des Begriffs Theater, der bekanntlich auf das theatron, das heißt auf den ,Ort, von wo man schaut‘, zurückgeht, könnte man daraus auf eine Hierarchie der Sinne schließen, in der der Sehsinn den Hörsinn dominiert. Indessen war das Theater schon immer ein Hörraum, den ein Klanggeschehen beherrschte, vor allem der Klang von dramatischen Texten, die das europäische Theater jahrhundertelang konstituierten. Seit der Aufklärung, mit dem Aufkommen des Projekts eines Nationalen Theaters, das mit der Idee des Nationalstaates einherging, war das (Zu)Hören im Theater verstärkt auf die Wahrnehmung der jeweiligen nationalen Sprache gerichtet. Das von fremden Einflüssen befreite Theater sollte auch zwecks Erhaltung der gemeinschaftlichen nationalen Identität ihre jeweils offizielle Hochsprache pflegen. In diesem nationalen Projekt

56

Artur Pełka

gab es mit der Zeit Brüche und Risse.4 Seit den reformatorischen Bestrebungen im Theater an der vorletzten Jahrhundertwende wird die dramatische Sprache zunehmend ihrer Beredtheit und Distinguiertheit beraubt.

Das gesamte 20. Jahrhundert dekonstruiert dezidiert die Bühnensprache: vom stammelnd-ekstatischen Duktus des Expressionismus über die entsemantisierenden Lautmalereien des Dadaismus bis zu den Experimenten in den Sprechstücken, wo das Bühnendeutsch – wie in Ernst Jandls die Humanisten – zu einem subversiven „Kauderwelsch“ mutiert (→ Sprechen).5 Diese historischen Beispiele verdeutlichen, dass wir es in der Dramatik mit einer spezifischen Notation zu tun haben, die Theatertexte gleichsam zur „hörbaren Literatur“6 machen.

Diese Tendenz scheint in der zeitgenössischen Dramatik intensiviert zu werden. Gegenwartstheatertexte legen großen Wert auf die Klanglichkeit der Sprache und exponieren ihre Materialität, die sich durch ihre außersemantische, rein phonische Qualität, ihre sinnlich erfahrbare Stofflichkeit manifestiert. Dieser Trend geht zum einen mit dem acoustic turn7 und der Entwicklung von Sound Studies, zum anderen mit der ,postdramatischen‘ Praxis des Theaters einher, die eine spezifische „,auditive“ Bühne“8 erzeugt (→ Vertonen). Im Gegenwartstheater wird die Sprache oft entsemantisiert, zugunsten von Sprachlauten, die „auf der Bühne simultan dargeboten [werden], so dass man sie nur zu Teilen versteht, zumal bei der Verwendung verschiedener Sprachen“9. Hans-Thies Lehmann illustriert diesen Umstand anderenorts mit einem Rekurs auf Friedrich Nietzsche, der in Bezug auf die griechische Tragödie feststellte, dass „für den Dramatiker Wort und Vers nur das Stammeln in einer fremden Sprache sind“10. Nietzsches StammelnMetapher trifft auf viele zeitgenössische Theatertexte zu, in denen an die Stelle der Kausalität der Handlung die Materialität der Sprache tritt, so dass ihre Zeichen oft nicht primär für ihre Bedeutung transparent werden, sondern als Lautfolgen und Klangräume erscheinen. Als Paradebeispiel für solch eine Schreibstrategie – die in vielen aktuellen Stücken angewendet wird – kann Wolfram Hölls Disko (2019) genannt werden, in dem die Multisensorik eines Tanzklubs auf das Medium Theatertext übertragen wird.

Höll radikalisiert die Klangtechnik,11 wobei sein Experiment kein absolutes Novum in der Dramatik darstellt.

(Zu)Hören

57

Eine weitere auffallende Tendenz, die zwar nicht ganz neu ist, wie die Texte von Emine Sevgi Özdamar (Karagöz in Alamania, 1982, und Keloğlan in Alamania, 1991) zeigen, nimmt jedoch deutlich zu: die Multilingualisierung der zeitgenössischen Bühnenstücke, die auf eine spezifische Weise das (Zu)Hören aktivieren. Dies ist beispielhaft in dem Stück Fischer Fritz (2022) von Raphaela Bardutzky der Fall, in dem die Geschichte der polnischen Pflegerin Piotra dargestellt wird, die für den ehemaligen bayrischen Flussfischer Fritz, der an einer Sprechstörung leidet, bis zu seinem plötzlichen Tod sorgt.

In den Text werden immer wieder ganze Passagen in polnischer Sprache eingefügt. Nur scheinbar handelt es sich dabei nicht um eine Authentifizierung im Modus eines neuen Realismus, vielmehr stellt der Text die Materialität und darunter die Klanglichkeit der Sprache bzw. der Sprachen aus.12 Der titelgebende Zungenbrecher, der die Stofflichkeit der Laute bzw. der Lautproduktion unterstreicht, wird in dem Text mit Bairisch konfrontiert, das de facto als eine Fremd-Sprache in Szene gesetzt wird. Neben Zungenbrechern taucht in dem Text eine ganze Palette von verschiedenen Textsorten auf: u. a. medizinische Fachtexte, wobei es weniger um ihre semantische Dimension, sondern vielmehr um ihren fachspezifischen Klang geht, der befremdlich anmutet und letztlich eine unheilvolle Stimmung erzeugt.

Die Kommunikation zwischen Piotra und Fritz erweist sich wegen der Sprachbarriere als äußerst kompliziert, nichtsdestotrotz finden die beiden andere Kommunikationsmittel wie Essensrituale. Vor allem sind es aber gemeinsame deutsch-polnische Sprachspiele, welche ihre gegenseitige Annäherung begünstigen und zugleich die Materialität der Sprache exponieren: Griasnockerlsuppn?

Słow kształty krztuszą krtanie.

Die Kristalle der Wörter würgen den Kehlkopf.

Probieren Sie das mal. Słow kształty krztuszą krtanie.13 In gewissem Sinn wird der semantische Gehalt des Textes durch seine klangliche Ebene – mit dem eintönigen Rhythmus der Anaphern oder der Verlangsamung bzw. Beschleunigung des Sprechtempos – verdoppelt bzw.

58

Artur Pełka

vertont. Zugleich ist die klangliche Ebene stark an die metasprachliche gekoppelt. Der ganze Theatertext gestaltet sich zu einer Art Minitraktat, der die Sprache als ein System verhandelt. Immer wieder werden Informationen geliefert – nicht nur aus dem Bereich der Phonetik, sondern auch der Phraseologie, Wortbildung und Translatorik –, so dass auch in dieser Hinsicht die Materialität der Sprache in den Vordergrund tritt. Diese beschränkt sich nicht nur auf ihre Klanglichkeit, sondern bezieht sich auch auf ihre grafische Form, die stark fokussiert wird, indem der SMS-Austausch von Piotra und dem jungen Fahrer Borys in den Text quasi-eingeblendet wird.

Im Finale verabreden sich die beiden privat, wobei betont wird, dass es bei dem Treffen um „Reden und [Z]uhören“ (89) gehen soll. Damit ist deutlich eine körperliche Annäherung gemeint, die bei der SMS-Kommunikation, die Petra als „unwirklich“ (60) bezeichnet, fehlte. Mit dem ,Reden und Zuhören‘ wird am Ende noch einmal die Materialität der Sprache gewürdigt, und zwar der Kontakt mit dem einmaligen Klang der gesprochenen Sprache, die ein Teil der individuellen menschlichen Physis, ein Teil der körperlichen Identität des Menschen ist. An diesen individuellen Charakter erinnert die Erkenntnis von Piotra, dass Borys Stimme „rau“ (87) ist.

Auf den individuellen Klang der menschlichen Sprache macht auch Sasha Marianna Salzmann in ihrem Theatertext Muttersprache Mameloschn (2012) deutlich aufmerksam. In einer Mail an ihre Mutter Lin schreibt Clara „[E]s wäre schön, deine Stimme kurz zu hören“14; und in einem Gespräch sagt wiederum die Mutter zur Tochter: „Will deine Stimme hören./ […] Ich mag deine Stimme hören“ (14). Salzmanns Text thematisiert die Suche nach der eigenen – auch der sprachlichen Identität – von drei weiblichen Mitgliedern einer jüdischen Familie. Die Mehrsprachigkeit, die bereits in dem Titel exponiert wird, generieren vor allem zahlreiche jiddische Vokabeln, die dem auf Deutsch geschriebenen Text einen spezifischen Unterton verleihen, der für die instabile Identität der Figuren steht. Zugleich wird aber nicht nur über sprachliche Differenzen, sondern auch Konvergenzen zwischen Deutsch und Jiddisch reflektiert.

Sowohl Salzmann als auch Bardutzky schaffen akustische Texträume, in denen sich die Sprachen gegenseitig reiben und doch ineinander übergehen. Das mögliche Stolpern über das ungewohnte Lautmaterial erinnert

(Zu)Hören

59

an jene vorsprachliche Phase bei Kindern, in der sie Laute aller Sprachen artikulieren können – auch solche, die später mit dem Erwerb der Muttersprache wieder verloren gehen. So erscheint die Sprache in ihrer spezifischen Materialität letztlich als die Andere und wird zum hörbaren Zeichen der Alterität.

Eine multilinguale Klanglandschaft erzeugt in ihren Texten auch Ewe Benbenek. In einer Sprachmischung aus Deutsch, Polnisch und Englisch rekonstruiert die aus Polen stammende Autorin bruchstückhaft die Geschichte ihrer Familie in drei Generationen. Aus dieser mehrsprachigen Collage entsteht das Porträt eines Migrationskindes, das unter dem Druck des deutschen Bildungssystems die Fähigkeit verliert, seine Muttersprache fließend zu sprechen. Der Verlust der Sprache bewirkt eine Erschütterung der eigenen Identität und führt in dem Text Tragödienbastard (2020) schließlich zu einem Ausbruch von ,Sprachwut‘, die zur Demontage des Hochdeutschen führt: C: Ja diese Story, die Migrantisch-Authentische, die ist gut, die sich zur Zeit gut verkaufen lässt, diese Story, bei der es endlich mal kling bim kling bim kling bim macht in unseren Kassen bei dieser Story muss dann da aber möglichst wenig rein, Chor: möglichst wenig von Möglichst wenig von diesem Hochdeutsch rein, […]

A: also muss da möglichst viel von der Sprache rein, B: von deiner alten Sprache, C: von der Sprache deiner Eltern, A: von deiner Migrantensprache […].15 Eine andere (post-)migrantische Perspektive dominiert stark in Die Barbaren (2016) von Nino Haratischwili. Die monologisierende Emigrantin Marusja, die in Deutschland als Reinigungskraft arbeitet, reflektiert permanent über die Kompliziertheit von „Wörtern der [deutschen] Eingeborenen“, die sie „bis zum Umfallen“ übte und alle ihrer „Zunge beigebracht“ hat.16 Der Stolz über die vermeintliche sprachliche Vollintegration vermischt sich bei der Figur allerdings mit einer hassgeladenen Abneigung gegen die neuen Flüchtlinge, die sie als „Barbaren“ bezeichnet. Da sie in ihren Redefluss

60

Artur Pełka

ständig russische Vokabeln einflicht, wird ihre vollständige Assimilation trotz des „hart erputzten Pass[es]“ (15) zweifelhaft, zumal sie sich selbst entblößt: „So richtig verstehen tut man eine Fremdsprache doch nie, egal wie viel Mühe man sich gibt und wie viel Ehre man dem Gastland erweist“ (7).

In dem Theatertext Löwenherzen (2020), der auf eine bedrückende Art und Weise das Schicksal der Kinder in Europa und im Globalen Süden verknüpft, erzeugt Haratischwili eine ,exotische‘ Sprachkulisse mit auf Hindi oder Bengali stilisierten Begriffen und ergründet das Wesen von Sprichwörtern. Der Text beinhaltet zugleich tiefgreifende Sprachreflexionen. In einer Strandszene, in der zwei die jeweiligen Sprachen gegenseitig nicht verstehende Flüchtlingskinder mit Stofftieren spielen, wird die Möglichkeit einer sprachlosen Kommunikation präsentiert – denn „manchmal gibt es etwas Wichtigeres als die Sprache“.17 Andererseits werden Wahrheiten transportiert: „dass man sich als Mensch verdoppeln und verdreifachen kann, wenn man eine neue Sprache lernt“ (48), und – nicht ohne bittere Ironie – dass „alle, die was werden wollen, Englisch lernen [müssen]“ (6).

Das Englische wird auch zu einem relevanten Element in Benbeneks Juices (2023). Der Theatertext besteht aus phantasievollen Etüden, in denen sowohl die Materialität der Sprache als auch Reflexionen über ihr Wesen und ihre gesellschaftliche Rolle, einschließlich ihrer Funktion bei der Schaffung von Stereotypen, eine wichtige Rolle spielen: Chor: stamtąd […]

B: ja, gib uns dann doch wenigstens ein Beispiel für ein Wort, für ein berühmtes Wort aus dieser Sprache da, also weißt schon, ein Wort, über das man diese Sprache sofort lokalisieren kann A: weil, jede Sprache hat doch so ein Wort, bei dem man dann genau weiß, woher sie dann kommt, also weißt du, also hier, also ja hier, hier wäre das zum Beispiel so ein Wort, also zum Beispiel, so ein Wort wie B: Aufenthaltsgenehmigungsbescheid A: und du denkst, okay, ein Wort, ein Wort, ein Wort, ein berühmtes Wort, also sagst du, du sagst Chor: kurwa18

(Zu)Hören

61

Wie in Tragödienbastard wird auch hier der Verlust der Muttersprache und die daraus resultierende Empörung thematisiert. Die Autorin erinnert sich dabei an Momente aus ihrer schwierigen Migrationskindheit, etwa an die Stunden, die sie mit ihrer Mutter verbrachte, während diese großflächige Büroräume putzte, und an die Verständigungsprobleme im Polnischen, die bis heute andauern: „weil ich ihre Sprache doch nicht spreche / oder nicht mehr richtig spreche“ (34). Gleichzeitig wirft das Stück universelle Fragen zur Ausbeutung von Migrant:innen auf – Fragen nach menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und gerechten Löhnen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit führt am Ende zu einer Art Rebellion, die von bzw. durch eine Ansammlung von Körperflüssigkeiten verursacht und begleitet wird: „Tränen“, „Schweiß“, „Angstschweiß“ (97). Diese körperlichen, titelgebenden ,Säfte‘ werden gleichsam zu Düngern und Nährstoffen und als solche verhelfen sie zur Stärkung des Körpers und somit auch zur Stärkung des sprachlichen Vorgangs, da sie die Spannungsverhältnisse des Körpers bestimmen, die als Grundprinzip des Sprechens gelten. So kommt es im Finale zu einer deutlichen Volte, welche letztlich zur Revolte wird, die performativ als ein befreiender, auf Solidarität basierender Sprung der drei Stimmen bzw. ­Figuren inszeniert wird: „one / two / three / four / JUMP!“ (99).

Bezeichnenderweise wird die Rebellion weder auf Deutsch noch auf Polnisch, sondern mit Englisch als der modernen Lingua franca performt, die nationale Unterschiede zu nivellieren scheint. Mit dem Einsatz von Englisch verweist das Stück auf eine transkulturelle Realität, in der die Sprache nicht mehr als nationales Ordnungsprinzip fungiert, sondern zum hybriden Resonanzkörper für moderne linguistische Identitäten wird.

Theatertexte wie Juices stellen die anfangs erwähnten, ,nationalen‘ Ambitionen des europäischen Theaters radikal in Frage.

In der multilingualen Landschaft der zeitgenössischen Theatertexte ist die Überpräsenz von Englisch evident, wovon bereits viele ihrer Titel zeugen (z. B. Kathrin Rögglas fake reports, Falk Richters Trust oder Peace). Die Anglisierung hat mehrere – sowohl künstlerische als auch gesellschaftliche – Gründe. In Zeiten globaler Migration und digitaler Kommunikation wird Englisch zu einer universellen Sprache, die sich die Gegenwartsdramatik zwangsläufig einverleibt. Dies betrifft auch wissenschaftliche Diskurse, von

62

Artur Pełka

Klimakrise bis ökonomische Globalisierung, die die Theatertexte thematisieren und dabei zwangsläufig auf das englische Vokabular, das diese Diskurse beherrscht, zurückgreifen – wie dies beispielsweise bei Falk Richter (Nothing Hurts) oder Kevin Rittberger (Vom Zeugenschutz des Raubwürgers) der Fall ist. Die Anwendung des Englischen verursacht oft, dass die in den Theatertexten dargestellte Problematik der Mikrowelten weit über das Lokale hinausgeht. Allerdings wirkt der Einsatz des Englischen nicht immer ­neutral, denn oft fungiert er als Zeichen einer entfremdenden Über-Sprache in dem globalen Makrokosmos der Apps, Konzerne, Korporationen usw.

Und last but not least: die fortschreitende Internationalisierung des zeitgenössischen Theaters, darunter auch des Publikums, bei der das Englische zu Hilfe kommt, was sich auch auf die Theatertexte selbst (nicht ohne kommerzielle Gründe) auswirkt.

In gewissem Sinn – um den anfangs zitierten Andrzej Wirth zu paraphrasieren – transzendiert das Englische zunehmend die Nationalsprachen im Theater. Die Modi dieses Prozesses müssten noch genauer untersucht werden. In jedem Fall bleibt Englisch, zunächst immer noch neben anderen Fremdsprachen, auch in seiner klanglich-musikalischen Dimension ein dankbares Material für die Gegenwartsdramatik, die die Materialität der Sprache(n) – auch durch die metasprachlichen Reflexionen – würdigt und ein ,anderes (Zu)Hören‘19 fordert und fördert.

1

Jürgen Trabant: „Sprache“, in: Christian Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 595–608, hier: S. 599.

2

Vgl. Magdalena Zorn/Ursula Lenker: „Medizinische, sprachwissenschaftliche, wissenschaftsgeschichtliche und historischästhetische Perspektiven auf das ,(Zu-)Hören‘“, in: dies. (Hg.): (Zu-)Hören interdisziplinär, München 2018, S. 9–18.

3

Andrzej Wirth: „Theaterkulturen in Deutschland und Polen. Konvergenzen und Unterschiede“, in: Małgorzata Sugiera (Hg.): Ein schwieriger Dialog. Polnisch-deutsch-österreichische Theaterkontakte nach 1945, Kraków 2000, S. 27–36, hier: S. 28.

4

Ein Paradebeispiel dafür wäre Büchners Woyzeck, der die Dramensprache durch Anwendung von Dialekt, Psycho- und Soziolekt und nicht zuletzt von fremdsprachigen Einsprengseln revolutionierte.

5

Vgl. Ernst Jandl: „die humanisten. konversationsstück in einem akt“, in: ders.: Poetische Werke, Bd. 10, München 1997, S. 159–176, hier: S. 171.

(Zu)Hören

63

6

Eine Paraphrase der These von Frieder von Ammon: „Poetophonie. Für eine Klangforschung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, (2020), H. 64, S. 241–259.

7

Vgl. z. B. Petra Maria Mayer (Hg.): Acoustic turn, Marburg 2010.

8

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 273.

9

Ebd., S. 149.

10

Friedrich Nietzsche: „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“, in: Karl Schlechta (Hg.): Werke in drei Bänden, Bd. III, München 1966, S. 349–414, hier: 364. Zit nach: HansThies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2015, S. 54.

11

Die rudimentäre Handlung ereignet sich im Prinzip allein in der Sprache, die sehr verdichtet und reduziert, vor allem aber von einem musikalischen Rhythmus durch Wiederholungen, Aposiopesen und Soundzitate geprägt ist. Einzelne Äußerungen bestehen hier vorwiegend aus Satz- und Wortfetzen, beschränken sich teils nur auf Silben oder Buchstaben. Das Ganze beherrschen immer wieder auftauchende Interjektionen mit dem leitmotivischen „Bums.

Tschick. Klatsch. Bam. La. Da. Dada“.

12

Davon zeugt bereits der genrebezeichnende Untertitel „Sprechtheater“. Die Autorin selbst bekennt, dass sie eine „Sprachetüde“ bzw. einen riesigen Zungenbrecher beabsichtigte und schildert folgendermaßen ihren Schreibvorgang: „Ich schreibe im Stehen und neben mir ist der Text auf dem Notenpult und ich spreche ihn die ganze Zeit, schlage den Rhythmus mit und gucke, wie er gesprochen funktioniert.“ Darüber hinaus wird das Stück auf ihrer Homepage als „[e]in wilder Sprachfasching aus Deutsch-Polnisch-Bayerisch-Englisch-Französisch, voller Zungenbrecher und Unaussprechlichem“, annonciert.

13

Raphaela Bardutzky: Fischer Fritz (Bühnenmanuskript), Berlin 2021, S. 39. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern zitiert.

14

Sasha Marianna Salzmann: Muttersprache Mameloschn (Bühnenmanuskript), Frankfurt a. M. 2011, S. 13. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern zitiert.

15

Ewe Benbenek: Tragödienbastard (Bühnenmanuskript), Schauspielhaus Wien 2020, S. 46.

16

Nino Haratischwili: Die Barbaren. Monolog für eine Ausländerin (Bühnenmanuskript), Frankfurt a. M. 2016, S. 4. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern zitiert.

17

Dies.: Löwenherzen (Bühnenmanuskript), Frankfurt a. M. 2020, S. 30. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern zitiert.

18

Ewe Benbenek: Juices (Bühnenmanuskript), Frankfurt a. M. 2023, S. 33. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern zitiert.

19

Vgl. Matthias Dreyer/Georges Pfründer: „Anderes Hören. Die Pädagogik des Sounds im Theater“, in: Schultheater. Wahrnehmung/Gestaltung/Spiel, Nr. 47: Sound, 4 (2021), S. 4–8.

64

Hannah von Sass BETRACHTEN

Was heißt es, einen Theatertext zu betrachten? Eine Antwort könnte lauten, ihn zu lesen, ihn unter inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten zu deuten und zu kontextualisieren. Einen Theatertext zu betrachten, kann aber auch meinen, ihn anzuschauen. Nicht als auf der Bühne inszenierten Text, sondern indem man im Akt des Lesens den Fokus auf die grafische Gestaltung, die Schriftsetzung und den Umgang mit dem Format der Seite richtet. Daher stehen zwei Bedeutungsebenen, die sich gegenseitig bedingen, im Vordergrund der folgenden Überlegungen: Im ersten Teil wird versucht, einen Überblick über die Bedeutung visueller Beschreibungsversuche, die in der Theatertextanalyse und -theorie eine große Rolle spielen, zu geben. Im zweiten Teil geht es um die Möglichkeit, einen Theatertext in seiner Schriftbildlichkeit wahrzunehmen – als gestaltetes Objekt der Anschauung, das sich seiner medialen Ausdrucksweisen in wesentlicher Weise bewusst ist. Eine Betrachtung von Theatertexten kann umfassender werden, wenn sie sich zum Repertoire beider Verständnisfelder in Beziehung setzt. Denn ebenso wie das Erscheinungsbild des Textes sind die theatertheoretischen Beschreibungsmodelle nicht ­neutral, sondern bestimmen die Wahrnehmung maßgeblich mit.

Dramatische Bildräume auf metaphorischer Ebene In den Literatur- und Theaterwissenschaften finden sich häufig bildhafte und räumliche Beschreibungen von Dramatik; hierbei handelt es sich zumeist um metaphorische Darstellungen und Vergleiche, mit denen inhaltliche Fragen aufgerufen werden. So werden Textlandschaften und -flächen sowie Bildräume adressiert, beziehungsweise architektonische Begriffe gewählt, um literarische Aspekte zu erörtern. Bild und Raum sind dabei nicht synonym zu verstehen, korrelieren allerdings oft miteinander, sodass es sinnvoll ist, sie als verwandte Phänomene zu untersuchen. Während mit den Anspielungen auf die Räumlichkeit oftmals Dimensionen der Tiefe und Weite sowie Zugänglichkeiten von Texten adressiert werden sollen,

Betrachten

65

wird mit dem Text als Bild tendenziell an die Möglichkeiten von Perspek­ tiven, Ausschnitten sowie Kompositionen appelliert. Nicht selten werden hierbei Darstellungen aus der Theaterpraxis, etwa aus dem Aufführungskontext und dem konkreten Bühnenraum, auf das Textmedium übertragen.

Ein prominentes Beispiel dafür ist die „Szene“, welche auf die „skené“, den Bühnenbau des griechischen Theaters, verweist.1 Weitere historische Beispiele sind das Tableau vivant und Darstellungen des Dramas als Gemälde oder Skulptur. Bereits Jean Chapelain spricht in seinem Lettre sur la règle des vingt-quatre heures (1630) von „tableaux réguliers“2 und für den Abbé d’Aubignac stellt das Theater „in der That nichts anders als ein Bild“ dar. Ad hoc folgt bei ihm die Übertragung auf die Textebene: Der „dramatische Poete“ ist hier einer, der ein „redendes und handelndes Gemählde machet“.3 Eines der nach wie vor prominentesten Beispiele ist in diesem Kontext sicher Gotthold Ephraim Lessings einflussreiche Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766. Im Laokoon befasst sich Lessing mit den inhaltlichen Gegenständen des Dramas und weniger mit rezeptions- oder medientheoretischen Fragestellungen.4 Denn obgleich er seine Argumentation am Beispiel einer medialen Verortung des Dramas zwischen Malerei und Poesie entwickelt, bezieht sich Lessing doch grundlegend auf die Handlung.5 Während Poesie auf Handlung basiere, welche sich linear anordne, wäre die Malerei als eine simultane Fläche zu begreifen. Theater und Schauspielkunst versteht er im Zuge dessen als „transitorische Malerei“6.

Der Rückbezug auf das zeitliche Moment von Dramatik, welcher einiges an argumentativen Zügen bedarf, wenn Dramatik als Skulptur beziehungsweise Gemälde beschrieben wird, verdeutlicht, welche Herausforderungen die mediale Gleichsetzung so unterschiedlicher Kunstformen wie dem literarischen Text mit der Malerei und Bildhauerei mit sich bringt. Für eine analytische Metaphorik und in deren Folge für die Wahrnehmung des Dramas im Theoriediskurs setzt Lessing auch insofern Maßstäbe, als dass er das Dramenganze hierbei als gegenständliche Handlungen definiert.7 August Wilhelm von Schlegel vergleicht etwa 1808 in Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur die antike Tragödie mit einer „Sculptur“, die plastisch und abgerundet sei, während das moderne Drama eher ein fragmentarisches „Gemählde“ darstelle.8 Diese Unterscheidung findet sich dann noch sehr viel später bei

66

Hannah von Sass

Volker Klotz in der typologischen Aufteilung von geschlossenen und offenen Formen wieder.9 Die Darstellung von Theatertexten mit Begriffen der Bildenden Künste setzt sich von der Klassik bis in die jüngste Vergangenheit fort.

Gerda Poschmann attestiert 1997 schließlich gar eine „Renaissance des Visuellen“10 in den Theaterstücken vor der Jahrtausendwende. Das Interesse richte sich jedoch vor allem auf eine Repräsentation als Ästhetik der Imitation: Nicht das Materielle, sondern eine Wirklichkeit beziehungsweise ein Inhalt stehen im Fokus der Aufmerksamkeit.11 Hierbei spricht sie von der postdramatischen Praxis eines „Theater[s] der Bilder“12, das den Text als „Sprachkunstwerk“13 entwirft, wobei der Visualität und Gestaltung des Textes als Bild besondere Bedeutung zukommt.14 Andrzej Wirth macht für die (Post-)Dramatik nach den 1990er Jahren daher den Begriff der Collage stark: „Texte für das Theater wurden nicht mehr geschrieben, sondern hergestellt – also getippt, collagiert, zusammenmontiert.“15 Neben der CollageTechnik werden auch wieder Tableau-Texte erfasst, wenngleich in einem gänzlich anderen Zusammenhang als noch in der doctrine classique. Der Tableau-Text eines Heiner Müllers, so Kai Bremer, orientiere sich vielmehr an der surrealistischen Kunst, bediene sich an der bereits erwähnten Collage-Technik und sei radikal episiert. Hier werde verstärkt der Schauraum des Theater, das heißt das „Theatron“ eröffnet.16 Raum, so diagnostizieren es Tilmann Köppe und Simone Winko, werde dabei in den Literaturtheorien „meist als kulturelles Konstrukt, nicht als empirische oder physische Größe bestimmt“17. Texte stellen insofern nicht nur poetische Räume dar, sondern würden diese auch erschaffen. So beschreibt Gérard Genette die räumlichen Beziehungen, Orte, Stellen, Grenzen, Horizonte und Vektoren, die in Texten entstehen, während Julia Kristeva von einander überlagernden Textebenen ausgeht und Jacques Derridas Überlegungen zu den räumlichen Textdimensionen von Palimpsesten vertieft. Text sei ein „architektonischer Bau der Erkenntnis“18, so Ernst Cassirer, und bei Michail Bachtin ist die Rede von einer „Architektonik der ästhetischen Wahrnehmung“19. Wenn also Franziska Schößler über Elfriede Jelineks Theatertexte als „prozessuale Skulpturen“ schreibt, deren Textelemente in ein „räumliches Verhältnis zueinander“ treten, die „analog zur intermedialen Kunstform Installation“ zu denken seien und sich demnach zwischen

Betrachten

67

Theater und Bildender Kunst situieren lassen, dann rekurriert sie auf eine rein semantische Raumdimension von Jelineks Texten.20 Christopher Balme unterscheidet diese als dramatische Raumkategorie von drei weiteren Kategorien, wobei die übrigen erstens theatrale Räume (das Theatergebäude), zweitens szenische Räume (Bühnenraum und Bühnenbild) sowie drittens ortsspezifische Räume (kultureller Lebensraum des Publikums) seien.21 Hans-Thies Lehmann beobachtet, dass bei einer solchen Nomenklatur „der Diskurs des Theaters im Zentrum steht und es daher um den Text nur als Element, Schicht und ‚Material‘ der szenischen Gestaltung, nicht als ihren Herrscher geht“22. Dies diagnostiziert auch Andreas Englhart dem Theater der Gegenwart, wenn er die Entwicklung vom Bild zum Raum in den Theaterstücken selbst nachvollzieht.23 Wie Achim Stricker erläutert, wurden interpretative Ansätze der Text-Lektüre unter räumlichen Gesichtspunkten durch das aufkommende Regietheater seit den 1820/30er Jahren hervorgebracht; wobei zu ergänzen ist, dass die Engführung von Raumdenken und Textnarrativen sehr viel weiter zurückreicht, wie zuvor ausgeführt wurde.24 Infolge der Etablierung der Theaterwissenschaften und ihrem Schwerpunkt auf inszenatorischen Praktiken, dem theatralen Vollzug der Aufführung sowie dem neu aufkommenden Interesse an Bühnen-, Proben- und Zuschauer:innenräumen orientieren sich, so Stricker, auch Theaterautor:innen im 20. Jahrhundert um. Sie suchen nach neuen Strategien, Text im Kontext der Bildenden (Raum-)Künste zu situieren, sodass der Text im theatralen Prozess weiterhin seine Position findet.25 Anzumerken ist, dass sich Gegenwartsdramatik und literatur- und theaterwissenschaftliche Herangehensweisen durchaus gegenseitig beeinflussen.

So reagiert nicht nur die Analyse auf die Schreibweisen, sondern auch die Autor:innen nehmen die Annährungen im Feuilleton und in der Wissenschaft wahr und reflektieren sie ihrerseits literarisch und formal. Im Folgenden wird nicht zuletzt daher eine weitere Raumkategorie in den Mittelpunkt gerückt, die der Systematik von Balme anbei zu stellen wäre: So kann nämlich viertens die Schriftlichkeit und Gestaltung der Textseite einen Raumeindruck herstellen, welcher bei der Lektüre von Theatertexten zur Anschauung kommt. Einen Theatertext zu betrachten, meint somit nicht nur, ihn inhaltlich zu erfassen oder analytisch zu verstehen, sondern ihn auch als visuell geformtes Medium zu lesen und als grafische Kunst zu entdecken.

68

Hannah von Sass

Form- und Schriftgestaltung in dramatischen Bildräumen Vielen Theatertexten ist ein bewusster Umgang mit der Formsprachlichkeit der Schrift und dem Format der Seite anzumerken. Insbesondere in den letzten Jahren scheint das Ausloten von Übergängen zwischen Paratexten und Figurenrede wieder prominenter zu werden. Dabei wird durch formbewusste Setzungen die Rezeption des Textes oft gezielt irritiert, die Seite wird zum Sprachkunstwerk und Sprech- und Zwischentexte werden zunehmend zu gleichberechtigten Komponenten. Inwiefern eine analytische Auseinandersetzung mit Theatertexten auch eine Frage der wortwörtlichen ­Betrachtung darstellt, möchte ich an vier Beispielen (1. Fußnoten, 2. Zwischen­ texte, 3. Schriftarten, 4. Formatierungen) verdeutlichen.

Autor:innen wie Wolfram Lotz, Sivan Ben Yishai oder Caren Jeß wählen Fußnoten als textliches Element, womit sich im Hinblick auf die Inszenierung ihrer Stücke die Frage stellt, wie man diese auf der Bühne umsetzen kann. Handelt es sich bei Fußnoten um gesprochene Texte? Werden sie in der Inszenierung als Videotexte projiziert? Als Beispiel mag Caren Jeß‘ Theatertext Das Stillleben herangezogen werden. In dem Text, 2022 uraufgeführt, finden sich neben vielen Fußnoten auch acht Kapitel mit Überschriften und ein Quellenverzeichnis am Schluss. Zu den Fußnoten meinte Caren Jeß in einem Interview 2024, sie konnte „endlich dem Bedürfnis nachgehen, in einer Fussnote emotional zu werden“26. Die Autorin beschreibt ferner den Einsatz der Fußnoten als „Dialog“, als „innere Stimmen“ und „Alter-Ego“ der Protagonistin, einer Geisteswissenschaftlerin. In der Uraufführung des Theater Heidelberg (Regie: Tuğsal Moğul) wurden die Fußnoten von der Haupt­ darstellerin als eben solche benannt und dann mitgesprochen.

In Sivan Ben Yishais Überschreibung Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert (2024) ziehen sich im Verlauf des Stückes die Figuren, die bei Ibsen die Nebenfiguren waren, in Fußnoten zurück, da dies der Ort sei, „an dem kein mensch sein will“27. Unabhängig davon, dass Wissenschaftler:innen, die ja doch recht gerne in Fußnoten vorkommen, dieser Behauptung vielleicht nicht zustimmen würden, nehmen die Fußnoten auf der Seite, die ansonsten leer ist, doch auffällig viel Raum ein: Denn es gibt (fast) keinen Text mehr oberhalb des Fußnotenbereichs, dessen Referenzen er ausweisen könnte. Die Fußnoten bestehen somit einerseits für sich, andererseits existieren sie in direkter

Betrachten

69

Anspielung auf das Herren- bzw. Puppenhaus in Nora als dessen Keller.28 Formal wird an dieser Stelle die übliche Sehgewohnheit unterlaufen, indem die Fußnoten in das Zentrum der Betrachtung gerückt werden, was durchaus der inhaltlichen Verschiebung von den vormaligen Protagonist:innen, allen voran der Figur der Nora, hin zu ihren Angestellten entspricht.29 Die gleiche inszenatorische Herausforderung bringen auch Zwischentexte mit sich, wenn sie als ihrerseits poetische Texte nicht mehr eindeutig als ‚reine‘ Regieanweisung markiert sind und ebenso auf der Bühne gesprochen oder projiziert werden können. So findet sich etwa in Sina Ahlers’ Schamparadies folgende Passage: Scharfer Blick der Schwanenmutter, seitlich.

Vera wischt sich die tote Wiese aus den Augen.

Grasmaske.

Wurzeln auf der Zunge.30 Der Text ist zwar kursiv gesetzt und somit als Regieanweisung deutbar, zugleich weist er jedoch durch seinen fast lyrischen Stil eine eigene literarische Qualität auf. Mit seiner Sprachlichkeit sowie der zentrierten Textausrichtung und den gesetzten Zeilenumbrüchen nähert sich der zitierte Absatz der Figurenrede bei Ahlers an. Somit lässt sich hier fragen: Dienen solche literarischen Zwischentexte der Leser:innenschaft beziehungsweise dem Produktionsteam allein als Anregung oder kommen sie für das Publikum auch sprachlich auf die Bühne?

Auch welche Typografie gewählt wird, und sei es die als Standard ­geltende Schriftart Times New Roman, verändert die Weise der Textwahrnehmung. So wählt der Autor Bonn Park in seinem Debütstück Die Leiden Des Jungen Super Mario in 2D in der PDF-Fassung für die Überschrift eine ausladende verschlungene Schriftart (womöglich Edwardian Script ITC), während Figurenverzeichnis, Regieanweisungen und Figurenrede in einer Schriftart gehalten sind, die offensiv an den verwendeten Schrifttypus früherer Super-Mario-Spiele erinnert.31 Die mannigfaltigen Referenzen an die Gaming-Szene und an das Kultspiel um die Klempnerfigur Super Mario werden demnach auch schriftbildlich kenntlich gemacht. Die latent ironische Anspielung des Titels auf Goethes Die Leiden des jungen Werther wird durch die blumige Schreibweise wenig subtil vertieft.

70

Hannah von Sass Als weiteres Beispiel für die Korrelation von Schriftart und Inhalt mag

Sarah Amanda Dülgeris beretta kaliber 22 gelten, in dem es um den Gerichtsfall der Mutter B geht, die den Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal erschießt. Der Text ist mit Courier New in einer altmodisch protokoll­ typischen Schriftart verfasst und betont auf diese Weise den unmittelbar wirkenden und dokumentarisch anmutenden Schreibstil der Autorin.32 ­Zugleich lässt sich die Schreibmaschinenschrift schlechter lesen als etwa eine Serifenschrift wie Garamond, sodass durch das Schriftbild ein optischer Widerstand geschaffen wird, der den Lesefluss erschwert.

Text bildlich zu verstehen, kann folglich auch heißen, sich auf die ­Typografie, die Haptik und Optik des Lesematerials (Papier oder digitale Fassung) sowie auf Methoden der Collage und Montage zu beziehen.

Katharina Keim, die diese Dimensionen anhand der Theatertexte von ­ ­Heiner Müller nachvollzieht, fasst dies wie folgt zusammen:33 Die Repräsentationsfläche der Buchseite wandelt sich so zu einem dreidimensionalen Raum für ein Theater der Wörter, die in ihrer unterschiedlichen typografischen Präsentation die Grenzen des Satz­­spiegels und der Buchseite aufzusprengen scheinen.34 Keim beschreibt diesen Vorgang von der „Inscriptio zur Pictura“35 auch im Kleinen. So etwa am Beispiel der Punze, dem Raum zwischen Buchstabenteilen (man denke an das Loch im O), an dem ebenfalls von Müller das Spiel mit dem Text als Raum betrieben werde.

Weiterhin führt sie aus, wie mit Texten Nähe und Ferne, das heißt Vorder- und Hintergründe entworfen werden können, indem Groß- und Kleinschreibung zum Einsatz kommen. Diese Setzungen könnte man, so wäre zu ergänzen, aber auch als Anleitung zur lauten beziehungsweise leiseren Sprechweise verstehen (→ Sprechen). Festhalten lässt sich allerdings, dass die Gestaltung des Textes den Blick wie ein Bild führen kann.36 Eine analytische Annäherung umfasst folglich auch, wie mit der Seite umgegangen wird – wurde beispielsweise Quer- oder Hochformat gewählt? Wie viele Fließtexte, Zeilenleerräume, Absätze und Zeilenumbrüche gibt es und welche Funktion haben diese? Stehen sie für Redepausen, längeres Schweigen oder für Rhythmisierungsvorschläge, so wie etwa häufig in den Texten von

Betrachten

71

Wolfram Höll?37 Schon allein die Entscheidung, ob die Namen der Figuren, sofern es denn welche gibt, von der Rede der Figuren formal abgesetzt sind, steht den meisten Theatertexten voran. Ebenso ist der orthografische Umgang mit Satzzeichen, die (Nicht-)Verwendung von Kapitälchen und Kleinschreibung von Bedeutung für das Textverständnis. Nicht zuletzt finden sich auch Bilder und in jüngeren Theatertexten auch Links und QR-Codes, die auf weitere digitale Bildebenen verweisen und einer eigenen Untersuchung wert wären.

In dieser Hinsicht eröffnen die häufig in PDF-Form publizierten ­Theatertexte zeitgenössischer Autor:innen womöglich manchmal gar mehr ­Optionen als das einheitlich gestaltete Druckbild eines Verlags. So sehr aus Gründen der Sichtbarkeit auf dem Literaturmarkt Publikationen in Buchform begrüßenswert sind, zeugen PDF-Fassungen von Theatertexten, die man auf Nachfrage von Theaterverlagen, Dramaturgie-Abteilungen oder Künstler:innen erhält (→ Finden), in ausgeprägter Weise von den formsprachlichen Setzungen der Autor:innen. Neben dem ein oder anderen Tippfehler findet sich hier so etwas wie eine digitale Handschrift der einzelnen Autor:innen. Die Erforschung dieser meist nur unter dem Fachpublikum der Theaterszene kursierenden PDF- und Word-Dateien, die nur teils lektoriert worden sind, würde somit ein lohnenswertes Forschungsfeld für die Literatur- und Theaterwissenschaften eröffnen. Eine nochmal anders gelagerte Übersetzung von Sprache in Bild und Raum findet sich in den Publikationsformaten, die individuell auf jeweilige Theatertexte eingehen – so etwa die Buchgestaltungen von Franziska Füchsl oder die spezifischen Textformate, die Suhrkamp für seine Reihe Suhrkamp Theater entwirft. So wurde die Buchausgabe von Selma Kay Matters Text Grelle Tage im Querformat und in bewusster Gestaltung der Seite publiziert.38 Auch solche Entwicklungen in der Publikationspraktik dürften einen Einfluss auf zukünftige Werke der Theaterliteratur haben – als eine Kunstform, die buchstäblich im Auge der Betrachtenden liegt. Das zunehmende Bewusstsein für die ­Literarizität und Medialität des Theatertextes auf Seiten der Autor:innen, Produktionsteams und Verlage verdient auch daher, ein dezidiert eigener Aspekt der Theorie und Analyse der Gegenwartsdramatik zu sein.

72

Hannah von Sass

1

Hermann Menge: Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch, 28. Aufl., Berlin/München, S. 626.

2

Jean Chapelain: [Lettre sur la règle des vingt-quatre heures], in: Opuscules critiques, hg. v. Alfred C. Hunter, Paris 2007, S. 225, Anm. 23.

3

Franz Hedelin, Abtes von Aubignac: [Gründlicher Unterricht von der Ausübung der Theatralischen Dichtkunst (1657)], übers. v. Wolf Balthasar Adolph von Steinwehr, Hamburg 1737, S. 105, hier Anm. 15, S. 107.

4

Für Andrea Polaschegg, die sich mit der Anfängen und Verläufen von Texten auseinandersetzt, kommt Lessing somit als Referenzautor für eine Medientheorie der Literatur als Zeitkunst nicht infrage. Vgl. Andrea Polaschegg: Der Anfang des Ganzen, Göttingen 2020, S. 250f., 256.

5

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: [Laokoon (1766)], in ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Werke 1766-1769, Bd. 5/2, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, S. 9–206.

6

Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1985-2003, Bd. 6, S. 210f.

7

Vgl. Orsolya Kiss: „Handlungsmodelle und Dramenanfänge. Gottscheds Sterbender Cato und Lessings Emilia Galotti“, in: Claude Haas/Andrea Polaschegg (Hg.): Der Einsatz des Dramas.

Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2012, S. 75–89, hier: S. 76f.

8

Vgl. August Wilhelm von Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe, hg. v. Giovanni Vittorio Amoretti. Band 2. Erfurt 1923, S. 109–220.

9

Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960, 14. Aufl. 1999.

10

Elmar Buck: „Von der Bedeutung der Wörter auf der Bühne – und von den Chancen der Bilder im Theater“, in: Medien+Erziehung, 27 Jg. (1983), H. 2, S. 83–89, hier: S. 84.

11

Vgl. Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 26.

12

Ebd., S. 303.

13

Ebd., S. 328.

14

Vgl. ebd., S. 331.

15

Andrzej Wirth: „Potsdamer Rechenschaftsbericht – Eröffnungsrede zum Symposium „Jenseits von Musealität und Amüsement“, in: Theater der Zeit, März 2004, S. 10–11, hier: S. 10.

16

Vgl. Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956, Bielefeld 2017, S. 134, 137.

17

Tilmann Köppe/Simone Winko: Neue Literaturtheorien, 2. Auflage, Stuttgart/Weimar 2013, S. 323.

18

Ernst Cassirer: [Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1931)], in: ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, Hamburg 1985, S. 93.

19

Michail Bachtin: [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (1938)], in: ders.: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans, Berlin/Weimar 1986, S. 262–464, hier: S. 67.

Betrachten

73

20

Vgl. sowie alle Zitate Franziska Schößler: „Dramatik/Postdramatik. Theatralität und Installation: Elfriede Jelineks begehbare Landschaften“, in: Pia Janke/Teresa Kovacs (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 297–307, hier: S. 303f.

21

Vgl. Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 1999, S. 136.

22

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 13.

23

Vgl. Andreas Englhart: Das Theater der Gegenwart, München 2013, S. 61.

24

Vgl. Achim Stricker: Text-Raum. Strategien nicht-dramatischer Theatertexte. Gertrude Stein, Heiner Müller, Werner Schwab, Rainald Goetz (= Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 35) Heidelberg 2007, S. 37–40.

25

Vgl. ebd. S. 9.

26

Caren Jeß im Gespräch mit Marie Duchêne: Ich konnte endlich dem Bedürfnis nachgehen, auch mal in einer Fussnote emotional zu werden, in: Theater Winkelwiese, 19. Februar 2024 (https://winkelwiese.ch/zentrumfuerdramatik/mediathek/umgang-fuer-mich-die-besteform-der-bewaeltigung, Zugriff am 27.2.2024).

27

Sivan Ben Yishai: Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert, PDF-Fassung des Suhrkamp Verlags, Berlin 2024, S. 53, FN 53.

28

Vgl. ebd., S. 51, FN 10.

29

Wobei die Figur der Nora auch bei Ben Yishai einen sehr hohen Redeanteil hat und man über viele der Nebenfiguren, die über ihre bisherige narrative Vernachlässigung klagen, letztlich eher wenig erfährt.

30

Sina Ahlers: Schamparadies, PDF-Fassung, Berlin 2020, S. 2.

31

Vgl. Bonn Park: Die Leiden Des Jungen Super Mario in 2D. Erster Teil der Superstartrilogie Gute&Böse, PDF-Fassung, Berlin 2010, S. 1–5.

32

Vgl. Sarah Amanda Dülgeris: beretta kaliber 22, PDF-Fassung 2023.

33

Katharina Keim: Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers, Tübingen 1998, S. 167, FN 82.

34

Ebd., S. 77.

35

Ebd., S. 157.

36

Vgl. ebd., S. 55, 160–164.

37

Vgl. z. B. Wolfram Höll: Niederwald, PDF-Fassung des Suhrkamp Verlags, Berlin 2024.

38

Vgl. hierzu die Beschreibungen auf Suhrkamp Theater – Dramatik lesen (https://www.suhrkamp.de/thema/suhrkamp-theater-dramatik-lesen-b-3418, Zugriff am 29.2.2024) und die Leseprobe (https://www.suhrkamp.de/buch/selma-kay-matter-grelle-tage-t-9783518431511, Zugriff am 29.2.2024).

74

Maria Kuberg DEUTEN

„Quand le doigt montre le ciel, l’imbécile regarde le doigt.“ 1 Ausgehend von der Vorstellung, dass der Theatertext für die Bühne geschaffene und damit von ihr nie ganz unabhängige Literatur ist, ging die Theatersemiotik der 1990er Jahre davon aus, dass der Theatertext, anders als andere literarische Texte, „theatrale Zeichen (oder, genauer: Signifikanten) in Rechnung [stellt], die er selbst nicht besitzt“2. Damit gemeint waren solche Zeichen, die, anstatt der Logik der Repräsentation zu folgen, Präsenz erzeugen und so auf das hic et nunc der Aufführungssituation verweisen. Zu solchen Zeichen gehören Deiktika, die neben dem fiktionalen Raum, in dem sie gesprochen sind, auf der Bühne immer auch den gemeinsamen Bezugsraum zwischen Zuschauer:innen und Akteur:innen als Verweisraum beanspruchen. Wer auf der Bühne „Hier“ sagt, meint nicht nur das „Hier“ der fiktionalen Handlung, sondern auch das „Hier“ der Bühne selbst. Und Theatertexte können, so die Überzeugung der postdramatischen und theatersemiotischen Theoriebildung, dieses Bühnen-„Hier“ allenfalls implizieren oder nachempfinden, es aber nicht selbst erzeugen. Damit erfährt eine der wichtigsten Elemente strukturalistischer Literaturforschung einen wohl unbeabsichtigten Twist. Gemeint ist die Ablehnung eines idealistischen Literaturverständnisses, nach dem die ­Literatur als Nachahmung zweiter Ordnung einem Dualismus von Form und Inhalt unterliegt, der durch Deutung gleichsam aus dem Inneren des Texts herausgeholt werden muss.3 Diesem Kunstverständnis setzt der Strukturalismus ein Oberflächendenken entgegen, indem er auf die Funktionsweise der Form, nicht auf die Deutung des Inhalts abhebt.4 Wenn die strukturalistisch informierte Theatersemiotik der 1990er Jahre nun die Theatralität von Texten als Nachahmung oder Implikation von Bühnen­ theatralität versteht, setzt sie den Dualismus von Nachahmung und Nachgeahmtem da wieder in Stand, wo sie ihn eigentlich zu überwinden glaubt.

Wer stattdessen davon ausgeht, dass Theatertexte eine genuine Texttheatralität aufweisen, die nicht erst in der Umsetzung auf der Bühne zu

Deuten

75

Handlung – Geschehen – Fiktion Die Dramentheorie ist traditionell handlungszentriert, was in der Moderne zum Angriffspunkt dramatischer Neuerungen wird. Wenn man jedoch von der Minimaldefinition „Handlung ist das, was geschieht“ ausgeht, kann in einem dramatischen Text nicht nicht gehandelt werden. Die Texte haben sich vielmehr von bestimmten normativen Anforderungen gelöst, die mit dem Handlungsbegriff einhergehen: wie dem intentionalen Agieren eines Subjekts, der Geschlossenheit der fiktiven Welt oder der kausallogischen Verkettung einzelner Handlungen. Dramatische Texte setzen sich stets aus einer Folge an Geschehnissen zusammen – egal ob eine Geschichte und eine Figur oder ob Klänge und Sprechakte im Mittelpunkt stehen. Die Gegenwartsdramatik weist wenig Berührungsängste im spielerischen Umgang mit traditionsreichen Formen der Geschehensgestaltung auf. Die Bemühungen, einen Zustand der ‚Handlungslosigkeit‘ zu erreichen, haben offensichtlich nachgelassen, es werden nicht zuletzt wieder vermehrt fiktionale Geschichten verfasst.

ihrem Recht kommt, muss sich also die Frage stellen, wie Theatertexte ­theatrale Zeichen produzieren können, die Präsenz erzeugen, anstatt sie zu repräsentieren; und er muss fragen, wie mit diesen Zeichen umzugehen ist. Ich plädiere dafür, die Opposition von Beschreibung der Mechanismen einerseits und ihrer Deutung andererseits zu hinterfragen und Theatertexte in ihrer Spezifik zu einem Gegenstand der interpretativen Arbeit zu ­machen. Denn wenn es theatrale Zeichen sind, anhand derer sich die Theatralität von Theatertexten entscheidet, dann kommt man um die Deutung dieser Zeichen nicht herum: Zeichen sind zum Deuten da.

Das muss kein Zurück zu einem idealistischen Kunstverständnis bedeuten, das nach einem inneren, zu entschlüsselnden Sinn der Texte sucht, sondern stellt ein regelgeleitetes Vorgehen zum Zweck des Verstehens dar, das auf die Untersuchung von Funktionsweisen und Mechanismen nicht verzichtet, sondern diese konsequent einbezieht. Es soll den Theatertexten, die mit dem Aufkommen theatersemiotischer und postdramatischer Theoriebildung in einen prekären Status geraten sind, wieder zu ihrem Recht als eigenständige, wenn auch mit dem Theater verbundene Kunstform verhelfen.

Zeichen also sind zum Deuten da. Wir leben in einer Welt, die uns ­unentwegt Zeichen gibt, weil sie, wie es Martin Heidegger in Sein und Zeit

76

Maria Kuberg

analysiert, gewissermaßen von uns verstanden werden will – sie ist uns, in der heideggerschen Terminologie, vorgängig erschlossen. Das Verstehen selbst lässt sich, so Heidegger, in und von [den] Bezügen [der Zeichen] selbst verweisen. Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als be-deuten. In der Vertrautheit mit diesen Bezügen ‚bedeutet‘ das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und Seinkönnen zu verstehen hinsichtlich ­seines In-der-Welt-seins.5 Die Erschlossenheit, also die grundsätzliche Verstehbarkeit der Welt lässt sich mit Gottfried Boehm als eine „elementare (erste) Deixis“ bezeichnen, die für die „körperliche (zweite) Deixis“6 der zeigenden Gesten und Zeichen die Voraussetzung bildet. Insofern sind Hindeuten und Bedeuten eng miteinander verwandt. Deutung im Sinne verstehender Auslegung ­gelingt uns nur, weil die Welt sich uns zeigt. Und Deiktika sind Zeichen, die auf ihre Deutbarkeit hindeuten, weil sie die Grundlage für das Verstehen ausstellen: den gemeinsamen Bezugsraum, der Sprecher:innen und Rezipient:innen miteinander verbindet.7 Als zeigendes Zeichen adressiert sich die deiktische Äußerung an ein spezifisch ‚räumliches‘ In-der-Welt-sein. Eigentlich ‚erfaßt‘ wird das Zeichen gerade dann nicht, wenn wir es anstarren, als vorkommendes Zeigding feststellen. […] Es wendet sich an die Umsicht des besorgenden Umgangs, so zwar, daß die seiner Weisung folgende Umsicht in solchem Mitgehen das jeweilige Umhafte der Umwelt in eine ausdrückliche ‚Übersicht‘ bringt. Das umsichtige Übersehen erfaßt nicht das Zuhandene; es gewinnt vielmehr eine Orientierung innerhalb der Umwelt.8 Deiktika und zeigende Zeichen sind also nicht nur selbst deutbar, sondern helfen bei der Deutung ihrer Umgebung, indem sie räumliche Orientierung geben. Diese Fähigkeit eignet ihnen auch im Drama, und zwar, wie Juliane Vogel gezeigt hat, so weit, dass sie (vor allem in den Dramenanfängen (→ Anfangen) das innere und das äußere Kommunikationssystem zueinander in Beziehung setzen:

Deuten

77

Die Angaben ‚Troja‘, ‚Mykene‘ oder ‚Argos‘ garantieren noch keinen theatralen Schauplatz. Erst durch ein Zeigen – d.h. durch ­lokale Deixis in ihrer sprachlichen wie in ihrer vorsprachlichen Form – kann dramatische Präsenz evoziert und aus der bloßen Ortsangabe eine Bühne geschaffen werden, auf der sich Schauspieler und Zuschauer gleichermaßen zurechtfinden.9 Die Deiktika im Drama etablieren also eine Bühne im Text; sie erzeugen, was Poschmann „genuine Texttheatralität“ nennen würde. Hier werden nicht einfach Zeichen dem Theater überantwortet, sondern mit textuellen, deiktischen Mitteln ein Raum der Präsenz geschaffen, in dem Verstehen möglich ist (→ Übersetzen).

Die stark von nicht-europäischen Kunstformen beeinflussten Avantgarden haben in der Beobachtung und Beschäftigung mit der körperlichen Situiertheit der Gebärde, der Expressivität von Körpern und nicht-diskursiven Ausdrucksformen ein Desiderat gesehen, das das europäische Theater bislang vollständig vernachlässigt hatte (→ Verkörpern). Gegen ein sich der Autorität der Klassiker unterwerfendes Literaturtheater entwarfen sie das Theater als eine Kunstform sui generis, die zu einer eigenen, von der Literatur nicht vorgegebenen Sprache fähig sei. Diese Theatersprache, so etwa Antonin Artaud, müsse „einen neuen Lyrismus der Gebärde“ entwickeln und so schließlich „die geistige Unterwerfung unter die Sprache“ durchbrechen, um „das Empfinden für eine neue und tiefgründigere Geistigkeit“ zu wecken, „die sich unter den zur Bedeutung jeweiliger Exorzismen ­gesteigerten Gebärden und Zeichen verbirgt“10. Aus einer technischeren Perspektive beschreibt Bertolt Brecht die schauspielerische Geste als einen Akt der Vervielfältigung des Zeigens: Die Chinesen zeigen nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern auch das Verhalten der Schauspieler. Sie zeigen, wie die Schauspieler die Gesten der Menschen in ihrer Art vorführen.

Denn die Schauspieler übersetzen die Sprache des Alltags in ihre eigene Sprache. Sieht man also einem chinesischen Schauspieler zu, dann sieht man nicht weniger als drei Personen gleichzeitig, einen Zeigenden und zwei Gezeigte.11

78

Maria Kuberg

Der Zeigende, der sein Zeigen selbst mitzeigt, widersetzt sich einer Rezeption, die ausschließlich auf das innere Kommunikationssystem der Diegese ausgerichtet ist. Er richtet den Fokus der Zuschauenden auf seine eigene Körperlichkeit, die mit den Zuschauenden den gleichen Raum teilt, und der darum eine ausschließlich auf Sinntiefe abhebende Interpretation nicht ­gerecht werden könnte. Einer solchen Interpretation steht der Eigenwert der Körpersprache entgegen, die weniger zu deuten als, wie bei Antonin Artaud, zu „empfinden“ ist.12 In einer Zeit, in der Theatertexte einen so prekären Status erlangt ­haben, dass sie fast nicht einmal mehr ohne professionelle Hilfe zu finden sind, schießt die avantgardistische Textfeindlichkeit aber übers Ziel hinaus (→ Finden). Schließlich ist es nicht der Text, der die Gebärde seiner eigenen Relevanz unterordnet, sondern die Konventionen theatraler Inszenierung, die heute stärker von Avantgardisten wie Brecht und Artaud geprägt sind als von dem Literaturtheater, gegen das diese noch angeschrieben hatten. Um Theatertexte als eigenständige, wenn auch mit dem Theater kooperierende Kunstform zu ihrem Recht kommen zu lassen, muss also danach gefragt werden, wie sie die grundsätzliche Situiertheit zeigender und deutender Gebärden13 in ihrer eigenen, nämlich literarischen Sprache zum Ausdruck zu bringen vermögen, ohne diese Situiertheit dem Theater allein „in Rechnung zu stellen“. Wie kann die von Brecht beobachtete Vervielfältigung des Zeichens im Zeigen im Text selbst hervorgerufen werden, ohne dass von ihr Sprache und nichtsprachliche Zeichen in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt werden?

Der von den Avantgardist:innen geschätzten Gebärde, mit der der menschliche Körper sich seinem Publikum gegenüber in einem gemeinsamen Bezugsraum etabliert, sich zu diesem Raum ins Verhältnis setzt und auf ihn und die Dinge in ihm zeigt, ist die sprachliche deiktische Äußerung strukturäquivalent. Beide, Gebärde und deiktische Äußerung, setzen den Äußernden in einen Bezug zu seiner Umwelt. Beide sind ohne diesen Bezug unverständlich und müssen deshalb von ihrem Kontext aus begriffen werden. Wenn, wie Artaud meint, die Gebärde empfindend verstanden werden kann, also durch Wahrnehmung der Umwelt, so bedürfen deiktische Äußerungen eines Einbezugs ihrer Kontexte qua Interpretation, denn, wie

Deuten

79

es Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert hat, „was sie meinen, sagen sie nicht“14. Gebärde und deiktische Äußerung erzeugen außerdem Präsenz, weil sie ihre Adressat:innen als Teil des gemeinsamen Bezugsraums miteinbeziehen. Anstatt also die deiktische Äußerung als ein Zeichen zu verstehen, das erst auf der Bühne als Gebärde eingelöst wird, sollen in den folgenden Beispielen deiktische Äußerungen untersucht werden, die selbst zu leisten im Stande sind, was die Gebärde im Theater leistet.

Stammheimer: Ich? Stockhausen: Nein, ich Stammheimer: Ich, wie immer, ich. Ich ich ich15 Dieser das Stück Heiliger Krieg (UA 10.10.1987 im Schauspiel Bonn), den ersten Teil von Rainald Goetz’ Trilogie Krieg, einleitende kleine Dialog verzichtet, zumindest auf der Ebene der direkten Rede, auf eine eindeutige Zuordnung der deiktischen Personalpronomen. Erst die Anwesenheit von Sprecherkörpern, so scheint es, kann den verschiedenen „Ichs“ den nötigen Kontext geben, um sie eindeutig zuordnen zu können (→ (Zu)Hören). Im Text geschieht diese Zuordnung über die Sprecherangaben, also über das, was gern als Nebentext bezeichnet und als dem Sprechtext gegenüber ­sekundär abgetan wird. Nur unter Berücksichtigung der paratextuellen Sprecherangaben können die Pronomen gedeutet und die Sprecher visualisiert werden (→ Visualisieren). Die sprechenden Eigennamen „Stammheimer“ und „Stockhausen“ verweisen auf die linksradikale Politik der ­Roten Armee Fraktion und auf den Avantgardismus der Neuen Musik: Der kleine Streit zwischen den beiden Sprechern lässt sich damit als ein Gerangel um die Vormachtstellung zwischen Kunst und Politik lesen, bei dem die Kunst gewinnt, während die Politik ihr Selbstbezogenheit und Geltungssucht vorwirft. Auf der Bühne wäre darauf so schnell nicht zu schließen, denn die Namen der Figuren tauchen im Sprechtext selbst nicht auf. Stattdessen sprechen sich die beiden Figuren kurz darauf als „Bubi“ und „Harald“ an – ein Verweis auf Harald Juhnke und seinen Freund, den Boxer Bubi Scholz, der 1984 seine Frau Helga erschoss. Auch diese Namen weisen auf ein Verhältnis zwischen Kunst und Gewalt, aber diesmal angesiedelt auf einer gegenüber den Namen Stockhausen und Stammheimer viel weniger

80

Maria Kuberg

ernsthaften Entertainment-Ebene. So bleiben die beiden Sprecherpositionen Stockhausen/Harald und Stammheimer/Bubi uneindeutig; sie werden auch nicht im Verlauf des Stücks in eine psychologisch fundierte Figurenidentität überführt. Die hindeutenden Zeichen, mit denen die beiden uneindeutigen Figuren auf sich selbst beziehungsweise auf den Paratext verweisen, die Pronomen, behaupten demgegenüber eine Eindeutigkeit, die sich durch eine den Kon- beziehungsweise den Paratext einbeziehende Deutung als Wunschgedanke oder als Selbstdarstellung der Akteure aus Aktivismus und Kunst entlarven lässt. Dabei verlassen sich die Sprechinstanzen auf einen mit den Rezipient:innen gemeinsamen Bezugsraum, der allein die Deixis des Personalpronomens verständlich werden lässt. Dieser Bezugsraum ist hier aber keiner der realen Ko-Präsenz, sondern wird vom Text und durch seine Lektüre erzeugt.

Auch in Magdalena Schrefels Stück was zündet, was brennt (UA 12.01.2022 im Schauspielhaus Graz) verlangen Deiktika nach ihrer Deutung. Das Stück beginnt mit einem kleinen Dialog zwischen den beiden Hauptfiguren Dina und Miami: Dina: Hier?

Miami: Ja. Hier.

Hier ist gut.16 Es gibt, ähnlich wie bei Goetz, über die Sprecherangaben hinaus keinen Neben- oder Anweisungstext, der uns darüber informiert, was genau durch das „Hier“ der beiden Sprecherinnen bezeichnet wird. Was die Demonstrativa meinen, sagen sie nicht. Aber die dem kleinen Dialog nachfolgende Rede einer weiteren Figur gibt den Leser:innen Orientierung. Die Figur Achille, der sich im weiteren Verlauf als der Nachtwächter in einer Ölraffinerie herausstellt, übernimmt nun nämlich den Part eines Erzählers. In narrativer Form berichtet er, was aus dem Dialog von Dina und Miami nicht hervorgeht: dass nämlich die beiden gerade dabei sind, in besagte Ölraffinerie einzubrechen, und dazu nach einer geeigneten Stelle im Zaun suchen.

Das „Hier“ meint die Stelle, an der der Einbruch am besten gelingen könnte. Im Verlauf des Stücks erfahren wir, dass der Grund für den Einbruch der

Deuten

81

Plan ist, dort das Öl „an[zu]halten“17 und damit aktivistisch gegen klimaschädliche Industrie vorzugehen. Aber lange bevor den Rezipient:innen diese Zusammenhänge, vorwiegend durch Erzählungen der Figuren, deutlich werden, entfalten die deiktischen Äußerungen ihre Bedeutungskraft.

Das ‚Hier‘, noch bevor es als schwache Stelle im Zaun lokalisiert werden kann, erscheint als ein geteiltes – eines, das die gemeinsame Anwesenheit von Sender und Empfänger impliziert; es bekommt so eine Bedeutung, die die Rezipient:innen, gleich ob Leser:innen oder Zuschauer:innen, mitmeint. Über die deiktische Formulierung werden die Rezipient:innen in das Stück hineingezogen. ‚Hier‘ ist der Ort, an dem der Widerstand gegen die industrielle Zerstörung der Umwelt und des Klimas sich zu formieren hat. Im „Hier“ steckt also eine Aufforderung an die Rezipient:innen. Es dient, ganz im Sinne von Brechts Epischem Theater, der politischen ‚Aktivierung‘ der Rezipient:innen.18 Ohne darum den Eigenwert einer möglichen oder realen Bühneninszenierung zu schmälern, und womöglich sogar, um eine solche Inszenierung erst möglich zu machen, lässt sich sagen, dass Theatertexte sehr wohl über ein Zeichenrepertoire verfügen, mit dem sie Präsenz erzeugen können und das darum theatral ist, ohne dass sie diese Zeichen bei der Bühne „in Rechnung stellen“ müssen. Der Umgang mit diesen Zeichen, wie mit allen Zeichen, kann nur ein deutender, interpretativer sein.

1

Jean-Pierre Jeunet/Guillaume Laurant: Le fabuleux destin d’Amélie Poulain. Scénario, Stuttgart 2004, S. 51.

2

Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 42.

3

Vgl. Susan Sontag: „Against Interpretation“, in: dies.: Against Interpretation and Other Essays, New York 2019, S. 3–14.

4

Vgl. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 51.

5

Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 87.

6

Gottfried Boehm: „Das Zeigen der Bilder“, in: ders./Sebastian Egenhofer/Christian Spies (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2010, S. 19–53, hier: S. 22.

7

Vgl. Konrad Ehlich: „Deixis“, in: Helmut Glück/Michael Rödel (Hg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 52016, S. 132.

82

Maria Kuberg

8

Heidegger: Sein und Zeit, S. 79.

9

Juliane Vogel: „‚Boden bereiten‘. Strategien des dramatischen Prologs“, in: Claude Haas/­ Andrea Polaschegg (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, Freiburg im Breisgau 2012, S. 159–171, hier: S. 160.

10

Antonin Artaud: „Das Theater der Grausamkeit (erstes Manifest)“, in: ders.: Das Theater und sein Double. Werke in Einzelausgaben, Bd. 8, aus dem Frz. v. Gerd Henniger, erg. u. m. einem Nachwort versehen v. Bernd Mattheus, Berlin 2012, S. 116–131, hier: S. 119.

11

Bertolt Brecht: „Über das Theater der Chinesen“, in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht et al., Bd. 22, Schriften 2, Teil 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 126.

12

Vgl. dazu auch Artaud: „Die Inszenierung und die Metaphysik“, in: ders: Das Theater und sein Double. Werke in Einzelausgaben, Bd. 8, Berlin 2012, S. 42–61, hier: S. 53.

13

Vgl. Boehm: „Das Zeigen der Bilder“, S. 38.

14

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Magnus Michel, Frankfurt a. M. 132014, S. 91.

15

Rainald Goetz: Krieg, Frankfurt a. M. 2003, S. 15.

16

Magdalena Schrefel: was zündet, was brennt, Reinbek/Hamburg 2021, S. 3.

17

Ebd., S. 25.

18

Vgl. Brecht: „Vergnügungstheater oder Lehrtheater“, in: ders.: Werke. Große kommentierte ­Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht et al., Bd. 22, Schriften 2, Teil 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 106–116, hier: S. 109.

83

Kathrin Röggla ÜBERSETZEN

Es wäre so einfach zu sagen: Ich arbeite auch als Theaterautorin mit dokumentarischen Mitteln, die ich ästhetisch übersetze. Aber diese scheinbar banale Bemerkung erzeugt eher Verständnisprobleme, als etwas zu klären, sie ist sozusagen voraussetzungsreich. Es scheint nur plausibel, mit einer Fragenkaskade darauf zu antworten, in der sich natürlich auch falsche Fragen befinden können, oder solche, die sich mit der Zeit als falsch erweisen werden.

Warum überhaupt übersetzen? Über diesen Begriff ist viel geschrieben worden, er scheint mir zweckmäßig, wenn auch überstrapaziert, weil er die Transformation eines Materials, einer Situation, einer Medialität in eine andere behauptet, als ginge das so einfach. Es fängt schon damit an: Was ist das Ausgangsmedium, was das Endmedium? Befinden sie sich auf derselben Ebene? Oder entspräche das eher der Bedeutung der Übertragung? Die Übersetzungsarbeit geht jedenfalls weit über eine Dekontextualisierung oder einen sprachlichen Transfer hinaus. Sie negiert die Behauptung, dass man die Welt eins zu eins auf die Bühne übertragen kann. Sie werden sagen, das wissen wir längst, das Begehren danach aber bleibt, wie man in den letzten zwanzig Jahren Theatergeschichte sehen konnte. Denn das Theater ist nach wie vor politisch, es spricht im Namen einer Öffentlichkeit, es bezieht sich stets auf die Welt – das geht gar nicht anders (→ Vermitteln). Selbst die absurdeste Fantasie ist Teil dieser Realität, um mich sehr vage auf den Realismusbegriff von Alexander Kluge zu beziehen.

Was ist überhaupt Material, was Stoff? Woran entzündet sich meine Sprache und warum? Wo beginnt die Übersetzung eigentlich? Da ich sehr viel mit Interviews, mit Gesprächen und mit der manchmal durchaus teilnehmenden Beobachtung arbeite, würde ich sagen: beim Zuhören (→ (Zu) Hören). Es macht einen großen Teil meiner schriftstellerischen Arbeit aus.

Wie und ob es gelingt, ist dabei sehr erstaunlich aus der Tatsache der tech-

84

Kathrin Röggla

nischen Aufnahme und Transkription der Gespräche heraus überprüfbar.

Beim Abhören wird jedes Zuhören sozusagen betretbar und ich kann mir folgende Fragen stellen: Warum hast du da nicht nachgefragt? Warum bist du nicht weiter rein? Hier hättest du einhaken können, und wieso hast du das und das überhört? Überhaupt – wo warst du in deinen Gedanken?

Scheinbar oft weg.

Zuhören ist insgesamt problematisch geworden. Es ist etwas, das ­gesellschaftlich zwar kaum kritisch beobachtet, aber oftmals dargestellt wird – man denke nur an die vielen Darsteller:innen des Zuhörens in Talkshows oder Behörden. Inszeniert wird es durch einfache Gesten, während es uns als Tätigkeit immer schwerer fällt. Dem Sehen wird diskursiv seit jeher mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Das Sehen wird dabei mit dem ­Objektivierbaren verbunden, mit der Überwachung. Das Hören hingegen eröffnet, folgt man z. B. dem Philosophen Jean-Luc Nancy, immer schon einen objektiv-subjektiven Raum. Es findet im Innen statt. Die Übersetzung findet bereits in der Wahrnehmung statt. Oder davor? In der Auswahl des Gegenstands, den ich beobachte?

Im Arbeiten mit dokumentarischen Mitteln gehe ich davon aus, dass ich etwas aus der Welt in etwas auf der Bühne verwandle (→ Erkennen). Will ich etwas abbilden, komprimieren, zur Kenntlichkeit entstellen, kennenlernen? Vielleicht beginnt die ästhetische Übersetzung wirklich nicht beim Zuhören oder Mitschreiben, sondern bei der Auswahl der Gesprächspartner:innen? Bei der Auswahl des gesellschaftlichen Ortes, dem vermeintlichen Thema. Spoiler für alle Programmdirektor:innen dieser Welt: Themen gibt es in ästhetischer Übersetzung nicht, ein derart materialfremder Begriff taugt allenfalls nur für den Journalismus.

Was wird dann eigentlich übersetzt? Welcher Erzählung folge ich? Wo setzt mein Material ein? Was beobachte ich und wie lange? Zu welchem Zeitpunkt gehe ich ins Material? Beobachte ich einen sozial homogenen Raum? Aus welcher Position beobachte ich? Mit wem gehe ich dann ins Gespräch? Welche Vorinformationen werde ich organisiert haben und mit welcher Haltung gehe ich an sie heran? Werde ich beispielsweise Pathos hinzufügen, wo im Gericht Alltag ist? Warum jetzt das Gericht, werden Sie sich fragen. Nun, das Gericht ist ein spannender Ort für das Theater.­

Übersetzen

85

Gericht und Theater sind beziehungsreich miteinander verwandt, teilen ihre Ursprünge, wie man auch bei der Juristin und Kulturwissenschaftlerin Cornelia Vismann in ihrem Standardwerk Medien der Rechtsprechung1 nachlesen kann, und doch funktional etwas komplett anderes.

Mit Vismann kann ich fragen: Was passiert in dieser Übersetzung, diesem Transfer eines Prozesses auf die Bühne? Und welche medialen oder ästhetischen Spuren sind im Material schon angelegt? Denn selbst das Gericht ist mit seinen Mikrofonanlagen und seiner architektonischen Anlage, seinem ständigen Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ­medial aufgestellt. Finde ich eine formale soziale Situation vor, welches ­soziale Spiel wird gespielt? Ist es ein Spiel, wo nicht wirklich miteinander gespielt wird, sondern gegeneinander?

Wenn ich das Gericht im Theater thematisiere, tue ich das im Wissen, dass Institutionen heute stark herausgefordert oder gar im Krisenmodus sind. Die, in die ich alltäglich Einblick habe, haben gewaltige Legitimationskrisen, darüber hinaus Probleme mit Krankenstand, Überforderung, sehr genauer Öffentlichkeitsplanung, bürokratischer Aushöhlung, einer Gremienarbeit, die Entscheidungen auf sachlicher Ebene erschwert – zu lange Tagesordnungen, zu viele Beteiligte etc. In solchen Institutionen hält man potenzielle Kritiker:innen beschäftigt, indem man Scheinverhandlungen durchführt und Stellvertreterkonflikte am Kochen hält. Aber ich kann diese Angst vor der Abschaffung demokratischer Instanzen nicht einfach verdoppeln, ich kann auch im Gericht dieses Herrschaftswissen nicht einfach imitieren, mich quasi in eine Expert:innenposition hineinmogeln. Es gibt ­Prozesse, in denen ist der ästhetischen Übersetzerin die Expert:innenperspektive nicht möglich, sondern nur die einer rechtsunkundigen Sicht, beziehungsweise einer Sicht der Leute, die dem machtvollen Wissen plötzlich unterworfen sind, es sich aneignen wollen und dabei meist scheitern müssen. Zu den Voraussetzungen einer Übersetzung gehört auch die Vorstellung, man müsse etwas vollständig verstanden haben, um es zu übersetzen.

In einem Gerichtsprozess musste ich mich zumindest von dieser Annahme verabschieden.

Für meine ästhetische Entscheidung spielte aber noch ein anderer ­Aspekt eine Rolle. Denn meine Hinwendung zur Rechtsprechung liegt

86

Kathrin Röggla

jenseits der Tradition noch aus einem anderen Grund auf der Hand. ­ Wer befindet sich in der Epoche der Symbolpolitiken und toxischen ­Debatten nicht auf der Suche nach Sprachmacht? Hier findet schließlich Handlung mit Sprache statt, sie gilt sozusagen. Das Gericht ist der ­gesellschaftlich theatrale Ort für Wahrheitsfindung, und diesen Faden haben in den letzten zehn Jahren viele Kolleg:innen aus der Kunst aufgenommen. Denn wenn im realen Gericht die Wahrheit festgestellt wird, erhält sie eine gewisse Gültigkeit mit echten Konsequenzen. Und ist sie einmal festgestellt, ist sie unumstößlich. Zumindest, wenn das Urteil revisionsfest ist.

Dieses Urteil ist allerdings dem gerichtlichen Verfahren unterworfen, das Cornelia Vismann als theatrales Dispositiv des Gerichts bezeichnet hat, dem ein agonales Dispositiv gegenübersteht, das Prinzip der richterlichen Entscheidung – auch sie pendelt zwischen Orestie, Zerbrochnem Krug und Rechtsgeschichte hin und her, zieht die Verbindungen. Das theatrale Dispositiv, das Verfahren, gilt ebenso für den Soziologen Niklas Luhmann als legitimierende Grundlage der Demokratie. Und doch finden Entscheidungen auch während des Prozesses statt. Welchem Zeugen, welcher Zeugin glaubt die Richter:innen? Das ist vielleicht der Moment, wo sich der Prozess mit der griechischen Tragödie verbindet. Allerdings müssen moderne Richter:innen ihr Urteil begründen. Es ist eine wesentlich demokratische Aufgabe. Die Hinwendung zu diesem Verfahrenstechnischen hat viele künstlerische Arbeiten zu dem Thema ausgezeichnet.

Die erste ästhetische Reaktion war meiner Erinnerung nach die im Theaterraum stattfindende Verlesung der außergerichtlichen, journalistischen Protokolle der Süddeutschen Zeitung – als wolle man „die Fakten selbst“ sprechen lassen. Dass diese redigiert und etwas didaktisch aufbereitet waren, wussten nur die, die selbst im Gericht waren und die zahlreichen Irrläufe, die merkwürdigen Schludrigkeiten und Wiederholungsschleifen mitbekommen mussten. Natürlich war an eine Bearbeitung, wie wir sie von Ferdinand von Schirach kennen, nicht zu denken. Er tilgt in seinen Stücken die Asymmetrie des Gerichts, er verengt die Verfahrensform auf ethisch-juristische Konflikte, denen im realen Gerichtsalltag eine nicht sehr vordergründige Rolle zukommt, er macht das Verfahren überschaubar und wendet sich mehr dem Agonalen zu. Mit 200 Leuten im

Übersetzen

87

Raum und jeder Menge Nichtwissen kann man das schwerlich ver­suchen, ohne den inhaltlichen Komplex ganz zu verlieren. Dann gab es künstlerische Arbeiten wie die von Aysun Bademsoy in ihrem Film ­Spuren – die Opfer des NSU, die sich den Angehörigen und Überlebenden zuwandte. Diese waren in den ersten beiden Jahren noch manchmal zugegen, und Aysun Bademsoy machte d ­ eren Enttäuschung vom Gericht deutlich.

Dieser NSU-Komplex ließ mich folgende Fragen für meine eigene Arbeit stellen: Ist im Theater die Übersetzung der Transport der Realität oder des Materials in die Fiktion? Wo endet dieser Transport? Was bedeutet Fiktion in dieser Hinsicht? Was darf und kann ich mir im Gericht ausdenken? Wenn es ein anderes Ende wäre, würde ich mich über die Rolle der Richter:innen stellen? Wäre das nicht antidemokratisch, oder würde ich mich auf die Ebene von Nationalsozialist:innen stellen, die das Ganze als „Faschingsveranstaltung“ bezeichnet haben? Wie nehme ich das Gericht ernst und zeichne dennoch ein kritisches Bild, ohne es zu verraten? Welche Konstellation wähle ich? Was bedeutet Expert:innentum im Gericht? Wer weiß etwas und weiß die Person es immer schon vorher? Welches Wissen wird entwickelt und welche Ebenen kann ich verknüpfen? Und was lässt sich nicht übersetzen?

Wenn der Gerichtsalltag eines Staatsschutzprozesses im Theater nie im Text übersetzt wird und wir eine Zuspitzung, Vereinfachung und Komprimierung vorfinden, spielt die Arbeit mit Zeit im Gericht keine Rolle mehr – da muss man, wie in einer Produktion von Elfriede Jelineks Das schweigende Mädchen, auch eine Arbeit zum NSU-Komplex, meist schon auf die Regie vertrauen. Und was machen wir mit der Tatsache, dass sie alle in verschiedenen Räumen sitzen, obwohl ein Raum behauptet wird? Vielleicht muss man über das Zuhören nachdenken. Zu ihm ist nicht sehr viel publiziert worden. Es ist sozusagen noch immer eher unser blinder als ein tauber Fleck. In Alexander Kluges Werk findet sich eine neue Kategorie eines Zuhörer:innentyps: die Ersatzzuhörer:innen. Ich lasse zuhören, und zwar nicht nur meinen Psychoanalytiker, ich kann das Zuhören sozusagen mehrfach auslagern. Die Referent:innen hören für ihre Ministerin zu, für ihren Staatsanwalt etc. Es gibt aber ein anderes Auslagerungsprinzip: Etwas ist zu groß und zu komplex, als dass ein Mensch den Zuhörjob alleine ­machen könnte, und so braucht es eben viele. Im Gericht gab es von aktivistischer und jour-

88

Kathrin Röggla

nalistischer Seite dieses Hören im Wechsel, das Community-Hören sozu­ sagen, sonst wäre es gar nicht zu schaffen gewesen. Es ist nicht zu unterschätzen, dieses gemeinsame Hören, das im Gericht eigentlich sowieso Standard ist, denn der Grundsatz der Mündlichkeit benötigt den Grundsatz des Hörens, also der Öffentlichkeit. Dieses gemeinsame Zu­hören bekam etwa im NSU-Prozess eine Deutlichkeit und eine Professio­nalisierung, wie ich es zuvor noch nicht erlebt habe. Es waren tatsächlich „Zuschauer with a job“, wie Cornelia Vismann die Gerichtsöffentlichkeit bezeichnet hat. Auch wenn die Zuhörer:innen heute im Saal kein aktives Recht haben, kommt ihrem Beobachtungsstatus doch eine gewisse aktivierende und symbolische Rolle zu. Man spricht anders vor Publikum, auch wenn man eine Behörde ist.

Kein Wunder, dass diese Zuhörer:innenschaft zum zentralen Moment meines Theaterstücks Verfahren und Romans Laufendes Verfahren wurde.

Dass ich auch im konkreten Gericht als ästhetische Übersetzerin längst nicht mehr allein bin, bemerke ich allerdings erst in der Außenstelle des Gerichts in Frankfurt-Sossenheim. Dort werde ich Marie Schwesinger treffen. Die Regisseurin und Autorin hat zusammen mit Fabiola Eidloth und Julia Just für ihre Produktion Werwolfkommandos bereits zwei Jahre lang im Frankfurter Oberlandesgericht gesessen. Auch sie wollten das Material selbst sprechen lassen, neben inszenatorischen Mitteln, einer ­flexiblen und abstrakten Bühnenarchitektur, die einen körperlich tänze­ rischen Einsatz zulässt, und einer Soundbegleitung mit der Einspielung von Medien-O-­Tönen. Es ist eine Produktion, die Pathos durch Minimalismus in den Bühnenmitteln und chorisches Sprechen herstellt, dynamisiert durch einen Wechsel zwischen intimem und öffentlichem Sprechen, zwischen Zeug:innenaussage und Ich-Perspektive der Besucherin, Gerichtssprache, Zitaten und der Thematisierung der Vermittlung (z. B. des Problematisierens des Dolmetschens im Gericht als Zeichen einer ausbleibenden menschlichen „Übersetzung“ für die Überlebenden). Insgesamt entstand eine musikalische Verdichtung des Gerichtsgeschehens, die dynamisch bleibt und über das einfache Zeigen, wie es denn war, ­absolut hinausgeht. Marie Schwesinger und ihr Kollektiv haben Haltung und ein politisches Anliegen; sie zeigen, schon allein damit, dass sie zwei bis drei Prozesse verschalten und historische Bezüge herstellen,

Übersetzen

89

wie v­ ernetzt und stabil die rechtsextreme Szene und ihr Gedankengut sind.

Das Gericht kommt kaum hinterher.

Milo Rau, der mich als Gerichtsschreiberin in seinem Kongo-Tribunal in der Berliner Produktion beschäftigt hat, hat dem Gedanken der „Übersetzung“ noch etwas hinzugefügt. Nach dem Re-Enactment entstand spätestens seit dieser Produktion sein Pre-Enactment, er wünscht sich also eine Umkehrung der Richtung. Nicht das Theater übersetzt die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit nimmt sich das Modell des Theaters als ­Beispiel. Wo ein Prozess fehlt, wird dieser eben im Theater mit derselben Ernsthaftigkeit und Pathos inszeniert. Dass Bühnenpathos und „reales ­Pathos“ eigentlich zwei unterschiedliche Sachen sind, mag man anmerken, es spielte für die politische Forderung letztendlich jedoch keine Rolle.

Die letzte Frage in Sachen Übersetzung muss logischerweise die sein, wann eine Übersetzung beendet ist. Ich kann sie eigentlich nicht wirklich beantworten. Denn wenn ein ästhetisches Stoff-Übersetzungsproblem wirklich spannend ist, übersetze ich gerne weiter. Theaterstücke in Romane oder Hörspiele in Theaterstücke und dann in Romane, also in die Gegenrichtung des Üblichen. Bei mir hat es, wenn es interessant werden soll, eigentlich immer diese Richtung, und es geschieht immer etwas in dieser Arbeit, was ich nicht vorausahnen kann.

Es geht also um zweierlei Schritte, die irgendwie zusammengehören. ­Gerade nämlich übersetze ich das Theaterstück Kein Plan, das im Februar 2025 am Theater an der Ruhr uraufgeführt wurde, in einen Roman. Was bringt es mir? Geld? Ja, das auch. Aber da könnte ich auch was anderes machen. Meist ist einfach was offengeblieben. Ich habe die Rechnung mit dem Wirt nicht gemacht und jetzt muss ich es nachlösen. Ich muss zum Geschirrabwaschen in die Romanproduktion. Bei Laufendes Verfahren war es die Frage nach dem „Wir“, dem Urteil im Namen des Volkes, die ich in der Prosa nochmal anders auffalten konnte als im Theater, wo das „Wir“ zu schnell zu haben ist.

1

Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, hg. v. Alexandra Kemmerer/Markus Krajewski, Frankfurt a. M. 2011.

90

PAUSIEREN

Pausieren

91

92

Pausieren

Pausieren

93

94

Pausieren

Pausieren

95

96

Fabian Hinrichs LACHEN

Wenn man trotzdem nicht lacht Es gibt Fragen, die fröhlich machen, mich zumindest. Zum Beispiel die Frage meines kleinsten Sohnes, wie lange man bräuchte, um mit dem Auto einmal um die Welt zu fahren.

Es gibt Fragen, die traurig machen. Mich. „Woran ist René Pollesch gestorben?“ Und es gibt Fragen, die Neugier wecken. Meine zumindest.

Die belebende Frage, mit der Hannah von Sass an mich herangetreten ist, lautet, ob der Eindruck stimme, dass der Humor in der Gegenwartsdramatik etwas auf der Strecke bliebe und, nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Betrachtung, des Öfteren als niederes Phänomen abgetan oder ignoriert werde. Und wenn das stimmte, ob aber das subversive Potential des Theaters nicht gerade darin läge: in der Satire, im Humor.

Es geht also in den beiden Fragen um das Lachen, vielleicht auch ums ­Lächeln oder um tonloses Mundaufreißen. Und zwar nicht irgendwo, sondern im Theater.

Aber – und das ist keinesfalls als Boshaftigkeit auszulegen – sind die beiden Fragen denn überhaupt Fragen oder sind es nicht eher Vermutungen? Auch dieser letzte Satz ist ja trotz Fragezeichen keine Frage, sondern eine Annahme mit Fragezeichen. Wenn also die Fragen nach Humor in der deutschen Gegenwartsdramatik und nach der unterwandernden Kraft des Theaters durch Humor keine Fragen, sondern Vermutungen sind, was ich vermute, ist es möglich, dass diese Vermutungen, den Humor in der deutschen Gegenwartsdramatik betreffend, nicht richtig oder nur zum Teil richtig sind. Und es ist aber natürlich auch möglich, dass sie stimmen – ganz und gar oder teilweise, vollkommen oder ein bisschen. Vielleicht finden wir es heraus durch Fragen. Fragezeichen.

Lachen

97

Erste Frage: Was ist das Lachen?

Der Mensch lacht. Hier kann man es tatsächlich einmal im pathetischen Kollektiv-Singular ausrufen: der Mensch. Es ausrufen – und lachen.

Das Lachen des Menschen zeigt sich als eine Abfolge von Lauten, die beim Ausatmen entstehen, abwechselnd stimmhaft, vokalförmig und dann stimmlos, konsonantenförmig. Die Deutschen machen „Haha“, die Italiener und Franzosen „Ahah“, die Russen und auch die Ukrainer stoßen „Xaxa“ aus. Nein. „Stießen Xaxa aus“ wäre die richtige Zeitform seit 2022.

Nein. Seit 2014. Das Lachen in der Ukraine, es wird weitgehend ausgebombt sein. Der Humor aber, der nicht. Humor und Lachen sind nicht verheiratet, nicht zwangsläufig. Zum Bindungscharakter der beiden später mehr.

Der Mensch lacht. Er oder sie lacht, in Lachsilben, „Ha“, „He“, oder „hmhmhm“, „hnhnhn“ mit der Zunge gegen die Zähne, Mund leicht geöffnet. Es gibt auch kehliges Lachen, „Chaha“ oder „Chehe“. Auch schnaubendes Lachen gibt es, grunzendes. Lachen bei sich gerade öffnendem Mund.

Menschen lachen. Menschen – wer ist oder war das denn eigentlich?

Die Australopithecinen lebten vor vier bis zwei Millionen Jahren, vielleicht, sie liefen schon auf zwei Beinen, vielleicht nutzten sie sogar Werkzeuge.

Und dennoch überreichen wir ihnen heute nicht post mortem die Einbürgerungsurkunde in das Land der Menschen. Warum das so ist, dafür hat der heutige Mensch Begründungen gefunden: Körperbau, anders geformte Eckzähne, die vielleicht ein anderes Sozialverhalten erforderten, schnelleres Wachstum, das weniger Fürsorge ermöglichte. Als Minuspunkt Nummer eins bei der Beurteilung des Einbürgerungsantrags wird das kleine Hirnvolumen angeführt.

Und dennoch: Wovon wir als heutige Menschen ausgehen können, ist, dass auch die Australopithecinen lachten. Wir nennen die Australopithecinen Menschenaffen, nicht Menschen. Aber, so fragen wir uns erschrocken, schrieb nicht Helmuth Plessner noch bewundernswert selbstbewusst davon, dass nur Menschen lachen und weinen, niemand sonst? Biber nicht, Mücken nicht, Pferde nicht, auch Menschenaffen nicht? Denn Menschen

98

Fabian Hinrichs

sind Menschen und Menschenaffen sind Tiere. Und Tiere, so Plessner und so auch die meisten anderen Menschen, Tiere lachen nicht, weinen nicht.

Lächeln nicht.

Tiere gelten übrigens im Bürgerlichen Gesetzbuch als Sachen, die man kaufen, besitzen und gebrauchen darf (§ 90 a S.3 BGB). Obwohl § 90 a S. 1 BGB ausdrücklich besagt, dass sie keine Sachen seien, darf man sie wie Sachen behandeln.

Sie sind also realiter Sachen, denn die Subjekteigenschaften eines Menschen oder auch eines Hasen werden wesentlich bestimmt durch die Handlungsqualitäten – ich bin auch dadurch der, der ich bin, durch das, was ich tue und wie mir getan wird.

Auch Menschen behandeln andere Menschen wie Sachen, doch vor dem Bürgerlichen Gesetzbuch bleiben sie in jedem Fall Menschen, in Wortlaut und in Tat. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass der Australopithecus kein Mensch war.

Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass nicht nur diejenigen Wesen, die Menschen heute Menschen nennen, lachen, sondern dass auch einige Arten der Wesen lachen, die wir Menschen Tiere nennen. Tiere lachen. Ratten lachen.

Menschenaffen lachen. Papageien auch. Der Australopithecus hat auch gelacht. Mit ziemlicher Sicherheit klanglich doch anders als die Menschen heute: Das Lachen der Australopithecinen wird aus einer Serie von schnellem Keuchen bestanden haben, denn Menschenaffen lachen hauptsächlich beim Einatmen und glucksen eher beim lachenden Ausatmen. Aber sie lachen. Und lachten.

Das macht die Überlegungen über das Lachen auf den ersten Blick komplizierter. Denn was Menschen heute als die angeblich wesentliche biologische Scheide des Menschseins bestimmen, das ist das Gehirn, oder genauer: die Entwicklung des Gehirns, ihres Gehirns. Das Gehirn hatte bei den Australopithecinen eine Größe von vierhundert Kubikzentimetern.

Der Homo rudolfensis dann, der „Mensch vom Rudolfsee“ im heutigen Kenia, lebte vor 2,5 bis 1,9 Millionen Jahren und wird großzügigerweise

Lachen

99

von den heutigen Menschen bereits anerkannt – als irgendwie „Mensch“.

Dieser Homo rudolfensis hatte ein Hirnvolumen von sechshundert Kubikzentimetern. Da ging also noch was.

Der Homo erectus, der „stehende Mensch“, der vor 1,9 Millionen Jahren bis vor ungefähr 100.000 Jahren lebte, hatte dann bereits ein Hirnvolumen von eintausend Kubikzentimetern. Und schließlich, vor mehr als 233.000 Jahren betrat der verständige, verstehende, vernünftige Mensch (Homo ­sapiens) mit einem Hirnvolumen von eintausendzweihundert Kubikzentimetern die Experimentaltheaterbühne der Evolution. Soweit die Kurz­ geschichte des menschlichen Gehirns, dem Organ, das Rationalismus, Idealismus und Ingenieurswesen erst zum aufrechten Gang der Geschichte verholfen hat.

Wenn nun aber ein Mensch mit einem Hirnvolumen von zwar nicht peinlichen, aber eben auch nicht allzu beeindruckenden 600 Kubikzentimetern genauso lacht wie ein Mensch mit doppelt soviel Kubikzentimetern Hirn hinter der Stirn, oder gar ein Nobelpreisträger der Gattung „Astrophysik“ dieselben Lachlaute von sich gibt wie eine Kanalratte, dann … ja, was dann? Dann ist Plessners These von der Exzentrik des Menschen im Hinblick auf die Ausnahmefähigkeit des Lachens … lächerlich.

So wie große Theaterstücke nicht bebilderte Themenabende sind, so ist die entscheidende Frage nicht unbedingt eine, die danach fragt, was Lachen ist – sondern?

Zweite Frage: Worüber lachen Menschen?

Menschen lachen bei vielen Anlässen, aus vielen Gründen: wenn man sie kitzelt, wenn sie ein Gespräch auflockern möchten, wenn sie etwas verkaufen wollen, einige tun es, wenn sie geschlagen werden. An dieser Stelle möchte ich aber nur darüber nachdenken, worüber Menschen lachen. Sie lachen, wenn etwas abweicht von einer von ihnen verinnerlichten Erwartung. Macht ein Mensch einen Witz, so muss der andere Mensch die Pointe verstehen. Nur wer die Pointe versteht, kann über den Witz lachen. Die Pointe ist immer die Abweichung vom Erwarteten. Die gespannte Erwartung wird durch die Abweichung von der verinnerlichten Norm unterlaufen

100 Fabian Hinrichs oder gebrochen, und die Kraft oder Energie, die sich im den Witz hörenden Menschen aufgebaut hat, wird abgebaut durch Lachen. Das passiert beim Witz. Wir erwarten eine bestimmte Bedeutung und erkennen durch die Pointe eine andere Bedeutung. Deswegen lachen Kinder nicht über Erwachsenenwitze. Weil sie die Pointe nicht verstehen.

Bei der Komik muss der Mensch, der eine Szene sieht oder ihr beiwohnt, erkennen, dass es sich um Schein handelt, nicht um Wirklichkeit.

Wir erwarten eine bestimmte Erscheinung, die wir als Norm verinnerlicht haben. Und lachen, wenn die tatsächlich eintretende, wahrgenommene Erscheinung anders ist als die erwartete, normentsprechende. Die Bananenschale, Sie wissen schon. Aber es wird nur dann über Bananen gelacht, wenn nicht der Krankenwagen kommen muss. Oder der Leichenwagen.

Das ist Komik, die Menschen zum Lachen bringt.

Aber, und hier nähern wir uns der Umlaufbahn der Sass‘schen Vermutung, es mangele in der deutschen Gegenwartsdramatik und auf deutschen Bühnen an Humor: Witz und Komik sind nicht dasselbe wie Humor.

Mario Barth, der seit über 15 Jahren industriell erfolgreichste deutsche … ja, was? Komiker? Nein. Komödiant? Nein. Witzemacher – ja, Witzeklopper. Mario Barth also, der seit langem erfolgreichste deutsche Witzemetzger, ist ein furchtbar humorloser Mensch mit einem durch und durch ­humorlosen Programm. Aber seit Jahrzehnten macht er erschreckend erfolgreich schreckliche Witze, über die andere Menschen furchtbar lachen.

Warum? Warum bloß?

Weil die Witze, die er macht, humorlose Witze sind – über Andere. ­Andere, die nicht er sind. Und die nicht die sind, die ihn bezahlen. Ganze Stadien und riesige Hallen voller völlig humorloser Menschen lachen sich halblebendig über jeden Witz mit Bart von Barth. Und sie tun es deswegen und nur deswegen, weil die Witzchen alles Mögliche berühren, ach was: beschmieren. Hauptsache nicht sie selbst, ihr Leben. Ihre Ängste. Oder ­Mario Barth, Mario Barths Leben, seine Lebensangst. In den Witzen Barths und im Lachen der Zuschauer:innen scheint ein Begriff des Menschen auf, der nur die Menschen kennt und als den Menschen nur das Spiegelbild

Lachen 101 seiner oder ihrer selbst. Gelacht wird über jeden, der verschieden ist von Barth und den zuschauenden Menschenmassen im Olympiastadion, und zwar über die Verschiedenheit als Abweichung von der verinnerlichten Norm eines „Menschen“. Der Schritt zum Geist des AfD-Programms ist keiner – es ist höchstens eine Gewichtsverlagerung aufs rechte Bein notwendig und schon steht man mitten drin im rechten Rand.

Also: Menschen lachen über komische Situationen, über Witze und sie ­lachen im Humor.

Worüber lachen Menschen in deutschen Theatern?

Auch auf deutschen Bühnen finden wir jede Menge oft völlig humorlose Witze, jede Menge kindische harmlose Komik. Slapstick: Schritt, Schritt, Stolper, hahahahahahahgähn.

Auch Humor?

Dritte Frage: Was ist Humor?

Humor ist ein inneres, das heißt gefühlsmäßiges und geistiges Verhältnis zu einer Welt, die ernst ist. Zu einer Wirklichkeit, die furchtbar ist, weil sie ungerecht, erbarmungslos und womöglich sinnlos ist. Einer Wirklichkeit, die uns zur Verzweiflung bringt, die bitter ist. Im Humor nehmen wir diese Wirklichkeit ernst, sehr ernst, aber wir gehen mit dieser Wirklichkeit so um, als sei sie nicht wirklich, sondern Schein. Deswegen lieben Literat:innen und Theatermenschen Nietzsche. Denn für Nietzsche ist die wirkliche Wirklichkeit der Schein. Die Wahrheit zeigt sich nur im Schein.

Ana Novac, rumänische Überlebende von Auschwitz, betitelte ihr ­Tagebuch über ihre Zeit als vierzehnjähriges Mädchen in dieser Hölle angemessen mit hadesianischem Humor: „Die schönen Tage meiner Jugend“.

Das ist subversiv.

Viele Jahre nach Auschwitz will sie sich umbringen, sie hält es nicht mehr aus, die Welt, sich selbst nicht mehr, ihre Vergangenheit, das, was ihr noch bevorsteht. In einem Gespräch beschreibt sie, wie leicht und befreit sie sich fühlt, als sie den endgültigen Entschluss fasst, sich vor einen Zug zu werfen. Als sie es endlich tut und sich mit größtmöglichem Mut (denn was erfordert mehr Mut, als sich selbst zu töten?) auf das Gleis vor den auf

102 Fabian Hinrichs sie zurasenden Zug legt, hält der Zug außerplanmäßig und zufällig kurz vorher an.

Ana Novac muss lachen. Die Wirklichkeit scheint nicht wirklich zu sein in diesem Moment. Sie beschreibt, dass sie lachen musste in diesem Augenblick; sie lacht darüber, dass sie anscheinend unendlich leben und somit auch bis in alle Ewigkeit weiter scheitern wird, denn es wird ihr nie gelingen zu sterben.

In den Momenten des Lachens und Lächelns über die Erkenntnis, dass die, die sterben will, unendlich leben muss, und die, die unendlich leben wollen, sterben, steigt sie über ihr Scheitern und über ihr Elend hinweg, erhebt sich über sich selbst.

Auch das ist Humor.

Ich sehe Kinder, die spielen, meine Kinder, andere Kinder, alle Kinder – sie leben in einem wunderschönen beschützten Garten. Es ist ein Garten Eden und dieses Eden heißt Spiel. Fast alles Verknotete, Verworrene im Leben des Kindes löst sich im Moment des Spiels auf, wenn auch nur für diese Zeit des Spiels.

Menschen ab dreizehn oder vierzehn Jahren aber vertreibt der Erzengel Michael aus Eden. In Gestalt der ersten schweren Krankheit, der vergeblichen Liebe, des Bewusstseins der eigenen körperlichen und seelischen Mangelerscheinung, des Bewusstseins des kognitiven Überschusses, mit dem der Einzelne nicht fertig wird, in Gestalt des Bewusstseins an sich. Erwachsene mögen auch noch spielen, dann und wann, aber es sind fast nur noch die Spiele der Konkurrenz, des Wettbewerbs.

Es gibt aber dennoch zwei befreundete Länder, in denen wir Vertriebenen einen Antrag auf existentielles Asyl stellen können. Das eine nennt sich Kunst, das andere Humor. Hinter den für immer verschlossenen Türen des Garten Eden des Spiels wartet dort Freiheit – auch für Ausgestoßene. Die Flucht aus dem Paradies des kindlichen Spiels ist ja nicht nur Verlust, nicht nur Mangel. Künstler:innen werden nicht nur Künstler:innen, weil Mutter und Vater grausam waren. Auch, ja. Ganz sicher auch. Aber sie werden auch Künstler:innen, weil sie spüren, dass die Erfahrung der Kunst fast die

Lachen 103 ­einzige Möglichkeit darstellt, sich für den Zeitraum der ästhetischen Erfahrung von sich selbst und auch von der wirklichen Wirklichkeit zu befreien.

Es ist fast die einzige Möglichkeit, denn es gibt ja noch eine andere: den Humor.

Vierte Frage: Ist die deutsche Gegenwartsdramatik humorvoll, oder nicht? Und wenn nicht, warum?

Es gibt humorvolle Gegenwartsdramatik. Wenig, aber es gibt sie. Wenn Zuschauer:innen ganz oft ins Theater gehen, ja, wenn sie kaum etwas Anderes in ihrem Leben tun als ins Theater zu gehen, dann besteht für sie die ­Chance, dann und wann Humor auf der Bühne zu begegnen und mit und über Humor zu lachen. Hauptsächlich aber sind die Stücke, die entstehen und die wir erleben können, Nachrichtensendungen oder Moralrevuen. Übertrieben? Diese These soll erst einmal jemand versuchen zu falsifizieren.

Es wird nicht gelingen. Leider.

Das Lachen oder Lächeln aus Humor – wir können annehmen, dass tatsächlich nur der Homo Sapiens in der Lage dazu ist, weil das Lachen aus Humor voraussetzt, dass man sich im Humor nicht mit der tatsächlichen Welt unmittelbar beschäftigt, sondern mit den Anzeichen und Merkmalen dieser Tatsachen. Humor befindet sich also in einem Zwiespalt, er besitzt zur Katastrophe, zur Verzweiflung, zur Ausweglosigkeit des eigenen Lebens und des Lebens der Anderen ein widersprüchliches Verhältnis – nah und darin verstrickt, distanziert und davon befreit. Der Humor sitzt auf genau dieser verschatteten Grenze. „Werden Sie auch von Ihren Eltern immer während des Luftalarms angerufen?“, fragt in Kiew ein Comedian seine Zuschauer:innen. Dieser Humor erhebt sich über das Entsetzen, über die Angst, die Panik der Bombenangriffe, er erhebt sich über die Hilflosigkeit des Kindes.

Louis CK, Amerikas großer Humorist, bewies vor und auch nach seinem tiefen Fall mit jedem Programm die Maxime eines anderen, wolkenkratzergroßen Humoristen, Mark Twain nämlich: Die verborgene Quelle des Humors ist nicht Freude, sondern Kummer. Man lacht aus Kummer über Kummer, und erhebt sich darüber und macht die Quelle des Kummers

104 Fabian Hinrichs damit sichtbar, identifizierbar. Während des Naziterrors griff Humor den Kummer über die unmenschliche Gewalt auf: Ein SS-Mann sagt zu einem Juden im KZ: „Du sollst heute umgebracht werden, aber ich gebe dir eine Chance. Ich habe ein Glasauge; wenn du erkennst, welches, dann schenke ich dir dein Leben.“ Der Jude schaut den SS-Mann an und sagt: „Das linke, Herr Rottenführer.“ – „Woran hast du das erkannt?“ – „Weil es so menschlich blickt.“ Solch Humor, hier als Witz, ist sprachlicher Widerstand, er findet sich in nahezu allen Gesellschaften, die Unrechtsregimen unterworfen sind oder waren.

Und heute? Was könnte heute ein Humor sein, der Eingang findet in Theaterstücke, auf die Bühnen hier und anderswo?

Auf deutschen Bühnen gibt es den Witz, die Komik, auch das Lachen darüber. Aber kaum Lachen aus und über Humor, denn bei Mario Barth und auf deutschen Bühnen wird gelacht über alles Mögliche, nur nicht über sich selbst. Vor allem aber nicht über die verinnerlichten Normen. Über die des Staates nicht, über die eigenen nicht und auch nicht über die eigene Normierung. Lachen verbindet, Lachen schafft und festigt Gemeinschaft. Das Lachen der vorgeblichen Normalos Mario Barth oder Maximilian Krah über Opfer, über Verfolgte, über Menschen, die von der Norm abweichen, die anders sind als das „Deutschland. Aber normal.“ (AfD-Slogan Bundestagswahlprogramm 2021), der in bellendes Lachen gekleidete Hass über queere Menschen, Frauen, die erfolgreich sind, nicht zuletzt das mit Vernichtungswunsch gesendete Aufglucksen über Intellektuelle und Intellektualität festigen das Gebilde einer ersehnten Leitkultur, die alles außerhalb eines schmalen kulturellen Korridors remigrieren will, irgendwohin, nur hinaus aus Deutschland.

Auf deutschen Bühnen findet sich dieser Hass als Lachen nicht, nein.

Und dennoch zeigt sich auch auf deutschen Bühnen der Humor nicht als eine Weltanschauung der Vorurteilslosigkeit und allgemeiner Menschenliebe, als Erfahrung der Kunst, einem Wildpferd gleich, das selbst nicht

Lachen 105 weiß, wo es gerade hin galoppiert, und das sich nicht einfangen lässt. Stattdessen stellen die Humorversuche viel zu oft die untaugliche Strategie dar, moralische Werte lustig verkleidet zu verteidigen, Unmoralisches zu bekämpfen und mittels Witz als Objektplatte für das Gute und Wahre die Zuschauer:innen auf diese Nullebene hinunter- oder hinaufzuziehen. Jetzt, wo die AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem erkannt wurde, jetzt, Leute!, soll doch nun wirklich kein Raum mehr für Komplikationsgefühle sein! Durch Humor, in dem nämlich komplizierterweise das Irreguläre selbst, das Unmoralische im Moralischen, Regulären selbst deutlich sichtbar wird. Um dann im Unscharfen wieder zu verschwinden. Lebensbewegung.

Gemeinsames Lachen über und aus Humor aber, aus Kummer und ­Verzweiflung, manchmal auch aus wütender Verzweiflung macht es in ­Augenblicken möglich, ontologische Einsamkeit im verworrenen, düsteren Weltamalgam aus Paketen, Krieg, Armut, unverschämtem Reichtum, unmenschlichem Transhumanismus und wohl kaum zu steigernder Individuation in einem Ozean der Ressentiments zwar nicht zu überwinden und ein für alle Mal hinter sich zu lassen. – Aber es ermöglicht doch, das ganze Schlamassel wie von oben, darüber schwebend, gemeinsam zu betrachten – und kurz und laut oder leise und länger darüber zu lachen. Über Ungerechtigkeit, über Mickrigkeit, Schäbigkeit, über die Lügen der Super­reichen, der Regierung, ja, aber ganz besonders und ausdrücklich über die eigenen ­Lügen. Dieses Lachen ist kein reines Vergnügen.

In dem Stück ja nichts ist ok, das René Pollesch und ich als Letztes zusammen geschrieben haben, gibt es einen Dialog zwischen Stefan und Paul (oder eines Menschen mit sich selbst?) über den Israel-Gaza-Krieg.

S: Man kann nicht einfach schwere Bomben auf Wohngebiete schmeißen! Das geht nicht! Das ist ein Kriegsverbrechen, Paul!

Sehr lange Pause P: Doch! Wo hast du denn das her, deine Informationen?

106 Fabian Hinrichs Das ist ja ein Sammelsurium aus irgendwas – Wie viel Zeit verbringst du denn in den sozialen Medien? Woher hast du denn deine Quellen, Stefan?

S: Was? P: Ja, woher du deine Quellen hast.

Pause S: Was soll ich dir da jetzt sagen? Soll ich dir jetzt sagen: „Aus deinem Arsch, ich hab sie aus deinem Arsch gezogen“?

Pause P: Was? Was willst du damit sagen?

S: Ja! Ich meine – was willst du denn jetzt von mir hören? Ich könnte ja sagen, „Ich hab sie aus deinem vollgeschissenen, hässlichen, absurd flachen Arsch gezogen. Der Arsch ist ja eigentlich der größte Muskel im Körper und bei dir ist er einfach ein flacher Arsch. Darunter hast du doch bestimmt immer gelitten unter deinem flachen Arsch, ab der ­Pubertät bis heute, der ist ja fast gar nicht vorhanden.“ – das könnte ich ja jetzt alles sagen, aber wozu führt das? Dann wär das ­Gespräch ja zu Ende.

P (hält beide Hände vor den Mund): Ohgott, ich fass es nicht. Ohgott, ohgott, ohgott, ist das furchtbar.

S: Alexa! Spiel mal Playlist „Flacher Arsch“!

Die Zuschauer:innen sind jedes Mal verstört über die ersten Sätze von ­Stefan. Vor dieser Szene wurde doch einigermaßen viel gelacht über Putzprobleme in der angeblichen Wohngemeinschaft (die es vielleicht gar nicht gibt), über die Komik angedeuteter Rollenwechsel … Und nun lachen, über Sterben und Morden und schwierigste Konflikte?

Die Verstörung steigert sich bei Pauls Antwort („Doch!“) jedes Mal in ein ungläubiges Lachen hinein, das sich in der Folge der Anal-Sentenz noch etwas hochschraubt, aber nie schallend ausfällt. Gebrochene Menschen (oder ein einzelner Zerstörter?) streiten sich selbst über die Symptome einer schwerkranken Welt. Man kommt ganz durcheinander – und lacht.

Lachen 107 Niemals aber, niemals richtet sich dieser Humor gegen die Opfer. Das ist genau mein Humor, unser Humor. Gemischte Gefühle, gemischte Gedanken, Humor durch Kummer, durch Verzweiflung, Verwirrung, durch Zweifel und Ratlosigkeit.

Der „Humor“ jedoch, der mir meist in Deutschland entgegengrinst, entgegenbrüllt, in der Dramatik, auf der Bühne, im Fernsehen, in der Theaterkritik, nicht zu vergessen im Publikum, ist meist keiner der einem tiefen Kummer, einem nagenden Zweifel und einer beunruhigten Ratlosigkeit entspringt, der nicht sich selbst befragt, sondern genau weiß, wo links und rechts, oben und unten und richtig und falsch sich befinden. So wie bei Mario Barth gibt es auch in der deutschen Gegenwartsdramatik diese unsichtbare Ebene 0: die der moralischen Norm. Die nicht erkennt, dass erst durch sie selbst das Unmoralische erzeugt wird.

Warum ist das so?

Die geschichtlichen Entwicklungen, die zu diesem ernsten Humorproblem in Deutschland geführt haben, sollen hier nur sehr kurz wiedergegeben werden: Vor dem Dreißigjährigen Krieg gab es noch einen herrschaftsangreifenden, wilden Humor des Bürgers. Till Eulenspiegel, um ein Beispiel zu nennen, das jeder kennt. Zusammen mit der tiefgreifenden Zerstörung der Städte durch den Krieg wurde auch die städtische Kultur zertrümmert. Und mit ihr der Humor der Städter, der immer auch gesellschaftliche Rangordnungen, wenn nicht einebnete, so doch auf- und angriff, und dadurch durchaus auch etwas umformen konnte. „Der König ist eine Puppe und die Puppe ist König“, gemäß eines Zitats von Friedrich Witte 1851.

Die Folge war: Die größten zwanzig Städte in Deutschland hatten im 17.

Jahrhundert zusammengenommen nicht einmal so viele Bürger wie London. Lachen aus Humor bedarf Gemeinschaft, braucht ein Gemeinschaftsgefühl, hierin ganz dem Geschmacksurteil gleich, das er, der Humor, ja auch ist: ein ästhetisches Urteil, das Menschen verbindet; oder auch nicht.

In einem vormodernen, aber doch zentralen Nationalstaat wie Frankreich oder England, in dessen gesetzter und vorhersehbarer Struktur die

108 Fabian Hinrichs einzelnen Bürger:innen Raum und Sicherheit finden konnte, war es möglich, die für eine lebenswerte Gemeinschaft lebenswichtigen Fähigkeiten Eleganz, Esprit und Humor zu erfahren. Eleganz als Erfahrung, Esprit als Erfahrung und eben Humor als lebensverändernde, lebenserhaltende Erfahrung; als gesellschaftliche Forderung, Humor in sich selbst und den Verhältnissen zu finden – durch Entfernung zu sich selbst und der Lebenswelt. Und diesen durch Spaltung erzeugten Gewinn dann zu (auszu-) leben, statt selbstidentitär dahinzukompostieren. All das, um einerseits bestimmten Gliedern innerhalb dieses Großkörpers anzugehören, angehören zu können. Doch andererseits auch, um sich und seinen Raum gegen invasive Techniken des Staates abzuschirmen. Beides war in gewohnter Lebens- und Verwaltungsumgebung dieses mehr oder minder stabilen Gebildes „Nationalstaat“ möglich und notwendig. Nur: In den über dreihundert Klein- und Mittelstaaten auf dem „deutschen“ Gebiet des Heiligen Römischen Reiches mussten Eleganz und wirklicher Humor, die von Großgruppen gelesen werden können, nicht unbedingt ausgebildet werden. Die Lesefähigkeiten kleiner und kleinster Gruppierungen reichten aus und so entwickelte sich der Humor auf dem Gebiet des heutigen Deutschland eher als ein schrulliger, verschrobener und drolliger. Humorlosen Humormaßstäben gemäß war dieser Humor überhaupt keiner und zwanzig bis einhundertzwanzig Kleinstaaten weiter bereits nicht mehr innerlich aufnehm- und verstehbar von den Menschen dort.

Diesem barrierereichen Zustand, dieser Zersplitterung von Kultur und also auch von Humorkultur waren die Menschen zweihundert Jahre lang ausgesetzt, gewaltige sechs Generationen.

Als sich dann im 18. Jahrhundert die Ideen der sogenannten Aufklärung in großen Teilen Europas, auch im Gebiet des heutigen Deutschland, verbreiten konnten, erstarkte zwar das Bürgertum, aber der „deutsche Bürger“ kehrte nicht zurück zum wilden und aufrührerischen, unterwandernden Humor des 15. und 16. Jahrhunderts. Sondern blieb gefangen in Humorsubstituten von Heimeligkeit oder Moral. Heimeligkeitshumor als Reaktion auf den ständigen strukturellen Wandel, den die kleinen Staatseinheiten mit sich brachten und der dazu führte, dass Menschen sich nach Sicherheit und kultureller Zugehörigkeit sehnten.

Lachen 109 Normverteidigungshumor, weil ein emanzipatorischer Humor in den Jahrhunderten zuvor nicht ausgeprägt werden konnte und normabweichendes Verhalten innerhalb der kleinen staatlichen Einheiten zu Gesichtsverlust führen konnte.

Angst vor dem Leben, Angst vor dem Staat, Angst vor sich selbst.

Seit dem 18. Jahrhundert hat sich so einiges verändert, viel Wasser ist die Flüsse hinuntergeflossen, die Dampfmaschine wurde erfunden, die Atombombe, das industrielle Töten.

Der Humor hier ist im Großen und Ganzen so geblieben.

Menschen in England, in den USA, in Frankreich, die sich Normen und Normalitäten und sich selbst gegenüber, ja gewissermaßen gegenüber ihrer Subjektkomposition, von Kindheit an immer in einer inneren Zurückhaltung üben konnten, fühlen den Humor als Ausdruck einer Notwehr. Auch gegen sich selbst. Als freies Gefühl und als freies Denken inmitten eigener und fremder Grenzen. Wer aber nachts um halb drei in Potsdam an einer völlig verlassenen Kreuzung im Nieselregen vor einer roten Ampel stehen bleibt, und darüber nicht lachen kann, sondern andere anbrüllt: „Es ist rooooot!“, der oder die hat kein Blut aus Plasma, Blutzellen und dem Rostrot des Hämoglobins in seinen oder ihren Adern, sondern eine Flüssigkeit aus geschmolzenem Polycarbonat einer deutschen Ampel in der Farbe RAL-3001, Studiorot, Ampelrot.

Die traurige Situation an deutschen Ampeln ist aber so geblieben. Der verständige Mensch, der in Deutschland statt eigener Fragen aufrecht­ stehend und -gehend fremde Antworten hören und wiedergeben möchte, und sei es die Antwort der Ampel oder der Theaterinszenierung vor ihm – dieser Mensch zeigt, dass das Ende der Kunst, von dem Hegel delirierte, natürlich nicht gekommen ist. So wie die Geschichte der menschlichen ­Gesellschaften keine Geschichte des Fortschritts ist, so ist auch die Entwicklung des Humors keine einer aufsteigenden Befreiung. Sondern eine des Rückschritts – eine Devolution des Humors mit anschließendem Stillstand.

Zumindest hier. Wie das in Manaus ist, weiß ich nicht.

110 Fabian Hinrichs Ach, es ließe sich noch soviel schreiben über Humor und warum so viele Ratten, Menschenaffen, Dramatiker und Ampelmännchen ihn hier nicht haben, nicht haben wollen möglicherweise. Es hat mit Platon zu tun, das ist klar. Er war es, der die Menschen dazu verführte, Gefühle und alles gedanklich schwer Fassbare als Unwahrheit und Laster auszumachen. Dichter, insbesondere Komödiendichter und Schauspieler wurden aus seinem Idealstaat verbannt – es sei denn, sie bebilderten das Gute und Wahre, was immer das Ideale im Kopf, im Denk-Himmel, war. Muss es zweitausendvierhundert Jahre später immer noch so sein? Wissenschaft und Dramatik haben Angst vor Humor aufgrund von Platons Ideenlehre, das ist klar. ­Platon, der erste Philosoph, der seine ausgeprägte Angststörung (Angst vor dem Leben) durch radikale Prosa zu sublimieren suchte. Vielen Dank.

Die meisten Menschen, die hier leben, scheinen sehr große Angst zu ­haben. Angst vor dem Leben, vor Gefühlen und Gedanken, die nicht falsche Geborgenheit schenken und keinen billigen Trost. Angst vor Humor als Eingeständnis, dass es zwar epistemologisches Wissen gibt. Aber eben auch die Dunkle Materie, die angeblich achtzig Prozent unseres Universums ausmacht. Und dass Menschen weder wissen, was unser Universum ist, noch woraus es besteht. Vielleicht wusste es der Australopithecus, wer weiß das schon.

Gestern las ich, dass wir Menschen vermutlich in einem Hologramm leben. Ich habe kurz darüber gelacht, beim Duschen.

Es hat sich so einiges verändert seit der Erfindung des Dampfschiffs oder des europäischen Porzellans.

Der „Humor“ in Deutschland aber ist weitestgehend so geblieben. Eingezwängt zwischen Anführungszeichen möchte ich ihm zurufen: Humor, komm raus, wir sind umzingelt. Von Dunkler Materie.

Xaxa.

111

SPRECHEN Ein Gespräch zwischen Adrienn Bazsó, Irina Sulaver, Nele Stuhler und Giulia Weis

GIULIA WEIS: Nele, du schreibst sowohl im Kollektiv als auch allein, sowohl für den Stadttheaterbetrieb als auch für die Freie Szene. Teilweise ent­stehen die Texte im Probenprozess gemeinsam mit den Spielenden, teilweise bekommst du Stückaufträge, an deren Realisierung du nicht weiter beteiligt bist. Wie beeinflussen diese unterschiedlichen Faktoren dein Schreiben?

NELE STUHLER: Für mich sind das erstmal zwei sehr unterschiedliche Arten des Schreibens. Wenn ich als Autorin bei dem Probenprozess dabei bin, dann finde ich es richtig, mit den anderen im Prozess zu schreiben: Wir bringen Text mit auf die Probe, lesen und sprechen gemeinsam, dann nehmen wir ihn wieder mit, bearbeiten, lesen ihn, usw. Das ist die eine Arbeitsweise. Und die andere, sozusagen dieses klassische TheatertextSchreiben, bedeutet für mich erstmal, auch wenn ich mit mir allein am Schreibtisch bin, immer zuerst zu fragen: Was ist interessant, wenn es laut in einen Raum voller Menschen hineingesprochen wird? Und dann darf der Text nicht zu fest oder eng sein. Es muss ein Raum im Text ­bleiben, weil ich beim Schreiben weiß, dass noch andere Künstler:innen auf diesen Text treffen und mit ihm weiterarbeiten werden. Was aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass das Schreiben beliebig ist oder ich nur eine Materialsammlung abgebe, im Gegenteil, ich muss schon eine sehr genaue Setzung machen.

GW: Gibt dir das Theater vor, wie viele Rollen in einem Text enthalten sein sollen oder hast du selbst darauf einen Einfluss?

NS: Es gibt Wünsche des Theaters, es gibt Empfehlungen, was für den Betrieb (und z. B. die kleine Bühne) praktisch ist, und es gibt eine g ­ ewisse

112 Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis Grenze, wie viele Leute ich schaffe, gut zu beschäftigen. Für mich ist aber die einzige Besetzungsvoraussetzung, dass Leute Lust auf einen gemeinsamen Prozess haben. Typ-Besetzungen finde ich sehr uninteressant. Und wenn sonst Kanon gespielt wird, wo es eher gute „Männerrollen“ gibt, dann versuch ich erstmal gute „Frauenrollen“ daneben zustellen, oder noch besser: Rollen beziehungsweise Texte, wo das egal ist.

GW: Es gab in der Vergangenheit auch Autor:innen, die sich von der Uraufführung ihres Textes distanziert haben oder dafür gesorgt haben, dass diese gar nicht erst stattfinden kann. Gibt es eine solche Sorge, dass dein Text im Inszenierungsprozess so sehr bearbeitet wird, dass du dich mit dem Ergebnis nicht mehr identifizieren möchtest?

NS: Ich glaube, ich hatte viel Glück mit den bisherigen Aufführungen meiner Stücke. Dabei ist es wichtig zu wissen, auch für ein Schreibstudium z. B., für welchen Apparat ich schreibe – nicht, dass man dann genau für diesen Apparat schreiben muss oder soll. Im Gegenteil: Gerade zu wissen, wie eine Probe abläuft oder wie eine Schauspielerin Text lernt oder wie Endproben ablaufen, hilft vielleicht, Texte in diesen Apparat zu schicken, die dabei helfen, ihn zu verändern. Man hat eine krasse Verantwortung, weil sich Leute monatelang damit beschäftigen, was ich da mal schnell oder ­extrem langsam in meinen Laptop getippt habe.

ADRIENN BAZSÓ: Es gibt auch eine Regelung, oder? Dass man zehn Prozent bei einer Uraufführung kürzen darf?

NS: Es gibt diese Regelung, aber in meinen Stücken wird fast immer mehr gekürzt. Und das ist auch okay. Meistens bin ich auch während des Prozesses mit den Regisseur:innen in Kontakt. Normalerweise wirst du als Autor:in nur zur ersten Probe eingeladen und dann kommst du, und alle gucken dich an und haben Angst, vor dir den Text zu lesen. Also man stört einfach ein bisschen. Und deswegen glaube ich, entweder richtig rein, bis es keinem mehr auffällt, dass die Autorin auch da ist. Oder ganz raus und einfach machen lassen.

Sprechen 113 Textfläche – Dialog – Polylog Der Dialog bzw. das dialogische Sprechen gilt als konventionellste Dramenform.

In ihm beziehen sich die Figuren in ihren Redeanteilen wechselseitig aufeinander, sodass sich eine strukturierte dialogische Interaktion entfaltet. Diese „klassische” Form stellt jedoch nur eine Variante des Dialogs dar. So kann auch vermeintlich dialogisches Sprechen entkoppelt sein: Figuren können beispielsweise „aneinander vorbeireden“. Ebenso kann ein Monolog quasidialogische Züge annehmen, etwa, wenn darin verschiedene „innere“ Stimmen oder Perspektiven verhandelt werden. Im Kontrast dazu stehen sogenannte Textflächen (ein Begriff, den Elfriede Jelinek in Bezug auf ihre eigenen Stücke prägte, von dem sie sich jedoch später distanzierte). In dieser Textform wird die klare Trennung zwischen einzelnen Figurenstimmen zugunsten eines kontinuierlichen, oft vielschichtigen Sprachflusses aufgehoben. Die Sprache entzieht sich eindeutiger Zuordnung und verweist auf kollektive oder diskursive Sprechpositionen. Der Begriff des Polylogs beschreibt eine weitere Form dramatischer Kommunikation – zwar kann der Text formal mehreren Figuren zugeordnet sein, doch ist der Inhalt nicht auf deren psychologische Kohärenz beschränkt, das Interesse gilt vielmehr einer Vielstimmigkeit im Sinne einer Polyphonie.

­GW: Und wenn es die Möglichkeit gibt, die Schauspieler:innen die Texte während des Schreibprozesses laut lesen zu lassen, machst du das?

NS: Ja, wenn das geht, ist das super hilfreich. Die müssen auch gar nichts dazu sagen, ich hör schon beim Lesen, wo es gar nicht geht. Und sonst spreche ich mir Texte auch sehr oft zuhause laut selbst vor.

GW: Wenn wir vielleicht mal von dem Szenario ausgehen, die Spielenden und die Regie finden keinen Zugang zum Text, stehen nicht im Kontakt mit der beziehungsweise dem Autor:in und der Text wird auf der Probe zum Feind des Inszenierungsteams: Hattet ihr schon einmal eine ähnliche Situation?

IRINA SULAVER: Vielleicht ist es ein bisschen zu verschärft, zu sagen, der Text sei der Feind. Aber ich würde schon sagen, dass oft die Regie-Person oder auch irgendwie das Team, was da zusammenarbeitet, nicht unbedingt einen eigenen Motor haben, diesen Text zu machen, sondern dass das Sprechen und Insze-

114 Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis nieren des Textes als eine Form von Dienstleistung verstanden wird. Und das ist eine Arbeitsform, die mir persönlich nicht so viel Spaß macht.

GW: Das klingt etwas mechanisch. Das würde dem Bild der Schauspielenden als Produzent:innen des Textes entsprechen. Als wären sie inhaltlich nicht beteiligt.

IS: Ich würde Schauspiel als die ultimative Beteiligung verstehen. Das ist ein komplett lebendiger Vorgang. Das Spielen und auch das Sprechen ist für mich eine Form von Urheber:innenschaft. Die Spielenden gebären den Text. Ich finde, dass leider oft gar keine Zeit ist, um an dem Sprechvorgang oder dem Sprechakt zu arbeiten, zu forschen, und auszupro­ bieren.

AB: Das stimmt, es gibt selten so ein gemeinsames Forschen zwischen Regie und Schauspiel. Sondern du musst oft allein dafür sorgen, dass dieser Text irgendwie aus deinem Mund erklingt.

IS: Wenn du Regie führst und sagst, du findest es toll, wenn ich an dieser Stelle den Text oben auf diesem Ton spreche und das sehr getragen mache, dann ist es meine schauspielerische Aufgabe, in dieser Arbeitsteilung zu schauen, wie ich jetzt deine Idee besonders gut beglaubigen kann, damit sie irgendwie für meinen Körper stimmt. Doch dabei geht es nicht um den Text. Ich bin nicht im Kontakt mit dem Text, oder wir sind nicht in Kontakt miteinander.

AB: Ich war an einer Stückentwicklung beteiligt und es gab eine Regieperson, die Schauspieler:innen und eine schreibende Person. Und der Auftrag war: Die Regie gibt uns Spielaufgaben, wir improvisieren und daraus wird der Text geschrieben. Und da, wie soll ich sagen, gab es einen Kommunikationsfehler. Weil, als der gedruckte Text kam, um jedes Komma und um jedes Wort nochmal so gekämpft wurde; und weil die Schauspieler:innen sich nicht in dem Text wiedererkannt haben. Und das zeigt sehr gut die Komplexität des Schreibens und des Sprechens. Und wenn wir so aufeinandertref-

Sprechen 115 fen, muss das einfach gut kommuniziert werden, damit es eine gemein­ same Geburt wird.

IS: Toll ist doch, wenn man beim Sprechen wirklich ein Gegenüber hat und das gegenseitige Zuhören ein aktiver Vorgang ist. Und so ist es beim Theater auch: Es muss eine Gleichberechtigung geben, bei der alle Bedürfnisse erstmal da sein und die Schauspieler:innen auch dem Text erstmal aktiv zuhören können – denn da hat sich jemand Gedanken gemacht. Andersherum muss der Text auch mir zuhören. Das es da keine Hierarchie gibt im Sinne von „wenn das komisch ist in meinem Mund, muss das so bleiben, denn so ist der Text“.

NS: Ich finde an der Geschichte interessant, dass es da zum einen das Sprechen gibt, was an einem konkreten Menschen hängt, und auf der anderen Seite den Vorgang des Schreibens, der verfremdet. Im performativen Theater wird ja oft aus genau dieser Qualität geschöpft, dass Menschen ihre eigene Geschichte erzählen, aus dem eigenen Sprechen, dem eigenen Körper heraus, wodurch eine Form von Direktheit erzeugt wird. Und die Frage wäre: Wenn es jetzt nur der Theatertext ist, der diese Qualitäten von Direktheit oder Verbundenheit mit einem Körper nicht hat, welche Qualität des Sprechens stellt sich da dagegen in so einer klassischeren Idee von Text?

Und ich glaube, dass dann eine andere Idee entstehen muss, wo es eigens um Verdrehung oder Verfremdung geht, sonst ist man bei der Problematik, dass die Verfremdung des Schreibens noch zu klein ist, nur wie ein Zerrspiegel. Die Chance einer gestalteten, poetischeren Sprache, die nicht an genau diesen Körper gebunden ist, wäre dann, dass eine Spannung entsteht zwischen dem Körper, auf den die Sprache trifft, und einer verfremdeten Sprache, die aber das Sprechen noch meint, wodurch dann eine Qualität des Sprechens entstehen kann, die von dem Körper wegführt, aber immer noch mit dem Körper arbeitet, beziehungsweise der Körper überhaupt arbeiten kann.

IS: Ich glaube, das meine ich mit dem Gespräch, dass der Körper und der Text miteinander sprechen und sich gegenseitig antworten.

116 Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis NS: Genau und dazu gehört auch, dass nicht jeder Text für jeden Körper funktioniert. Im Gegenteil. Man spürt oft auf den Proben, wenn zwischen dem Text und dem Körper ein Gespräch entsteht, und zwar nicht, weil der Text den Körper nachahmt.

AB: Ich glaube, diese Klarheit – wir verlassen jetzt die biografische Ebene und finden eine gemeinsame Form –, die hat in der von mir beschriebenen Erfahrung gefehlt und daraus ergab sich dann dieser Konflikt.

NS: Es gibt diesen Grundwiderspruch des Theatersprechens: Dass man nicht, wie sonst, Menschen beim Verfertigen ihrer Gedanken beim Sprechen zuhört. Sondern man hat etwas auswendig gelernt, das man auf eine bestimmte Art wiederholt, während man aber vielleicht noch so tut, als würde es einem in diesem Moment einfallen. Mit dieser Widersprüchlichkeit des Theaters muss man jedes Mal wieder einen Umgang finden. Wenn man dazu noch seine eigene Geschichte erzählt, wird dieser Widerspruch oft überdeutlich. Deswegen interessiert mich auch Sprache auf der Bühne, die gar nicht erst versucht, wie Alltagssprache zu klingen, oder diese zumindest ein bisschen einbeult.

IS: Das passiert zwar in der Schauspielausbildung nicht, aber ich finde es gut, wenn man sich mit dem Sprechakt selbst auseinandersetzt. Der Körper fügt dem Text extrem viele Zeichen hinzu. Der ganz spezifische Körper und die ganz spezifische Art, wie dieser Körper agiert. Und das finde ich so irre: dass beim Schauspiel davon ausgegangen wird, man läuft durch diesen Durchlauferhitzer „Schauspielschule“ und am Ende kommen Körper raus, die jeden beliebigen Text sprechen könnten. Also einerseits …

NS: … und die auch irgendwie die Körper hinter den Text zurücktreten lassen können.

IS: Genau. Und gleichzeitig gibt es einen Kink: Diese spezifische Art, wie diese Starschauspielerin XY den Text spricht, die ist „gut“. Und das andere

Sprechen 117 nicht. Also dieser Widerspruch zwischen, es sollen eigentlich besondere Merkmale in der Grundausbildung angeglichen werden und gleichzeitig soll es aber ganz besondere Zeichen geben, die besser sind als andere.

GW: Wenn ich jetzt so zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass dieser Prozess der Schauspielausbildung in vielen Punkten ein Normierungsprozess war. Mein Körper sollte erstmal das Gehen neu lernen, damit „ich“ nicht wie „ich“ auf der Bühne gehe. Dann das Sprechen: Ich verstehe, dass man natürlich auch eine kräftige Stimme braucht, die gehört werden soll. Aber warum ist es so wichtig, dass jede andere Färbung meinerseits verschwindet? Damit ich dann behaupten kann, jede zu sein, was natürlich absurd ist.

NS: Und es in der Theater-Realität aber so ist, dass dir vor allem gesagt wird, was du alles nicht sein kannst.

IS: Da ist immer dieses Problem mit der Neutralität: Wir ver­suchen, eine Neutralität zu behaupten, auch wenn sie nicht da ist. Auch der Text ist nicht neutral.

NS: Der Text hat auch einen Körper.

IS: Und es gibt keine richtige Art – darüber kann man schier wahnsinnig werden – einen Text zu sprechen. Man kann nicht definieren, dass sich, wenn du die Endungen so oder so aussprichst, etwas übertragen wird – weil der ganze inhaltliche Aspekt fehlt.

AB: Ich denke, dass diese Neutralitätsidee aus dem Gedanken kommt, dass du als Schauspieler:in bestimmte Tools lernst, damit du diese spielerisch einsetzen kannst. Das heißt, ich könnte auch eine Figur ­erschaffen, indem ich auf die Konsonanten gehe. Das ist dann meine ­persönliche Entscheidung, mein Ausdruck. Und dafür muss ich die Sprechtechnik beherrschen und einen Anhaltspunkt – eine „neutrale“ Sprache – haben. Aber das soll meiner Meinung nach nicht heißen, dass ich mich wie in einem Korsett

118 Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis fühle, weil ich nicht jedes „t“ am Ende ausreichend erklingen lasse. Der Grund war aber sicher auch, dass jede:r den Text verstehen sollte, oder?

Also einigt man sich auf eine Aussprache, die in allen Bundesländern verstanden wird. Ich finde, die Technik soll eigentlich der spielenden Person dienen. Und einige Kolleg:innen haben eine sehr spezielle Art zu sprechen, zum Beispiel Jule Böwe von der Schaubühne. Sie hat eine sehr besondere Sprechtechnik, die man so nicht gelehrt bekommt. Die ist überhaupt nicht neutral, sondern sehr spezifisch. Und sie arbeitet damit. Warum? Weil sie sich das leisten kann? Weil sie schon jemand ist? Weil sie vielleicht auch dadurch jemand geworden ist? Das ist das Krasse, es gibt keine Regel. Man bekommt immer vorgegaukelt, man müsste alles können, aber man ist eben auch eine Type. Und wenn du einfach mal so sagst „Nein, ich mach das jetzt so, ich zieh das durch“, dann landest du an der Schaubühne!

IS: Oder halt nicht.

AB: Oder halt nicht, genau.

NS: Ich habe das Gefühl, dass es zu jeder erfolgreichen Schauspieler:innenbiografie gehört, dass man diese sehr spezifische Sprech-Art hat, und dass es ein Narrativ darüber gibt, wie schwer es deswegen für einen auf der Schauspielschule war. Und dann klappt es aber trotzdem. Aber für jede Person, bei der es klappt, gibt es wahrscheinlich hundert, bei denen es nicht geklappt hat. (Und nochmal hundert, bei denen es nicht geklappt hat, obwohl sie super neutral waren.)

AB: Ich finde es zum Beispiel manchmal richtig erfrischend, Leute mit einer kleinen Imperfektion auf der Bühne zu hören. Zum Beispiel mit einem leichten S-Fehler. Auch wenn ich Akzente höre, finde ich es sehr interessant. Ich habe auch selbst einen. Ich habe mir total lange Druck gemacht, perfekt Deutsch zu sprechen. Und meine Kontexte waren auch, glaube ich, deswegen einfach eher performativ oder in der freien Szene, wo die Leute einfach offener dafür waren, wenn ich mal nicht so ganz hundert

Sprechen 119 Prozent deutsch klinge, weil sie meinten, das hat so eine interessante ­Färbung. Aber ich glaube, das bewegt sich auch in einem Rahmen. Ganz oft werden kräftige Akzente dann wiederum für Stereotype benutzt. Dann wird es klischeehaft. Und es gibt auch eine andere, eine theaterpolitische Frage: Wer darf hier auftreten? Wer darf hier „erklingen“?

NS: Ein großer Teil der Theaterarbeit ist dieses Mythische: den Text erst mal denken zu können. Denn wenn ich höre, wie jemand in diesem Vorgang ist, den Text zu denken, dann bin ich selbst auch dran. Und dann ist es relativ egal, ob die Person einen S-Fehler hat oder Muttersprachler:in ist oder sonst was. Und vielleicht wird der Text sogar hörbarer, wenn es ein bisschen mehr Mühe macht, den Text zu denken, also wenn ich als Publikum dieser Arbeit zuhören kann. Und ich denke ja, dass diese inhaltliche Arbeit am Text, oder überhaupt Text denken zu können, das ist, was man so an der Schauspielschule lernen müsste. Ich erlebe aber öfter die Praxis: Text auswendig lernen und Haltung drauflegen. Und das verstellt dann eher das Denken beziehungsweise ist ein anderes Denken, in einer Figurenlogik zum Beispiel.

GW: Hattet ihr inhaltliche Textarbeit während der Ausbildung oder danach?

Textarbeit … es gab immer dieses Wort, das schwirrte so herum, aber was heißt das eigentlich?

IS: Es gibt in der Schauspielausbildung so ein nicht enden wollendes Bedürfnis, die Dinge auseinanderzukriegen: Wie können wir a) verhindern, dass deine Hüfte schief ist, b) an deinen Konsonanten arbeiten und c) deine Persönlichkeit stärken. Das geht von einer Fragmentierung aus, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Und wo macht man eigentlich inhaltliche Textarbeit? Es gibt Unterricht in Stimmbildung, wo es um Resonanzräume geht, um Sprechtechnik und eben die Behebung von ­Unsauberkeiten. Und wenn man inhaltlich arbeitet, ist es oft eine Goethe-Ballade. Aber es ist halt eine fucking Goethe-Ballade. Also die Textarbeit, wie sie dort funktioniert, bringt mir sehr wenig für einen anderen Text. Die inhaltliche Arbeit hängt krass von dem Körper des Textes ab. Deswegen ist es ein Problem, dass man

120 Adrienn Bazsó / Irina Sulaver / Nele Stuhler / Giulia Weis immer die gleichen Texte spricht. Das ist dann immer die gleiche Denk­ bewegung. Es gibt so Vorannahmen, wie Texte gesprochen gehören. Beispielsweise wie Texte von Jelinek gesprochen werden oder antike Texte …

Wenn man sich das einmal bewusst machen würde, dass man jedes Mal neu übt. Und es nie eine Lösung gibt – klar entwickelt man eine bestimmte Könnerschaft, aber man muss es trotzdem jedes Mal aufs Neue üben. Ich glaube, dass man sich schützt mit dieser Idee von: Ich kann sprechen. Und gleichzeitig merke ich dann, wie konservativ ich beim Unterrichten bin.

Einerseits denke ich, du kannst dir nicht zu Hause eine Haltung überlegen.

Wir müssen es doch zusammen herausfinden. Und a­ nde­rer­seits sage ich dann zwei Minuten später: „Boah, du musst den Text schon zu Hause vorbereiten.“ NS: Ich muss den Text zwar vorbereitet und durchdrungen ­haben, aber ich kann auch nicht einfach meine Betonung abfahren und dann glauben, dass da irgendwas passiert zwischen mir, dir und dem P ­ ublikum. Dafür muss immer noch ein Raum sein, den wir miteinander auf der Bühne erkunden und von dem wir eben auch noch nicht wissen, wie er aussieht.

121

Paul Brodowsky VERKÖRPERN

Blickt man auf den (bislang ohnehin dünnen) gegenwärtigen Forschungsstand zu Gegenwartsdramatik, fällt auf, dass Körper-Text-Verhältnisse schlicht nicht thematisiert werden. In Gerda Poschmanns einschlägiger Monografie Der nicht mehr dramatische Theatertext von 2010 etwa werden gattungstypische Merkmale und Abweichungen fokalisiert, daneben werden sprachliche Mittel und die Theatralität der Texte analysiert. Eine Untersuchung, wie sich Körper und Körperlichkeit, oder auch Körper-im-RaumFigurationen im Theatertext der Gegenwart niederschlagen, bleibt aus.

Weitet man den Blick hin zu Standardwerken der Dramenanalyse, ergibt sich ein ähnliches Bild: In Manfred Pfisters Das Drama (1977) etwa finden sich Reflexionen zu Raum-Zeitstrukturen in dramatischen Texten, aber kein Nachdenken über Körper. Wendet man sich Hans-Thies Lehmanns Standardwerk Postdramatisches Theater (1999) zu, findet man gleich meh­ rere Abschnitte, die Körper in Aufführungskontexten analysieren; da sein Fokus ein ausgewiesen postdramatischer (und aufführungsanalytischer) ist, spielt ein dezidiertes Nachdenken über Körper und Körperlichkeit sowie Raum-Körper-Relationen in Texten keine Rolle.

Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass der Theatertext eine Gattung zwischen allen Stühlen darstellt. Ein wesentliches Spezifikum von Theatertexten ist seine ‚Janusköpfigkeit‘: Dramen werden einerseits als ­Literatur rezipiert; zugleich hat ein Theatertext die Funktion, eine Grundlage für eine (mögliche) Inszenierung zu liefern. Anders gesagt: Theatertexte sind gewissermaßen Partituren für eine Aufführung und den dafür notwendigen Inszenierungsprozess (→ Vertonen / Sprechen). In Theatertexten ist meistens die Verteilung des Textes auf verschiedene Rollen beziehungsweise Performer:innen angelegt (eine Ausnahme bildet hier nur die postdramatische, sogenannte „Textfläche“). ,Partitur‘ beziehungsweise ,Text für Aufführung‘ bedeutet, dass Theatertexten immer schon ein spezifischer Rezeptionsmodus mit eingeschrieben

122 Paul Brodowsky ist, den man als Theater-Situation kennzeichnen könnte, als „Ko-Präsenz“1 von Performenden und Publikum. Diese Gegenüberstellung von Bühne und Zuschauer:innen-Raum findet bis in die Gegenwart hinein seinen Niederschlag in Theaterarchitekturen, die Bühne und Zuschauer:innenraum meist recht klar voneinander trennen. Aus dem für die ,Theater-Situation‘ notwendigen Zusammenkommen von Performenden und Publikum gehen verschiedene Grundbedingungen der Theater-Rezeption hervor: (1) Aufführungen brauchen ein zeitliches Zusammenkommen, sie sind eine zeit­ basierte Kunstform, also transitorisch. (2) Zugleich rezipieren wir Theater als soziale Kunstform kollektiv, meist an dafür vorgesehenen und eingerichteten Orten. (3) Ihr zugrunde liegen, als eine Art Grundbedingung, konventionalisierte oder ritualisierte Absprachen. Dazu gehören etwa die EinlassSituation, Beginn und Ende der Aufführung, Körperpraktiken wie das Zuschauen im Sitzen, weitgehende Beschränkung der Reaktionen der ­Zuschauenden auf nonverbale Äußerungsformen (Lachen, Anhalten des Atems, Weinen, Applaudieren etc.). Die letzteren zwei Punkte implizieren bereits ein spezifisches Verhältnis von Körper und Raum. Diese KörperRaum-Verhältnisse sind nicht nur Theaterarchitekturen, sondern auch Theatertexten mehr oder weniger stark eingeschrieben. Anders gesagt: Theatertexte zeigen ein explizites oder implizites ,Bühnenbewusstsein‘.

In Gegenwartstheatertexten finden sich etwa folgende Kennzeichen und Formelemente des Dramatischen, die diese Texte als Bühnentexte ausweisen: Mündlichkeit, Figurenzentriertheit und indirekte Textfigurationen von Körpern im Raum. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass Körper und Körperfragen immer wieder auch auf inhaltlicher Ebene in Gegenwartstheatertexten verhandelt werden – mehr als dies in anderen Literaturgattungen der Fall ist.

Anne Leppers Stück Seymour zum Beispiel setzt Körperfragen in das Zentrum des Textes. Der Text erzählt von mehrgewichtigen Jugendlichen in einer Art Gewichtsreduktions-Bootcamp. In der nächtlichen Szene „NUR WEIL ICH SELBST KEIN MODEL BIN“ besucht Max den ebenfalls im Camp anwesenden Oskar in seinem Bett. Oskar hatte Max zuvor seine Liebe gestanden: „OSKAR: hast dus dir etwa überlegt liebst du mich auch aber ob das bett uns aushält bezweifle ich bin schon mal fast durch gekracht und da war ich ganz allein“.2

Verkörpern 123 Figur – Figuration – Stimme Die dramatische Figur ist zumeist eine fiktive Person bzw. ein Rollensubjekt, das durch Handlung, Sprache und Interaktion mit anderen Figuren zur Darstellung kommt. Sie verkörpert bestimmte Haltungen, Konflikte oder Weltanschauungen und trägt wesentlich zur Entwicklung des dramatischen Geschehens bei. Die Figur kann individualisiert bzw. psychologisch ausgestaltet (Charakter) oder stereo­ typisiert (Typ) sein und im dramatischen Geschehen eine führende (Haupt­figur) oder untergeordnete (Nebenfigur) Funktion einnehmen. Im sogenannten Post­ dramatischen Theater kommt es häufig zur Entsubjektivierung der Figur durch Anonymisierung, Fragmentierung, Verdopplung, Kollektivierung (Chor) oder Fluidität/Instabilität ihrer Erscheinung. Mit Figuration bezeichnet man in der Dramatik die strukturierende Gestaltung und Anordnung von Figuren im dramatischen Text.

Sie umfasst sowohl die individuelle Ausformung einzelner Figuren als auch deren Verhältnis zueinander und ihre dramaturgische Funktion im Handlungssystem.

In der Gegenwartsdramatik wird manchmal auf die Figuration (und somit Rollenverteilung) zugunsten von einem Stimmengeflecht bzw. Sprach­flächen verzichtet.

Die Stimme wiederum ist zum einen das hörbare Mittel der Figurenverkörperung.

Sie bezeichnet die sprachlich-individuelle Ausdrucksweise einer Figur, also ihren sprachlichen „Charakter“, durch den sie sich von anderen Figuren unterscheidet. Die Stimme kann aber zum anderen auch zum Substitut der (entsubjektivierten) ­Figur werden, zumal wenn sich verschiedene Stimmen überlagern und durch­dringen.

Schon diese Szeneneröffnung thematisiert nicht nur Körper, sondern theatralisiert sie: zum einen, indem tragikomisch-ambivalent von dem (möglichen) „durchkrachen“ des Betts die Rede ist. Darin scheint ein slapstickhafter Humor auf (→ Lachen). Zugleich ist es tragisch, dass diese Jugendlichen anscheinend entgegen ihrem Willen in diesen Körpern stecken. Gleichzeitig wird die körperliche Nähe, die Enge von zwei Körpern in einem Bett versprachlicht und nicht (wie meist im Film etwa) nur visuell gezeigt. Dadurch wird die intim-körperliche Nähe bedrückend und zugleich vergrößert, sie transportiert sich in den Publikumsraum. Was wiederum bedeutet, dass eine Körper-im-Raum-Funktion dem Text im emphatischen Sinne eingeschrieben ist. Max antwortet auf Oskars Überraschung wiederum zutiefst ambivalent: MAX: […] nur weil ich selbst kein Model bin […] ändert das doch nichts daran dass ich mir ein Model wünsche dass ich nichts küssen würde als ein Model also erwarte nicht von mir dass ich dich

124 Paul Brodowsky mag nur weil du genauso dick bist wie ich ich mag dich nicht in meinem Herzen rührt sich nichts wenn ich dich sehe auch nichts Sexuelles und das sollte es doch oder und was soll das für eine Liebe sein ohne Sexualität ich muss mich konzentrieren verdammt sonst wird das nie mehr was mit Schule und erwachsen sein im Anschluss du du kannst dich gehen lassen meinetwegen dick und dicker werden ist mir doch egal wenn du ein Schwein bist […] da ein Kuss für dich trotz Ekel und da und da und da verstanden ­Oskar wie ekelhaft fett du bist […]3 In diesem (im Original noch deutlich längeren) Monolog von Max verschränken sich Körperselbstwahrnehmung und Körperfremdzuschreibungen. Er kulminiert in einer Handlung („da ein Kuss für dich“), die nicht mehr im Nebentext ausgewiesen zu werden braucht, sondern als implizite Regieanweisung bereits im Haupttext aufgehoben ist und zugleich von der Figur selbst je nach Figureninterpretation sarkastisch, ironisch-flirty oder distanzierend (das Geschehen also doppelnd und damit brechend) kommentiert wird. Solche Körperlichkeit implizit fokussierenden Regieanweisungen finden sich häufig in Gegenwartsdramatik.

Bei Lepper ist Körper relativ klassisch rückgebunden an die handelnden Figuren. Wiewohl die Dialoge nicht naturalistisch gestaltet sind, sondern stets leicht sprachlich überhöht mit der Tendenz zum obsessiven Monologisieren und damit zugespitzt daherkommen, hat man es in diesem Text dennoch mit klar konturierten Figuren zu tun. Aber auch postdramatische Textflächen-Stücke rücken häufig Körper ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In dem vierten Text von Elfriede Jelineks Prinzessinnendramen mit dem Titel Der Tod und das Mädchen IV (Jackie) werden in dem sowohl als Monolog einer untoten Jackie Kennedy als auch als dekonstruktivistische Textfläche auffassbaren Stück immer wieder Körperaspekte in den Blick genommen. Sei es der Cortison-verquollene Körper, die Tablettensucht und das Schwerenötertum von Jackie Kennedys Mann Jack F. Kennedy, seien es verschiedene Weiblichkeits-Rollenkonstruktionen, die kontrastierend nebeneinandergestellt werden. Jackie vergleicht sich selbst einerseits mit Sylvia Plath, andererseits mit einer der Geliebten ihres Mannes, mit Marilyn Monroe:

Verkörpern 125 Herausgestreckt aus dem Sarg wie der hochgeschüttelte Puschel einer billigen Cheerleaderin. […] dieser zu üppige Körper, ins Glitzerkleid hineingenäht, es kann nur noch flüstern, das Kleid, weil es keine Luft kriegt. Happy Birthday, Mr. President, hat sich was!

Die fliegt, die fliegt raus, definitiv, obwohl kurvig und erdlastig, fleischig die Hüften, die Brüste, die Schultern, schon an der ­Grenze vom Formverlust, grad noch eingenäht ins Kleid.4 Monroe dient hier als Kontrastfigur zu der eigenen (körperlichen) Zurückhaltung, die so auf die Spitze getrieben ist, dass sie selbst in einer dialektischen Volte wieder in ihr Gegenteil umschlägt: „Man muß alles mit Prunk und Pomp versehen, nur sich selber nicht, man selber sollte einfach bleiben, dafür braucht man schon, gerade in äußerster Zurückhaltung, im gehauchtesten Nebensächlichkeitston, eine dreiste Art, aber eine, die ganz still wird, sobald man selber als Marienwunder auftritt.“5 Der Text ist so angelegt, dass einerseits eine untote Restfigur, Jackie, auftritt, sich diese Figur aber dauernd selbst analysiert und wie von außen kommentiert und damit dekonstruiert – mit einem besonderen Fokus auf den (eigenen) Körper, auf Formen der körperlichen Selbstinszenierung als Person des öffentlichen Lebens. Gleich in der achten Zeile des Textes fällt der Satz: „Ich bedecke einen ganzen Platz.“6 Das ist einerseits wörtlich zu verstehen, wenn man etwa an das Jacqueline Kennedy Onassis Reservoir im New Yorker Central Park denkt. Andererseits ist damit das Thema des Textes in nuce zusammengefasst: Hier wird verhandelt, welchen Platz die gleichermaßen maximal zurückhaltende und eitle Selbstdarstellerin Jackie Kennedy in der Reihe verschiedener Weiblichkeits-Rollenbilder im Amerika der 1960er Jahre einnimmt. Anders gesagt: In dem Text wird der eigene Körper buchstäblich zur Bühne, zum Schauplatz einer andauernden (Selbst-)Inszenierung, die permanent versprachlicht, aber auch sprachlich performt wird.

Analog zur „Wortkulisse“, wie sie etwa für die Dramen William Shakespeares konstituierend ist, könnte man hier von einer Körperkulisse sprechen.

In Kay Matters Text Grelle Tage nimmt die Kategorie Körper eine noch zentralere Rolle ein. Eine:r der beiden Protagonist:innen des Stücks ist ein circa 13.000 Jahre alter Wolfshund, der im tauenden Permafrostboden Sibi-

126 Paul Brodowsky riens erwacht. In den Regieanweisungen zu Beginn des Stücks gibt Kay Matter Hinweise zur Notation: Die Zeitachse verläuft vertikal, das heißt, wenn dasselbe mehrmals wiederholt in einer Zeile steht, wird es gleichzeitig (z. B. von den Einzelteilen des zerfallenden ZERFLEDDERTEN HUNDES) ­gesprochen. Was vertikal versetzt steht, ist zeitlich versetzt und könnte wie eine Art Echo klingen.7 Daraus ergibt sich ein besonders stark an Musikpartituren erinnerndes Satzbild auf Seiten im Querformat, das simultanes und sukzessives Sprechen im zeitlichen Verlauf der Aufführung genau ausdifferenziert. Zugleich arbeitet der Text mit Anklängen konkreter Poesie, etwa wenn das Knurren des Wolfshunds bei seinem ersten Auftritt aus einer Anhäufung der Buchstaben G und R daherkommt, dessen Form an einen steifgefrorenen, auf dem Rücken liegenden Wolf erinnert. Der Wolf trifft am Ufer eines austrocknenden Brandenburger Sees auf Jo. Jo freundet sich mit dem Wolfshund an und tut alles dafür, den fortlaufenden Auftau- und damit Zerfallsprozess des steinzeitlichen Tiers aufzuhalten: JO entdeckt das abgebrochene Ohr des ZERFLEDDERTEN HUNDES auf dem Boden und öffnet eilig das Gefrierfach, um es hineinzulegen.

Wolf?

Geht‘s dir schon besser? […]

Ich meine, ich wollte dich nicht, ich wusste nicht, also: erst ist dir heiß, dann ist dir kalt, dann ist dir Eis, dann ist es dir wieder zu heiß, und dabei war das Wasser nur lauwarm, weil, ich wollte dich ja nicht auftauen, sondern nur antauen, damit du wieder was denken kannst, damit du wieder was sagen kannst8 Im Gegensatz zu dem diskreten Lautcluster, mit dem der Wolf eingangs auftritt, steht seine zunehmende „Zerfledderung“: Er blutet, seine Lippen faulen ihm weg, er verliert seine Zunge. Dies findet auch sein Abbild in

Verkörpern 127 dem Sprechen des Wolfs, das sich verlangsamt und in Fragmenten daherkommt. Hinzu kommt, dass der Wolf nicht mit einer Stimme, sondern – folgt man dem Regiehinweis zu Beginn des Stücks – dezentriert spricht.

Genauer gesagt sprechen seine zunehmend autarken Einzelteile gleichzeitig und nacheinander: Ich gehe da nicht wieder rein.

Der Kühlschrank ist ja nicht kalt genug …

Mein Hirn zerfließt, ießt, ießt, Und überhaupt Was willst du jetzt

ießt, ießt

ießt, ießt

Und überhaupt Was willst du jetzt

mich wieder einfrieren?

Und überhaupt Was willst du jetzt

mich wieder einfrieren?

mich wieder einfrieren?

Dafür ist es jetzt eh zu spät. Dafür ist es jetzt eh zu spät.

Dafür ist es jetzt eh zu spät.9 Der Körper übernimmt hier das Sprechen – es ist ein Sprechen aus dem Körper heraus, das nur noch mühsam hervorgebracht werden kann und dessen Fragmentarisierung sinnbildlich für den Verfall des Wolfshundes wird. Die hier vorliegende und oben für eine andere Stelle beschriebene Arbeit mit Mitteln der konkreten Poesie schafft so auf dem Papier einen Textkörper, und betont die Schriftlichkeit des Textes, seine Literarizität und künstlerische Autonomie. Aber dies bleibt nicht reines Sprachspiel im Elfenbeinturm, sondern ist konkret sinnlich auf eine Umsetzung hingedacht, und enthält dabei zugleich Herausforderungen für die Körper der Performenden, die einen Weg finden müssen, diesen Zerfall und die Dezentralisierung auf die Bühne zu bringen.

Die Zersetzung des Wolfs lässt sich zudem inhaltlich als eine Metapher für Gaia lesen, die im Anthropozän durch die eskalierende Erderhitzung krassen Umwandlungsprozessen ausgesetzt ist, inklusive einem Massenaussterben von Arten. Damit versinnbildlicht und theatralisiert Matter einen in Teilen abstrakten und sich insbesondere auf außereuropäischen Erdteilen verstärkt abspielenden Prozess in einem post-anthropozentrischen Theatertext, der Restformen anthropozentrischer Dramatik in sich aufhebt.

128 Paul Brodowsky Entscheidend für das Versinnbildlichen der Krise ist dabei die Verkörperung derselben in der (Text-)Gestalt des Wolfs. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Körper des Wolfs Zentralmetapher, ein den Plot bestimmendes Element und dezentralisierte Sprechinstanz sowie Gradmesser für den Zerfall der für Menschen bewohnbaren Erde in einem darstellt.

Eine ganz andere Dimension des Verkörperns berührt der Text Peeling Oranges von Patty Kim Hamilton. In einer Anmerkung zu Beginn des Stücks schreibt sie: Das Stück muss von Schauspielerinnen gespielt werden, die wie die Figuren Rassismus erfahren haben. Sie sollen, mit Ausnahme der Darstellerin des „Geist von Frida Kahlo“, aus der asiatischen Diaspora kommen. Der „Geist von Frida Kahlo“ soll von einer Woman of Color gespielt werden, die nicht aus der asiatischen Diaspora kommt.10 Verkörperung schlägt sich hier wortwörtlich nieder und regelt, welche Personen das Stück spielen dürfen. Diese Festlegung sichert, dass es in Verbindung mit der Aufführung des Textes zu einer adäquaten Repräsentation derjenigen Personen kommt, deren Marginalisierung innerhalb einer weißen Dominanzgesellschaft im Text mitverhandelt wird. Es ist davon auszugehen, dass die Autorin diese Vorgabe macht, da in den Ensembles deutschsprachiger Theater BIPoC weiterhin stark unterrepräsentiert sind. Damit unterstreicht der Text das Recht der Autorin, diese Besetzungsfragen im Vorhinein zu regeln. Hier manifestiert sich ein expliziter Bezug zur Umsetzung, der eine körperliche Dimension hat, und neben (besetzungs-)politischen Aspekten die Frage aufwirft, welche Körper wie von der Gesellschaft gelesen und welche Körper als Norm vorausgesetzt werden.

Abschließend in aller Kürze zwei weitere Beispiele aus einer reichen Fülle an möglichen Untersuchungsgegenständen: In Sivan Ben Yishais Like Lovers Do (Memoiren der Medusa) fallen die Körper von weiblich gelesenen Personen männlicher sexualisierter Gewalt zum Opfer, bevor es zu einer Art Umkehrung und Umschreibung der Geschichte kommt. Der Text untersucht dabei, wie sich die gegenwärtige rape culture in Abwandlungen in alltäglichen Ritualen, Popkultur und Dating-Konventionen manifestiert.

Verkörpern 129 Der Text bewegt sich dabei dauernd an der Schnittstelle zwischen Sprache und Körper. In Caren Jeß‘ Die Katze Eleonore nähert sich eine Frau zunehmend dem Ideal einer Katzenwerdung an: Sie lässt sich ein Ganzkörperfell nähen, bewegt sich auf allen Vieren und verweigert schließlich verbale Aussagen – bis sie im Wortsinne – eine Katze verkörpert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in Theatertexten der Gegenwart Körper und Körperfragen häufig inhaltlich im Fokus stehen. Zudem lässt sich beobachten, dass diesen Texten auf verschiedene Weisen KörperRaum-Relationen eingeschrieben sind, etwa indem Körper sprachlich und räumlich theatralisiert werden. Durch Körper lassen sich dabei insbesondere abstraktere, eher diskursiv fassbare Themenkomplexe versinnbildlichen, die sich nur bedingt in einzelnen (menschlichen) Figurenschicksalen abbilden ließen. Gegenwartstheatertexte stellen sich der Herausforderung, zeitadäquate Diskurse zu bearbeiten – gerade auch unter Zuhilfenahme von Körpern und Körperbildern. Dadurch kommt diesen Texten ein spezifisches Bühnen­ bewusstsein zu. Sie weisen sich durch den Fokus auf Körperfragen und durch formale Mittel, die Körper und Körperlichkeit ausstellen, als genuine Bühnentexte aus, die neben ihrer immanenten Literarizität für eine theatrale Umsetzung geschrieben worden sind und zur szenischen Realisation aufrufen.

1

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 63.

2

Anne Lepper: Seymour, Köln 2011, S. 56.

3

Ebd., S. 57 f.

4

Elfriede Jelinek: Prinzessinnendramen. Der Tod und das Mädchen I-IV, Reinbek o. J., S. 32.

5

Ebd., S. 22.

6

Ebd.

7

Selma Kay Matter: Grelle Tage, Berlin 2023, S. 9.

8

Ebd., S. 96 f.

9

Ebd., S. 104.

10

Patty Kim Hamilton: Peeling Oranges, Berlin 2024, S. 3.

130

Ramona Mosse ERKENNEN

Theater ist ein Ort der Gespenster. Das weiß schon Orest in Aischylos‘ Tragödie, der gejagt wird von den Furien, die ihn, vom Geist seiner Mutter Klytämnestra aufgehetzt, erbarmungslos verfolgen. Ebenso stehen aber ­Gespenster auch im Zentrum der Definition von Dramatik im 20. Jahrhundert, wenn Heiner Müller vom Drama als „Totenbeschwörung“ und einem „Dialog mit den Toten“1 spricht, während es in seinen eigenen Theater­ texten von „Phantomen, Geistern, Engeln, Untoten, Wiedergängern und gespenstischen Gestalten nur so wimmelt“2. Mit Müllers Werk vollzieht sich gleichzeitig ein Bruch, denn sein Werk ist sowohl Beispiel für eine dezidierte Auseinandersetzung mit dramatischer Form und dem westlichen Kanon – von der griechischen Tragödie über Shakespeare bis zu Brecht – als auch für dessen Zäsur, und Sinnbild einer postdramatischen Implosion eines handlungs- und figurenbasierten Dramas. Bei Müller wird das Drama selbst zum Gespenst. Im Umkehrschritt sind Gespenster die ältesten Formen nicht-menschlichen Erscheinens im Theater, und um das Erkennen von und die Präsenz dieser nicht-menschlichen Dimensionen in der Gegenwartsdramatik soll es in diesem Beitrag gehen.

Ist dieser Band der Versuch der Skizzierung von und Begegnung mit einer neuen Dramatik des 21. Jahrhunderts und deren neuen Darstellungs­ formen, so nimmt die Frage, welche Gespenster in diesen Theatertexten umgehen, eine zentrale Stelle ein, verhandeln doch ebensolche Gespenster den Status des Realen per se und erlauben Unsichtbares, Verschollenes oder Nichtbeachtetes erkennbar zu machen. Das Erkennen selbst ist wiederum ein fundamentaler Bestandteil des theatralen Erlebnisses, der schon bei Aristoteles als Moment der Anagnorisis identifiziert wird. Es geht hier um ein „(Wieder-)Erkennen“, und in diesem Übergang „von Unkenntnis in Kenntnis“3 liegt eine Umkehr der Geschicke, die schon in der Tragödie das Moment des Erkennens unweigerlich mit dem des Leidens verbindet. Das Erkennen aber des Nicht- und Mehr-als-Menschlichen in

Erkennen 131 der Gegenwartsdramatik birgt dabei eine besondere Komplexität. Es ­formuliert eine Herausforderung an das Theater, denn es sprengt seine bestehenden Formen und Figurationen, die primär auf menschliche Handlung ausgerichtet waren. Am klarsten formuliert Amitav Ghosh diese Herausforderung, nicht-menschliche Zusammenhänge mensch­ ­ licher Existenz in der Literatur erkennbar zu machen, in seinem Essay Die große Verblendung. Ghosh beschreibt dabei ein Scheitern der Gegenwartsliteratur, den Klimawandel als Ausdruck des Nichtmenschlichen präsent und erlebbar zu machen. Auch ihm geht es um eine Form des Wiedererkennens, das Erkennen des Nicht-Menschlichen als eigener ­Instanz: Das Moment der Wiedererkennung findet statt, wenn ein älteres Gewahrsein vor uns aufleuchtet und unser Verständnis vom Erblickten schlagartig verändert. […] Auch das sind Momente der Wiedererkennung, denn in solchen Augenblicken dämmert uns, dass die Energie, von der wir umgeben sind – die auch unter unseren Füßen und durch die Kabel in unseren Wänden fließt, unsere Fahrzeuge antreibt und unsere Zimmer beleuchtet –, eine all­ umfassende Präsenz, die ihre eigenen Ziele, über welche wir nichts wissen, verfolgen könnte. Auch ich wurde mir auf diese Weise der akuten Nähe nichtmenschlicher Präsenzen gewahr – durch ­Momente der Wiedererkennung, die mir von meiner Umwelt aufgezwungen wurden.4 Mit der Beschreibung einer „allumfassende[n] Präsenz“ eröffnet Ghosh hier zwei Dimensionen des Nichtmenschlichen, die auch in den zeitgenössischen Theatertexten, um die es im Weiteren gehen wird, zentral sind: Umwelten, die als Stürme, Fluten oder Atmosphären Zeichen von ökologischen Zusammenhängen markieren; und Energie, die „durch die Kabel in unseren Wänden fliesst, unsere Fahrzeuge antreibt“ und somit auch die technologische und ökologische Welt miteinander verbindet. Technologie und Natur verschwimmen in Ghoshs Zitat zu einem Gewebe aus nichtmenschlichen Kräften, die sich der Repräsentation entziehen und neue Formen der Darstellung und Vorstellung notwendig machen.

132 Ramona Mosse

Umwelten: Von Verblendung zu Vermessung In einem Vortrag für das Potsdamer Research Institute for Sustainability fragt der Theatermacher Tobias Rausch nach den Möglichkeiten der Darstellung des Klimawandels und erläutert: [w]as ich auf der Bühne zeigen kann (und die Betonung liegt auf zeigen), sind Situationen. Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen räumlichen und zeitlichen Horizont darstellen, innerhalb dessen ­etwas geschieht. Wenn die Ursachen und die Folgen von Handlungen tausende Kilometer voneinander entfernt liegen, innerhalb eines jahrzehntelangen Prozesses geschehen und in ihrem Konnex nur durch wissenschaftliche Abstraktion herzustellen sind, dann unterläuft das die Möglichkeiten von theatralen Situationen.5 Rausch selbst entwickelt in Antwort auf dieses Darstellungsdefizit unter anderem ein fünfjähriges Pflanzentheater am Staatstheater Hannover unter dem Titel Die Welt ohne Uns (2010-2015). Sein Langzeittheater adressiert, dass es für die Präsentmachung des Nichtmenschlichen als essentiellem Bestandteil und Protagonisten des Gegenwartstheaters eine Verschiebung des „zeitlichen und räumlichen Horizont[s]“ bedarf.6 Das Anthropozän geht einher mit Akten des Vermessens einer neuen Welt, dessen expandierenden Zeit- und Raumdimensionen sich fundamental in die planetarischen Ästhetiken von zeitgenössischen Theatertexten einschreiben.7 Es geht darum, zu erfassen, wie die Erde durch menschliche Einwirkung zu einer „planetarischen terra incognita“ geworden ist, um mit Paul J. Crutzen zu sprechen, der das Konzept des Anthropozäns als geologischem Zeitalter geprägt hat.8 Die Notwendigkeit einer Neuvermessung eines graduell unbekannt gewordenen Planeten verweist auch auf einen weiteren wissenschaftlichen Bezugspunkt, nämlich auf Alexander von Humboldt, als zentrale Wissenschaftsfigur des 19. Jahrhunderts, dessen Idee der Welt als einen immensen systemischen Kosmos von ineinandergreifenden Abhängigkeiten noch bis heute prägend ist. Humboldt spiegelte damit eine ähnliche Vermessung der Welt des 19. Jahrhunderts, wie sie sich gegenwärtig im Anthropozän als neuer geologischer Epoche zeigt, nur dass das von Humboldt dokumentierte

Erkennen 133 Potential ökologischer Interdependenzen im 21. Jahrhundert der Bedrohung durch sogenannte Tipping Points gewichen ist.9 Eine solche planetarische Perspektive auf Raum und Zeit wirkt auch in Theatertexten der Gegenwart.

Hier sind die Gespenster nicht mehr Wiedergänger:innen einer nicht verarbeiteten Vergangenheit, sondern Wesen, die auf die Verhandlung und den Schwund von Zukunft verweisen. Verstärkt bedienen sich Theaterautor:innen daher Genres wie Science beziehungsweise Climate Fiction oder der Dys- und Utopie, um alternative Zukünfte und spekulative Narrative auf der Bühne zu entwickeln.10 Somit steht die Gegenwartsdramatik in produktivem Kontrast zu Dokumentartheatern, die vorrangig mit VerbatimFormaten, wie beispielsweise Michael Rufs Klima-Monologe (2022), und Reenactments, wie Rimini Protokolls Weltklimakonferenz (2014) oder Milo Raus General Assembly (2017) arbeiten. Clare Pollards frühes Klimastück Das Wetter (2004) markiert planetarische Instabilität dagegen buchstäblich durch fantastische und allegorische Elemente: ein wild agierender Poltergeist wechselt sich ab mit stündlich variierenden Extremwetterfronten.

In Rebekka Kricheldorfs satirischen Utopien Homo Empathicus (2014) oder Die Guten (2022) sind die Figuren typologisch beziehungsweise allegorisch gebaut (in Die Guten sind es konkret die Kardinaltugenden, denen die Zuschauenden in neuer Façon begegnen), um alternative Gesellschaftsmodelle ins Zentrum zu rücken und, in Kricheldorfs Fall, sich auf deren Persi­ flage zu fokussieren. Die Darstellung zeitlichen Fortschritt selbst als Phantasma steht in Philipp Löhles Anfang und Ende des Anthropozäns (2021) im Zentrum. Löhle kreiert einen satirischen Reigen aus Zeitschlaufen in der Zukunft, in denen sich unterschiedliche Erzählstränge wiederholt im Moment der Katastrophe ineinanderfalten und so die Möglichkeit sowohl von Weiterentwicklung als auch Untergang prinzipiell unterlaufen. Das Stück „besteht nicht für eine gewisse Zeit. Es besteht für immer. Endlos“11, laut Löhles Anmerkungen; und es skizziert verschiedene Szenarien des Untergangs – von nuklear bis evolutionär –, die sich aber wiederholt gegenseitig aufheben. Löhles Eingangsszene ist dabei ein Kontrapunkt zur Schlussszene von Karel Čapeks avantgardistischem Stück R.U.R. (1920), das den Begriff des Roboters prägt und sich mit der Übermacht technologischer Intelligenz auseinandersetzt. Während es bei R.U.R. zu einem Kampf

134 Ramona Mosse zwischen Robotern und Menschen kommt, sieht Löhle eher einen graduellen Verfall menschlicher Intelligenz aufgrund von steigender Abhängigkeit zur Technologie: 211: Es geht darum, die Menschheit vor der totalen Verblödung zu bewahren. Die kleiner entwickelten Gehirne lassen uns immer dämlicher agieren. Wir dachten am Anfang, wir könnten das über diese Geräte auffangen, aber das war ein Trugschluss. Sie befeuern die Entwicklung.12 Stilistisch ermöglicht diese wachsende „Stupidicitillicy“13 der Figuren Löhle ein Sprachspiel, das kontinuierlich ins Absurde tendiert. Inhaltlich versuchen die Wissenschaftler:innen aus Löhles Zukunftsszenario, die wenigen noch klugen Menschen zur gemeinsamen Fortpflanzung zu bringen, doch, wo die Roboter aus R.U.R. sich noch in einer Art Neuschöpfung der Menschheit kopulierend verbanden, fliehen Löhles auserwählten Retter:innen der Menschheit vor diesem Zwang zur Fortpflanzung und fliegen buchstäblich aus ihrer Zeit hinaus und in einen anderen Erzählstrang von Anfang und Ende des Anthropozäns. Ob Dystopie oder Utopie: Diese Theaterautor:innen nutzen den Gestus eines „aus-der-Zeit-Gefallen-seins“; sie entwerfen beispielhafte terra icognitae und alternative Welten, die ihnen erlauben, die Raum-Zeit-Parameter im Theater neu zu verorten. Die Dimensionen sind dabei radikal gewachsen: global, planetarisch, epochal sind die Kategorien, mit denen die Zuschauenden konfrontiert werden.

Ebenso werden Stofflichkeit und Materie wichtige Mobilisatoren von Theatertexten und Handlungen, sei es Wasser in all seinen Aggregatzuständen, Stürme oder Rohstoffe. „Immer noch kein Öl“14 – mit diesem Ausruf der Protagonistin Eva endet die erste Szene von Lukas Bärfuss’ Öl (2009), in der das Erdöl die Figuren vor allem durch seine Abwesenheit dominiert.

Ein „Ölloch…schwarz und tot“15, heißt es später; es wird zur Falle für Tiere und Symbol für eine Geschichte der Ausbeutung, die sich mit dem Beziehungsdrama von Eva und Herbert verwebt. Bärfuss’ Schauspiel bildet sowohl einen Resonanzraum zum gleichnamigen Theatertext der britischen

Erkennen 135 Theaterautorin Ella Hickson von 2016 als auch zu Gracie Gardners Pussy Sludge (2021). Denn alle drei sind Beispiele von Gegenwartsdramatik als „petrofiction“, Stücke die den Aufstieg und Einfluss von Petroleum auf die Kulturgeschichte thematisieren.16 Hicksons Oil allerdings lässt die Protagonistin May durch die Begegnung mit einem Tropfen Petroleum übernatürliche Kräfte entwickeln – „There are millions of years, right there at the end of your finger“17 – um losgelöst von ihrer Individualgeschichte zum lebendigen Symbol der Dominanz eines Rohstoffes zu werden, der die westliche Gesellschaft bis in sein Innerstes durchdrungen hat. Pussy Sludge imaginiert dagegen eine Figur im Zeichen des magischen Realismus, die – unablässig Erdöl menstruierend – in einem Naturpark von ihrem eigenen Sumpf umgeben ist. Feministische und ökologische Narrative vermischen sich hier, um einem männlich-dominierten, rationalistischen Anthropozän-Gedanken alternative Erzählstrukturen entgegenzusetzen, in denen die Grenzen zwischen Welt und Subjekt zunehmend durchlässig geworden sind. Es ist auch ein Versuch, die Erzählparadigmen des Anthropozäns, eines „vom Menschen ausgelösten Verfalls und Untergangs der Natur, der sich von der Romantik bis hin zu den Grünen Bewegungen der Gegenwart in immer wieder anderer Form manifestiert,“18 spielerisch wie kritisch zu beleuchten.

Von nicht-menschlichen Körpern zu Entkörperungsprozessen „Kann man einem Gespenst trauen?“, fragt die entkörperte Stimme Heiner Müllers in der O-Ton-Montage Müllermatrix, einem Telefontheater, das die Berlin-basierte Performance-Gruppe Interrobang 2016 am HAU Hebbel am Ufer zur Uraufführung brachte, und in dem es anhand von Müllers Audiointerviewmaterialen um interaktive Erzählstrategien geht.19 Das Publikum wird einzeln an Telefonstationen platziert und ist mit Müller als gespenstischem Dialogpartner konfrontiert, der in minutiös zusammen­ geschnittenen Montagen je nach Wahl über Kolonisierung, Theater und Whiskey referiert. Die Begegnung mit solch einem „ghost in the machine“ in diesem geschlossenen Kreislauf aus Müllerdatenmaterial soll beispielhaft für die Art und Weise stehen, wie Entstehung und Struktur von Theatertexten sich durch den digitalen Wandel grundlegend verändern. Textgeneration, „prompting“, multi-optionale Erzählstrategien und Interaktivität

136 Ramona Mosse treten in den Vordergrund. So lässt Interrobang einen prozesshaften Theatertext aus existierendem Material entstehen, der aus verschiedenen Fragmenten von jedem Zuhörenden individuell zusammengesetzt werden kann, wobei immer neue Montagen entstehen und Permutation Teil der Erzählstrategie wird. Solche Interaktivität reagiert auf die sozialen Medien und digitalen Textästhetiken, die sich weitab von Literatur bewegen. Stattdessen handelt es sich vielmehr um narrative Praktiken in der Tradition einer Entliterarisierung des Theaters und [sie] gehen gleichzeitig über jene postdramatischen Theaterformen hinaus, die sich […] von ‚Prinzipien von Narration und Figuration‘ abgrenzen. Entsprechend lassen sich derzeitige Erzählpraktiken weder auf der dramatischen noch auf einer sich davon distanzierenden postdramatischen Seite verorten.20 Eine solche Bewegung hin zu einer Entliterarisierung und medial getriebenen Vervielfältigung von Textformen spiegelt „das Wahrnehmungsdispositiv eines interaktiv-kommunikativen Zeitalters“21 und findet sich nicht nur in Tecklenburgs Performing Stories, sondern wird in einer Reihe von Studien zu zeitgenössischen Theatertexten und -genres thematisiert.22 So konstituieren technologische Entkörperungsprozessen ein weiteres wichtiges Erscheinen des Nicht-Menschlichen im Theater, insbesondere im Rahmen der öffentlichen Zugänglichmachung von Künstlicher Intelligenz als Large Language Model mit OpenAIs durch den ChatGPT-Launch im November 2022. Die Nutzer:innen erleben die LLM-Technologie primär als Sprachmaschine und Konversationspartner:in. Im Theater hat dies zu einem gesteigerten Interesse an ChatGPT-Theatertextgeneration geführt, das die Grenze zwischen Stücktext, „devised practice“ und purem Sprachexperiment verschwimmen lässt und die Idee von Autorschaft unterläuft.

In einer Reihe von theatralen Experimenten der letzten fünf Jahre flüstert dabei ChatGPT via In-Ear-Kopfhörern den Schauspielenden einen KI-generierten Text ein, der von den Schauspielenden improvisatorisch umgesetzt und simultan gesprochen werden muss, wie in Prometheus Unbound (2019) des Berliner digitalen Theaterkollektivs Die CyberRäuber.23 Die Berliner Ensemble-Inszenierung von Sibylle Bergs dystopischem Hacker-Roman ­

Erkennen 137 RCE (Remote Code Execution) mag hier als Beispiel fungieren, denn Bergs 700-seitiger Roman über die Möglichkeiten, Menschenmassen digital zu steuern, wurde zunächst radikal gekürzt, um dann als von der KI-gesprochener Text den Schauspielenden ins Ohr gesetzt zu werden; hier geht es nicht um KI-generierten Text, sondern die Nachahmung einer spezifischen KI-Sprachrhythmik, die hilft, die Schauspielenden in scheinbar ferngesteuerte Cyborgs zu verwandeln.24 Gleichzeitig behandelt Bergs Text auch eine Cyborg-gesteuerte globale Revolution, in der nicht mehr Sprache, sondern digitale Programmierung politische Rebellion und alternative Zukünfte ermöglicht. Mit seiner Scifi-Ästhetik schließt RCE an den Modus der spekulativen Narrative an, der schon in den planetarischen Theatertexten eine wichtige Rolle spielte. Die Idee eines ferngesteuerten Textes als Teil digitaler Theaterästhetik findet sich auch in zwei formal sehr reduzierten Theatertextbeispielen: und oder oder oder oder/ und und/ beziehungsweise/ und oder /beziehungsweise /oder und /beziehungsweise/ einfach und (2024) von Nele Stuhler und 2x241 Titel Doppelt so gut wie Martin Kippenberger (2024) des Kollektivs Frankfurter Hauptschule. Nele Stuhlers Text besteht aus einer Aneinanderreihung von Listen, die als Gegensätze gepaart sind und in einer rhythmisch, repetitiven wie poetischen Intensität in der Lage sind, die Weltordnung und dessen Schwächen zu verhandeln: Ja / Nein Arbeiten / Ruhn Ja / Nein Tun / Nicht tun Ja / Nein Machen / Nicht machen Ja / Nein Sein / Nicht sein25 Visuell wie aural wird der Text mit steigender Länge immer mehr zu einer Kodierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und erinnert visuell auf der Stückseite durch die Masse der Wiederholungen an einen Programmiercode, dessen Binarität er durch das Spiel mit Gegensätzen auch immer wieder thematisiert. So ist dieser völlig analoge Stücktext in all seiner Einfach-

138 Ramona Mosse heit ein Sprachexperiment in Reaktion auf eine digital strukturierte Realität.

2x241 Titel Doppelt so gut wie Martin Kippenberger folgt einem ähnlichen Prinzip, indem es sich digitale Sprachgesten der sozialen Medien zu eigen macht, und in einer Umarbeitung von Martin Kippenbergers 1986 publiziertem 241 Bildtitel zum Ausleihen für Künstler doppelt so viele erfundene wie gefundene Titel generiert, um aus diesen dann eine Collage und Iteration popkulturellen Erzählens entstehen zu lassen. Auch hier reduziert und entliterarisiert sich die Sprache in Anlehnung an Digitalisierungsmechanismen und höhlt diese gleichzeitig aus, macht sie in ihrer Strukturen sichtbar und als Sprachexperimente 3.0 reflektierbar.

So wird das Nicht-Menschliche in seiner Multidimensionalität auf sehr unterschiedliche Weise in der neuen Dramatik erkennbar. In aller Unterschiedlichkeit jedoch birgt sich ein gemeinsames Moment: So geht es doch darum, unsichtbare Zusammenhänge in eine erlebbare Präsenz zu bringen.

1

Heiner Müller: „Ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller“, in: ders.: Werke, 12 Bde. und ein Registerbd., Bd. 10, hg. v. Frank Hörnigk. Gespräche 1, 1965–1987, Frankfurt a. M. 2009, S. 196–521, hier: S. 514.

2

Hans-Thies Lehmann: „Müllers Gespenster“, in: ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2012, S. 283–300, hier: S. 283.

3

Aristoteles: Über die Dichtkunst, Kap. 11. 2–4, aus dem Griech. v. Alfred Gudemann, Projekt Gutenberg, Ebook 2005 (https://www.gutenberg.org/files/16880/16880-h/16880-h.htm#k_2, Zugriff am 10.7.2025).

4

Amitav Ghosh: Die Große Verblendung: der Klimawandel als das Undenkbare, aus dem Engl. v.

Yvonne Bada, München 2017, S. 13–14.

5

Tobias Rausch: „Schauspiele Jenseits des Menschen“, in: Nachtkritik, 16. Oktober 2019. (https://nachtkritik.de/recherche-debatte/staging-nature-theatermacher-tobias-rausch-ueberdie-schwierigkeit-die-natur-auf-die-buehne-zu-bringen, Zugriff am 10.07.2025).

6

Vgl. hier auch Timothy Mortons Konzept der „hyperobjects“, die sich von der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung jenseits eines individuellen Fassungsvermögens bewegen. Timothy Morton: Hyperobjects – Philosophy and Ecology after the End of the World, Minneapolis 2013.

7

Vgl. auch Konzept des Planetarischen in Jessica Ullrich: „Nichtmenschliche Ästhetik und Kuratieren jenseits des Menschlichen. Einleitung“, in: dies: Nichtmenschliche Ästhetik und ­Kuratieren Jenseits des Menschlichen. Cultural Animal Studies Vol. 18, Berlin 2024.

8

Paul J. Crutzen/Will Steffen/John R. McNeill: „The Anthropocene: Are Humans Now Over­ whelming the Great Forces of Nature“ in: AMBIO. A Journal of the Human Environment (2007), H. 36 (8), S. 614–621, hier: S. 614.

Erkennen 139 9

Vgl. Eva Horn: „Tipping Points. The Anthropocene and COVID-19“, in: Gerard Delanty (Hg.): Pandemics, Politics, and Society, Berlin 2021, S. 123–138.

10

Vgl. John Thieme: Anthropocene Realism. Fiction in the Age of Climate Change, London 2023, S. 1–16.

11

Philipp Löhle: Anfang und Ende des Anthropozäns, Berlin 2021, S. 4.

12

Ebd., S. 24–25.

13

Ebd., S. 15.

14

Lukas Bärfuss: Öl, Göttingen 2009, S. 10.

15

Ebd., S. 29.

16

Amitav Gosh: „Petrofiction“, in: The New Republic (1992), H. 206 (9), S. 29.

17

Ella Hickson: Oil, London 2016, S. 18.

18

Ursula Heise: Nach der Natur. das Artensterben und die moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2010, S. 10.

19

Interrobang: Müllermatrix, UA: 3. März 2016, HAU Hebbel-am-Ufer Berlin (https://www.interrobang-performance.com/projekt/the-mullermatrix/, Zugriff am 5.6.2025).

20

Nina Tecklenburg: Performing Stories – Erzählen in Theater und Performance, Bielefeld 2014, S. 16.

21

Ebd., S. 34.

22

Vgl. Seda Ilter: Mediatized Dramaturgy. The Evolution of Plays in the Media Age, London 2021; vgl. Simon Hansen: Nach der Postdramatik, Bd. 6, Bielefeld 2021; vgl. Edith Draxl/Ferdinand Schmalz/Eva-Maria Vogtländer: Dramatisch Lesen. Wie über Neue Dramatik sprechen?, Berlin 2023.

23

Vgl. auch Prometheus Firebringer (2023) der U.S.-amerikanischen Vorreiterin algorhythmischen Theaters Annie Dorsen, die hier sowohl mit KI-Textgenerierung experimentiert, um das ­Aischylos’ Textfragment Prometheus Unbound weiterzuschreiben und das mit einer eigenen Lecture Performance kreuzt, die Künstliche Intelligenz kritisch reflektiert und dabei völlig aus Fremdtexten gebaut ist, bei der aber – im Gegensatz zu GPT-3 – jede einzelne Textpassage akribisch zitiert ist und ihre Quellen offenlegt: (https://anniedorsen.com/projects/prometheusfirebringer/, Zugriff am 18.7.2025).

24

Sibylle Berg: RCE, Regie: Kay Voges, Berliner Ensemble, UA: 25. April 2024. (https://www. berliner-ensemble.de/inszenierung/rce, Zugriff am 10.07.2025).

25

Nele Stuhler: Und oder oder… (vorläufige Textfassung), Frankfurt a. M. 2024, S. 11.

140

Martin Jörg Schäfer VISUALISIEREN

I Deutschsprachige Theatertexte des frühen 21. Jahrhunderts zeichnen sich durch ein eigenwilliges Verhältnis zu ihrer Visualisierung aus: Als „unmögliche[s] Theater“1, wie Wolfram Lotz es in einem Manifest von 2009 genannt hat, evozieren diese für die Theaterpraxis geschriebenen Texte oft Bilder und Vorstellungen, die über ihre Inszenierbarkeit im dreidimen­ sionalen szenischen Raum hinausgehen oder sich ihr gegenüber widerspenstig verhalten. So beginnt Nino Haratischwilis Kinder- und Jugendstück Löwenherzen (2020) mit einer die Kapazitäten der meisten real existierenden Bühnen zwar überfordernden, aber letztlich konventionellen Regiebemerkung: „Eine große Zirkusarena. In der Mitte ein Scheinwerfer. Es regnet Konfetti. Man hört Trommeln. Von der Decke schwebt ein kleiner Zauberer herab. Er trägt Frack und Zylinder. Das Getrommel wird lauter und intensiver.“ In die kinematische Beschreibung mischt sich dann plötzlich eine dem Publikum beziehungsweise den Lesenden untergeschobene, das Visuelle mit dem Affektiven verdichtende Rezeptionserfahrung: „Der Zauberer betritt die Arena, und unsere Erwartungen platzen wie bunte Luftballons und regnen wie Luftschlangen auf uns herab …“2 Es zeigt sich, dass der Zirkus nur in einer Traum­vorstellung existiert. Publikum und Lesende sollen gleichzeitig enttäuscht werden (mit den platzenden Luftballons als gängigem Bild für das Gefühl frustrierter Erwartungen) – und immersiv in den Phantasiezirkus hineingezogen (mit dem sämtliche Erwartungen erfüllenden Bild eines be­glücke­n­den Zirkusspektakels herabregnender Luftschlangen). Der kurze Einschub verschiebt durch Aufhebung der Bühnenrampe die Raumordnung und durch seine Forderung an die zukünftige Rezeptionshaltung die der Zeit. In Abwandlung von Lotz lässt sich von einer ‚unmöglichen Regie­ bemerkung‘3 sprechen. Solche expliziten oder impliziten nicht umsetz­ baren Regiebemerkungen durchziehen die Theatertexte des frühen 21. Jahrhunderts.

Visualisieren 141 Nebentext – Zwischentext – Regiebemerkung Traditionell werden im Drama zwei Textformen unterschieden: der Haupttext und der meist kursiv gesetzte Nebentext. Letzterer enthält Angaben darüber, wo und wann das dramatische Geschehen spielt, welche Requisiten und Bühnenbauten erforderlich sind sowie wer gerade spricht und handelt. Häufig werden auch Titel, Gattungsbezeichnung und Personenregister zum Nebentext gezählt. In die Kritik geraten ist die Bezeichnung ‚Nebentext‘, da sie eine Abwertung dieses Textteils als bloß ‚nebensächlich‘ suggeriert. In der neueren Dramatik lassen sich Hauptund Nebentext etwa oft nicht mehr unterscheiden und der Nebentext gewinnt als eigenständiger literarischer Textteil, der in Inszenierungen teils auch mitgesprochen wird, an Bedeutung. So finden sich in ihm längere narrative Passagen, das Hervortreten einer dramatischen Instanz, auktoriale Positionierungen oder es wird im Nebentext gesprochen, während im Haupttext kaum etwas geschieht. Für einige dieser neuen Formen scheinen Begriffe wie ‚Zwischentext‘ oder ‚Regiebemerkung‘ angemessener, da sie die entsprechenden Textteile präziser zu beschreiben vermögen und keine hierarchisierende Wertung implizieren. Sie bieten eine Ergänzung und Erweiterung der Analysekategorie ‚Nebentext‘, die dadurch jedoch nicht aufgegeben werden muss. Schließlich sind aktuelle Formen der Ausweitung, Problematisierung und Umdeutung des Nebentextes oft auch eine explizit werdende Auseinandersetzung mit den ihm ehemals zugeschriebenen Funktionen.

Sie setzen einer einfachen visuellen Repräsentierbarkeit technisch nicht Machbares oder den Bereich des Bebilderbaren schlicht Überschreitendes entgegen. Oder sie vertrauen gleich der Eigendynamik der Sprache mit ihren Metaphern und Tropen.

Bereits theaterhistorisch gehen diese beiden Aspekte des Visualisierens, Erzeugung mentaler Bilder beim Lesen oder Hören einerseits und die szenische Darbietung andererseits, nicht immer ineinander auf. Dies gilt unabhängig davon, ob in der entsprechenden Theatertradition szenische Anweisungen und sonstige Zwischentexte gebräuchlich sind oder nicht. So machen etwa im Theater der attischen Antike erzählende Botenberichte einen großen Teil des Sprechtexts aus. Diese verweisen auf Nichtgezeigtes, während sie auf einer in die Natur eingelassenen Freilichtbühne erklingen, deren karge konventionelle Ausstattung ihre Inhalte eher kontrastiert.4 Auf der weitgehend leeren Bühne der Shakespearezeit entwerfen die Texte eine „Wortkulisse“5 für die beständig wechselnden Örtlichkeiten der dramati-

142 Martin Jörg Schäfer schen Fiktion. Den Theaterdirektor Johann Wolfgang von Goethe veranlasste dies Anfang des 19. Jahrhunderts zu der These, diese Texte brächten vor allem beim Lesen ihre Qualitäten für das geistige Auge der Einbildungskraft zur Entfaltung.6 Die minutiösen Raumentwürfe der Dramatik des ­Naturalismus sind so kleinteilig, dass kaum eine Produktion ihnen wirklich gerecht werden kann. Ähnliches ließe sich für die Theatermoderne beispielsweise über atmosphärische Szenenbeschreibungen bei Tennessee Williams sagen.7 Die Möglichkeit der besagten ‚unmöglichen Regiebemerkungen‘ ist bereits in der konstitutiven Lücke zwischen Theatertext und Darbietungspraxis angelegt (→ Deuten). Für die inzwischen historische ‚Postdramatik‘ eines Heiner Müllers und einer Elfriede Jelinek ist Ende des 20. Jahrhunderts „Literatur dazu da […], dem Theater Widerstand zu leisten“8. Auf dem Theater tritt literarische Sprachlichkeit samt ihrer Bilder im Extremfall als „Störung“9 des Bühnengeschehens auf. Diese Texte stellen die Theaterpraxis bereits mit expliziten oder impliziten Umsetzungsvorschlägen – oder deren Verweigerung – vor Herausforderungen. Aber auch in an Dialogkonventionen orientierten Texten zeigen sich Regiebemerkungen für nicht umsetzbare Bilder: so in der eingeschobenen märchenhaften Epik in Tankred Dorsts Merlin (1981)10, so in besonderer Radikalität in der Forderungen nach aus dem Bühnenboden brechenden Blumen oder einen amputierten Fuß wegtragenden Ratten in Cleansed (1998), dem späten Text von Sarah Kane, deren Stücke im deutschsprachigen Raum besonders einflussreich werden.11 In dieser Traditionslinie lässt sich Anfang des 21. Jahrhunderts Wolfram Lotz’ Rede zum unmöglichen Theater verorten. Der Text wendet sich gegen die Popularität eines Sozialrealismus, für den zum Zeitpunkt der Rede etwa die Berliner Schaubühne gefeiert wurde. „Die Würstchen der Wahrheit, die für uns gebraten werden, wollen wir nicht mehr essen.“12 Demnach können Theatertexte, sobald sie „die Fiktion auf dem Altaratartrara der Wirklichkeit“ „opfern“, Literatur nicht mehr als ein Labor ansehen, das „Wirklichkeit verändern“13 könnte. Wenn die Rede behauptet, dass „das unmögliche Theater möglich“ ist, will sie dies als „ewige Forderung“ sowie als „das fortwährende Scheitern in eine bessere Zukunft hinein“14 verstanden wissen. Diese Hoffnung manifestiert sich in Schreibweisen, die einen

Visualisieren 143 ­Abbildrealismus jedweder Art konterkarieren, ohne darum ganz ins Fantastische auszuweichen. Die daraus resultierenden ‚unmöglichen Regiebemerkungen‘ sind in deutschsprachigen Theatertexten des 21. Jahrhunderts weit verbreitet. In Haratischwilis Löwenherzen etwa läuft die Erweiterung und Infragestellung des visuellen Registers geradezu selbstverständlich mit – wenn in späteren Szenenbeschreibungen Publikum und Lesende in einer „Scheune mitten im Nirgendwo“ „[t]ausende von angestauten Hoffnungen und zittrigen Ängsten“15 erblicken sollen. Dass ein sich mit seinen Eltern streitendes Kind wie Alice im Wunderland „endlos in die Höhe“ wächst, mag mit ein wenig Theaterzauber umsetzbar sein. Dass die Figur „aus ihrer kristallklaren Höhe […] plötzlich eine wunderbare Aussicht, eine fabelhafte Weitsicht“16 erhalten soll, würde die Mittel des Theaters an seine Grenzen treiben.

II Die intensive Thematisierung und Befragung des visuellen Registers in Theatertexten der jüngeren Gegenwart mag mit den von den technischen und sozialen Medien nicht nur in den westlichen Konsumgesellschaften hervorgebrachten Bilderfluten zusammenhängen. Mit diesen setzen die Theatertexte sich auseinander oder halten ihnen andere Bilder, sprachlicher und visueller Art, entgegen (→ Betrachten). Dabei verhandeln die Theatertexte auch ihr eigenes Verhältnis zur visuellen Dimension eines möglichen Bühnengeschehens und manchmal auch der Medien, die dabei zum Einsatz kommen – oder betont nicht zum Einsatz kommen. Gleichzeitig verorten sich viele dieser Texte zwischen den multiplen Krisen des gewöhnlichen Lebens im 21. Jahrhundert17 und den mit diesen einhergehenden offensichtlicheren Katastrophen und traumatischen Einschnitten. Eine Darstellbarkeit in Bildern wird problematisch angesichts von unfasslich bleibenden Krisen oder von Traumata, die sich höchstens verschoben ins Bild setzen lassen. Etwa bei Haratischwilis Löwenherzen handelt es sich um einen Text, der in Reigenform die Gewaltsamkeit des globalen Kapitalismus für und aus Kinderperspektive auf die Bühne bringt und mediale Klischees durch kindliche Fantasie verfremdet und verschiebt. ‚Unmögliche Regiebemerkungen‘ können auch implizit vorkommen, etwa wo gar keine szenischen Verweise vorhanden sind. So gibt es etwa in

144 Martin Jörg Schäfer Ich, Wunderwerk. Or how I love disturbing content von Amanda Lasker-Berlin (2020) nur vier Rollenbezeichnungen als Peritext. Diesen werden dann wechselnde oft mehrseitige Monologblöcke zugeordnet. Alle heißen „Ich“, z. B. „Ich, die nichts anderes mag als flimmernde Bildschirme“18. Der linguistische Shifter „Ich“ lässt es beim Lesen offen, inwieweit es sich um vier weibliche Figuren handelt oder nur um unterschiedliche Aspekte von einer einzigen. Die Texte nehmen aufeinander Bezug; keine der vier ist ganz bei sich. Oft scheinen mehrere Stimmen aus einer Figur zu sprechen. Diese thematisieren die Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerung oder bezweifeln und korrigieren die eigene Wahrnehmung.

Die Stimmen legen die Bildbeschreibungstradition der Ekphrasis, im Zeichen der medialen Gegebenheiten von YouTube, TikTok und anderen Plattformen mit ‚Reels‘ neu auf, sprechen ständig dem Ablauf der Bilder hinterher, beschreiben und kommentieren mit und gegen die Kameraperspektive, googeln zur Versicherung oder Verunsicherung des Gesehenen nach neuen Bildern oder bestätigenden Zeitungsartikeln. Gleichzeitig liefern die Monologe durch Erinnerungen an die 1980er und 1990er auch eine Genealogie der Allgegenwart von Videoclips: Sie erinnern an die ersten Heimvideos und den beginnenden Live-Sensationsjournalismus im Fernsehen. Das Stück wirkt oft wie die Vorlage zu einer Audiodeskription, bei der sich das anzitierte Doomscrolling zwischen Videoclips in eine Collage aus den Bildern hinterhersprechenden Stimmen verwandelt.

Die in der Figurenrede benutzten literarischen Verfahren (wie erlebte Rede oder Bewusstseinsstrom) sind eher aus Prosatexten vertraut. Das zum Spielen im Schultheater konzipierte Stück könnte auch gut als Hörspiel funktionieren oder auf leerer Bühne stattfinden. Weil sich die Ich-Figuren nicht notwendig zuordnen lassen, wäre ebenso eine chorische Inszenierung denkbar. Mit wieviel technisch gemachter Bildüberwältigung die jeweilige Inszenierung auch aufwarten würde, so bliebe es doch unmöglich, die Dichte der sprachlich aufgerufenen Bilder und Räume auch nur andeutungsweise szenisch zu realisieren. Die aus der Theatertradition bekannte Auffüllung des leeren Raumes durch die Vorstellungskraft findet sich hier auf die Allgegenwart medial erzeugter Bilder übertragen und gleichzeitig mit dieser kontrastiert. Der Text von Ich Wunderwerk eröffnet so einen Ver-

Visualisieren 145 handlungsraum zwischen Körpern und Sprache auf der einen Seite und den aufgerufenen medialen Bildern auf der anderen. Die mentale und die szenische Dimension des Visualisierens werden miteinander in diesem Zwischenraum verschränkt.

III Das komplexe Verhältnis, das sprachliche Bilder, die von ihnen aufgerufenen mentalen Bilder und potentiellen szenischen Bilder sowie die Bilder der Mediengesellschaft eingehen, findet sich in den Theatertexten vom Anfang des 21. Jahrhunderts oft seinerseits thematisiert und reflektiert. Besonders prominent geschieht dies in paradies hungern, dem zweiten Teil von Thomas Köcks Klimatrilogie (2015). Der Text ruft die Konvention einer Unterscheidung zwischen Figurenrede und Regiebemerkung beziehungsweise Haupt- und Nebentext nur auf, um sie zu unterwandern. Manchmal sind Vorschläge für eine szenische Visualisierung nicht von dem zum Sprechen gedachten Text zu unterscheiden – etwa dem eines „versprengte[n] Chor[es]“19.

Köcks paradies hungern verdichtet den Topos von der unausweichlichen Allgegenwart medial erzeugter Bilder mit einer großangelegten Kapitalismuskritik, einer grundlegenden Kritik am technischen Weltzugriff der Aufklärung, einer in beiden mitlaufenden Diagnose vom Selbstverlust der Menschheit – und auch noch der Behauptung, dass die Theatermetapher ein gutes Bild für alle diese Aspekte sei. Der Text ist in den vielen metapoetischen Passagen mit theoretischen Referenzen gespickt: Laut Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels aus den späten 1960ern zeigen sich Waren im neuen Kapitalismus als Bilder eines unhintergehbaren Spektakels.20 Nach Martin Heideggers in den 1950ern publiziertem Aufsatz Zeit des Weltbildes reduziert der technische Zugriff der Aufklärung die Welt, in die der Mensch eigentlich eingelassen ist, zum distanzierten Bild einer Vorstellung, die buchstäblich „im Vor-Stellen“21 hervorgebracht wird. Das Beherrschungsphantasma des technischen Weltzugriffs entpuppt sich als Selbstverlust.

Entsprechende melancholische Reden vom Selbstverlust im Bild legt paradies hungern den Figuren immer wieder in den Mund.22 Die kulturkritisch eingesetzte Theatermetapher reichert der Text mit der Fantasie vom Ende der Menschheit von Alan Weismans Bestseller von

146 Martin Jörg Schäfer 2007, Die Welt ohne uns, an.23 An die Stelle der von ihrer ökologischen Verwüstung regenerierende Erde findet sich aber die Angst vorm Verschwinden gesetzt: –

die angst und das bild […] wissen von einer welt ohne menschen.

–

das bild erzählt schon jetzt von einer welt ohne menschen.

–

und eine bildgewordene welt hat den menschen schon längst ­hinausgetrieben.24

Dass Bilder in ihrer Allgegenwart die Welt unbewohnbar machen, wäre im Sinne Debords und Heideggers durchaus folgerichtig. Der Titel von Weismans The World Without Us findet sich spiegelverkehrt aufgenommen. Der erste Satz des Stücks, „wir stehen also wieder am anfang der vorstellung“25, suggeriert gleichzeitig, dass mit dieser Reflexion stets die Situation im Theater mitgemeint ist. Durch den Text von paradies hungern hindurch finden sich diese poetologische Bildtheorie in immer neuen Bildern durchgespielt, die sich nicht zuletzt auf die visuelle Dimension der Bühne beziehen.

Zwischen Szene acht und neun gipfeln die Bildreflexionen der Zwischentexte dann in der ‚unmöglichen Regiebemerkung‘ für einen „bildersturm“: falls bislang noch keine bilder verwendet wurden, beginnt jetzt ein bildersturm, die bühne leer und verlassen, wie zu beginn. lange geschieht gar nichts. dann fällt ein bild vom himmel. pause, dann ein zweites, ein drittes, ein viertes. immer mehr bilder fallen vom himmel auf die bühne. wichtig ist dabei: keine fotos. keine filme. keine gemälde. keine schnappschüsse. keine aufnahmen. sondern bilder dem wortsinn nach. unglaubliche, riesenhafte, wirkliche bilder. auch gern ganz winzige und unbedeutende bilder. voll­ kommen egal, nur keine fotos. der sturm dauert an bis ans ende des stücks.26 Welche ‚Bilder dem Wortsinn nach‘ noch bleiben, wenn Foto, Film, Gemälde, Schnappschuss und Aufnahme wegfallen, bleibt unklar. Sehr genau beim ‚Wortsinn‘ genommen findet sich allerdings das Wort ‚Bildersturm‘.

Nicht als Zerstörung der Bilder, vielmehr als Sturm, der aus Bildern besteht.

Deren ‚Wirklichkeit‘ soll aber nicht in den bekannten Bildern aufgehen, sondern über sie hinausweisen. Letztlich sind die von der szenischen Dar-

Visualisieren 147 bietung wie von der mentalen Vorstellung geforderten ‚wirklichen Bilder‘ ihrerseits unmögliche Bilder. Sie unterbrechen die gängigen Routinen – ­sowohl die einer mentalen Visualisierung als auch die einer dreidimensionalen szenischen Visualisierung auf einer Theaterbühne.

IV Mit dem gängigen Vokabular zum Verhältnis von Theatertexten und ihrem Einbezug in eine szenische Darbietung sind die vorgestellten ‚unmöglichen Regiebemerkungen‘ nicht präzise zu fassen. Dieser Spannung zwischen den von den Texten verwendeten Sprachbildern, den evozierten mentalen Bildern und dem, was auf einer Bühne geschehen könnte, werden gängige Vorstellungen vom Verhältnis von Text und Bühnengeschehen nicht gerecht: Es handelt sich weder um eine „Transformation“27 von Text durch seine Inszenierung noch um die Verwendung des Texts als „Material“28 im sogenannten ‚Regietheater‘ und dann dem ‚Postdramatischen Theater‘. Die Willkür von Elfriede Jelineks notorischem, an die Regie gerichtetem „Also, ihr macht eh, was ihr wollt.“29 wäre zwar immer möglich, aber würde sich nicht der Herausforderung der Texte stellen.

Diese scheinen im Sinne von Lotz’ ‚unmöglichem Theater‘ den Rand des Möglichen auszutesten und vielleicht auch ein Stück weit verschieben zu wollen.

1

Wolfram Lotz: [Rede zum unmöglichen Theater], in: ders.: Der große Marsch – Einige Nachrichten an das All – Die lächerliche Finsternis. Drei Stücke, hg. v. Friederike Emmerling/Stefanie von Lieven, Frankfurt a. M. 2016, S. 227–230, hier S. 227. Ursprünglich als Blogeintrag erschienen auf Wolfram Lotz: Der untergehende Fisch, 18.9.2009 (https://dasuntergehendeschiff.blogspot.com/2009/09/rede-zum-unmoglichen-theater.html, Zugriff am 10.2.2025).

2

Nino Haratischwili: Löwenherzen, Frankfurt a. M. 2020, S. 3.

3

Diese Formulierung bezieht sich auf die vom Spätwerk Sarah Kanes ausgelöste Diskussion.

Vgl. z. B. Karen Quigley: „Offering Resistance. Unstageable Stage Directions in Sarah Kane’s Cleansed“, in: European Drama and Performance Studies (2017), S. 31–48. Von ‚unmöglichen Regieanweisungen‘ lässt sich allerdings nur sprechen, wenn man die szenische Umsetzung als Sinn solcher Zwischentexte ausmacht. Da dies weder historisch noch praktisch der Fall sein muss, ist die Formulierung in Anführungszeichen gesetzt. Vgl. Marvin Carlson: „The Status of Stage Directions“, in: Studies in the Literary Imagination (1991), H. 2/24, S. 37–48.

4

Vgl. Oliver Taplin: Greek Tragedy in Action, London 1978, S. 1–8.

5

Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001, S. 351–353.

6

Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: „Shakespeare und kein Ende“, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band XII: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen, hg. v. Erich Trunz, München 1998, S. 295–298.

148 Martin Jörg Schäfer 7

Vgl. Pfister: Das Drama, S. 345–347.

8

Heiner Müller: Gespräche I. 1965–1987. Werke. Bd. 10, hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a.M. 2008, S. 57.

9

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2011, S. 264.

10

Vgl. Tankred Dorst: Merlin, oder, Das wüste Land, unter Mitarbeit von Ursula Ehlers, Frankfurt a. M. 1981.

11

Vgl. David Greig: „Introduction“, in: Sarah Kane: Complete Plays. Blasted, Phaedra’s Love, Cleansed, Crave, 4.48 Psychosis, Skin, London 2001, S. ix–xviii, hier S. xii–xiii.

12

Lotz: „Rede zum unmöglichen Theater“, S. 227. Für eine theatertheoretische Entwicklung dieser Problematik vgl. Nikolaus Müller-Schöll: „Über Theater überhaupt und das Theater des Menschen. Benjamin, Brecht, Derrida, Le Roy“, in: Leon Gabriel/ders. (Hg.): Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie, Bielefeld 2019, S. 59–80.

13

Lotz: „Rede zum unmöglichen Theater“, S. 229.

14

Ebd., S. 230.

15

Haratischwili: Löwenherzen, S. 25.

16

Ebd., S. 15.

17

Vgl. Lauren Berlant: Cruel Optimism, Durham, N.C., S. 21.

18

Amanda Lasker-Berlin: Ich, Wunderwerk. Or how I love disturbing content, Frankfurt a. M. 2020, S. 4.

19

Thomas Köck: paradies hungern, in: ders.: Klimatrilogie. paradies fluten / paradies hungern / paradies spielen, Frankfurt a. M. 2017, S. 89.

20

Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, übers. v. Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996.

21

Martin Heidegger: [Die Zeit des Weltbildes (1938)], in: ders.: Holzwege, Frankfurt a. M. 1994, S. 87.

22

Vgl. Köck: paradies hungern, S. 132.

23

Vgl. Alan Weisman: Die Welt ohne uns. Reise über eine unbevölkerte Erde, übers. v. Hainer Kober, München/Zürich 2007.

24

Köck: paradies hungern, S. 95.

25

Ebd., S. 91.

26

Ebd., S. 145.

27

Guido Hiß: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin 1993, S. 155.

28

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 261.

29

Elfriede Jelinek: „Abraumhalde“ in: Elfriede Jelinek Homepage (https://www.elfriedejelinek.com, Zugriff am 10.2.2015).

149

Anton Bröll WERTSCHÄTZEN

Von den literarischen Großgattungen erfährt derzeit keine so wenig Aufmerksamkeit und Wertschätzung wie die Dramatik. In der Einleitung des vorliegenden Bandes kommt Anne Fleig deshalb zu der zugespitzten Einschätzung: „Dramen liest, glaube ich, niemand.“ (→ Einleitung). Innerhalb der Gegenwartsliteratur steht die Dramatik besonders im Vergleich zu Erzähltexten sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch im wissenschaftlichen Diskurs im Abseits. So wird mit dem Begriff ‚Gegenwartsliteratur‘ häufig ausschließlich auf neuere Erzähltexte Bezug genommen, während Lyrik und Dramatik ausgegrenzt und abgewertet werden.1 Diese eingeschränkte Begriffsverwendung zeigt sich beispielsweise in Michael Brauns Einführung Die deutsche Gegenwartsliteratur (2010), in der Dramatik – anders als Erzähltexte, Lyrik sowie der Bereich Literatur und Film – von vornherein ausgeklammert wird.2 Ein Blick in eine herkömmliche Buchhandlung veranschaulicht diese Tendenz: Romane dominieren die Regale, es gibt eine kleine Lyrik-Ecke, Gegenwartsdramatik hingegen sucht man vergeblich. Für eine geringere Aufmerksamkeit sorgt auch der öffentliche Fokus auf das Buchformat, da viele zeitgenössische Dramen derzeit ausschließlich als PDFs, zum Teil mit begrenztem Zugriff, erscheinen (→ Finden / Betrachten).3 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften wie Theater heute oder Theater der Zeit sowie neu entstandene Verlagsreihen bei Reclam und Suhrkamp, die sich speziell der Gegenwartsdramatik widmen, erhöhen jedoch unter diesen Bedingungen ihre Sichtbarkeit und arbeiten ihrer Exklusion entgegen.4 Auch spezielle Förderprogramme und Auszeichnungen für Dramatik schärfen das öffentliche Bewusstsein für diese Form der Gegenwartsliteratur.

Eine zentrale Ursache für die Tendenz zur Abwertung der Gegenwartsdramatik liegt in einer weit verbreiteten Vorstellung vom Verhältnis zwischen Dramatik und Theater, die das Drama zugunsten seiner Aufführung geringschätzt. Die beschriebene Marginalisierung ist dabei nicht zwangsläufig durch eine fehlende Auseinandersetzung mit Dramatik geprägt,

150 Anton Bröll denn die hier kritisch betrachtete Konzeptualisierung findet sich selbst dort, wo sich mit Dramatik befasst wird. Selbst wenn also ein Bewusstsein für Gegenwartsdramatik vorhanden ist, besteht immer noch die Gefahr, sie nicht als Literatur zu würdigen.

Das Drama wird in der Regel – abgesehen von kleinen Fachkreisen oder besonderen Anlässen wie der Verleihung von Dramatikpreisen – als Gebrauchstext für die privilegiert rezipierte Theaterinszenierung wahrgenommen. Diese Rezeptionsweise und Wertung findet in einem Forschungsdiskurs Bestätigung, der das Drama bis zu seiner Inszenierung als unvollständig betrachtet und der im Folgenden aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nachgezeichnet und problematisiert wird. Dabei wird ein weiter Dramenbegriff zugrunde gelegt, für den ein (unten näher erläuterter) textimmanenter Theater-Bezug konstitutiv ist und der Dramen nicht auf Kriterien wie eine klare Handlung oder eindeutig identifizierbare Figuren beschränkt.5 Dramen, die diese Merkmale nicht aufweisen, gelten als Ausdifferenzierung der Gattung und müssen nicht einer neuen Gattung wie dem ‚Theatertext‘ zugeordnet werden.6 Die Abwertung des Dramas gegenüber der Inszenierung beruht auf der Vorstellung eines agonalen Verhältnisses zwischen beiden – eine Setzung, die keineswegs selbstverständlich ist. Nichtsdestotrotz hat es eine lange Tradition, ihr Verhältnis so zu bestimmen, dass eine Seite der anderen an künstlerischem Wert überlegen ist. Eine genaue Rekonstruktion dieser sich historisch verändernden Wertungen und ihrer Begründungen steht noch aus. Dennoch lässt sich eine grundlegende Wende identifizieren: Während lange Zeit das Drama höher geschätzt wurde als die Inszenierung, kehrte sich dieses Verhältnis später um. Aristoteles betont in seiner Poetik, dass das Drama seine Wirkung auch ohne Inszenierung entfaltet, und wertet die Aufführung als „das Kunstloseste“ ab.7 Der Wandel zu einer Höherbewertung der Inszenierung wird meist auf die ‚Autonomiebestrebungen‘ des Theaters gegenüber der Literatur, die im 19. Jahrhundert einsetzten, sowie auf die Institutionalisierung der Theaterwissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeführt – also im Vergleich zur Dramengeschichte sehr spät.8 Teilweise wurde versucht, die Theaterwissenschaft als Disziplin zu profilieren, indem das Drama auf die Funktion

Wertschätzen 151 einer bloßen Spielvorlage reduziert und damit abgewertet wurde.9 Das Einfordern des Rechts der Theateraufführung als Kunstform, die einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung wert ist, trug dadurch zur verbreiteten Ansicht bei, das Drama sei ohne Inszenierung unvollständig, defizitär.10 ­ ­Allerdings spricht bereits August Wilhelm Schlegel von der Inszenierung als der „nothwendigen Ergänzung“11 des Dramas. Insofern findet sich die ­Vorstellung von der Notwendigkeit der Inszenierung für das Drama schon deutlich vor der Entstehung der Theaterwissenschaft, auch wenn sie in diesem Zusammenhang mitunter vehementer vertreten wurde. Julius Petersen betonte bereits 1904, dass sich das Drama erst durch die Inszenierung „­vollendet“.12 Die Auffassung, dass das Drama erst durch die Inszenierung vollständig wird, hat sich anschließend auch in der Dramentheorie verbreitet.13 In Wolfgangs Kaysers Das sprachliche Kunstwerk, einer bis in die 1960er-Jahre maßgeblichen Einführung in die Literaturwissenschaft, heißt es: „Bei der Interpretation des Dramas besteht immer die Gefahr, daß Literarhistoriker und Kritiker Buchphilologie treiben und über dem lesbaren Wort vergessen, daß ein Drama für die Aufführung gedacht ist und nur in der Aufführung volles Leben hat.“14 Auch Manfred Pfisters Standardwerk Das Drama folgt der Vorstellung einer Vervollständigung, wenn es die Inszenierung als eine inhärente Komponente des Dramas begreift und das Drama als szenisch realisiertes Werk definiert.15 Besonders deutlich formuliert es Bernhard Asmuth in seiner Einführung in die Dramenanalyse: „[S]eine wahre Bestimmung findet er [i.e. der Dramentext; A. B.] erst auf der Bühne. Als bloßes ‚Lesedrama‘ bleibt jedes Stück unvollendet.“16 In ihrer Dissertation Der nicht mehr dramatische Theatertext bezeichnet Gerda Poschmann die Position, „der dramatische Text sei […] ergänzungsbedürftig und finde in der theatralen Konkretisation erst seine wahre Bestimmung und Vollendung“, als heute weitgehend durchgesetzte Auffassung.17 Dieses Dramenverständnis hat nach der Etablierung der Theaterwissenschaft dazu geführt, dass sich lange Zeit keine Disziplin für die Gegenwartsdramatik zuständig fühlte.18 Obwohl sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein viele weitere Beispiele für diese Sichtweise finden, wurde diese inzwischen mehrfach kritisch kommentiert.19 Bernhard Jahn greift diese Kritik in seiner Einführung Grundkurs Drama sehr nachvollziehbar auf.20

152 Anton Bröll Gegen die Auffassung von der Vervollständigung des Dramas durch die Inszenierung kann festgehalten werden, dass sie eine Werkidentität von Drama und Inszenierung unterstellt und damit deren mediale Differenz und künstlerischen Eigenheiten außer Acht lässt.21 Schließlich verwendet das Drama schriftlich festgehaltene sprachliche Zeichen, während die Aufführung primär gesprochene Sprache, nonverbale akustische Elemente sowie optische Aspekte wie Körperbewegungen der Schauspieler:innen und das Bühnenbild nutzt.22 Durch seine Schriftlichkeit verfügt das Drama über Gestaltungsmöglichkeiten, die in der Inszenierung nicht ‚realisiert‘ werden können.23 Dies zeigt sich etwa in Besonderheiten der Typografie und Seitengestaltung, wie der verbreiteten Trennung in Hauptund Nebentext oder wenn zum Beispiel Bonn Parks Die Leiden Des Jungen Super Mario in 2D (digitale Verlagsausgabe 2011) das Design eines Videospiels aufgreift (→ Betrachten). Darüber hinaus kann ein Drama Vorstellungen enthalten, die in der Realität oder auf der Bühne unmöglich umzusetzen sind (→ Visualisieren). Programmatisch geschieht dies etwa in Wolfram Lotz’ Der große Marsch (UA 2011, Erstdruck 2013), in dem der Nebentext eine Bühne mit Rolltreppen beschreibt, die – in Anlehnung an die Penrose-Treppe und Bilder M. C. Eschers – in einem vertikalen Quadrat angeordnet sind und gleichzeitig ausschließlich hinaufführen: „Das ­Ganze ist physikalisch unmöglich, aber es steht tatsächlich auf der Bühne.“24 Damit wird das Potential des Dramas als zunächst gelesener Text ausagiert. Es verdeutlicht zudem, dass Dramen nicht in ihrer Bedeutung als Spielvorlage aufgehen und dass sie teilweise ihre Eigenständigkeit gezielt in Anspruch nehmen, herausstellen und reflektieren. Die eigentlich uneinlösbaren Elemente können als Herausforderungen an das Theater verstanden werden, es muss jedoch nicht als Defizit gelten, dass die Inszenierung sie nicht umsetzen kann. Schließlich muss es nicht das Ziel einer Inszenierung sein, das Drama eins zu eins wiederzugeben. Vielmehr ­besitzt das Theater eine grundsätzliche Freiheit in der Auswahl und Umsetzung von Textelementen, auch wenn bei einer Uraufführung eine ­engere Bindung an den Text besteht. Dem Theater ­stehen qua Mediendifferenz wiederum andere Gestaltungsmöglichkeiten offen, über die das Drama selbst nicht verfügt.

Wertschätzen 153 Insofern fehlt es sowohl den Abwertungen des Dramas als auch den des Theaters an einer systematischen Begründung. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird zunehmend für das Drama als eigenständigen literarischen Text argumentiert und gegen dramentheoretische Setzungen seiner vermeintlichen Unvollständigkeit Stellung bezogen.25 Ein wesentlicher Beitrag dazu liegt in der veränderten Wahrnehmung des sogenannten ‚Nebentextes‘. Dieser wird nicht mehr als etwas Nebensächliches betrachtet, das bei der Aufführung einfach wegfallen kann. Stattdessen wird seine dramenspezifische Funktionalität untersucht. Durch die Literarizität des Nebentextes wird zugleich die des Dramas insgesamt hervorgehoben.26 Die Theaterwissenschaft ist dabei nicht per se die Gegenspielerin, die das Drama zugunsten der Inszenierung herabsetzt, vielmehr handelt es sich um ein fachübergreifendes Vorgehen. Schließlich hat die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte bereits 1985 darauf hingewiesen: Es [i.e. die Aufführung] stellt vielmehr seinerseits ein eigenständiges ‚Werk‘ dar, das ebensowenig als bloße Übersetzung eines Dramas angemessen zu begreifen ist, wie umgekehrt das Drama lediglich als Vorlage für eine Aufführung im Sinne einer Partitur. Sowohl das Drama als auch die Aufführung sind jeweils als ein Werk sui generis vorauszusetzen und zu behandeln, das wohl durch vielfältige Beziehungen an das je andere geknüpft sein mag, in seiner jeweiligen Eigenart und Besonderheit jedoch allein aus dieser Relation heraus kaum verstanden und gerecht beurteilt werden kann.27 Daran anknüpfend lässt sich festhalten, dass mit der Auffassung, die alleinige Lektüre eines Dramas als legitime Rezeptionsweise anzuerkennen und seine Inszenierung als möglich, aber nicht zwingend erforderlich zu betrachten,28 keineswegs einer Rückkehr zur Abwertung der Inszenierung Vorschub geleistet werden soll. Angestrebt wird hingegen die Auflösung ihrer rivalisierenden Gegenüberstellung. Die Vorstellung, Drama und Theater stünden in Konkurrenz um den besseren Ausdruck eines Kunstwerks, geht auf Kosten beider Seiten. Denn das Konzept der Vervollständigung mindert nicht nur den Status des Dramas, sondern auch den der Inszenierung, statt ihn zu behaupten.29

154 Anton Bröll Der für die Dramatik konstitutive Bezug zum Theater lässt sich dahingehend näher beschreiben, dass das Geschehen im Drama textimmanent auf der Bühne gezeigt wird. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive bedeutet das, dass Leser:innen das Geschehen als auf einer Bühne stattfindend imaginieren. Zur Bezeichnung dieses Phänomens wurden verschiedene Begriffe wie ‚implizite Inszenierung‘,30 ‚Bühnendiegese‘,31 und ‚Texttheatralität‘32 geprägt, die unterschiedlichen dramentheoretischen Ansätzen entstammen. Zusätzlich zu dieser textimmanenten Verortung im Theater wird das Drama häufig als eine Gattung betrachtet, die auf eine spätere ‚reale‘ Inszenierung abzielt oder diese besonders einfordert. Dies steht jedoch nicht im Widerspruch dazu, es bereits als literarisches Kunstwerk zu würdigen. Die Analyse der Argumentationsmuster sowie der historischen Veränderungen in der Bewertung der Dramatik zeigt zudem, dass ihrer gegenwärtigen Marginalisierung gezielt entgegengewirkt werden kann – etwa durch didaktische Angebote (→ Vermitteln), Verlagsengagement und Gegenwartsliteraturforschung im umfassenden Sinne. Dies ist ein zentrales Anliegen, denn die Wertschätzung eines Dramas als literarisches Kunstwerk ist die Voraussetzung für sein Verständnis.33

1

Vgl. Hannah von Sass: „Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 48 (2023), H. 2, S. 241–270, hier: S. 241f.

2

Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung, Köln u. a. 2010. Vgl. dazu Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956, Bielefeld 2017, S. 24; von Sass: „Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist“, S. 250.

3

Vgl. ebd., S. 259f.; Janine Hauthal: Metadrama und Theatralität. Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten, Trier 2009, S. 73f.

4

Vgl. von Sass: „Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist“, S. 259ff.

5

Vgl. Jürgen Schröder: „‚Postdramatisches Theater‘ oder ‚neuer Realismus‘? Drama und Theater der neunziger Jahre“, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, aktual. und erw. Aufl. München 2006 [zuerst 1994], S. 1080–1120, 1162– 1164, hier S. 1104; Bremer: Postskriptum Peter Szondi, S. 29f., 127f.; Simon Hansen: Nach der Postdramatik. Narrativierendes Text-Theater bei Wolfram Lotz und Roland Schimmelpfennig, Bielefeld 2021, S. 48f.

6

Vgl. Bremer: Postskriptum Peter Szondi, S. 34, 127f.

7

Aristoteles: Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, bibliogr. erg. Ausg.

Stuttgart 1996, S. 25 [1450b]. Vgl. auch Andreas Höfele: „Drama und Theater. Einige Anmerkun-

Wertschätzen 155 gen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses“, in: Forum modernes Theater 6 (1991), H. 1, S. 3–23, hier: S. 4f.; Holger Korthals: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur, Berlin 2003, S. 53.

8

Vgl. Höfele: Drama und Theater, S. 8; Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 54f. Bremer: Postskriptum Peter Szondi, S. 17ff., 78; Dirk Niefanger: „Drama als Werk“, in: Lutz Danneberg/Annette Gilbert/Carlos Spoerhase (Hg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, Berlin/Boston 2019, S. 191–209, hier: S. 194.

9

Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 54f.

10

Vgl. ebd.; Niefanger: „Drama als Werk“, S. 193f.

11

August Wilhelm Schlegel: „Ueber dramatische Kunst und Litteratur“, in: ders.: Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. 4, Teil 1: Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur [1809–1811], hg. und kommentiert v. Stefan Knödler, Paderborn 2018, S. 20; Schlegel geht daraufhin jedoch auch auf die Imagination einer Aufführung als ‚Ergänzung‘ des Dramas ein. Vgl. dazu Lily Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text. Eine systematische Skizze zur Funktion des Nebentextes“, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2018), S. 421–444, hier: S. 438.

12

Julius Petersen: Schiller und die Bühne. Ein Beitrag zur Litteratur- und Theatergeschichte der klassischen Zeit, Berlin 1904, S. 5. Vgl. Lily Tonger-Erk/Niels Werber: „Nebensächlich? Vorwort zum Nebentext“, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2018), S. 411–419, hier: S. 417.

13

Vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 55f.; Alexander Weber: Episierung im Drama.

Ein Beitrag zur transgenerischen Narratologie, Berlin/Boston 2017, S. 18–21.

14

Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 18. Aufl.

Bern u. a. 1978, S. 171.

15

Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse, 9. Aufl., erw. und bibliogr. aktual.

Nachdr. der durchges. und erg. Aufl. von 1988, München 1997 [zuerst 1977], S. 24f. Vgl. auch Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 55f.; Niefanger: „Drama als Werk“, S. 194, Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“, S. 428. Fortgeführt findet sich die Auffassung von der Aufführung als ein Merkmal des Dramas auch in: Benedikt Jeßing: Dramenanalyse: Eine Einführung, 2., neu bearb. Aufl. Berlin 2023 [zuerst 2015], S. 14.

16

Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse, 8. aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart 2016 [zuerst 1980], S. 10. Vgl. Georg-Michael Schulz: „Text und Inszenierung als Verwirrspiel. Der Komplex ‚Drama und Theater‘ in jüngeren literaturwissenschaftlichen Einführungen“, in: Der Deutschunterricht 55 (2003), H. 1, S. 90–95, hier: S. 91; Weber: Episierung im Drama, S. 17; Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“, S. 428.

17

Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 35, vgl. auch ebd., S. 5.

18

Vgl. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 13f.; Bremer: Postskriptum Peter Szondi, S. 76f.; von Sass: „Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist“, S. 243.

19

Zu weiteren Beispielen und ihrer kritischen Kommentierung vgl. Schulz: „Text und Inszenierung als Verwirrspiel“; Weber: Episierung im Drama, S. 18–22; Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“, S. 428; Niefanger: „Drama als Werk“, S. 194; von Sass: „Warum Schreiben nicht gleich Prosa ist“, S. 250.

20

Vgl. Bernhard Jahn: Grundkurs Drama, Stuttgart 4. Aufl. 2012 [zuerst 2009], siehe v. a.

S. 7–10; für den Hinweis danke ich Clemens Özelt.

156 Anton Bröll 21

Vgl. Höfele: „Drama und Theater“, S. 10; Schulz: „Text und Inszenierung als Verwirrspiel“, S. 91; Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“, S. 428.

22

Vgl. etwa Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen, Tübingen 1983.

23

Vgl. Erika Fischer-Lichte: „Was ist eine ‚werkgetreue‘ Inszenierung? Überlegungen zum Prozess der Transformation eines Dramas in eine Aufführung“, in: dies. (Hg.): Das Drama und seine Inszenierung, Tübingen 1985, S. 37–49, hier: S. 41; Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 56–74; Niefanger: „Drama als Werk“, S. 198f.

24

Wolfram Lotz: „Der große Marsch“, in: ders.: Der große Marsch, Einige Nachrichten an das All, Die lächerliche Finsternis. Drei Stücke, hg. v. Friederike Emmerling/Stefanie von Lieven, Frankfurt a. M. 2016, S. 7–71, hier: S. 45. Vgl. dazu Hansen: Nach der Postdramatik, S. 83ff.

25

Vgl. Manfred Jahn: „Narrative Voice and Agency in Drama. Aspects of a Narratology of Drama“, in: New Literary History 32 (2001), S. 659–679; siehe auch die hier mehrfach zitierten Beiträge etwa von Holger Korthals, Alexander Weber, Kai Bremer, Lily Tonger-Erk, Dirk Niefanger und Hannah von Sass.

26

Vgl. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009; Hauthal: Metadrama und Theatralität, S. 109–128, 145–160; Weber: Episierung im Drama, S. 17–37; Tonger-Erk/Werber: „Nebensächlich?“; Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“; Hansen: Nach der Postdramatik, S. 255–272.

27

Fischer-Lichte: „Was ist eine ‚werkgetreue‘ Inszenierung?“, S. 45; vgl. Korthals: Zwischen Drama und Erzählung, S. 56.

28

Vgl. Bremer: Postskriptum Peter Szondi, S. 29f.

29

Vgl. auch Peter W. Marx: „Dramentheorie“, in: ders. (Hg.): Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2012, S. 1–11, hier: S. 7.

30

Vgl. Horst Turk: „Soziale und theatralische Konventionen als Problem des Dramas und der Übersetzung“, in: Erika Fischer-Lichte u. a. (Hg.): Soziale und theatralische Konventionen als Problem der Dramenübersetzung, Tübingen 1988, S. 9–53, hier: S. 10f.; Höfele: „Drama und Theater“, S. 17ff.

31

Vgl. Weber: Episierung im Drama, S. 131, 171ff.; Tonger-Erk: „Das Drama als intermedialer Text“, S. 438; Niefanger: „Drama als Werk“, S. 201; Hansen: Nach der Postdramatik, S. 47, 62f.

32

Vgl. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 42f., 288f., 321–341; Hauthal: „Metadrama und Theatralität“, S. 88ff., 146–153. Vgl. dazu Anne Fleig: „Texttheatralität und dramatische Form. Plädoyer für eine historische Perspektivierung von Text und Aufführung bei Elfriede Jelinek“, in: Pia Janke/Teresa Kovacs (Hg.): „Postdramatik“. Reflexion und Revision, Wien 2015, S. 283–294.

33

Siehe etwa Peter Szondi: „Sprechen wir von literarischer Hermeneutik statt von philologischer, so nicht zuletzt darum, weil die Auslegungslehre, die wir im Sinn haben, von der überlieferten Hermeneutik der Klassischen Philologie sich darin wird unterscheiden müssen, daß sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht.“ (Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. Jean Bollack/Helen Stierlin, Frankfurt a. M. 1975, S. 13).

157

Ilja Mirsky KRITISIEREN

Mitte Juni 2024 erreicht ein Schreiben von Wolfram Lotz ausgewählte Freund:innen und Kolleg:innen. Eingeleitet wird sein Essay mit folgenden Worten: Ein paar Mal nur habe ich Tiere auf der Bühne eines Theaters gesehen. Es war meinem Körper aber jedes Mal deutlich, dass mit ihrem Auftreten etwas Wesentliches geschah.1 Der Dramatiker, Lyriker und Erzähler erklärt, dass sich seine Erlebnisse in diesen Momenten weder durch rationales Denken noch durch die gängige Literatur zu Authentizität und Präsenz erfassen ließen. Die darin aufscheinende neue Ästhetik blieb ihm verschlossen. Er schreibt: „[d]ass meine Augen, lang bevor ich es deuten konnte, für Momente die Möglichkeit zu einem Theater sahen, das mir nicht mehr auf grundsätzliche Weise monologisch erschien, sondern tatsächlich dialogisch.“2 Diese seit September 2024 auf Nachtkritik einsehbare und durchaus sehr persönliche Einschätzung, die Lotz auf wenigen Seiten ausführt, greift auf eine körperliche Erfahrung des Im-Theater-Sitzens zurück. Seine Gedanken können als systematische Kritik an einer bestimmten formellen Ausgestaltung des Theatermachens beschrieben werden, wobei „Kritik“ als die dem ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes „criticus“ zugrunde liegende Bedeutung von „trennen, sich auseinandersetzen oder entscheiden“ etymologisch hergeleitet werden kann: „Criticus“ ist die „latinisierte Fassung des griechischen Worts ‚κριτικός‘ (kritikós), das seinerseits vom Verb ‚κρίνω‘ (krinō)“ abstammt.3 Das Wort vereint Bedeutungen wie „auswählen“, „einen Streit vor Gericht oder anderswo entscheiden“ beziehungsweise auch „denken oder sagen, dass etwas oder jemand so und so ist“ und „urteilen“: Das lässt sich als Spezialfall der vorigen Bedeutung verstehen: Denken oder sagen, dass etwas oder jemand die und die Eigenschaft hat, kann man als die Entscheidung eines Streits darüber

158 Ilja Mirsky nehmen, sei dieser auch bloß vorgestellt, ob das Ding oder der Mensch diese Eigenschaft hat. Das lateinische ‚iudicare‘ und ihm folgend ‚juger‘ im Französischen, ‚to judge‘ im Englischen und ‚urteilen‘ im Deutschen zeigen alle diesen Übergang von ‚eine Streitsache entscheiden‘ zu ‚denken oder sagen, etwas sei so und so‘.4 Im Gegensatz zum alltäglichen Umgang mit dem Begriff des Kritisierens besitzt das Wort weder in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft noch in seiner ursprünglichen Bedeutung eine negative Konnotation. In der alltäglichen Wahrnehmung sind die vielseitigen Nuancen des Begriffes ver­ loren gegangen und die Kritik wird oft nur als Gegenspielerin zum Lob aufgefasst. Entscheidend ist, dass das Ausüben von Kritik stets eine verkürzte Auseinandersetzung des Sich-In-Relation-Setzens mit einem von „Menschen gemachten Werk“ ist: „Wir sprechen von Kritik nur, wo es um Menschen, ihr Tun und die Produkte dieses Tuns geht. Dabei ist ‚Produkte‘ allerdings weit zu fassen.“ Denn: „[E]s gibt keine Kritik von Sonnenuntergängen oder von Mücken, auch wenn wir die ersten großartig, die zweiten ärgerlich finden mögen.“5 Ein entscheidendes Moment, dass das Kritisieren – und ich verwende den Begriff hier bewusst als Synonym für die Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik – hervorhebt, ist eine geteilte Gegenwart. Diese bildet die gesellschaftspolitische Jetztzeit, die sowohl den Rezipient:innen als auch den Verfasser:innen von Theatertexten zugrunde liegt. Diese geteilte Jetzt-Zeit ermöglicht es, nicht nur auf implizites Wissen über eine geteilte Lebensrealität der Gegenwart und auf die konkret gesellschaftlichen Diskussionen zuzugreifen, wie beispielsweise die Klimakrise. Sie bietet auch die Chance, in einer globalisierten Welt auf tagespolitische Entwicklungen im Hier und Jetzt künstlerisch zu reagieren und diese auch als implizite Wissensvoraussetzung anzunehmen. Almut Wagner, Chefdramaturgin und Leiterin der Plattform und des Festivals für internationale Gegenwartsdramatik Welt/Bühne am Residenztheater, beschreibt dies als das sensible Gespür der Autor:innen für tektonische Verschiebungen in unserer Gesellschaft.6

Kritisieren 159 Die Vielseitigkeit an Ästhetiken, Formen und Ausdifferenzierungen in diesem Band zeigt, wie facettenreich und wegweisend Autor:innen ihre Theatertexte mit der Jetzt-Zeit verbinden. Theatertexte entstehen, um verkörpert und damit auch verräumlicht zu werden. Kritisiert werden sie in ihrer textlichen Ursprungsform in der Öffentlichkeit nur selten und auch da zumeist bereits in einer verkörperten Form durch Lesungen von Schauspieler:innen. Die Auseinandersetzung und das Kritisieren von Texten als Material für Theaterproduktionen findet zumeist nur in Fachkreisen statt: in Dramaturgiesitzungen, während des Lektorats in Verlagen oder auch in Seminaren an Universitäten und Theaterakademien (→ Vermitteln / Finden).

Ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu einem Werk ist keine Selbstverständlichkeit, liegt hierbei stets eine Prämisse der Autonomie und Selbstermächtigung der kritisierenden Person vor. Das Kritisieren von Gegenwartsdramatik ist einerseits ein Prozess, der neben einem fundierten Wissensschatz und einer Diskursfestigkeit auch eine Kenntnis des zeitgenössischen Theaters erfordert, um nicht antiquierte Dramentheorien als Bewertungsschablonen für die Auseinandersetzung mit Texten der Jetzt-Zeit zu benutzen. Andererseits wird hier ein Grundrecht, das als Meinungsfreiheit und oft unhinterfragtes Selbstverständnis seit der Aufklärung unsere Gegenwart prägt, in Anspruch genommen; so schreibt der Soziologe Hartmut Rosa: Das Grundversprechen der Moderne, ihr motivationaler und legitimatorischer Kern, liegt in der Idee der Autonomie: der (individuellen und kollektiven) Selbstbestimmung des Menschen [...]. In diesem Punkt scheinen die großen philosophischen und soziologischen Moderne-Diagnosen, so unterschiedlich sie sonst sein mögen, zu konvergieren.7 Dieser Akt der Selbstermächtigung, in Bezug auf von Menschen gemachte Werke Position zu beziehen, zeichnet sich auf einer grundlegenden Ebene durch das Erkennen zweier Voraussetzungen aus: Zum einen ist das Kritisieren ein zutiefst subjektiver Vorgang, der auf einer kulturellen Vorprägung, einem fachlichen Kenntnisstand und auch einer gewissen Eloquenz beruht. Zum anderen ist das Kritisieren ein selbstbestimmter, raumgreifender und damit auch körperlicher Prozess, der eine dialektische Dimension

160 Ilja Mirsky in sich trägt. Es versteht sich weniger als bloße Meinungsäußerung, sondern vielmehr als Dialog – als Auseinandersetzung, die mindestens zwei Menschen einbezieht. Eine einzelne Stellungnahme, eine subjektive Meinung kann dabei im besten Sinne dialektischen Denkens der Ausgangspunkt eines Gesprächs sein, das sich erst im weiteren Verlauf als Prozess des „Kritisierens“ zwischen mehreren Körpern entfaltet. Nun sind Theatertexte Texte, die für Körper geschrieben werden, wie in diesem Band bereits festgehalten wurde (→ Verkörpern). Ewald Palmetshofer reflektiert in seinem ersten Vortrag für die Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik sein Schreiben mit den Worten: Ich schreibe für die Körper. Das ist tatsächlich in aller Kürze, was ich tue. […] Denn wenn ich in meinem Schreiben als Dramatiker für die Körper schreibe, dann sind dies die Körper der anderen, die anderen Körper, die Körper im Proberaum, anfangs, und später die Körper auf der Bühne.8 Wie können Texte, die für Körper geschrieben werden, kritisiert werden, wenn das verschriftlichte Material als geschriebener Text rezipiert wird, also nicht in der Form, für die er intentional von Autor:innen verfasst wurde?

Folgt man dieser Fragestellung, wird deutlich: Theatertexte werden nicht nur für Körper geschrieben, sondern auch von Körpern wahrgenommen, interpretiert und performt. Wer Gegenwartsdramatik kritisiert, muss sich deshalb bewusst sein, dass es sich dabei um Texte handelt, die körperbezogen funktionieren. Eine Auseinandersetzung mit Gegenwartsdramatik bedeutet also auch, sich körperlich mit ihr zu beschäftigen – und dabei nicht nur den Text zu analysieren, sondern auch das eigene Nicht-Wissen über Intentionen und Perspektiven der Autor:innen, der Figuren (wenn es sie im Text gibt) und ihrer Form anzuerkennen. In diesem Sinne wird der Theatertext zu einem „Theatertextkörper“ und das Kritisieren zu einem Dialog zwischen den Körpern der kritischen Rezipient:innen und dem Körper des Textes. Die Körper werden ganz im Sinne Donna Haraways von „situiertem Wissen“ zu „Wissensobjekten“; sie sind als „Akteur und Agent“ zu ver­ stehen und „nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource“, die in Beziehung zueinander treten.9 Jedes kritisierende Subjekt verfügt folglich

Kritisieren 161 über einen spezifischen, wenn auch begrenzten Erfahrungshorizont, der die eigene Perspektive prägt.

Konkret bedeutet dies, dass jeder Vorgang des Kritisierens von Theatertextkörpern aufgrund der bestimmten Perspektive, die dabei zwangsläufig eingenommen wird, somit selbst zu einem kritikfähigen Prozess wird.

Denn jede Kritik spiegelt auch die Haltung, Werte und Sichtweisen der kritisierenden Person wider. Nicht selten offenbart sie dabei mehr über deren eigenes Weltbild als über den Gegenstand der Kritik (→ Lachen). Diese Kritik an der Kritik, insbesondere in Bezug auf die Frage, wer kritisiert und aus welcher subjektiven und situierten Perspektive heraus, kann etwa meinen, eine reflektierte Auseinandersetzung mit der patriarchal-hegemonialen Prägung von Erzählstrukturen in unserer Gesellschaft einzunehmen. Fehlt eine solche Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Verortung – etwa damit, wie Heldenerzählungen normative Gesellschaftsbilder stützen – sowie mit alternativen, nicht eurozentristischen Erzählstrukturen, dann ist die beschriebene situiert-reflektierte Haltung nicht gegeben. Eine umsich­ tige Kritik berücksichtigt die eigene kulturelle Position und vermeidet es, scheinbar neutrale Maßstäbe unreflektiert anzulegen. Im Theaterpodcast von Deutschlandfunk Kultur und Nachtkritik etwa eröffnet ein Beitrag in ­nuancierter Weise Perspektiven auf den Bereich der darstellenden Künste – ausgehend von queer-feministischen Wrestling-Performances, die durch choreografierte Showkämpfe Heldennarrative dekonstruieren und per­ formative Praxis intersektional öffnen.10 Auch Ansätze wie Ursula K. Le Guins Carrier Bag Theory of Fiction11 zeigen, dass alternative, nicht heroische Erzählweisen notwendig sind, um bislang marginalisierte Erfahrungen sichtbar und auch erfahrbar zu machen, sowie die Vorstellungen von Narration und gesellschaftlicher Prägung weiterzudenken. Gerade deshalb müssen wir uns als Subjekte begreifen – als fehlbare, beeinflusste, subjektiv handelnde und geprägte Instanzen, die immer in einem Feld aus Entitäten stehen und sich auch darüber konstituieren. Das Kritisieren als körperliche Auseinandersetzung mit einem für Körper geschriebenen Text formt nicht nur die Art und Weise, wie Gegenwartsdramatik rezipiert wird, sondern auch, was wir antizipieren, wenn wir über Theatertexte aus der Jetzt-Zeit sprechen.

162 Ilja Mirsky Hartmut Rosa eröffnet in seiner Kritik der Zeitverhältnisse die Idee der „Selbstbestimmungsspielräume“, die sich durch die sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen der Moderne erweitern lassen: Spielräume, die sowohl individuelle als auch kollektive Autonomie und Selbstermächtigung ermöglichen sollen. Kritik im gegenwärtigen Kontext bedeutet damit nicht nur, ästhetische Urteile zu fällen, sondern innerhalb dieser Spielräume Beweglichkeit und Resonanzfähigkeit unter Beweis zu stellen. Kritisieren wird hierbei zu einem körperlichen Vorgang, der nicht nur die eigene Autonomie berührt, sondern auch das bewusste Spiel mit der Rolle der kritisierenden Person eröffnet. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich – wie Rosa in seinem Buch Beschleunigung und Entfremdung beschreibt – unser Weltverhältnis massiv verändert hat: Die fortschreitende soziale Beschleunigung führt zur Entkopplung von Materialität und Erfahrung. Theatertexte, so könnte man argumentieren, sind längst digitale Entitäten geworden: Sie existieren primär als digitale Dateien, Kopien, immaterielle Skripte (→ Betrachten). Das Medium unterstützt hierbei den prozesshaften Charakter von Theatertexten, denn sie sind nicht abgeschlossen, sondern als fließende, veränderbare Vorlagen angelegt, abgespeichert und auch als ‚Trainingsdatenmaterial‘ für Künstliche Intelligenzen zweckentfremdet. Insofern ‚schwimmen‘ Theatertexte mit der allgemeinen Beschleunigung unseres Weltverhältnisses mit. Der Umgang mit den Körpern, für die diese Texte geschrieben werden, hat sich jedoch nicht verändert.

Das Kritisieren von Theatertexten wird zu einem offenen, körperlichen Prozess: zu einer Handlung, die weniger auf die Festschreibung eines Urteils abzielt als vielmehr auf die Eröffnung neuer Möglichkeitsräume. Hierbei ist die kritisierende Instanz zugleich autonomes und relationales Subjekt – hoffentlich stets mitreflektierend, dass sie selbst Teil des gesellschaftlichen Gefüges ist, das sie hinterfragt. Bernd Stegemann schreibt dazu in seinem Essay Das Gespenst des Populismus: Die humane Haltung zu einer Tragödie kann niemals darin bestehen, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen. Der antike ­Demos hatte erkannt, dass der Ausweg allein darin besteht, von beiden Seiten zu lernen.12

Kritisieren 163 Kritisieren bedeutet daher, sich aus festen Diskurspositionen herauszunehmen, zuzuhören, zu verstehen – und dadurch neue Selbstbestimmungsspielräume zu eröffnen, die nicht sofort in Zustimmung oder Ablehnung münden, sondern Zwischenräume der Reflexion und des Dialogs eröffnen. Insbesondere in einer von globalen Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägten Gegenwart, in der die weltpolitischen Bühnen teils theatraler erscheinen als das, was im Repertoire präsentiert wird, ist der temporale Bezug, die gemeinsam geteilte Gegenwart zwischen Theatertext, Rezipient:innen und Autor:innen, jedoch keine Garantie für ein gegenseitiges Verstehen. Stattdessen lädt sie – im Sinne von Dieter Thomä – zur „Schwellenlust“ ein: einem lustvollen Eintreten in das Ungewisse. Dieser Begriff greift eine weitere Bedeutung des griechischen Wortes für „kritisieren“ auf: Diese meint sowohl „unterscheiden“ als auch „entscheiden“ gleichermaßen. Denn: Kritikfähigkeit und Krisenfestigkeit gehören untrennbar zusammen.13 Das Akzeptieren von Mehrdeutigkeit, das Spiel mit Wissen, Rollen und Affekten ist für das Kritisieren zentral. Diese Schwellenlust wird im Kritisieren selbst wirksam: Kritik wird weniger zu einem abschließenden Urteil, sondern vielmehr zu einer Erfahrung, einem tastenden Prozess, einer Suchbewegung nach Resonanz im Sinne Hartmut Rosas und vielleicht auch im Sinne des Anfangszitates von Wolfram Lotz.

Das Kritisieren von Gegenwartsdramatik wird zu einer performativen Handlung, die sich zwischen Körpern, Zeiten und Diskursen abspielt – ein Prozess, der die Jetzt-Zeit nicht nur abbildet, sondern diese aktiv mitgestaltet und erfahrbar macht. Kritisieren von Gegenwartsdramatik bedeutet mehr als bloßes Urteilen über Texte – es ist ein tastender Dialog eines Körpers mit einem Text, der für Körper geschrieben wurde. Wer kritisiert, bewegt sich auf einer Schwelle: zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Intention und Interpretation, zwischen Subjektivität und Gesellschaft. In Anlehnung an Thomä lässt sich diese Schwelle als Raum der „Schwellenlust“ verstehen – als Moment des Innehaltens, in dem Unterscheiden und Entscheiden zusammenfallen.14 Kritik wird damit zur Handlung, die neue Selbstbestimmungsspielräume eröffnet: für die Rezipierenden, für die Texte, für das Theater selbst. Gegenwartsdramatik zu kritisieren, heißt also, über die Schwelle hinauszutreten – in einen Raum, in dem sich Zukunft nicht nur denken, sondern gestalten lässt.

164 Ilja Mirsky 1

Wolfram Lotz: „DAS DIALOGISCHE THEATER“, Juni 2024, (https://www.nachtkritik.de/ images/stories/artikelbilder/Interviews/2024/DAS%20DIALOGISCHE%20THEATER. pdf., Zugriff am 5.6.2025).

2

Ebd.

3

Rüdiger Bittner: „Kritik, und wie es besser wäre“, in: Was ist Kritik?, hg. v. Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1885, Frankfurt a. M. 2009, S. 134–149, hier: S. 134.

4

Ebd., S. 135.

5

Ebd., S. 137.

6

Vgl. Residenztheater: „WELT/BÜHNE | residenztheater.de“, (https://www.residenztheater.de/ welt-buehne, Zugriff am 5.6.2025).

7

Hartmut Rosa: „Kritik der Zeitverhältnisse“, in: Was ist Kritik?, hg. v. Rahel Jaeggi/Tilo Wesche, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1885, Frankfurt a. M. 2009, S. 23–54, hier: S. 38.

8

Ewald Palmetshofer/Daniel Kazmaier/Johannes Birgfeld: Körper. Schreiben: Theater, Affekt und die Berührungen der Sprache, Originalausgabe, Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, Berlin 2024, S. 10.

9

Donna Haraway: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. v. Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 93.

10

Elena Philipp: „Theaterpodcast (79) – Showsport auf den Bühnen“, (https://nachtkritik.de// spenden-fuer-nachtkritik?view=article&id=25303:theaterpodcast-79-showsport-auf-den-buehnen&catid=1877, Zugriff am 29.5.2025).

11

Ursula K. Le Guin: „The Carrier Bag Theory of Fiction“, in: Dancing at the Edge of the World: Thoughts on Words, Women, Places, New York 1989, S. 165–170.

12

Bernd Stegemann: Das Gespenst des Populismus: Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Berlin 2017, S 7.

13

Dieter Thomä: Post-. Nachruf auf eine Vorsilbe, Berlin 2025, S. 330.

14

Ebd.

165

Felix Lempp VERMITTELN

I. „Dramatische Texte stehen weder an Schulen noch an Hochschulen und Seminaren hoch im (Dis)kurs“.1 Mit dieser Klage beginnen Rudolf Denk und Thomas Möbius ihren Entwurf einer systematischen Didaktik des Dramas und Theaters. Sie klingt entmutigend – aber ist sie in ihrer ­Apodiktik berechtigt? Zu einer abweichenden Einschätzung kommt etwa Clemens Kammler: „Wenn es im Deutschunterricht einen Kernbestand literarischer Texte gibt, der […] unangefochten über mehrere Generationen tradiert wurde, so trifft dies auf die Gattung Drama in besonderem Maße zu.“2 Sein Eindruck wird durch die ministerialen Lektürevorgaben für Deutsch-­Abschlussprüfungen in verschiedenen Bundesländern gestützt. So steht oder stand beispielsweise Woyzeck in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestphalen, Sachsen und Schleswig-Holstein auf den Lektürelisten von Abschlussklassen 2023 bis 2025. Neben Georg Büchners Text wurden und werden laut dieser Listen im gleichen Zeitraum Dramen von Euripides, Gotthold Ephraim Lessing, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt und Ingeborg Bachmann unterrichtet.3 Franz-Josef Payrhubers Erkenntnis, dass die Gattung Drama „immer auch als ‚pädagogisches‘ ­Medium interessant“4 sei, scheint also auch heute noch Gültigkeit zu haben. Doch legt die Aufstellung der Pflichtlektüren gleichzeitig nahe, dass im Unterricht der „Kernbestand dramatischer Texte […] seit den späten 1960er-Jahren kaum Veränderungen erfahren“5 hat.

Obwohl in jüngerer Vergangenheit Versuche zu beobachten sind, didaktische Potenziale zeitgenössischer Dramatik zu erschließen,6 lässt sich mit Blick auf die Unterrichtsrealität vermuten: Niedrig im Kurs steht in Schulen nicht ‚die‘ Dramatik, sondern das Gegenwartsdrama (→ Wertschätzen).7 Dass dem so ist, dafür gibt es Gründe, denen ich im Folgenden nachgehe. Gleichzeitig verbinden sich mit dem Gegenwartsdrama als

166 Felix Lempp ­Vermittlungs- und Unterrichtsgegenstand pädagogische Chancen, sodass meine Ausführungen auch eine Lanze für zeitgenössische Dramatik im Deutschunterricht brechen wollen.

II. Ein Problem, das gegen die Vermittlung von Gegenwartsdramatik im Literaturunterricht immer wieder angeführt wird, ist das der Verfügbarkeit: Nur selten, so das Argument, würden zeitgenössische Stücke in Anthologien oder gar Werksausgaben gedruckt, vielmehr beziehen Theater diese Texte unter spezifischen Auflagen direkt von den Verlagen, was die Beschaffung von Textgrundlagen in Klassenstärke erschwere.8 Dagegen ist einzuwenden, dass Verlage durchaus Gegenwartsdramatik publizieren. Bei großen Namen wie Elfriede Jelinek oder Falk Richter war dies ohnehin immer der Fall, doch publizieren Verlage wie Suhrkamp, Reclam oder Fischer zeitgenössische Dramatik auch breiter in eigenen Reihen, sodass diese erschwinglich zugänglich sind. Darüber hinaus sind viele Theaterverlage selbst bei nicht publizierten Stücken kulant, wenn es um deren Einsatz in Wissenschaft und Unterricht geht. (→ Finden). Trotz der grundsätzlichen Verfügbarkeit vieler Stücke bleiben indes für Lehrkräfte, die über den Einsatz von Gegenwartsdramen im Literaturunterricht nachdenken, für den Schulalltag entscheidende Probleme bestehen.9 So sind diese Texte noch wenig didaktisch erschlossen und ihre Stellung im Kanon ist nicht festgelegt.10 Diese – für große Teile der Gegenwartsliteratur gültige – Herausforderung verbindet sich mit einem zweiten, gattungsspezifischen Problem: In dem Maße, in dem sich der Dramenunterricht hin zum Theater öffnet und die Bühnenproduktion als entscheidenden Bezugspunkt der dramatischen Kunst begreift, wird der Aufführungsbesuch zum integralen Teil der Vermittlung von Dramatik.11 Was angesichts der lange vorherrschenden Verkürzung theatraler Kunst auf den Text grundsätzlich zu begrüßen ist, erweist sich für die Gegenwartsdramatik im Schulunterricht als veritables Handicap, werden ihre Stücke doch nach der Uraufführung oft nur zögerlich nachgespielt.12 Im Zweifelsfall lässt sich regelmäßiger eine Inszenierung von Woyzeck finden als eine des neuesten Stücks von Roland Schimmelpfennig.

Vermitteln 167

III. Jenseits dieser eher technischen Herausforderungen steht die Vermittlung zeitgenössischer Theatertexte im Schulunterricht vor einer pädagogisch weit grundsätzlicheren Hürde, die die gesamte Gattung betrifft: Aufgewendete Unterrichtszeit ist angesichts knapper Fachstunden im wöchentlichen Curriculum ein umkämpftes Gut, und so muss jede Lehrkraft zumindest vor sich selbst begründen können: Warum überhaupt Dramatik behandeln?

Wenn Didaktiker:innen hier auf den „hohen Stellenwert…“ verweisen, „den das Theater als multimedialer ‚Schau-Raum‘ im heutigen Kulturbetrieb einnimmt“13, ist angesichts der Zahlen des Freizeitmonitors 2024 zumindest zu fragen, wie dieser hohe Stellenwert den Alltag der Bundesbürger:innen prägt:14 So sind Theater/Oper/Klassikkonzert/Ballett (hier zusammengefasst) auf die sogenannte Blacklist verbannt, da 50 Prozent der Befragten angaben, diesen Freizeitaktivitäten „nie“ nachzugehen. Mindestens einmal im Jahr besuchen immerhin 30 Prozent der Bundesbürger:innen zwischen 18 und 74 Jahren diese Einrichtungen, Menschen, die dies öfter als einmal im Monat tun, sind selten (neun Prozent). Während für das Buch tatsächlich auf eine erhöhte Alltagsrelevanz geschlossen werden kann,15 gilt dies für das Theater also weit weniger – insofern nicht davon auszugehen ist, dass die gelesenen Bücher hauptsächlich aus der Reihe Suhrkamp Theater stammen. Spitzt man diese für die Gesamtgesellschaft erhobenen Zahlen weiter zu, ist Gabriele Paule rechtzugeben, dass Theater „im Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen eine eher geringe Rolle spielt“16. Anna R. Hoffmann und Benjamin Walter vermuten gar, dass die Kunstform „gerade bei den an Codes der digitalen und audiovisuellen Medien geschulten Heranwachsenden Abwehr, Langeweile und Desinteresse“17 bewirke. Diese Befunde sind für Liebhaber:innen des Theaters zwar betrüblich, doch nicht neu. Die Diskussion, ob schulische Dramenvermittlung noch zeitgemäß sei und nicht besser in einen im weitesten Sinne mediendidaktischen Unterricht zu integrieren wäre, flammt seit den 1970er Jahren immer wieder auf.18 Der Bedeutungsverlust des Theaters für die Lebenswelt der Schüler:innen spricht indes keinesfalls zwingend gegen eine Behandlung von Gegenwartsdramatik im Unterricht, sagt er doch wenig über spezifisch Gegenwärtiges oder Dramatisches aus. In einem zweiten Schritt werde ich

168 Felix Lempp deshalb die didaktischen Potenziale einer Behandlung zeitgenössischer Stücktexte im Literaturunterricht umreißen. Ich hebe den Textbegriff bewusst hervor, denn hier scheint mir eine Strategie zu liegen, mit der jener jahrzehntealten Drohung einer Auflösung des Dramenunterrichts im ­Medienunterricht zu begegnen wäre: in der Rückbesinnung auf das Drama als Text und damit als genuinen Gegenstand des Literaturunterrichts.

IV. Schon 2007 spricht Kammler von einer „problematische[n] Umkehrung“, in der als Reaktion auf die „vermeintlich immer noch ausschließlich auf die ‚(Schrift-)Text-Interpretation‘ fixierte[…] Unterrichtspraxis“ das Drama in den Schulen als literarische Gattung zu Gunsten der Aufführung zurückgestellt werde.19 Keineswegs möchte ich die Notwendigkeit einer Pers­ pektivweitung bei der Vermittlung von Theater wie Theatertexten hin zu Performativität und Spiel bestreiten (→ (Zu)Hören). Dramen- und Theaterunterricht sind eng verwandt, können ineinander übergehen und sind nicht gegeneinander auszuspielen. Doch scheint es mir für den Deutschunterricht zentral, den Dramentext als spezifische „Artikulationsform“20 mit eigenständiger Ästhetik ernst zu nehmen, die in der theatralen Insze­ nierung ebenso wenig aufgeht, wie diese reine Umsetzung des Dramas ist (→ Visualisieren). Auf der Bühne werden Dramen produktiv „einer Perspektive unterworfen, die nicht ihre eigene ist“21, wie es Theresia Birkenhauer formuliert. Dieser Eigenständigkeit – und: Widerständigkeit – des Theatertextes muss auch die Schule gerecht werden. Denn gerade im Vergleich mit anderen literarischen Gattungen bietet das Drama didaktische Potenziale, die der Literaturunterricht nutzen kann. Gattungstheoretisch tritt, anders als in Prosatexten, im Drama keine vermittelnde Erzählinstanz als „eine Art fundamentale Distanz“22 zwischen Rezipierende und Figuren. Natürlich ist es seit Peter Szondi eine Binsenweisheit, dass es um diese Absolutheit des Dramas nicht (mehr) weit her ist –23 eine solche Vorstellung vom Theater(Text) wird der Vielzahl von Spiel- und Schreibweisen insbesondere der Gegenwart kaum gerecht.24 Aber es bleibt doch die Tatsache bestehen, dass Theatertexte ihre Aufführung ermöglichen und verlangen (→ Verkörpern).

Hier setzen didaktische Überlegungen an, sind Dramen doch in diesem

Vermitteln 169 Sinne ergänzungsbedürftig.25 Schüler:innen leisten beim Lesen eigene „mentale[…] Inszenierungen“26 auf einer „inneren Bühne“27, die intermediale Transformations- und Adaptionspotenziale des Textes ausloten. Konturiert und adressiert wird bei der Dramenlektüre in den Worten Günter Waldmanns das „handlungsfähige Individuum“ – und dies eben nicht nur auf Ebene des Inhalts, sondern auch auf der der Lektüre: „Das Drama legt es so für seine Rezeption strukturell nahe, es selbst handelnd: aktiv und produktiv mitzuvollziehen“28 (→ Kritisieren).

V. Spezifischer nach den didaktischen Potenzialen der zeitgenössischen Dramatik gefragt, gilt für diese zunächst dasselbe Argument, das Sabine Pfäfflin für die schulische Behandlung von Gegenwartsliteratur insgesamt anführt: „Ein Deutschunterricht, der Schülerinnen und Schüler zur aktiven, reflektierten und selbstbestimmten Teilhabe an der Gegenwart […] anregen will“, kann nicht auf zeitgenössische Texte verzichten – Literatur der Gegenwart verhandelt „Herausforderungen der Gegenwart“.29 Dass Gegenwartsdramatik, anders als beispielsweise Gegenwartsromane, im Schulunterricht dennoch kaum behandelt wird, erklären Denk und Möbius unter anderem damit, dass zeitgenössische Stücke „es ab[lehnen], gezielt didaktisch sein zu wollen“30. Allerdings ist die widerstandslose Didaktisierbarkeit von Texten nicht nur ein zweifelhafter literarischer Qualitätsausweis, sondern auch eine zweifelhafte Empfehlung für den Unterrichtseinsatz. So betont Payrhuber, dass die pädagogischen Ziele der Dramendidaktik gerade nicht in einer „unkritisch affirmative[n] Übernahme der ‚Botschaft‘ respektive der didaktischen Tendenz des Dramas“31 liegen können. Auch der von Denk und Möbius referierte Erklärungsansatz, dass es „zunächst nicht möglich [erscheint], allgemein anerkannte Ziele des Literaturunterrichts, wie die Identitätsentwicklung, literarische Bildung oder Fremdverstehen mit Hilfe der neueren Dramatik zu erreichen“32, leuchtet nicht ein, insbesondere da die beiden selbst solche Potenziale skizzieren: [M]an kann nicht so tun, als sei alles leicht zu lösen, als sei alles noch so zu überblicken und zu erklären[.] […] Grenzen der Machbarkeit aufzuzeichnen, die daraus resultierenden Unsicherheiten

170 Felix Lempp zu thematisieren, warum sollten das nicht schulische Themen werden, angesichts derer Lehrer und Schüler gemeinsam angemessene Handlungsstrategien entwickeln können, ohne auf einfache Lösungen zu setzen.33 In der Tat – warum nicht? Und weiter gefragt: Sind die Verweigerung leichter Antworten, eine Tendenz zur formalen Innovation und die Absetzung von Gattungstraditionen nur Merkmale der Gegenwartsdramatik? Tatsächlich liegt gerade in dieser Widerständigkeit – Widerständigkeit gegenüber dramatischen Traditionen, einfachen Erschließungsversuchen (→ Deuten) oder pädagogischen Funktionalisierungen – ein didaktisches Potenzial zeitgenössischer Stücke, wie ich abschließend beispielhaft mit Blick auf ihre Form zeigen werde.

VI. Formal unterscheiden sich Stücke der Gegenwartsdramatik oft von Medien, die die Lernenden alltäglich konsumieren,34 aber auch von den in der Schule vermittelten dramatischen Formtraditionen. Statt Dialogen und Monologen sind sie weit häufiger geprägt durch „Versammlungen von Textformaten verschiedenster Art, Listen von Details, Beobachtungen und Erzählungen, Mitteilungen gedanklicher Positionen, den Einbezug von Prosa und Lyrik, dazu wissenschaftliche, journalistische, essayistische und medienaffine Textgestalten“35 (→ Betrachten). Eine Vermittlung von Gegenwartsdramatik im Literaturunterricht hat also der Herausforderung zu begegnen, dass sich zeitgenössische Schreibweisen „von den Dramen im traditionellen Sinne entfernen und dadurch unterrichtlich erprobte Formen hinter sich lassen“36.

Doch muss diese formale Differenz zu Dramentexten, deren Analyse mit den Schüler:innen eingeübt wurde, kein didaktischer Nachteil sein, entsprechen doch nach Denk und Möbius „Montage, Collage und Simultaneität oder Parallelschreibweisen“ der „eigenen Lebenswirklichkeit“ von Schü­ ler:in­nen, sodass es zweifelhaft erscheint, im Unterricht „auf Linearität als exklusive Möglichkeit einer dramatischen Schreibweise zu beharren“37. Die Tatsache, dass eingeübte Kategorien der Dramentextanalyse wie Handlung oder Figur ihre Verbindlichkeit verloren haben, sollte in der konkreten

Vermitteln 171 Unterrichtssituation auch „keinesfalls davon abhalten […], zunächst danach zu suchen, welche Rudimente oder Fundamente des Bekannten noch erkennbar sind“38. Gerade die Frage, wie aktuelle Schreibweisen dramatische Formtraditionen aufgreifen, negieren oder transformieren, kann Ausgangspunkt für ergiebige Unterrichtsgespräche sein, wie sich am Beispiel von Sonne, los jetzt!, dem ersten Teil von Elfriede Jelineks Theatertext Sonne/Luft (2022) zeigen lässt. Es handelt sich hierbei um einen jelinektypischen Textteppich, der jedoch die – didaktisch wertvolle – Besonderheit aufweist, dass sich die Sprecher:innenposition weitaus leichter und eindeutiger als in ­vielen anderen Stücken der Autorin bestimmen lässt. Es ist die Sonne, die in einem langen Monolog ihre Welt-Sicht ausführt: Schauen wir mal nach, darunter kräuselt sich die Flut, Berge gibt es auch, ja, alles unter mir, ich bin es. Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang. […] Ich bin ein fixer Stern, bewegt sich da endlich was? Erde: Bewegung! Im Donnergang arbeite ich mich voran und werfe mit Flammen[.]39 Gleich zu Beginn des Monologs (→ Anfangen) fällt die Bezugnahme auf einen Prätext ins Auge, der nach wie vor ein schulischer Lektüreklassiker ist, obwohl selbst der bayerische Gymnasiallehrplan Goethes Faust I inzwischen nicht mehr als verpflichtende Einzellektüre benennt. Doch tönt Jelineks Sonne in ganz anderer, gar nicht „alter Weise“, die nur wenig mit dem Gesang der Erzengel im „Prolog im Himmel“ zu tun hat. Sie ordnet sich keinem Gott unter, für dessen hohe Werke, Weisheit und Schöpfungskraft sie Zeichen wäre: „Alles dreht sich um mich und meine Werke“40, stellt sie stattdessen fest. Und auch mit der Sphärenharmonie ist es nicht weit her, wenn der Himmelskörper zugibt, dass über sein Flammenwerfen das „Land verdorrt“, schließlich „alles kaputt ist“ und von der menschlichen Zivilisation nur „eine Autobahn“ übrigbleibt.41 Aus dieser Neubestimmung der Sonne im Schöpfungswerk angesichts von Anthropozän und Klima­ krise lässt sich beispielsweise ein Unterrichtsgespräch über Veränderungen literarischer Sonnensymbolik in der Dramenliteratur entwickeln. Doch auch ein formaler und kategorialer Zugriff auf den Text bietet einiges an Diskussionspotenzial, ‚spricht‘ doch den gesamten Monolog die Sonne als

172 Felix Lempp mehr-als-humaner Akteur – Menschen kommen im Text weder zu Wort noch als handlungsmächtige Figuren in den Blick (→ Erkennen). So lässt sich auf Grundlage von Jelineks Stück mit den Schüler:innen auch die aktuelle gattungstypologische Frage bearbeiten, ob das auf menschliche Konflikte und menschliches Handeln ausgerichtete Drama fähig ist, eine „überzeugende theatrale Grammatik“ zu entwickeln, in der sich „die in Bewegung geratenen planetaren Parameter – wie die Erderwärmung […] – in dramatische Kontexte“ rückbinden lassen „und als Folge von Handlungen bestimmter Figurengruppen“ darstellbar werden, wie Frank-M. Raddatz Herausforderungen von aktueller Dramatik im Anthropozän nicht zuletzt als Formproblem umreißt.42 Die hier am Beispiel von Sonne, los jetzt exemplarisch skizzierten Zugriffe auf Gegenwartsdramatik schließen natürlich keinen Theaterbesuch aus. Doch sie deuten didaktische Potenziale an, die sich einer schulischen Vermittlung von zeitgenössischen Stücken als intertextuell, gattungstypologisch und motivisch erschlossener Literatur bieten.

1

Rudolf Denk/Thomas Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik. Eine Einführung, 3. erw. Aufl., Berlin 2017, S. 9.

2

Clemens Kammler: „Klassische Theaterstücke“, in: Praxis Deutsch 34 (2007), S. 6–13, hier: S. 6.

3

Euripides: Medea (Sachsen), Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (Bremen), Johann Wolfgang von Goethe: Faust I (Hessen), Friedrich Schiller: Maria Stuart (Sachsen), Bertolt Brecht: Leben des Galilei (Baden-Württemberg), Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame (Sachsen) und Ingeborg Bachmann: Der gute Gott von Manhattan (Baden-Württemberg).

4

Franz-Josef Payrhuber: „Dramen im Unterricht“, in: Günter Lange/Karl Neumann/Werner Ziesenis (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Grundfragen und Praxis der Sprach- und Literaturdidaktik, 2. Bd.: Literaturdidaktik: Klassische Form, Trivialliteratur, Gebrauchstexte, 8. unverändt. Aufl., Hohengehren 2003, S. 647 –668, hier: S. 650.

5

Clemens Kammler: „Drama“, in: Jürgen Baurmann/ders./Astrid Müller (Hg.): Handbuch Deutschunterricht. Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens, 2. Aufl., Seelze 2019, S. 156–159, hier: S. 156. Dies ist im Fall von Prosa anders: Während Gegenwartsliteratur nach Sabine Pfäfflin: Auswahlkriterien für Gegenwartsliteratur im Deutschunterricht, 3. korr. u. überarb. Aufl., Baltmannsweiler 2024, S. 1 bis Mitte der 1990er Jahre insgesamt einen schweren Stand in der Schule hatte, finden sich heute auf den erwähnten Prüfungslisten auch aktuellere Romane wie Juli Zehs Corpus Delicti (2009) oder Saša Stanišićs Herkunft (2019).

6

Vgl. für einen allgemeinen Forschungsüberblick Jan Standke: „Gegenwartsdramatik, Theaterkultur und Literaturunterricht“, in: ders. (Hg.): Drama und Theater der Gegenwart. Literarisches Lernen und ästhetische Bildung zwischen Textanalyse und Aufführungsrezeption, Trier 2021, S. 1–13, hier: S. 3–5. Vgl. zum Bereich der Kinder- und Jugenddramatik Henning Fangauf: „Es muss nicht immer Schiller sein. Zeitgenössische Jugenddramen im Deutschunterricht“, in: Wolfgang

Vermitteln 173 Schneider (Hg.): Theater und Schule. Ein Handbuch zur kulturellen Bildung, Bielefeld 2009, S. 185–194, spezifisch zum Bereich des ökologischen Kinder- und Jugendtheaters Elisabeth Hollerweger: „Tanzen gegen die Planetenexplosion. Didaktische Potenziale der Kriseninszenierung im Kindertheater“, in: kjl&m 4. Jg. (2020), S. 64–69; sowie Felix Lempp: „Dramatische Texte als Medien der ökologischen Kinder- und Jugendliteratur“, in: Jana Mikota/Carmen Sippl (Hg.): Ökologische Kinder- und Jugendliteratur. Grundlagen – Themen – Didaktik, Innsbruck/Wien 2024, S. 99–111.

7

Vgl. aber Standke: Gegenwartsdramatik, S. 5f., der auf das Problem hinweist, dass abseits der Auswertung von staatlichen Prüfungsvorgaben bisher wenig belastbare empirische Studien zur Berücksichtigung von Gegenwartsdramatik im Literaturunterricht vorliegen.

8

Vgl. z. B. Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 15; Kammler: Drama, S. 157 sowie Hollerweger: Tanzen gegen die Planetenexplosion, S. 64.

9

Vgl. Stefan Schroeder/Raphaela Tkotzyk: „Zwischen traditionellen Formen und aktuellen Performancekulturen. Wie bewältigt man Drama und Theater der Gegenwart im Unterricht?“, in: Jan Standke (Hg.): Drama und Theater der Gegenwart. Literarisches Lernen und ästhetische Bildung zwischen Textanalyse und Aufführungsrezeption, Trier 2021, S. 27–42, hier: S. 27.

10

Vgl. Pfäfflin: Auswahlkriterien, S. 10f.

11

Gabriele Paule: „Theater“, in: Jürgen Baurmann/Clemens Kammler/Astrid Müller (Hg.): Handbuch Deutschunterricht. Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens, 2. Aufl., Seelze 2019, S. 234 –235, hier: S. 234 gibt zu bedenken, dass die didaktische Vor- und Nachbereitung eines Aufführungsbesuchs im Lehramtsstudium für das Fach Deutsch bisher keine große Rolle spielt. Lehrkräfte müssen sich hier selbst aktiv um Fortbildungen bemühen – die im Bereich des Gegenwartsdramas nach Standke: Gegenwartsdramatik, S. 11 insgesamt eher spärlich angeboten werden.

12

Vgl. Kammler: Drama, S. 157.

13

Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 23.

14

Vgl. für die folgenden Zahlen Stiftung für Zukunftsfragen (Hg.): Freizeit-Monitor 2024, 10. April 2025 (https://www.freizeitmonitor.de, Zugriff am 18.6.2025).

15

Hier gaben 70 Prozent der Befragten an, mindestens einmal im Jahr ein Buch zu lesen, 52 Prozent taten dies öfter als einmal im Monat, 34 Prozent sogar wöchentlich.

16

Paule: Theater, S. 234. Allerdings ist anzumerken, dass durch den Alterszuschnitt der im Freizeit-Monitor Befragten (18 bis 74 Jahre) die Übertragung der Ergebnisse auf Jüngere problematisch erscheinen könnte. Die Annahme, dass Kinder und Jugendlichen bis zur Volljährigkeit regelmäßig das Theater besuchen, dieses Verhalten ab 18 Jahren aber plötzlich einstellen, erscheint jedoch nicht plausibel, sodass die Erhebungen des Freizeit-Monitors zumindest als Richtwert Gültigkeit haben. Mindestens wäre angesichts der Zahlen eine etwa vorhandene breite Theaterbegeisterung von Kindern und Jugendlichen nicht nachhaltig.

17

Anna R. Hoffmann/Benjamin Walter: „Inter- und Transkulturalität in Drama und Theater“, in: Christian Dawidowski/dies. (Hg.): Interkulturalität und Transkulturalität in Drama, Theater und Film.

Literaturwissenschaftliche und -didaktische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2015, S. 43–71, hier: S. 56.

18

Vgl. Payrhuber: Dramen im Unterricht, S. 647.

19

Kammler: Klassische Theaterstücke, S. 7.

174 Felix Lempp 20

Klaus Riedel/André Studt: „Bewältigung manchmal bedrängender Wirklichkeit. Über die Auseinandersetzung mit Gegenwartsstücken – und der Gegenwart in Stücken“, in: Schultheater.

Wahrnehmung – Gestaltung – Spiel, 37. Jg. (2019): Gegenwart in Stücken, S. 4 –7, hier: S. 7.

21

Theresia Birkenhauer: „Die Zeit des Textes im Theater. Die Bühne als Ort für mit jeder Inszenierung neue Spracherfahrungen“, in: Schultheater. Wahrnehmung – Gestaltung – Spiel, 37 Jg. (2019): Gegenwart in Stücken, S. 42–44, hier: S. 43.

22

Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 107.

23

Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a. M. 1956.

24

So stellt Klaus Riedel fest, dass in der Gegenwartsdramatik der Dialog zwischen Figuren tendenziell in seiner Bedeutung abnimmt und sich stattdessen „Textgestalten […] als Mitteilung, als Ausdruck von Befindlichkeiten und Ansichten direkt zumeist an das Publikum wenden und so mit diesem in Dialog treten“ (Riedel/Studt: Bewältigung manchmal bedrängender Wirklichkeit, S. 5). In diesem dramatischen Dialog liegt als Modus der Erkenntnisförderung und -generierung auch didaktisches Potenzial für weitere Schulfächer wie Philosophie.

25

Vgl. Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 97.

26

Ebd., S. 16.

27

Payrhuber: Dramen im Unterricht, S. 662.

28

Günter Waldmann: Produktiver Umgang mit dem Drama, Baltmannsweiler 2017, S. 2.

29

Pfäfflin: Auswahlkriterien, S. 9.

30

Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 151.

31

Payrhuber: Dramen im Unterricht, S. 650.

32

Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 151f.

33

Ebd., S. 152.

34

Vgl. Riedel/Studt: Bewältigung manchmal bedrängender Wirklichkeit, S. 5.

35

Ebd.

36

Schroeder/Tkotzyk: Zwischen traditionellen Formen und aktuellen Performancekulturen, S. 27 f.

37

Denk/Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 152.

38

Schroeder/Tkotzyk: Zwischen traditionellen Formen und aktuellen Performancekulturen, S. 30.

Vgl. für eine ausführliche didaktische Diskussion der Potenziale traditioneller Kategorien der Dramentheorie bei der Analyse aktueller Stücktexte ebd., S. 31–40.

39

Elfriede Jelinek: „Sonne/Luft“, Stückabdruck in: Theater heute 2 (2023), S. 3.

40

Ebd., Hervorhebung F. L.

41

Ebd., S. 4.

42

Frank-M. Raddatz: Das Drama des Anthropozäns, Berlin 2021, S. 8.

175

Pola Groß SCHLUSSMACHEN

Als Schlusspunkt des dramatischen Geschehens kommt dem Ende von Theatertexten eine besondere Bedeutung zu. Aristoteles beschreibt mit Auflösung, Peripetie und Wiedererkennen drei unterschiedliche Arten von Dramenenden, die Französische Klassik lässt die Tragödie zumeist in der Katastrophe, die Komödie in der glücklichen Wendung münden. Das moderne Drama des 20. Jahrhunderts wiederum präferiert das offene Ende, das keine abschließende Auflösung des Konflikts mehr anbietet.1 Trotz seiner besonderen Bedeutung hat sich die Forschung bislang kaum mit dem Dramenende beschäftigt.2 Der vorliegende Beitrag möchte dies zumindest mit Blick auf die jüngste deutschsprachige Gegenwartsdramatik ändern.

Vor dem Hintergrund sowohl der historischen Traditionslinien als auch gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen fragt er nach aktuellen Tendenzen zu schließen: Wie wichtig sind Gattungskonventionen noch oder wieder? Wie kommen Stücke ohne kohärenten Handlungsablauf zum Schluss? Und gibt es heute überhaupt Happy Ends? Im Folgenden möchte ich drei zeitgenössisch dominante Formen des Endes vorstellen und diskutieren. Im Fokus stehen ausgewählte neuere Theatertexte,3 die durch ihre Themenwahl, Autorschaft und formale Umsetzung unterschiedliche Richtungen der avancierten Dramatik aus den letzten zehn Jahren (2015 bis 2025) repräsentieren. Die Textauswahl muss an­ gesichts der Vielzahl und Vielfalt zeitgenössischer Theaterstücke freilich trotzdem exemplarisch bleiben.

I. Nach der Katastrophe Auch heute noch ist die Katastrophe ein bevorzugtes Mittel, den dramatischen Text zu beenden – allerdings in modifizierter Weise. In der Gegenwartsdramatik markiert sie weniger den Wendepunkt der tragischen Handlung, an dem sich das Schicksal der Figur zwischen Glück und Unglück entscheidet. Sie dient auch nicht der Darstellung individueller Schicksals-

176 Pola Groß schläge, sondern bedeutet vielmehr das Los der gesamten Menschheit oder gleich des ganzen Planeten – in der Regel ausgelöst durch die drastischen Folgen des menschengemachten Klimawandels. So endet etwa das Theaterstück Farn Farn Away des Autor:innenduos Sokola//Spreter von 2022,4 das das Zusammenleben des Menschen mit künstlicher und pflanzlicher ­Intelligenz behandelt, mit der Auslöschung der Menschheit. Folgerichtig passiert im letzten Akt des klassisch fünfaktig aufgebauten Stücks gar nichts mehr: Nur der Nebentext informiert noch darüber, dass die letzte lebende Person, ICH, „zum Zeichen am Himmel“5 wurde.

Die Klimatrilogie des mehrfach ausgezeichneten Dramatikers Thomas Köck, die aus den Stücken paradies fluten (2016), paradies hungern (2015) und paradies spielen (abendland. ein Abgesang) (2017) besteht und das Verhältnis von Kolonialismus, Kapitalismus und Naturausbeutung verhandelt, endet ebenso mit Zerstörung und Tod. Im dritten Teil paradies spielen rast ein Zug in ein Hotel, der Schaffner erschießt die Überlebenden, der Nebentext ­fordert sarkastisch „standing ovations“6. Damit endet die fünf Akte umfassende Haupthandlung, auf die eine Epode folgt. Diese bezieht sich auf den Prolog, in dem es um die Schwierigkeit eines Sohnes geht, den Vater zu besuchen und anzuschauen, der mit schwersten Verbrennungen im Krankenhauszimmer liegt, nachdem er sich selbst angezündet hat. Die Epode verknüpft den individuellen Schmerz mit den großen globalen Katastrophen: „die grenzen sind jetzt wieder zu die / wunden sind noch offen“.7 Wie Farn Farn Away endet die Klimatrilogie formal mit einem einzigen Satz des Nebentextes – der Spielanweisung „quest’ e l’verno ma tal che gioia apporte“8 –, auf die allerdings kein Spiel mehr folgt, sondern nur noch eine leere Seite. Musikkenner:innen werden diesen Satz, der im Deutschen „So ist der Winter. Doch bringt er auch Freude“ lautet, vermutlich als den Schlusssatz des Winter-Sonetts aus Antonio Lucio Vivaldis Violinkonzert Die vier Jahreszeiten von 1725 erkennen. Jedem der vier Einzelkonzerte ist ein vermutlich von Vivaldi selbst geschriebenes Sonett vorangestellt.

Sivan Ben Yishais Bühnenbeschimpfung (2022), das von Theater heute zum Stück des Jahres 2023 gekürt wurde und dessen Haupthandlung eine Abrechnung mit dem zeitgenössischen Theaterbetrieb darstellt, endet mit einem verheerenden Brand, der zuerst das Theater, schließlich den gesamten

Schlussmachen 177 Planeten erfasst. Der letzte Satz der Haupthandlung beschreibt das Feuer als eines, „das nicht ausgeht, das, nach dem nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr zu retten sein wird“9. Doch zumindest der Theatertext will es nicht bei dieser völligen Destruktion belassen und endet wie bei Köck auch bei Ben Yishai nicht mit dem Ende der Haupthandlung. Auf diese folgt eine sachlich gehaltene Schilderung der jahrhundertealten fernöstlichen Tradition des alle zwanzig Jahre stattfindenden, vollständigen Ab- und Wiederaufbaus des Ise-Jingû-Schreins. Ähnlich den barocken Reyen unterbrechen solche Schilderungen als Zwischentexte die gesamte Haupthandlung von Bühnenbeschimpfung. Sie bilden eine Allegorie nicht nur auf den zeitgenössischen Theaterbetrieb, dem Regeneration und Erneuerung ebenfalls guttäten, sondern auf den Zustand des gesamten Planeten.

Dass alle drei Theatertexte mit Neben- oder Zwischentexten enden, zeigt, wie wenig sie der Figurenrede und damit auch der Handlungsfähigkeit der Einzelnen noch zutrauen. Während allerdings bei Farn Farn Away nach der Katastrophe nichts mehr kommt, wird ihr in paradies spielen und Bühnenbeschimpfung durch die Nach- bzw. Zwischenspiele eine weitere Perspektive hinzugefügt und das Konzept ‚Katastrophe‘ damit dramaturgisch erweitert. Indem auf die absolute Zerstörung am Ende der Haupthandlung von Bühnenbeschimpfung noch eine Meditation über den Ab- und Wiederaufbau des Ise-Jingû-Schreins folgt, wird der Katastrophe eine an Donna Haraway und Eve Kosofsky Sedgwick geschulte reparative Ästhetik entgegengesetzt, die auf Trost, Heilung und Resilienz setzt.10 Gerade der Kon­trast von Apokalypse und Wiederaufbau lässt die Botschaft des Stücks umso deutlicher hervortreten: Das Theater, die Gesellschaft, die Erde brauchen „eine Umformung, eine Dekonstruktion, eine Neuprogrammierung“11, ansonsten ist die Katastrophe unausweichlich.

Bei Köck ist das Ende geschichtet: Auf Haupthandlung und Epode folgt die Vivaldi-Spielanweisung ohne Spiel, auf diese schließlich noch ein ‚­Abspann‘, in dem der Autor seine Inspirationsquellen offenlegt und sich für die Lektüre bedankt. Tröstend ist dieses hinausgezögerte Ende allerdings nicht. Einzig das Vivaldi-Zitat lässt noch einen Funken Hoffnung ­aufblitzen, der Katastrophe doch noch etwas entgegensetzen zu können. In diesem Sinne ist es als poetologischer Kommentar zu verstehen, der außer-

178 Pola Groß dramatischen Wirklichkeit durch die dramatische Form Widerstand zu ­leisten – ähnlich wie Vivaldi in den Vier Jahreszeiten den Widerspruch ­zwischen dem außermusikalischen Programm in den Sonetten und den Anforderungen der musikalischen Form aushält.

II. Kein Ende Die wohl häufigste zeitgenössische Form, den Theatertext zu beenden, ist das nicht endende Ende, das an den offenen Schluss des modernen Dramas erinnert.12 Wie z. B. bei Samuel Beckett wird nicht ein einmaliger Konflikt dargestellt, der gelöst werden könnte, sondern ein andauernder, krisen­ hafter Zustand: Das Geschehen verbleibt entweder im Krisenmodus oder das Ende mündet wieder in den Anfang und alles beginnt von vorne. Ein prägnantes Beispiel für die erste Variante ist Rebekka Kricheldorfs ­Gesellschaftssatire Die Guten von 2022, in der die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Mäßigung sich über den aktuellen moralischen Stand der Menschheit unterhalten. Dass es um diesen nicht sonderlich gut bestellt ist, zeigt sich auch an den vier personifizierten ­Tugenden selbst, die angesichts der Krisen des 20. und 21. Jahrhunderts ihre eigenen Fertigkeiten nicht mehr richtig beherrschen: Die Gerechtigkeit nimmt Antidepressiva, die Mäßigung träumt vom Rausch. Eine Lösung ist nicht in Sicht, was der Theatertext über ein etisches Gestaltungsmerkmal markiert: Der Nebentext fordert „Ab hier: Fade out“13, die Figuren reden weiter wie bisher.

In Enis Macis 2018 uraufgeführtem und 2019 für den Mülheimer ­Dramatikerpreis nominiertem Theaterstück Mitwisser werden die drei im Zentrum der Handlung stehenden Gewaltverbrechen nicht als Taten dreier Einzeltäter verstanden, ihnen liegt vielmehr eine kollektive Struktur der Mitwisser- und Mittäter:innenschaft zugrunde, die durch das Web 2.0 begünstigt wird. Das Stück folgt keiner chronologischen Handlungsabfolge, alle Geschehnisse verlaufen gleichzeitig und sind miteinander verknüpft.

Das Stück endet nicht mit der Aufklärung der Verbrechen, sondern mit den Diskussionen und Kommentaren über sie im Internet. Der letzte Satz eines Users, „wait i don’t like this video cmon man do some interesting funny things“14, bagatellisiert das durch die Gewalttaten entstandene Leid und

Schlussmachen 179 kann im Sinne der im Stück entfalteten Logik der Mitwisser:innenschaft als Anstiftung zu neuen Taten verstanden werden.

Sarah Kilters preisgekröntes Debütstück White Passing von 2022 beschäftigt sich mit Identitätsfragen und entsprechenden Zuschreibungen. Es verbindet dabei die individuelle postmigrantische Biografie der Protago­ nistin mit allgemeineren Beobachtungen der Ambivalenzen und Widersprüche der deutschen Gesellschaft. Obwohl sich, wie das Stück humorvoll aufzeigt, der Diskurs in den letzten Jahren hin zu größerer politischer und sprachlicher Korrektheit verändert hat, hat sich an der Sicht auf Personen mit migrantischer oder postmigrantischer Biografie nur wenig geändert.

So endet die Binnenhandlung des Stücks mit exakt derselben Szene, die die Protagonistin Jahre zuvor erlebt hat. Und auch die beiden Theaterzuschauer:innen mit akademischem Hintergrund, die die Binnenhandlung des Stücks metaleptisch kommentieren und auf Plausibilität hin beurteilen, bleiben in ihren Vorurteilen verhaftet und lernen rein gar nichts. Ihr finales Gespräch unterscheidet sich inhaltlich in keiner Weise von ihrem ersten am Anfang des Stücks.

White Passing lässt sich damit sowohl der ersten Variante des nichtendenden Endes zuordnen als auch der zweiten, in der das Ende wieder in den Anfang mündet. Konsequent ist das in Sibylle Bergs von Theater heute zum Stück des Jahres 2021 gewähltem Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden. Das Ende einer Serie (2020) umgesetzt. Das Stück endet exakt mit denselben beiden Absätzen, mit denen es auch beginnt. Nicht nur geht der Text also wieder von vorne los, sondern die Unterscheidung von Anfang und Ende ist letztlich auch aufgehoben – der Prolog bedeutet bereits das Ende, der Epilog ist der Anfang der schlechten Unendlichkeit: „die Welt, die wird sich weiterdrehn. / [...] als habe diese eine Leiche / niemals geweint, geliebt, gelacht – / als wäre sie nie dagewesen, / als hätten alle ihre Jahre, ihr Sein einfach / nichts gemacht“.15 Damit endet Bergs vierteilige Theaterserie, deren vorhergehende Stücke Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen (2013), Und dann kam Mirna (2015) und Nach uns das All (2017) zumindest noch utopische Momente enthalten, mit absoluter Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit: Der Tod eines Menschen bedeutet nichts, alles geht weiter wie gewohnt.

180 Pola Groß Eine Änderung ist auch in Emre Akals 2020 mit dem exil-Dramatiker:innenpreis ausgezeichneten Stück Hotel Pink Lulu – die Ersatzwelt (2021) nicht in Sicht. Die künstliche Intelligenz Lulu 6.0 erfüllt den Besucher:innen ihres Hotels alle Wünsche und lässt sie jede Identität annehmen, die sie möchten. Auch dieses Stück endet bis auf minimale sprachliche Ab­ weichungen, wie es begonnen hat. Einen „Exit“16 aus dem vom Stück ­durchexerzierten Zusammenhang von digitaler Abhängigkeit, Klassismus, Diskriminierung und ökonomischer Ausbeutung gibt es nicht. Auch hier ändert der Tod einer Besucherin nichts, Lulu 6.0 begrüßt die folgenden Besucher:innen mit denselben Worten wie zu Beginn.

Bemerkenswert ist, dass die hier vorgestellten Stücke alle mit Figurenrede oder, im Falle von Bergs Text, mit der Rede einer dramatischen Instanz enden. Einzelne Stimmen, mitunter auch Figuren spielen in diesen Theatertexten also eine größere Rolle, allerdings in der Regel nicht als psychologische Charaktere, die eine Entwicklung durchmachen, sondern als ­exemplarischer Fall oder als Diskursposition. Die Stücke weisen eine eher zirkuläre Struktur auf und demonstrieren vor allem die Permanenz des von ihnen identifizierten Missstands – was als Ausdruck nicht enden wollender Dauerkrisen und multipler Krisenerfahrungen der Gegenwart naheliegend erscheint.

III. Schluss mit Klassiker Einer der großen Theatertrends des Gegenwartstheaters ist die Klassikerüberschreibung. Das hat auch Konsequenzen für das Ende, denn schließlich muss sich die Überschreibung, anders als komplett neu geschriebene Stücke, zu einem bereits vorgegebenen Ende und zu bestimmten Gattungskonventionen verhalten. Grob gesagt behält die Neusetzung entweder ­Figuren und Grundkonflikt des Klassikers bei, aktualisiert sie und versetzt sie in die Gegenwart, oder aber sie setzt ein Gegennarrativ und versucht vor allem, die Schwächen des alten Textes offenzulegen.17 Die Tschechow-Überschreibung Sistas!, mit der die Dramatikerin Golda Barton 2023 in einer Kritikerumfrage von Theater heute zur Nachwuchs­ autorin des Jahres gekürt wurde, wählt den ersten Weg: Die Grundkonstellation behält sie bei, versetzt die drei Schwestern aber ins Berlin der 1990er

Schlussmachen 181 Jahre und verleiht ihnen eine afrodeutsche Identität. Die Gespräche der drei Schwestern drehen sich ganz auf der Diskurshöhe der Zeit um strukturellen Rassismus, kulturelle Aneignung und Identitätspolitik. Erhellend an dieser auch den Theaterbetrieb und seine unausgesprochenen Regeln reflektierenden Überschreibung ist, dass die Figuren, ähnlich wie bei Anton Tschechow, moralisch nicht eindeutig bestimmt werden; sie sind sowohl Opfer von rassistischen und sexistischen Zuschreibungen als auch selbst nicht frei von Stereotypen und Ressentiments.18 Das Stück endet mit einem Monolog der jüngsten Schwester Ivy, in dem sie sich eine utopische Zukunft ohne jegliche Vorverurteilung und Diskriminierung vorstellt. Dieser Schluss knüpft an Tschechows Text an, an dessen Ende Irina als Einzige in eine entwicklungsfähige Zukunft schaut. Mit der an postkolonialer Literatur orientierten kämpferischen Betonung der Kraft von Hoffnung angesichts der Hoffnungslosigkeit weist Bartons Ende aber auch über Tschechows Klassiker hinaus.

Zur zweiten Variante aktueller Klassikerüberschreibungen zählt Sivan Ben Yishais 2024 uraufgeführte und im selben Jahr mit dem Mülheimer Dramatikpreis ausgezeichnete Überschreibung Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert, in der sie Henrik Ibsens Klassiker einer klassismuskritischen Relektüre unterzieht. Die Bühnenfigur der Nora wird als Ikone des bürgerlichen Feminismus gezeigt, die seit rund 140 Jahren ihre Geschichte weltweit vermarktet und aus Kostengründen nach und nach die Nebenfiguren einspart. Diese wandern aus Protest in die Fußnoten, rächen sich mit einem Aufstand und besetzen das Haus, das am Ende von Würmern und Maden zerfressen wird, damit etwas Neues entstehen kann. Die letzten Worte wechseln hier nicht Helmer und Nora, stattdessen räumen Textflächen, die als Rede nicht mehr eindeutig einer einzelnen Figur zugeordnet werden können, mit der im Stück dargestellten heteronormativen Familienideologie ebenso auf wie mit der männerdominierten Theater­ tradition. Der Schluss versteht sich als Aktualisierung und Radikalisierung von Ibsens Nora: Am Ende steht nicht die bürgerlich privilegierte Emanzipation einer einzigen Frau, sondern die vollständige Verrottung eines heteronormativen, klassistischen und auf Privilegien basierenden Systems.

Dass damit auch der Theaterbetrieb selbst gemeint ist, verdeutlicht u. a. eine stückinterne Kritik an der deutschen Erstaufführung der Nora von 1880,

182 Pola Groß bei der zum Schutz der Institutionen Ehe und Familie, die durch Ibsens Ende als gefährdet angesehen wurden, der Schluss kurzerhand geändert wurde – Nora blieb bei Mann und Kindern. Mit dieser Kritik prangert Yishais Nora nicht nur die Doppelmoral der deutschen Erstaufführung an, die sich mitnichten daran störte, dass das Kindermädchen ihre eigene Familie und Kinder verließ, um im Haus von Noras Vater zu arbeiten. Sie betont auch die sozial-politische Bedeutung, die dem Ende von Theaterstücken beigemessen wird, und ist insofern auch als poetologische Reflexion der eigenen Umschreibung zu verstehen.

Allein der Form nach drücken die Enden der überschriebenen Klassiker immer auch ein stückweit die Hoffnung aus, dass Veränderung noch möglich sei – ansonsten müsste man einen alten Stoff schließlich nicht umschreiben, aktualisieren, kritisieren oder überschreiben. Aber auch auf der inhaltlichen Ebene halten zumindest die beiden hier diskutierten Überschreibungen an der Hoffnung auf eine veränderte Zukunft oder eine ­Erneuerung überkommener Strukturen fest.

Neben den drei hier skizzierten dominanten Formen, aktuell dramatisch zu enden, gibt es freilich noch weitere Tendenzen. Dazu zählt, wie oben bereits angedeutet, eine Ästhetik des Reparativen, der sowohl das ­Bedürfnis nach Fürsorge und Trost zugrunde liegt als auch die Frage, wie man im Zeitalter globaler Dauerkrisen ästhetisch überhaupt noch produktiv und jenseits des Konzepts ‚Katastrophe‘ auf diese reagieren kann (→ Lachen).

Andere Theatertexte setzen auf ambivalente oder multiple Enden, um angesichts der globalen Krisen zu signalisieren, dass es noch – wenn auch nur wenige – Handlungsoptionen gibt. Ein Beispiel für letzteres ist Magdalena Schrefels Stück was zündet, was brennt (2022), das am Schluss mit den MacBedienungshilfesymbolen für ‚schließen‘, ‚minimieren‘ und ‚vergrößern‘ drei verschiedene Enden anbietet, zwischen denen die Rezipient:innen wählen können.

Insgesamt lässt sich in der Gegenwartsdramatik eine Hinwendung zum Politisch-Moralischen beobachten, die sich, wie etwa in Wolfram Hölls 2019 uraufgeführtem Stück Disko (→ Vertonen), darin zeigen kann, dass das Ende die persönliche Haltung des Autors artikuliert. Auch die Enden von Yishais Theatertexten, die hier diskutiert wurden, beziehen mit ihren

Schlussmachen 183 Forderungen nach Umformung und Erneuerung moralisch und politisch eindeutig Stellung. Nicht weniger politisch, aber vielleicht weniger eindeutig ist das Ende von Caren Jeß’ preisgekröntem Stück Die Katze Eleonore (2022) konzipiert. Anders als viele zeitgenössische Stücke steuert Jeß’ Monolog ganz im Sinne des dramatischen Prinzips der Finalität direkt auf sein Ende zu: Die Katzwerdung von Eleonore. Konsequent besteht der gesamte dritte Akt aus Nebentext: Eleonore spricht nicht mehr, sie streunt als Katze durch den Garten. Als letztes wird der Strom in ihrem Haus abgestellt. Eleonores Leben als Mensch ist beendet, zugleich ist damit ein neuer Anfang markiert: Es lebe die Katze! Jeß’ komisches Verwandlungsstück ist eine Parabel auf aktuelle gesellschaftliche Kämpfe um Geschlechtsidentität, individuelle Lebensentwürfe und Ausstiegsfantasien, allerdings ohne eindeutige moralische Botschaft, denn es bleibt offen, ob es nun die Gesellschaft ist, die Eleonore zur Katze macht, oder ob Eleonore, wie das Staatstheater Saarbrücken vermutet, selbstbewusst „[e]iner Welt, die vor die Hunde geht, stolz erhobenen Schwanzes das Arschloch“19 zeigt. Während das Stück für Katze Eleonore gut ausgeht, scheint es in der neusten Gegenwartsdramatik ansonsten allerdings eher schlecht um Happy Ends bestellt zu sein.

1

Vgl. Peter M. Boenisch: „Grundelemente (2): Formprinzipien der dramaturgischen Komposition“, in: Peter W. Marx (Hg.): Handbuch Drama, Stuttgart 2012, S. 122–144.

2

Eine Ausnahme ist Oliver Simons: Literary Conclusions. The Poetics of Ending in Lessing, Goethe, and Kleist, Evanston 2022. Zuletzt widmeten sich einige größere literatur- und kulturwissenschaftliche Tagungen Praktiken, Ästhetiken und Geschichten des Aufhörens, allerdings auch ohne Bezug zur Dramatik; vgl. Final Issues. Endings in Modern Intellectual History, ZfL Berlin, 10. bis 11.10.2024; Auserzählt. Narrative vom Ende und das Ende der Narrative, ­Hamburger Institut für Sozialforschung, 28. bis 30.11.2024; Das war’s. Praktiken und Ästhe­ tiken des Aufhörens, KWI Essen, 6. bis 7.3.2025; 404 Not Found. Documentary Ends, Bochum, 8. bis 10.5.2025.

3

Im Folgenden wird der Begriff ‚Theatertext‘ anstelle des älteren Begriffs ‚Dramentext‘ ­verwendet, da ersterer die Entwicklung der Texte, die sich nicht mehr an der traditionellen Dramenform orientieren, begrifflich besser zu fassen vermag; vgl. dazu immer noch grundlegend Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext: aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse, Tübingen 1997, S. 38–42. Im Fokus stehen Theatertexte im engen Sinne, also von einem Autor oder einer Autorin schriftlich verfasste Vorlagen, keine Stück­ entwicklungen, Romanadaptionen oder dokumentarischen Formen.

4

Im Folgenden wird immer das Jahr der Uraufführung angegeben, da nicht alle der Theatertexte vorher bereits als Text veröffentlicht wurden.

184 Pola Groß 5

Sokola//Spreter: Farn Farn Away, PDF-Fassung des Felix Bloch Erben Verlag 2022, S. 45.

6

Thomas Köck: „paradies spielen (abendland. ein abgesang)“, in: ders.: Klimatrilogie, 2. Aufl., Berlin 2018, S. 159–283, hier: S. 272.

7

Köck: „paradies spielen“, S. 279.

8

Ebd., S. 282. Im Original heißt es: „Quest’è ‘l verno, ma tal, che gioia apporte“.

9

Sivan Ben Yishai: Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?).

Deutsch v. Maren Kames. PDF-Fassung des Suhrkamp Verlags 2022, S. 70.

10

Vgl. grundlegend Donna Haraway: Staying with the Trouble: making kin in the Chthulucene, Durham/London 2016 und Eve Sedgwick Kosofsky: „Paranoid reading and reparative reading, or you’re so paranoid, you probably think this essay is about you“, in: dies.: Touching ­feeling: affect, pedagogy, performativity, Durham 2003, S. 123–151.

11

Ben Yishai: Bühnenbeschimpfung, S. 71.

12

Vgl. zu nichtendenden Textenden, allerdings ohne Bezug auf das Drama: Hektor Haarkötter: Nicht-endende Enden. Dimensionen eines literarischen Phänomens, Würzburg 2007; zum offenen Dramenende vgl. Manfred Pfister: Das Drama, 11. Aufl, Stuttgart 2001, S. 140–142.

13

Rebekka Kricheldorf: Die Guten, PDF-Fassung der Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH 2022, S. 52.

14

Enis Maci: Mitwisser, PDF-Fassung des Suhrkamp Verlags 2018, S. 70.

15

Sibylle Berg: Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden. Das Ende der Serie. Stückabdruck in: Theater heute 10/2020, S. 10.

16

Emre Akal: Hotel Pink Lulu – die Ersatzwelt, Stückabdruck in: Theater heute 01/2022, S. 21.

17

Vgl. Christine Wahl: „Der Depp als Dauerzustand. Zur Logik der zeitgenössischen Klassikerüberschreibung“, in: nachtkritik.de, 5. Januar 2024 (https://nachtkritik.de/index.php?­ option=­com_content&view=article&id=23287:zur-logik-der-zeitgenoessischen-klassiker­ueber schreibung&catid=101:debatte, Zugriff am 3.3.2025); vgl. auch Franz Wille: „Überschreibung, schwere Schreibung“, in: Theater heute 12/2024, S. 16–19.

18

Vgl. Wahl: „Der Depp als Dauerzustand“.

19

Ankündigungstext von: Die Katze Eleonore. Saarländisches Staatstheater (https://www.staatstheater.saarland/detail/die-katze-eleonore, Zugriff am 3.3.2025).

185

TEXTVERZEICHNIS:

Sina Ahlers: Schamparadies, Berlin: Felix Bloch Erben 2020. S. 69 Emre Akal: Hotel Pink Lulu – Die Ersatzwelt, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2021. S. 180 Raphaela Bardutzky: Fischer Fritz, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH 2021. S. 57 Lukas Bärfuss: Öl, Göttingen: Wallenstein 2009. S. 134 Golda Barton: Sistas!, Berlin: henschel Schauspiel Theaterverlag 2022. S. 180 Ewe Benbenek: Juices, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2023. S. 60 f.

Ewe Benbenek: Tragödienbastard, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2021. S. 59, S. 61 Sivan Ben Yishai: Bühnenbeschimpfung, Berlin: Suhrkamp Theater 2022. S. 176 f.

Sivan Ben Yishai: Like Lovers Do (Memoiren der Medusa), Berlin: Suhrkamp Theater 2022. S. 128 Sivan Ben Yishai: Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert, Berlin: Suhrkamp Theater 2023.

S.68 f., S. 181 f.

Sibylle Berg: Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen, Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2013.

S. 179 Sibylle Berg: Und dann kam Mirna, Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2015. S. 179 Sibylle Berg: Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden. Das Ende einer Serie, Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2020. S. 179 Sibylle Berg: Nach uns das All oder Das innere Team kennt keine Pause, Hamburg: Rowohlt Theater Verlag 2017. S. 179 Sibylle Berg: RCE (Remote Code Execution), Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022. S. 136 f.

Thomas Bernhard: Die Macht der Gewohnheit, Berlin: Suhrkamp 2016. S. 41 Georg Büchner: Woyzeck, Stuttgart: Reclam 2022. S. 165 f.

Bertolt Brecht/Elisabeth Hauptmann: Die Dreigroschenoper, Berlin: Suhrkamp 1994. S. 49 Martina Clavadetscher: THIS IS A ROBBERY! mega frei nach Friedrich Schiller, Berlin: Felix Bloch Erben 2023. S. 24 Björn SC Deigner: Die Polizey. Nach Friedrich Schiller, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2024. S. 45 Björn SC Deigner: In Stanniolpapier, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2018. S. 40 Tankred Dorst: Merlin oder Das wüste Land, Berlin: Suhrkamp 1985. S. 142 Hannah Dübgen: Kyros, Oper von Jörn Arnecke, Hamburg: Boosey & Hawkes 2011. S. 51 Sarah Amanda Dulgeris: beretta kaliber 22, PDF-Fassung 2023. S. 70

186 Textverzeichnis Alexandre Dumas d. J.: La Traviata, Mainz: Schott Music 2001. S. 48 Anah Filou: Aus aktuellem Anlass. Delphine in Triest, Berlin: rua. Kooperative 2021. S. 26 Beat Furrer: Begehren. Musiktheater in 10 Szenen, Wien: Kairos 2006. S. 52 Frankfurter Hauptschule: 2x241 Titel Doppelt so gut wie Martin Kippenberger, Berlin: henschel Schauspiel 2024. S. 137 f.

Gracie Gardner: Pussy Sludge, London: methuen drama 2021. S. 135 Detlev Glanerts: Der Spiegel des großen Kaisers, Hamburg: Boosey & Hawkes 1995. S. 52 Detlev Glanerts: Die Jüdin von Toledo, Hamburg: Boosey & Hawkes 2024. S. 52 Rainald Goetz: Krieg, Berlin: Suhrkamp 1986. S. 79 Patty Kim Hamilton: Peeling Oranges, Berlin: Suhrkamp 2021. S. 128 Nino Haratischwili: Die Barbaren, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2016. S. 59 Nino Haratischwili: Löwenherzen, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2020. S. 60, S. 140, S. 143 Tina Hartmann: Dreimaldrei gleich unendlich, PDF-Fassung 2009. S. 53 Claus H. Henneberg/Krzysztof Wiernicki/Péter Eötvös: Drei Schwestern, Berlin: G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH 1997. S. 52 Hans Werner Henze: El Cimarrón, Mainz: Schott Music 1972. S. 53 Wolfram Höll: Disko, Berlin: Suhrkamp 2019. S. 40, S. 42, S. 44 f., S. 56, S. 182 Wolfram Höll: Niederwald, Berlin: Suhrkamp Theater 2024. S. 45 Georg Holzer: Turing, Mainz: Schott Music 2021. S. 52 Victor Hugo: Rigoletto, Stuttgart: Reclam 1998. S. 48 Interrobang Performance: Müllermatrix, HAU Hebbel am Ufer 2016. S. 135 Ernst Jandl: Die Humanisten, Hamburg: Rowohlt Theater 1976. S. 56 Elfriede Jelinek: Das schweigende Mädchen, Hamburg: Rowohlt Theater 2014. S. 87 Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen, Hamburg: Rowohlt Theater 2014. S. 40 Elfriede Jelinek: Prinzessinnendramen. Der Tod und das Mädchen I-V, Hamburg: Rowohlt Theater 2002. S. 124 Elfriede Jelinek: Sonne / Luft, Hamburg: Rowohlt Theater 2022. S. 171 Caren Jeß: Das Stillleben, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2022. S. 68 Caren Jeß: Die Katze Eleonore, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2022. S. 129, S. 183 Sarah Kane: Gesäubert [Cleansed], Frankfurt a. M.: Rowohlt Theater 1998. S. 142 Karel Čapek: R.U.R. (Rossum’s Universal Robots), New York: Penguin 1920. S. 133 f.

Sarah Kilter: White Passing, Berlin: rua. Kooperative fur Text und Regie 2021. S. 179

Textverzeichnis 187 Händl Klaus: Bluthaus, Hamburg: Rowohlt Theater 2011. S. 52 Händl Klaus: Koma, Hamburg: Rowohlt Theater 2016. S. 52 Händl Klaus: Thomas, Hamburg: Rowohlt Theater 2013. S. 52 Thomas Köck: eure paläste sind leer (all we ever wanted). eine missa in cantu, Berlin: Suhrkamp 2022. S. 25 Thomas Köck: paradies fluten/paradies hungern/paradies spielen, Berlin: Suhrkamp 2017. S. 26, S. 44 f., S. 145f., S. 176 Thomas Köck/Mateja Meded: keeping up with the penthesileas. from white feminism to neoliberal feminism. eine quasimythologische remythifizierung, Berlin: Suhrkamp 2023. S. 24 Rebekka Kricheldorf: Der goldene Schwanz. Eine Aschenputtel-Variante nach den Brüdern Grimm, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH 2020. S. 24 Rebekka Kricheldorf: Die Guten, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH 2022.

S. 133, S. 178 Rebekka Kricheldorf: Homo Empathicus, Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH 2014, Stuttgart: Reclam 2022. S. 133 Amanda Lasker-Berlin: Ich, Wunderwerk. Or how I love disturbing content, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2021. S. 143 Helmut Lachenmann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1997.

S. 52 Anne Lepper: Seymour, Köln: schaefersphilippen Theater und Medien 2012. S. 122 György Ligeti/Michael Meschkes: Le grand Macabre, Mainz: Schott Music 1997. S. 49 Philipp Löhle: Anfang und Ende des Anthropozän, Berlin: Felix Bloch Erben 2021. S. 133 f.

Wolfram Lotz: Der Große Marsch, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2010. S. 22 f.

Enis Maci: Mitwisser, Berlin: Suhrkamp 2018. S. 13, S. 178 (Selma) Kay Matter: Grelle Tage, Berlin: Suhrkamp 2023. S. 71, S. 125 Fiston Mwanza Mujila: Justice, Paris: Durand Salabert Eschig 2024. S. 53 Olga Neuwirth/Elfriede Jelinek: Lost Highway, Hamburg: Boosey & Hawkes 2002. S. 48, S. 53 Olga Neuwirth/Catherine Filloux: Orlando, Berlin: Casa Ricordi 2017. S. 53 Olga Neuwirth/Barry Gifford: The Outcast, Berlin: Casa Ricordi 2012. S. 53 Luigi Nono: Intolleranza, Mainz: Ars Viva Verlag 1962. S. 53 Emine Sevgi Özdamar: Karagöz in Alamania, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 1986. S. 57 Emine Sevgi Özdamar: Keloğlan in Alamania oder die Versöhnung von Schwein und Lamm, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2000. S. 57 Necati Öziri: GET DEUTSCH OR DIE TRYIN’, Hamburg: Rowohlt Theater 2016. S. 24 Bonn Park: Die Leiden Des Jungen Super Mario in 2D, PDF-Fassung 2010. S. 69, S.152

188 Textverzeichnis Kerstin Maria Pöhler: Die Stadt der Blinden, PDF-Fassung. S. 52 Tobias Rausch: Die Welt ohne uns, Hannover 2010-2015. S. 132, S. 145 Falk Richter: Trust, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2009. S. 61 Falk Richter: Nothing Hurts, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2000. S. 62 Kevin Rittberger: Vom Zeugenschutz des Raubwürgers, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2024. S. 62 Kathrin Röggla: Das Wasser, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2022. S. 26 Kathrin Röggla: fake reports, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2013. S. 61 Kathrin Röggla: Kein Plan (Kafkas Handy), Frankfurt a. M.: S. Fischer 2025. S. 194, S. 89 Sasha Marianna Salzmann: Muttersprache Mameloschn, Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren 2012.

S. 58 Peter Sellars: Doctor Atomic, Oper von Adams John, Hamburg: Boosey & Hawkes 2004. S. 53 Emanuel Schikaneder: Die Zauberflöte, Stuttgart: Reclam 2022. S. 51 Roland Schimmelpfennig: 100 Songs, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2017. S. 23 Magdalena Schrefel: was zündet, was brennt, Hamburg: Rowohlt Theater 2022. S. 80, S. 182 Anne Jelena Schulte: Zukunftsmusik, Berlin: Suhrkamp 2022. S. 26 William Shakespeare: Troilus und Cressida, Stuttgart: Reclam 1986. S. 21 f.

Werner Schwab: Troiluswahn und Cressidatheater. Ein Spiel nach Troilus und Cressida von William Shakespeare in 5 Akten, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1995. S. 21 Salvatore Sciarrino: La porta della legge, Rom: Rai Trade 2009. S. 53 Sokola//Spreter: Farn Farn Away, Berlin: Felix Bloch Erben 2023. S. 176 f.

Patrick Süskind: Der Kontrabaß, Zürich: Diogenes 1997. S. 41 Nele Stuhler: und oder oder oder oder/und und/ beziehungsweise/und oder/beziehungsweise/oder und/ beziehungsweise/einfach und, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2024. S. 137 Helena Tulve/Nina Guhlstorff: Wölfe, PDF-Fassung 2022. S. 53 Flora Verbrugge: Gold!, Musiktheater von Leonard Evers, Hamburg: Boosey & Hawkes 2012. S. 50 Constantin von Castenstein: Südseetulpen, Mainz: Schott Music 2017. S. 52 Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Stuttgart: Reclam 1986. S. 69 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie Erster Teil, Stuttgart: Reclam 1986. S. 15, S. 20, S. 171 Hugo von Hofmannsthal/Richard Strauss: Der Rosenkavalier, Wien: Hollitzer Verlag 2016. S. 48 Hugo von Hofmannsthal: Jedermann, Stuttgart: Reclam 2000. S. 26 Heinrich von Kleist: Penthesilea, Stuttgart: Reclam 1986. S. 24

Textverzeichnis 189 Benjamin von Stuckrad-Barre: Transkript, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017. S. 24 Richard Wagner: Lohengrin, Mainz: Schott Music 1997. S. 49 Richard Wagner: Parsifal, Mainz: Schott Music 1997. S. 49 Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Das Rheingold, Mainz: Schott Music 1997. S. 44, S. 49 Felicia Zeller: Der Fiskus, Berlin: Felix Bloch Erben 2019. S. 42, S. 44 Felicia Zeller: Kaspar Häuser Meer, Berlin: Felix Bloch Erben 2008. S. 40

190

191

KURZBIOGRAFIEN

Adrienn Bazsó ist in Ungarn geboren und aufgewachsen und lebt seit 2012 in Berlin. Sie studierte Schauspiel in Budapest und Theaterpädagogik an der Universität der Künste in Berlin. Seit 2014 arbeitet sie als freischaffende Theatermacherin deutschlandweit, an Häusern wie der Staatsoper Unter den Linden, dem Jungen Deutschen Theater, dem Heimathafen Neukölln und dem Theater der Altmark. Sie spielt von Herzen gern, inszeniert leidenschaftlich, mag es, sich in unterschiedlichsten Formaten auszuprobieren und erforscht am liebsten die Schnittstellen zwischen Musik, Performance und Theater.

Prof. Paul Brodowsky studierte an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Er schreibt Dramatik, Prosa und Essay und ist Mitglied des freien Theaterkollektivs recherchepraxis. In der Spielzeit 2012/13 war er Hausautor am Theater Freiburg. Seine Stücke waren zudem u. a. an den Münchner Kammerspielen und an der Berliner Schaubühne zu sehen. Zuletzt erschien der Roman Väter. Seit 2013 hat er eine Professur für „Dramentechnik“ im Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin inne.

Anton Bröll studierte Germanistik und Kunst an den Universitäten Osnabrück und Nantes und schloss sein Studium 2021 mit Auszeichnung ab. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere deutsche Literatur­ wissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Osnabrück und promoviert zur Metareflexivität in der Gegenwartsdramatik. Im März 2024 war er Erasmus-Gastdozent an der Universität Athen.

Edith Draxl studierte Germanistik, Theologie und Psychologie. Zusätzlich erwarb sie Abschlüsse als Theaterpädagogin und Psychotherapeutin. Nach Arbeiten für Theater für junges Publikum in unterschiedlichen Positionen leitet sie seit 2000 uniT und entwickelte unter dem Label DRAMA FORUM

192 Kurzbiografien Förderprogramme für Autor:innen im Bereich Theater. Zu den Programmen zählt auch der renommierte Retzhofer Dramapreis, der Arbeitsprozess und Wettbewerb verbindet.

Prof. Dr. Anne Fleig ist Hochschullehrerin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin und Präsidentin der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. Sie ist außerdem Vorstandsmitglied im SFB 1171 „Affective Societies“ und stellvertretende Sprecherin des GRK 2638 „Kritik, Normativität, Wandel“. Ihre Arbeitsschwerpunkte bilden die Literatur um 1800, Kulturelle Moderne und Gegenwartsliteratur, Weibliche Autorschaft, Drama und Theater, Affekte und Gefühle, Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit. Aktuelle Forschungsarbeiten befassen sich mit Berliner ­ Topografien im Horizont der Einwanderungsgesellschaft sowie dem ­ ­Konzept affektiver Zeitgenossenschaft.

Dr. Pola Groß studierte an der Universität zu Köln Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Geschichte und promovierte 2019 mit einer Arbeit über das Glück am Ästhetischen in Adornos literatur- und kulturtheoretischen Essays. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Gegenwartsliteratur und -dramatik, Stil, Kritische Theorie und Literatur von Autorinnen.

Prof. Dr. Tina Hartmann ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Sie studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Komparatistik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und an der UKC/England, promovierte 2003 in Tübingen mit Goethes Musiktheater und habilitierte 2009 in Jena mit Grundlegung einer Librettologie. Sie war Stipendiatin, u. a. an der Akademie Schloss Solitude, und schrieb Libretti u. a. für Lucia Ronchetti, Karola Obermüller, Peter ­Gilbert, Ludger Vollmer, Violeta Dinescu und Fazil Say. Als Publizistin für Genderthemen und Literaturkritikerin schreibt sie u. a. für die FAZ, die taz und FR. Zuletzt erschien 2024 Vergesst Kant! Was war und ist Aufklärung wirklich?

Kurzbiografien 193 Fabian Hinrichs studierte zunächst Rechtswissenschaft, dann aber Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste. Nach dem Studium arbeitete er zunächst an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, entwickelte jedoch ab 2005 gemeinsam mit Laurent Chétouane Theaterabende in München, Köln, Hamburg und Berlin. Zugleich studierte er Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Kulturwissenschaften in Hagen, brach jedoch beides ab. Seit 2005 arbeitet er als Filmschauspieler sowie als Autor, Schauspieler und Regisseur von Theaterstücken. Ab 2010 schrieb und inszenierte er zusammen mit René Pollesch bis zu dessen Tod 2024 acht Theaterstücke. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet. Voraussichtlich 2025/26 wird sein persönliches Sachbuch Ästhetik der Ver­zweif­ lung erscheinen.

Dr. Maria Kuberg studierte Germanistik und Komparatistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihre Promotion erfolgte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie arbeitete am Institut für deutsche ­Literatur und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und am Fachbereich Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften der Universität Konstanz.

Dr. Felix Lempp studierte in Eichstätt und Freiburg im Breisgau Germanistik, Geschichtswissenschaften und Theaterpädagogik. Er wurde an der Universität Hamburg mit einer Arbeit zur Raumerzeugung in Texten und ­Inszenierungen des zeitgenössischen Stadttheaters promoviert. 2022 bis 2023 war er an der Universität Siegen als Postdoc im ERASMUS+-geförderten Forschungsprojekt CultureNature Literacy: Schulische Schlüsselkompetenzen für Zukunftsgestaltung im Anthropozän beschäftigt. Seit 2023 forscht und lehrt er am Institut für Germanistik der Universität Bern, u. a. zur deutschsprachigen Gegenwartsdramatik und dem Theater des Anthropozän.

Ilja Mirsky studierte Kognitionswissenschaft an der Universität Tübingen sowie Performance Studies an der Universität Hamburg. Von 2019 bis 2022 war er Dramaturg am Institut für theatrale Zukunftsforschung in Tübingen,

194 Kurzbiografien seit der Spielzeit 2022/23 ist er Dramaturg und Digitaldramaturg am ­Residenztheater München. Er promoviert zu Theater und Digitalität an der Universität Tübingen und der Zürcher Hochschule der Künste und lehrt zu diesem Themenfeld an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-­ Württemberg. Internationale Projekte an der Schnittstelle von Medien- und Darstellender Kunst sowie Lehraufträge führten ihn u. a. nach Toronto, Kyjiw und Helsinki.

Dr. Ramona Mosse ist Studienleitung Theater an der Zürcher Hochschule der Künste und hat u. a. an der Freien Universität Berlin, dem Bard College Berlin und der Goethe-Universität Frankfurt am Main gelehrt. 2021 bis 2022 leitete sie das Volkswagen Stiftungs-finanzierte Forschungsprojekt „Viral Theatres“. Sie ist Mitglied der Schweizer Gesellschaft für Theater­ kulturen, der Redaktion des International Journal for Performance Arts and Digital Media und assoziiert mit dem metalab@Harvard and FU Berlin.

Ramona Mosse promovierte an der Columbia University in English and Comparative Literature.

Dr. Clemens Özelt ist seit 2025 Fachkoordinator für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich (entfristet). Er studierte Germanistik, Philosophie und DaF/DaZ in Wien und Zürich und war als Assistent sowie Oberassistent in Zürich und Lausanne (2010 bis 2025) tätig. 2017 promovierte er mit der Arbeit Literatur im Jahrhundert der Physik, seither verfolgt er ein Habilitationsprojekt zur Geschichte des Dramenprologs. Einschlägige Publikationen sind: Die Kunst der Theatereröffnung (Fink, 2024), Polemische Prologe (DVjs, 2022), „Anfangsschwierigkeiten“ (Goethe-Jahrbuch, 2021) Dramatische Zeitgenossenschaft (LiLi, 2019).

Prof. Dr. Artur Pełka ist Hochschullehrer am Institut für Germanistik der Universität Łódź, Germanist, Theaterwissenschaftler und Humboldt-­ Stipendiat. 2017 erfolgte seine Habilitation an der Universität Łódź mit der Studie Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Deutschsprachige Theatertexte zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama (Bielefeld: transcript 2016).

Seine Dissertation befasst sich mit dem Körperdiskurs in Theatertexten von

Kurzbiografien 195 Elfriede Jelinek und Werner Schwab (Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2005).

Publikations- und Forschungsschwerpunkte sind: Drama im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Theater in Polen, österreichische Gegenwartsliteratur, Körperlichkeit und Gewalt, gender- und queer-studies.

Prof. Kathrin Röggla ist Schriftstellerin und Professorin für Literarisches Schreiben an der KHM in Köln. Sie verfasste seit 1995 zahlreiche Bücher, Hörspielmanuskripte und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche Preise, zuletzt u. a. den „Else-Lasker-Schüler-Preis“ 2022 und den Heinrich-Böll-Preis 2023. Die Inszenierungen ihrer Stücke waren u. a. auf den Mülheimer Theatertagen, den Autor:innentheatertagen des Deutschen Theaters und dem Berliner Theatertreffen zu sehen. Zuletzt erschien der Essayband Nichts sagen. Nichts hören. Nichts sehen. (S. Fischer 2025) und das Stück Kein Plan. Kafkas Handy wurde im Februar 2025 im Theater an der Ruhr uraufgeführt.

Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer lehrt seit 2014 Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt Theaterforschung an der Universität Hamburg. Nach einem Studium ebendort und am University College London forschte und lehrte er u. a. an der Universität Paderborn, an der NYU, an der Universität Erfurt, an der Akademie der bildende Künste Wien und an der Universität Siegen.

Er interessiert sich für Zusammenhänge zwischen Literatur, Theater und Theoriebildung vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, nicht zuletzt für die praxeologischen, theoretischen und historischen Verhältnisse von Theater und Text.

PD Dr. Martin Schneider ist Mitarbeiter der DFG-Forschungsgruppe „Geistliche Intermedialität in der Frühen Neuzeit“ an der Universität Hamburg.

Er studierte Neuere Deutsche Literatur an der LMU München, wo er 2011 mit einer Arbeit über die Ästhetik des Unbewussten in den Musikdramen Richard Wagners promovierte. 2022 folgte die Habilitation an der Univer­ sität Hamburg: Agonalität und Menschenliebe. Gefühlspolitik im Drama des 18. Jahrhunderts, erschienen 2023. Es folgten zahlreiche Aufsätze und ­Herausgeberschaften zur deutschen Literatur- und Theatergeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts.

196 Kurzbiografien Nele Stuhler studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und nahm am Lehrgang FORUM TEXT von uniT Graz teil. Sie schreibt und ­inszeniert, gerne auch mit anderen, u. a. am Schauspiel Frankfurt, dem Schauspiel Köln, dem Schauspielhaus Wien und den Sophiensaelen Berlin.

Für ihr Stück Fische erhielt sie den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis. Ihre Gaia Trilogie wurde u. a. im Rahmen der Autor:innnentheatertage am ­Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Sie schrieb das Stück, das Hörspiel und das Buch Keine Ahnung. Ihr Stück Und Oder Oder Oder Oder Und Und Beziehungsweise Und Oder Beziehungsweise Oder Und Beziehungsweise E ­ infach Und entstand im Rahmen der ersten Mülheimer StückeWerkstatt und prämierte am Residenztheater in München.

Irina Sulaver war Mitglied der Jugendtheatergruppe P14 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ihre Schauspielausbildung erhielt sie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Sie gastierte an den Münchner Kammerspielen, am HAU Berlin, dem Schauspiel Köln und gehörte 2015 bis 2019 dem Ensemble des Wiener Burgtheaters an. 2015 wurde sie mit einem Solopreis ausgezeichnet und war 2018 für den Nestroy Theaterpreis in der Kategorie Bester Nachwuchs nominiert. Zuletzt entwickelte sie gemeinsam mit Hannah Dörr und Nele Stuhler das Theaterstück Die Chor an der Volksbühne Berlin.

Giulia Weis studiert Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Sprache und Gesellschaft an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitete als studentische Hilfskraft im DFG-Netzwerk „Untersuchungen zur Gegenwartsdramatik“ und im SFB 1512 „Intervenierende Künste“ in Berlin. Vor ihrem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Schauspielerin an der Theaterakademie Vorpommern auf Usedom. Sie spielte an diversen Theatern, u. a. der Vorpommerschen Landesbühne, dem Theater und Orchester Neubrandenburg/Neustrelitz, dem Theater Heilbronn und dem Theater Rudolstadt.

Lektionen

Die Ausbildungsreihe von Theater der Zeit Unentbehrliches Basiswissen für Studium und Beruf

Lektionen 1 Bernd Stegemann Dramaturgie Auszüge aus 60 Texten von Aristoteles bis Rimini Protokoll – systematisch unterteilt und kommentiert Klappenbroschur mit 350 Seiten ISBN 978-3-940737-34-2 Lektionen 2 Regie Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann (Hg.) Ist Theaterregie lernbar? Wie bewerbe ich mich an einer staatlichen Regieschule und wie sieht der Unterricht aus?

Klappenbroschur mit 214 Seiten ISBN 978-3-940737-33-5 Lektionen 3 Bernd Stegemann Schauspielen Theorie Auszüge aus den wichtigsten Schauspieltheorien – systematisch unterteilt und kommentiert Klappenbroschur mit 240 Seiten ISBN 978-3-940737-95-3 Lektionen 4 Schauspielen Ausbildung Bernd Stegemann (Hg.) Die wichtigsten Grundlagen für den Schauspielberuf Klappenbroschur mit 328 Seiten ISBN 978-3-940737-96-0 Lektionen 5 Theaterpädagogik Christoph Nix, Dietmar Sachser und Marianne Streisand (Hg.) Ein Handbuch für angehende und professionelle Theaterpädagog:innen Klappenbroschur mit 316 Seiten ISBN 978-3-942449-39-7 Lektionen 6 Kostümbild Florence von Gerkan und Nicole Gronemeyer (Hg.) Ein Handbuch für angehende und professionelle Kostümbildner:innen Klappenbroschur mit 346 Seiten ISBN 978-3-95749-042-1 Lektionen 7 Theater der Dinge. Puppen-, Figurenund Objekttheater Eine historische Einführung sowie die Grundlagen der Ausbildung – vom Animieren, Sprechen, Spielen, Bauen und Führen.

Klappenbroschur mit 354 Seiten ISBN 978-3-95749-069-8

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder portofrei unter tdz.de

Dr. Hannah von Sass studierte an der Universität Hildesheim Szenische Künste. Sie promovierte in Neuerer deutscher Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin.

2020 bis 2021 war sie Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, 2022 bis 2024 Humboldt-Stipendiatin an der New York University. Seit 2021 forscht sie mit einer Eigenen Stelle der DFG am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin zu Theatertexttheorien und leitete das Forschungsnetzwerk „Untersuchungen zur Gegenwartsdramatik“. Zudem arbeitet sie als freie Theaterautorin unter dem Namen Hannah Zufall, u. a. am Deutschen Theater Berlin, Berliner Ensemble und Thalia Theater Hamburg.

Neue Theatertexte verstehen und schreiben: Expert:innen aus Literatur- und Theaterwissenschaft sowie der Schreibpraxis beleuchten praxisnah, analytisch und didaktisch zentrale Aspekte und Herausforderungen zeitgenössischer Dramatik.

Wie hat sich die dramatische Sprache nach der Postdramatik verändert? Welche Rolle spielen Musikalität, Körperlichkeit und Mehrsprachigkeit? Wie lassen sich Texte interpretieren, die Genregrenzen bewusst überschreiten? Der Band bietet nicht nur theoretische Grundlagen, sondern auch praktische Einblicke in das Schreiben, Übersetzen und Inszenieren neuer Theatertexte. Eine Übersicht zu Ausbildungsmöglichkeiten und Publikationsadressen rundet diese bisher einmalige Zusammenschau zur Gegenwartsdramatik ab.