Theater der Zeit 11/2025 – Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Theater der Zeit Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Mit

Magz Barrawasser Katharina Bill Herbert Fritsch Michael Turinsky Terézia Mora Leo Meier Vegard Vinge/Ida Müller Christoph Nußbaumeder

Kunstinsert William Kentridge

November 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

PREMIEREN OPER

2025 – 26

Mi 5.11.25

DIE ENGLISCHE KATZE

Hans Werner Henze

Christiane Lutz Inszenierung Katharina Wincor Musikalische Leitung

Sa 29.11.25

DIE NACHT VOR WEIHNACHTEN

Nikolai Rimski-Korsakow

Barrie Kosky Inszenierung Vladimir Jurowski Musikalische Leitung

So 8.2.26

FAUST

Charles Gounod

Lotte de Beer Inszenierung Nathalie Stutzmann Musikalische Leitung

Sa 7.3.26

RIGOLETTO

Giuseppe Verdi

Barbara Wysocka Inszenierung Maurizio Benini Musikalische Leitung

So 10.5.26

OF ONE BLOOD Uraufführung

Brett Dean

Claus Guth Inszenierung Vladimir Jurowski Musikalische Leitung

Do 25.6.26

DIE WALKÜRE Münchner Opernfestspiele

Richard Wagner

Tobias Kratzer Inszenierung Vladimir Jurowski Musikalische Leitung

Mo 13.7.26

ALCINA Münchner Opernfestspiele

Georg Friedrich Händel

Johanna Wehner Inszenierung Stefano Montanari Musikalische Leitung

Bayerische staatsoper Infos/Tickets tickets@staatsoper.de staatsoper.de

Mit freundlicher Unterstützung von Edelgard und Axel Pape

Bernhard Frohwitter

Foto oben Michael Loizenbauer, unten Theater der Zeit

Theater der Zeit Editorial

„Precarious moves“, Solo-Performance. Performance, Choreographie, Text und Lyrik Michael Turinsky. Produktion von Michael Turinsky – Verein für philiosophische Praxis. Koproduktionen mit Tanzquartier Wien, HAU Hebbel am Ufer

Die Entwicklung des Schwerpunkts in diesem Heft fing mit einer Untersuchung des relativ neuen Theaterberufs „intimacy coaching“ (Intimitätskoordination) an und führte schnell zu anderen Körperthemen. Das ist in der Tat ein weites Feld, wie allein schon im einleitenden Essay von Magz Barrawasser deutlich wird. Zu den Grundlagen des Theaters überhaupt gehört der darstellende Körper, sei er nun mehrgewichtig, eingeschränkt oder wie beim jungen Schauspieler Herbert Fritsch für stuntmäßige Aktionen eingesetzt. Und es ist wohl keine Überraschung, dass der Aufstieg des zeitgenössischen Zirkus sich zum Teil dem verstärkten Interesse an diesem Phänomen verdankt. Das alles auf den S. 10 bis 30 dieser Ausgabe.

William Kentridge (auf dem Titel) scheint der Weltkünstler der Stunde zu sein, zumindest in Deutschland. Gleich in fünf Städten gibt oder gab es Werke in der einzigartigen Handschrift des Südafrikaners. Nach Aufführungen beim Kunstfest Weimar und den Berliner Festspielen sind

Theater der Zeit 11 / 2025

gleich mehrere Ausstellungen des intermedial Schaffenden in Cottbus (nur noch bis 9. November), in Essen und Dresden aber noch eine ganze Weile zu sehen – das Kunstinsert.

Sechs lange Abende von jeweils acht Stunden lief die erste Aufführungsserie von „Peer Gynt“, mit der das Trio Vinge/ Müller/Reinholdtsen viel diskutiert an die Berliner Volksbühne zurückkehrte. Für den Schriftsteller Lorenz Just war es die Erstbegegnung mit dieser besonderen Bühnenwelt, die er gleich drei Mal aufsuchte.

Seine nachdenklichen Betrachtungen, die, wie er sagt, das halbe Heft hätten füllen können, sind ab S. 58 zu lesen.

Mit dieser Ausgabe startet nach zehn Folgen „Dramaturgie der Zeitenwende“ eine neue Serie zum Thema „Theater und Sport“. Thaddäus Maria Jungmann tritt in einem Cycling-Studio in die Pedale und hinterfragt – noch einmal mit Bezug zum Schwerpunktthema – Optimierungswerte des Körpers.

1996 erschien nach dem Tod von ­Heiner Müller das TdZ-Arbeitsbuch „Kalk­ fell für Heiner Müller“ als erstes Buch des Verlags. Am 15. Oktober wurde der Verlag Theater der Zeit auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Deutschen Verlagspreis 2025 (Gütesiegel herausragender Verlag) ausgezeichnet.

Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

TdZ-Verleger Paul Tischler bei der Verleihung des Deutschen Verlagspreises 2025

1

Theater der Zeit

„The Genesis“ vom Copenhagen Collective. Leitung und Choreografie Patrick King und Johan King Silverhult am Düsseldorf Festival

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Grundsätzliches über das Neudenken von Körpergrenzen Von Magz Barrawasser

16 Interview Auf dem Gipfel der Verzweiflung Herbert Fritsch über Körperlichkeit und Komik im Theater Im Gespräch mit Thomas Irmer

23 Porträt Körperpolitik ohne Ende Ein Porträt der mehrgewichtigen Schauspielerin Katharina Bill Von Lara Wenzel Detail aus William Kentridges „Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts)“, 2021. Tusche, Buntstift, Kohle, Pastellkreide und Collage auf Papier.

Courtesy Mark und Dana Strong

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/dossier/koerperlichkeit

2

26 Interview „Ich lausche meinem Körper die choreografische Form ab“ Der Tänzer, Choreograf und Philosoph Michael Turinsky über Körperlichkeit und seinen Begriff von Crip Choreography Im Gespräch mit Elisabeth Maier

28 Bericht Die Hüfte ist das Zentrum Der zeitgenössische Zirkus erlebt auch wegen seiner Körperlichkeit einen großen Aufschwung – das neue Copenhagen Collective ist ein gutes Beispiel Von Stefan Keim

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos links oben David Poznic, unten © William Kentridge, 2025, rechts Jakob Fliedner

12 Essay Nicht nur Gestell für Stimmbänder und Handgesten

Inhalt 11/ 2025

Akteure 32 Kunstinsert Das Gewesene, das fortwährende Gewesene William Kentridges Werke in Essen und Dresden Von Stefan Keim

Diskurs & Analyse 58 Essay „Brutal ist die Sanftheit und die Sanftheit brutal“ Zur „Peer Gynt“-Serie von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Von Lorenz Just

62 Serie: Theater und Sport Ride & Resistance Von Thaddäus Maria Jungmann

Stück 38 Stückgespräch Das Kerngeschäft im Theater sind Feelings Leo Meier im Gespräch mit Lina Wölfel

41 „auf der suche nach dem verlorenen bagger“

Report

Von Leo Meier

66 Neustart Einer für alle, alle für einen Neustart in Weimar: Ein Trio hat als Teamintendanz das Nationaltheater übernommen Von Michael Helbing

69 Serbien Unregelmäßigkeiten im Brandschutzsystem In Serbien spitzt sich die Lage zu – die Theaterszene und das renommierte BITEF-Festival mittendrin Von Ivana Ječmenica

72 Kairo Bei Raskolnikow Begeisterungsalarm Das Cairo International Festival for Experimental Theatre als Wimmelbild verschiedenster Theaterkulturen Von Thomas Irmer

74 Schweiz Höchstes Niveau im Hochtal Das Kulturfest zeit:fluss zeigt in seiner ersten Ausgabe in Sils Maria ein künstlerisch ambitioniertes Programm – einladend und stets mit einem Augenzwinkern Von Nathalie Eckstein

Magazin 4 Bericht Ein Schiller-Theater in Rudolstadt

Von Michael Helbing

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Lina Wölfel, Joachim F. Tornau, Stefan Keim und Thomas Irmer

8 Kolumne Alleinerziehende am Abend

Von Terézia Mora

78 Vorabdruck Körper und Körperlichkeit Von Lydia Grün

80 Bücher Roman von Christoph Nußbaumeder Von Thomas Irmer

82 Kolumne Wir gehen rein Von Lina Wölfel

84 Was macht das Theater, Philipp Adlung?

Im Gespräch mit Michael Helbing

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: Double – Magazin für Puppen-, Figurenund Objektheater

Theater der Zeit 11 / 2025

1 Editorial 83 Autor:innen & Impressum 83 Vorschau

3

Lina Habicht und Johannes Geißer in „Don Karlos“, dramatisches Gedicht von Friedrich Schiller.

Regie Henriette Hörnigk, Bühne und Kostüme Henrike Engel

Der kluge Mann baut vor Eine Neu- und Wiedereröffnung: In Rudolstadt steht jetzt ein SchillerTheater Von Michael Helbing

4

Es gibt wieder ein Schiller-Theater. 32 Jahre, nachdem jenes in Berlin-Charlottenburg dichtmachte, nicht als Gebäude zwar, aber sehr wohl als Haus mit eigenem Ensemble, wurde knappe 300 Kilometer ­ weiter südwestlich eines neu eröffnet.

Das Thüringer Landestheater Rudolstadt, bestehend aus Schauspiel und Orchester, trägt seit Anfang September diesen Namen. Intendant ­Steffen Mensching, der es seit 2008 führt, verbindet mit dem kleinen Coup eine größere Hoffnung: „Man hat schon ein Schiller-Theater abgewickelt, man wird es nicht ein zweites Mal machen“ (siehe TdZ 09/2024).

Solche Gefahr schien auch ohne diesen nicht nur schützenden, sondern durchaus programmatischen Namen, wie er als in der Dunkelheit leuchtender Schriftzug überm neuen Eingangsportal prangt, gebannt, vorerst wenigstens. Mehr noch: Dank Thüringens inzwischen abgewählter rot-rot-grüner Regierung genießen die Stadt- und Staatstheater im Lande via dynamisch angelegten Finanzierungsverträgen eine Planungssicherheit im Flächentarif, die bis mindestens 2030 reicht (solange nicht etwas oder jemand dazwischengrätscht) und bundesweit eine Ausnahme bedeutet.

Der kluge Mann aber, heißt es bei ­Schiller, baut vor. Und was Neues vor- be­ ziehungsweise hingebaut haben sie in ­Rudolstadt ja nun ohnehin: nämlich ein Zuschauerhaus als Ersatzneubau vors alte Bühnenhaus nebst Funktionsgebäude. Diese Modernisierung eines Theaters im ländlichen Raum, so Mensching anlässlich der Neueröffnung nach am Ende achteinhalb langen Jahren Interims- und Bauzeit, sei in Zeiten knapper Kassen und gedeckelter Etats dann doch ein kleines Wunder.

Auf die Namensgebung kam Chefdramaturg Michael Kliefert aus naheliegenden Gründen, ließe sich sagen. Rudolstadt ist Schiller-Städtchen. Hier lernte der Dichter seine spätere Frau, Charlotte von Lengefeld, sowie deren Schwester Caroline kennen und lieben; im Garten des Lengefeld-Hauses, das heute das Literaturmuseum Schillerhaus beherbergt, traf er erstmals auf Goethe. Darüber hinaus fühlt sich das Theater unter der seit 2008 andauernden Ägide Mensching/ Kliefert Schillers Dramen ebenso verpflichtet wie dessen Idee von der Schaubühne als moralische Anstalt, aus der jetzt in der Wieder- und Neueröffnungsinszenierung „Don Karlos“ kaum zufällig zitiert wird.

Das neue ist mit dem alten SchillerTheater, in dem aktuell die Komische Oper residiert, übrigens historisch etwas verbunden, zumindest übereck. In Berlin gab das Ensemble am 3. Oktober 1993 seine letzte Vorstellung vor dem Rauswurf als Spar­ maßnahme, Ende Juli mussten sich bereits, aus nämlichen Gründen, die Schauspieler am Landestheater Eisenach verabschieden.

Zwei Jahre später fusionierte man mit ­Rudolstadt; eine Ehe, die nach acht Jahren geschieden wurde. Seit 2004 bedient Rudol­ stadt das Theater Nordhausen mit Schau­ spiel; seit ein paar Jahren gastiert man auch wieder in Eisenach, um ein eigenes kleines Ensemble, das dort inzwischen neu an den Start ging, zu entlasten.Seine Vergangenheit zu kennen, heißt, sich für die Zukunft zu wappnen. Und sich den Namen eines mitunter sogenannten Nationaldichters zu geben, ist gewiss ein augenzwinkernder ­ ­Fingerzeig in Richtung AfD, die in ganz Thüringen, aber erst recht in Regionen wie ­Rudolstadt auf dem Vormarsch ist. Rechtsradikale Umtriebe entlang der Bundesstraße 88 verarbeitete László Krasznahorkai, dem im kommenden Dezember der Literatur­ nobelpreis verliehen wird, im satirischen ­Johann-Sebastian-Bach-Roman „Herscht 07769“, aus dem dann zuerst Rudolstadt ein Theaterstück machte (siehe TdZ 11/2023).

Das hat in der Stadt und der Region längst nicht jedem gefallen. Ähnlich erging es dem neuen Zuschauerhaus, bevor es eröffnet wurde. Von einem Park- oder Warenhaus war abschätzig die Rede, oder einfach davon, wie „scheiße“ das aussehe. Mittlerweile aber häufen sich die Glückwünsche zu einem recht lichten und im Vergleich zum abgerissenen Vorgänger sehr viel großzügiger ausgelegten Bau in goldenen und schwarzen Farbtönen mit einer großen transparenten Glasfassade.

Dafür hat das Theater die Kulturpolitik am Ende arg strapazieren müssen. „Klinken putzen in Erfurt“, lautete Menschings Devise. Er hatte dort, flankiert von kommunalen Trägern, „stressige Begegnungen“. Alle Baupreise stiegen und stiegen, die Regierung drehte beinahe den Geldhahn zu.

Es begann mal damit, dass im Hochwasserjahr 2013 die Saale von unten in das Haus drang, unter dem einst das Flussbett entlanglief. Der ohnehin feuchte Keller stand unter Wasser. Der Schaden sollte behoben werden, bezahlt aus dem Fluthilfe-Fonds des Bundes. Schließlich wurde daraus ein

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Anke Neugebauer

Magazin Bericht

Magazin Bericht umfassenderes Sanierungs- und Umbauprojekt, inklusive Instandsetzung des heutzutage Stadthaus genannten Deutschen Kruges als Interimsspielstätte, die dem Theater als Probebühne erhalten bleibt. Zu Baubeginn 2017 sprach man von zwei Jahren, die es brauchen, sowie neun Millionen Euro, die es Bund und Land kosten würde.

Am Ende ist man bei mehr als dem Doppelten gelandet und könnte mit Schiller rufen: „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt!“ Das Foyer zu erweitern und das Zuschauerhaus insgesamt großzügiger zu gestalten, sah schon der ursprüngliche Generalplaner vor, ein Architekt aus der Stadt, der dann schwer erkrankte und, nachdem man sich trennte, inzwischen starb. Das Weimarer Büro Sigma Plan übernahm 2020, mitten im ersten Pandemiejahr, und stellte alsbald fest, „dass das Zuschauerhaus konstruktiv deutlich von den ursprünglichen, in den Archiven dokumentierten Planungen abweicht“; eine „äußerst mangelhafte Bausubstanz“ komme hinzu.

Dass der Abriss nach drei Wochen er­ ledigt war, bestätigte das nachträglich. ­Anstelle eines architektonischen, über Jahrhunderte entstandenen Palimpsests ist ein Gebäude gerückt, das dessen zusam­ mengestoppelte Baugeschichte mit Holz, ­Schiefer und Metall außen und innen neu aufnimmt. Ein unterirdischer Zuweg zum Funk­ tionsgebäude entstand, ein fenster­ loser Proberaum im Souterrain, die Kantine wurde modernisiert und erweitert. Nicht zuletzt dafür brauchte es massive Lüftungs­ anlagen letztlich fürs gesamte Haus. Sie ­fanden links und rechts auf Dachhöhe Platz.

Der neue Zuschauerraum ist dem alten nachempfunden; die aufsteigenden Sitzreihen sind jetzt aber gerundet. Anstatt 264 Plätzen gibt es nun 275 und trotzdem mehr Beinfreiheit. Die Bühnentechniker werden erheblich entlastet, da sie den Orchestergraben nicht mehr per Hand ausheben müssen; er lässt sich nun hoch- und runterfahren. Nur am Bühnenportal war aufgrund statischer Bedenken nichts zu machen; es

bleibt leider „viel zu klein und viel zu tief“, so der Intendant.

Hinter und unter der Bühne ist hier und dort noch Baustelle. Einiges wird erst während der nächsten Theaterferien fertig werden. Zuletzt hatte man die Einweihung auf Januar 2025 terminiert. Dann musste man sie wegen Statikprüfungen mal wieder verschieben. Irgendwann entschied der Intendant: „Wir eröffnen im September, egal, was noch kommt.“ Während auf der Bühne die Endproben zum „Karlos“ stattfanden, wurden im Saal zunächst noch die Sitzreihen mit Akkuschraubern installiert; danach kam die Putzkolonne und schaute wohl nebenbei ein bisschen zu.

Den letzten Satz des Dramas haben sie gewiss nicht gehört; den haben sie nämlich gestrichen. Dabei könnte er allumfassend über dem Neubau stehen, von der Politik ans Theater gerichtet, vom Theater ans Publikum, vom Publikum zurück an die Politik: „Ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihrige.“ T

Anzeige

Demokratie schwindet.

Wenn wir nichts tun.

Käsch und Naziss Über die Selbstabschaffung der Demokratie.

Und ihre Verteidigung.

Uraufführung

SCHAUSPIEL Inszenierung: Volker Lösch Autor: Ulf Schmidt Termine und weitere Informationen Foto: Pero Malinowski

Magazin Kritiken

Landestheater Linz

Vor mir stehen sechs Millionen Ankläger „Eichmann vor Gericht“ nach historischen Prozessunterlagen in einer Fassung von Wiebke Melle, Andreas Erdmann und Peter Wittenberg – Regie Peter Wittenberg, Kostüme Marie-Luise Lichtenthal, Rauminstallation Florian Parbs, Sounddesign Wolfgang Schlögl

80

Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sitze ich mit gut 120 anderen Besucher:innen im Schwurgerichtssaal des Linzer Landesgerichts. Linkerhand ist ein angedeuteter Glaskubus aufgebaut, geradeaus Unmengen Bildschirme, auf der rechten Seite einige Stühle mit plissierten Roben und Aktenstapeln. Über allem prangt auf Hebräisch: „‫„ – “טפשמה תיב‬das Gericht“.

Auf Grundlage historischer Protokolle des Eichmann-Prozesses von 1961 in Jerusalem werden Teile des Verfahrens gegen Eichmann szenisch rekonstruiert. In Linz gelingt es ­Wiebke Melle und Andreas Erdmann sowie dem Regisseur Peter Wittenberg, die zigtausenden Aktenseiten aus 121 Verhandlungstagen so zu destillieren, dass ein dynamischer und vor allem gnadenloser Abend entsteht.

Dabei ist die gesamte Geschichte an Zynismus auf Verteidigungsseite mitunter kaum zu überbieten. Eichmanns Anwalt eröffnet, indem er in den Raum stellt, das Gericht könne ja befangen sein – schließlich sei es nicht ausgeschlossen, dass jemand Angehörige im Holocaust verloren habe. Im Folgenden stellt sich Eichmann (Sebastian Hufschmidt) als kleines Rädchen im Getriebe

6

„Vor die Hunde“ (UA) von Nora Mansmann.

Regie Sarah Franke, Choreografie Gili Goverman, Bühne Ann-Christine Müller, Kostüme Isabell Heinke

Staatstheater Kassel

Die Liebe in Zeiten des Postkolonialismus „Vor die Hunde“ (UA) von Nora Mansmann – Regie Sarah Franke, Choreografie Gili Goverman, Bühne Ann-Christine Müller, Kostüme Isabell Heinke

D

ie deutsche Sprache, sagt die Brasilianerin, klinge für sie wie Hundegebell: „Auch, auch, auch.“ In diesem kalten Land fühlt sie sich nicht willkommen. In Rio de Janeiro, klagt die Deutsche, nerve das pausenlose Gebell der Straßenhunde. Wohl auch, weil es mahnend daran erinnert, dass die Tiere hier mit armen Menschen um den Müll auf der Straße konkurrieren. Bester Freund des Menschen? Vergiss es. In Nora Mansmanns postkolonialer Theatercollage „Vor die Hunde“, die zum Spielzeitauftakt am Kasseler Staatstheater uraufgeführt wurde, stehen die titelgebenden und leitmotivisch auftretenden Vierbeiner für Feindseligkeit und Elend. Und für eine Vergangenheit kolonialer Ausbeutung und Herablassung, die noch immer nachwirkt. Bis ins Privateste. Rosa (Zazie Cayla) und Marlene (Katharina Brehl) lernen sich beim Studium in Deutschland kennen, werden ein Paar. Rosa ist Deutsche, Marlene kommt aus Brasilien. Rosa ist politisch eher unbedarft, Marlene eine Aktivistin, die sich unablässig mit dem Weltgeschehen auseinandersetzt. Was Rosa „Doomscrolling“ nennt, gilt Marlene als nackte Notwendigkeit: Den Luxus des Wegduckens könne sich nur leisten, wer nicht aus dem privilegierten Norden komme.

Erst lebt das Paar in Deutschland, dann versuchen sie es in Brasilien. Doch die Konflikte wachsen. Dass Nora Mansmann in ihrem Auftragswerk für das Kasseler Staatstheater die Geschichte dieser deutsch-brasilianischen Liebesbeziehung erzählen würde, stimmt allerdings nur zum Teil. Als Ausgangspunkt nimmt sie Hans Staden, einen nordhessischen Landsknecht, der im 16. Jahrhundert mit portugiesischen und spanischen Kolonisatoren nach Brasilien fuhr. Sein Buch, in dem er sich mit schwer überprüfbarem Wahrheitsgehalt über seine angeblichen Erlebnisse bei den „Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen“ ausließ, prägte den europäischen Blick auf das südliche Amerika. Hin und her durch die Jahrhunderte geht es, es geht um Migration und Heimat, um Flucht und Rassismus, um Armut und kulturelle Aneignung, um Homophobie und irgendwann sogar noch um den Klimawandel und seine Leugnung. Das ist viel.

Und man muss leider sagen: Es ist zu viel. Ihre stärksten Momente hat die Inszenierung, wenn sie leise wird. Wenn Sarah Franke dem Spiel ihres Ensembles vertraut, wie bei der ersten zarten Annäherung von Rosa und Marlene, unsicher und ungelenk. // Joachim F. Tornau

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos links oben Petra Moser, unten Katrin Ribbe, rechts oben Lukas Diller, unten Julian Röder

„Eichmann vor Gericht“ nach historischen Prozessunterlagen in einer Fassung von Wiebke Melle, Andreas Erdmann und Peter Wittenberg. Regie Peter Wittenberg

dar, einer, der nur Befehle befolgt hat. Seine Parteimitgliedschaft? Zufall. Der Vater eines Freundes habe ihn einfach mal mit­ genommen – so war das damals. Sein erster Besuch in Treblinka? Viel zu viel für die zarte Seele Eichmann. Er habe danach gesagt, das sei ja schrecklich, die jungen Menschen, die dort arbeiten, müssten ja unweigerlich zu Sadisten werden.

Vor den beiden Staatsanwält:innen (Klaus Müller-Beck, Theresa Palfi) und vor allem der Richterin (Katharina Hofmann) gibt es kein Entkommen. Die leisten sich nicht allzu viele Gemütsregungen, stellen den scheinbaren Unschuldsmanövern in verklausuliertem Büro­ kratendeutsch harte Fakten entgegen. Ein zentrales Element des Prozesses und damit auch der Aufführung sind auch die SassenDokumente. Darin zeichnet Eichmann ein anderes Bild von sich: Er wäre zufriedener gewesen, wenn zehn statt sechs Millionen Jüd:innen ermordet worden wären.

Das Böse erscheint in Linz also alles ­andere als banal. Es erscheint in Form per­ fider Rhetorik und gekonnter Geschichts­ revision durch die Täter:innen. „Eichmann vor Gericht“ ist allein deshalb schon mehr als eine performative Gerichtsverhandlung: Es ist eine argumentative Übung gegen faschistische Rhetorik. // Lina Wölfel

Magazin Kritiken

„Menschliches Repertoire“ von Noah Haidle aus dem Amerikanischen von Barbara Christ (UA). Regie Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme Franziska Isensee, Musik Cico Beck

Theater Oberhausen

Die Menschheitsshow wird abgesetzt „Menschliches Repertoire“ von Noah Haidle aus dem Amerikanischen von Barbara Christ (UA) – Regie Kathrin Mädler, Bühne und Kostüme Franziska Isensee, Musik Cico Beck

D

as Bühnenbild ist ein großes, kreisrundes Loch. Das Publikum sitzt darum herum. Zwei beleuchtete Kreise umgeben es wie die Ringe eines Planeten. In dieser Spielzeit ist der Publikumsraum des Theater Oberhausen geschlossen. Bei allen Stücken sitzen die Besucher:innen mit auf der Bühne. Hier ist das ideal. Denn das Stück spielt in einer Art Himmel, der ein Theater ist. Durch das Loch kann man auf die Erde herabschauen, regelmäßig kommen die frisch Verstorbenen hindurchgekrabbelt. Und werden dann von Bühnenarbeiter:innen in Empfang genommen.

Noah Haidle schreibt philosophische Komödien mit schwarzem Humor und Herzenswärme. Viele spielen in Küchen und in seinem Heimatstaat Michigan. Haidle war auch als Drehbuchautor aktiv, konzentriert sich aber seit einiger Zeit wieder auf das Theater. Das hat auch mit einer privaten Entscheidung zu tun. Er hat einen vierjährigen Sohn und ist mit seiner Familie in die ­Berkshire Mountains nach Massachusetts gezogen.

Seinem Sohn Butch ist das Stück auch gewidmet. In einem Gespräch vor der Premiere hat Haidle mir erzählt: „Er ist mein Publikum.

Nur er. Ich möchte, dass er einmal versteht, wer sein Vater ist. Deswegen schreibe ich.“ Mit viel Wortwitz und präzise gezeichneten Charakteren diskutiert Noah Haidle

Theater der Zeit 11 / 2025

grundlegende Fragen. Bringt es überhaupt noch etwas, sich für diese kaputte Welt zu engagieren? Oder ist es überfällig, dass die abwesende Direktorin irgendwann verfügt, dass die Menschheitsshow nur noch nervt und abgesetzt wird? Kathrin Mädler hat schon viele Stücke von Noah Haidle inszeniert, sie trifft mit ihrem wieder einmal wunderbaren Oberhausener Ensemble genau den Ton des Stückes, der diesmal noch emotionaler geraten ist als in früheren Stücken Haidles. Jede der Hauptfiguren bekommt eine Geschichte und erklärende Monologe, was die Aufführung gegen Ende ein bisschen ausbremst. Kathrin Mädler folgt dem Grundsatz, dass eine Uraufführung möglichst ohne Striche gezeigt werden sollte. In weiteren Inszenierungen könnte die Regie etwas straffen. Und am Ende wird es fast schon kitschig. Es ist die menschliche Fähigkeit zur Liebe, die alles rettet. Klar, so etwas schreibt man für seinen vierjährigen Sohn. Aber ehrlich gesagt auch für mich. Es ist schon großartig, dass sich ein Autor traut, die Kriege und Katastrophen zu benennen und dennoch ein Happy End zu schaffen. Mit ganz vielen Fragezeichen. Und ebenso viel Hoffnung. // Stefan Keim

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

F

ür ihre Methode, die Ibsen-Stücke aus der Perspektive der jugendlichen Figuren zu erzählen, ist „Peer Gynt“ geradezu eine natürliche Vorlage. Der Junge existiert gleich zweifach in Gestalt des Master of Ceremony Vegard Vinge und von Ida Müller/Maximilian Brauer gespielt als zunächst depressiver Teenager im Joy-Division-Shirt, der von seiner Mutter richtig brutal vermöbelt wird und – neu sind animierte Zeichnungen – ins Kino geht, um sich dort die unfassbaren Grausamkeiten der amerikanischen Vietnamkriegsfilme von „The Deer Hunter“ bis zu „The Casualties of War“ unter Tränen anzuschauen.

So wird die Peer-Adoleszenz in eine Jugend der späten siebziger und frühen ­ achtziger Jahre verschoben mit allen pop-, film- und sportkulturellen Referenzen hinein in eine letztlich stark repressive Provinzwelt mit ihren David-Lynch-haften Geheimnissen von Sexualität und Gewalt. Ein amerikanisch kostümierter Polizist knüppelt das gerade erwachende Begehren Peers nieder gleich neben dem noch erdig aufgehäuften Grab von Jon Gynt, dem Vater.

Solvejg ist in einer chinesischen Wäschereinigung gefangen, wo das Zuwandererkind bei Reparaturen mithelfen muss. Die protzige Haegstad-Gesellschaft bereitet indes Ingrids Hochzeit vor. Diese Oberschicht ist in einem Vorgriff auf die Szenen aus der Trollwelt mit einem unterirdischen Labor verbunden, wo ein geheimer Dovre-Impfstoff produziert und Geld aus einem Sack für Kultur in einen für die Pharma-Industrie umgeschaufelt wird. Das Ibsen-Personal wird so in Comicmanier sozial konturiert und assoziationsreich für die Gegenwart interpretiert. Über diesen klaren Setzungen liegen etliche Musikzitate des norwegischen Gesamtkunstopernfans Vegard Vinge, der hier sogar von ihm gezeichnete Porträts berühmter Dirigenten mit einspielt. Das kontrovers diskutierte Set aus sechs achtstündigen Aufführungen wird im Mai fortgesetzt. // Thomas Irmer

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin

Grandioses Comeback

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen – ­Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

Alleinerziehende am Abend Von Terézia Mora

„Solange Erzsi [die Großmutter] fort ist, passt während der Proben Ágnes [die Dramaturgin] auf das Kind auf. … Das Theater ist ihre Familie … Klári wird von Hand zu Hand gereicht, gefüttert, in der Schneiderei hat man ihr eine Stoffpuppe mit großem Kopf gemacht. Wenn Tilda spielt, wartet das Kind in der Garderobe, schläft im Sessel ein. Der Inspizient passt auf sie auf. Manchmal nimmt sie Ágnes am Nachmittag mit nach Hause und sie schläft dort, Tilda holt sie ab …“ Ein Ausschnitt aus Andrea Tompas Roman „Oft sterben wir nicht“, deren Heldin, die Schauspielerin Tilda, in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Rumänien alleinerziehende Mutter ist.

8

Ich muss gestehen, ich habe erst mit einiger Verspätung vom Protest der alleinerziehenden Mütter an einem Berliner Theater erfahren, die sich von ihrem Arbeitgeber bei der berühmt-berüchtigten Vereinbarkeit von ­Beruf und Elternschaft nicht nur nicht unterstützt, sondern regelrecht schikaniert gefühlt haben. Ein Bekannter aus dem tech­ nischen Bereich erzählte mir davon mit der Bemerkung: „Wie oft hat auch in der DDR ein Kind bei mir in der Werkstatt geschlafen!“ Es sei doch selbstverständlich, dass man hilft und nicht mit dem Satz „Ich habe es damals auch irgendwie gelöst, dann kannst du das auch“ daherkommt.

Alleinerziehende in Berufen, in denen man auch abends arbeiten muss. In Medizin, Pflege, Gastronomie, Hotellerie, Verkehr, Kunst etc. Es ist immer irgendwie gegangen, es geht schon irgendwie, es wird auch in ­Zukunft irgendwie gehen. Sich jedes Mal eine:n Babysitter:in nehmen, wird nicht irgendwie gehen, diese verdienen an einem Abend mehr, als nach Abzug der anderen Lebenshaltungskosten vom Gehalt, sagen wir, einer Maskenbildnerin übrig bleibt. Als mein Kind klein war, habe ich es mir nur einmal im Monat geleistet, mit meinem Mann zusammen auszugehen, denn das waren­ 50 Euro für die Babysitterin, zusätzlich zu den sonstigen Kosten des Abends. Selbst wenn es „nur“ Kino war, waren es am Ende 80 Euro. Da man mit einem kleinen Kind auch weniger arbeiten kann, also weniger verdient, fühlte sich das an, als hätte man mir 80 Gramm Fleisch aus dem Körper herausgeschnitten. Wie in dem Märchen, das ich als Kind las, in dem der Held auf dem Rücken eines magischen Raubvogels flog, den er unterwegs mit Fleisch füttern musste, sonst hätte dieser ihn abgeworfen, und unser Held hatte natürlich nicht genug dabei, so dass er am Ende Stücke aus seinem eigenen Oberschenkel an den Vogel verfüttern musste, um sein Ziel zu erreichen. So lernt man schon als junges Kind, dass man Opfer bringen muss, große Opfer, wenn man große Ziele hat. So weit, so gut, das ist eine ehrliche Sache, eine saubere Vereinbarung, denn der magische Vogel wird sich nicht gleichzeitig als jemanden dargestellt haben, der sich für die humane Behandlung von Helden interessiert. Für magische Vögel ist so etwas keine Kategorie.

Ich kann mir denken, dass, was den Kulturbetrieb anbelangt, die meisten denken, dieser sei so eine Art magischer Vogel, wer

sich mit ihm einlässt, sei selbst schuld. Über die anderen oben genannten Berufe denkt man das weniger. Niemand glaubt, jemand hätte Abenddienst oder Nachtschicht zum Hobby. Generell ist kein Beruf ein Hobby.

Auch nicht im Kulturbetrieb. Dafür ist Elternschaft jener Luxus, den sich die meisten Menschen glauben leisten zu können, so dass am Ende die meisten kaum wissen, wie sie es durch den Tag schaffen sollen. Viren, Läuse, Mobbing, Streiks, Termine, die nur Nicht-Berufstätige wahrnehmen können, sieben Monate Wartezeit bei der Krebsvorsorge, so ist das Leben der Menschen – auch in einem der reichsten Länder der Welt.

Wenigstens lebt man nicht im Krieg, nicht wahr? Manchmal bekommen sie sogar ein bisschen Applaus, bei der Landung, der Verbeugung oder nachdem sie Hunderten von Menschen das Leben gerettet haben. Wo ihre Kinder oder andere pflegebedürftige Familienmitglieder währenddessen waren, kann uns nicht auch noch interessieren.

Um fair zu bleiben: Von den Zuschauer:innen, den Patient:innen, den Gästen kann man wirklich nicht viel mehr erwarten, als dass sie sich während der gemeinsamen Interaktion benehmen. Vielleicht hat man gelegentlich auch eine fähige Regierung.

Aber das Wohl und Wehe der Berufstätigen wird am Ende immer davon abhängen, ob sie eine:n gute:n Chef:in haben oder nicht. Es ist irrelevant, ob er bzw. sie es damals „ja auch irgendwie geregelt“ hat. „Ich bin auch schlecht behandelt worden, trotzdem bin ich jemand geworden.“ Ja, eben. Trotzdem. Hör dir mal zu. Du bist trotzdem geworden. Und zwar, weil mit großer Wahrscheinlichkeit dich auch mal jemand unterstützt hat. Wenn das nicht so gewesen wäre, wärst du nichts geworden. Vielleicht denkst du, du wärst es selbst gewesen, der beziehungsweise die so wunderbar war, mit noch ein wenig Glück dazu. Wenn du dieses Glückgehabt aber mal näher betrachten würdest, stellte sich vielleicht heraus, dass das in Wahrheit Gnade war. Glück ist in Wahrheit Gnade, und diese kommt immer von außen, also von einem anderen. Wenn du der Chef bist, bist du der andere. In jedem Beruf. Amen. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen im monatli­ chen Wechsel: die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora, die Dramaturgin Anna Bertram und ein Team vom Theaterhaus Jena.

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto links Antje Berghäuser, rechts Ballhaus Naunynstraße, Berlin: Roberta Sant‘Anna, Kaserne Basel: Rio Basel, Theaterhaus G7 Mannheim: Miriam Stanke, Theater Marie: Bettina Diel, Navigators: Piet Truhlar, Neuköllner Oper: Murat Aslan, Sophiensæle: Ronja Burkard, TD Berlin: Tales of Tomorrow X Studio Varo, Theaterhaus Berlin: Porson‘s Khashoggi, Theater Thikwa, Berlin: Peter van Heesen

Magazin Kolumne

Anzeigen

präsentiert Ballhaus Naunynstraße Berlin „Aesthetics of Color – ein Kammerspiel“, eines der wichtigen afro­deutschen Dramen, ist zurück! In neuer Besetzung: Lea Fassbender spielt von nun an der Seite von Amada Tinoco, Johannes Suhm und JeanAesthetics of Color – Philippe Adabra. ein Kammerspiel 8.–11. 11. 2025

Radial­system Berlin In „Quartett zum Quadrat“ verschränken NICO AND THE NAVIGATORS Heiner Müllers „Quartett“ mit Janáč eks Streich­ quartetten Kreutzer-Sonate und Intime Briefe.

Ein eindringliches Spiel aus Verführung, Macht und Zerstörung, eine düstere Allegorie auf Selbstbezogenheit und moralischen Verfall einer saturierten Gesellschaft.

Tickets: navigators.de 4.–7.12. (Premiere)

TD Berlin I WANT TO BELIEVE ist das Motto des 8. Monologfestivals.

Es erkundet mit 10 Premieren den Glauben als kreative Kraft. Ein WANT kann ins Handeln und in Monologfestival 2025 den Wahnsinn treiben.

Ein BELIEVE Gemeinschaft stiften oder zerstören. Brandneue Solos richten den Blick auf das, woran man allein oder gemeinsam glauben kann und will.

Info & Tickets monologfestival.de 6.11.–16.11.

Theater der Zeit 11 / 2025

„Eine Ahnung vom Ganzen“ Texte von Klaus Merz

Theater Marie Verspielt, präzise und mit feinem Humor tasten sich Figuren aus dem Werk von Klaus Merz durch einen Theaterabend, in dem als roter Faden stets die Ahnung durchschimmert, dass sich im Kleinen oft das Grosse finden lässt.

1. und 2.11. (Wädenswil), 15.11. (Reinach), 28. und 29.11. (Baden)

Theater Thikwa Berlin DIE TÜTEN AUS DER VERWALTUNG In ihrem BürokratieMusical beackern glanz&krawall und Thikwa gemeinsam mit Musical-Komponistin Sarah Taylor Ellis ein Thema directly from hell: die deutsche Verwaltung. Eine Fantasie!

12.–15.11., 16.11.

Sophiensæle Berlin LIARS von Henrike Iglesias, Olivia Hyunsin Kim und Olympia Bukkakis ist ein performativer Social-Media-Feed, der sich mit dem Backlash um die Diskurse sexualisierter, patriarchaler Gewalt seit #MeToo beschäftigt.

20.11. (Premiere) und 21.–23.11.

Theaterhaus Berlin Proberaum in Berlin?

Im theaterhaus berlin finden freie darstellende Künstler*innen in Mitte und Schöneweide günstige Proberäume, professionelle Arbeitsbedingungen und ein kreatives Umfeld. theaterhaus-berlin.com

„Nachts im Ozean“ von M. Decar Stück für Stück ’23

Theaterhaus G7 Mannheim Ein Wochenende für internationale Neue Dramatik: STÜCK FÜR STÜCK präsentiert sechs neue Stücke an drei Tagen. Zu jedem Stück ein Gespräch mit Autor*in und Übersetzer*in. Dazu Wein, Suppe und ganz viel Raum für Austausch! 14.–16.11.

Neuköllner Oper Berlin 1000 Airplanes on the Roof: Sci-Fi Kammeroper von Philip Glass/ D.H. Hwang Die Geschichte einer Transition:M., von Aliens entführt, kehrt in ihr altes Leben zurück. Wer wird ihr glauben?

Mara Snip als M. Ab 23. 10.

Kaserne Basel Party is over? „Is that all there is“ – Premiere von Tabea Martin und SoundSisters im Rahmen von Culturescapes Sahara 2025 am 12. November 2025. Alle Infos unter kaserne-basel.ch 12.11. (Premiere), 13.11., 14.11., 15.11.

„Is that all there is“

Probe „Mirrordrom“, Porson‘s Khashoggi, 2022

9

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

10

Theater der Zeit 11 11// 2025

Ensemble in „Zentralfriedhof“ von Herbert Fritsch.

Regie und Bühne Herbert Fritsch am Burgtheater Wien, 2024

Theater der Zeit 11/ 11 /2025 2025

11

Foto Matthias Horn

Körperlichkeit – eine neue Diskussion?

Freiheit und Grenzen des Spieles in neuen Auffassungen von Körperlichkeit im Theater, darum geht es in aktuellen Diskursen, die sich mit der Erweiterung von Körperbildern und Körperhandlungen im Theater beschäftigen. Intimacy Coaching in der Probenarbeit, Body Positivity in der Zusammenstellung von Ensembles und Crip Choreography im Tanz sind nicht nur theoretische Begriffe, sondern in der Praxis angekommen.

Die Regisseurin Magz Barrawasser, eine der ersten und heute viel gebuchten Intimitätskoordinatorinnen im deutschen Theater, verbindet in ihrem einleitenden Essay Erfahrungen und Beobachtungen mit den An­ liegen dieser Tätigkeit. TdZ-Redakteurin Lara Wenzel stellt die Fettaktivistin Katharina Bill vor, Ensemblemitglied im Deutschen Theater Berlin. NRW-Redakteur Stefan Keim untersucht mit dem Copenhagen Collective das Phänomen im zeitgenössischen Zirkus und Elisabeth Maier interviewt Michael Turinsky, der den Begriff Crip C ­ horeography prägte. Herbert Fritsch, mit dem der ­Körper-Komik-Diskurs auf seine Art schon vor 20 und mehr Jahren auf die Sprünge kam, dazu im Gespräch.

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Nicht nur Gestell für Stimmbänder und Handgesten Grundsätzliches über das Neudenken von Körpergrenzen Von Magz Barrawasser

Einen der schönsten Bühnen-Körper-­ Momente erlebte ich 2019 im Publikum sitzend bei der Premiere von „Wilhelm Tell“ am DNT Weimar: Der Kinderstatist, der den Sohn von Tell verkörperte, trat auf, ging zielsicher auf den ihm zugewiesenen Platz vorne an der Rampe, setzte sich pflichtbewusst auf die geklebte Mar-

12

kierung – und bekam Schluckauf. Nun saß der Knirps da, hickste vor ausverkauftem Haus vor sich hin und wusste ganz offensichtlich nicht weiter. Der Schauspieler des Wilhelms bemerkte die Not des Kindes, setzte sich neben ihn – und begann, sehr gekonnt ebenfalls zu hicksen. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, vermittelte

dem Kind neben ihm und allen Zuschauenden im Saal: „Kein Problem, kleiner Freund. Wir sitzen im selben Boot.“ Die beiden spielten ihren Dialog, das Zwerchfell des Kindes beruhigte sich, das Publikum war gerührt. Schöner hätte man die Liebe zwischen Vater und Sohn in dieser Szene nicht zeigen können.

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos Candy Welz

Szenen aus „Wilhelm Tell“, Drama von Friedrich Schiller, Regie Jan Neumann. Eine Produktion vom Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar, 2019. Nominiert für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2019

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Was in diesem Moment zudem deutlich wurde: Der Körper auf der Bühne weiß nicht, dass er spielt. Der hat halt einfach Schluckauf, weil das gerade so sein muss – und somit hat die Figur eben auch Schluckauf. Aber nicht nur das: Dieser Körper hat ja auch jede Menge Nervenzellen, die auf Eindrücke reagieren. Wenngleich der Kopf weiß, dass es beim Spielen Figur und Mensch gleichzeitig gibt, kann der Körper die Eindrücke nicht trennen.

Figur und Mensch teilen sich denselben Körper und damit auch dasselbe Schmerzempfinden oder Zwerchfell, dieselbe Kitzligkeit oder erogene Zone. Wenn eine Figur eine Ohrfeige bekommt, wird die reale Wange der Darstellerin rot. Wenn zwei Figuren sich innig umarmen, wird in den realen Körpern Oxytocin ausgeschüttet.

Wenn sich zwei Figuren sich küssen, dann sind es die Lippen der Darstellenden, die sich treffen und die dann durch sensible Nervenbahnen Signale senden, auf die Hirn und Körper pflichtbewusst reagieren.

Das körperliche Empfinden der Figuren ist also nicht vom persönlichen Körperempfinden der Darstellenden getrennt.

Wie ist es da möglich, die Freiheit des Spieles den Grenzen des Körperlichen gegenüberzustellen? Kann man ein freies Spiel überhaupt von dem Körper, der es trägt, trennen? Falls ja: Wo verläuft die Grenzlinie? Und wie geht das aus Publikumsperspektive, nachdem Florentina Holzinger 2023 für „Ophelia’s Got Talent“ den FaustPreis bekam und damit viele Sehgewohnheiten im Bereich Körperlichkeit mit lautem Quietschen verschoben wurden?

Machtpyramide Das Neudenken des Begriffs „Grenze“ scheint grundlegend für eine Definition des körperlichen Handlungsspielraums.

Wenn eine Grenze bislang als Blockade, lästige Unannehmlichkeit oder „Befindlich­ keit“ abgetan wurde, scheint es nachvoll­ziehbar, dass sie im Probenraum unwillkommen war. Aber ist eine genau formulierte Grenze nicht vielmehr ein hilfreicher Weg­weiser? Er zeigt uns: „Diese eine Berührung geht nicht.“ Und dann weiter: „Diese andere Berührungen sind sehr gut möglich“ – na dann forschen wir doch in

Theater der Zeit 11 / 2025

diese mögliche Richtung weiter. Dieser Vorgang ist auf der Probebühne eigentlich völlig alltäglich, da wir uns dort immer mit Möglichkeiten, Einschränkungen, Varianten und spontanen Veränderungen befassen. Wir denken Grenzen also sowieso schon permanent mit, wir bewerten sie nur unterschiedlich.

Chelsea Pace, Mitgründerin von Theatrical Intimacy Education, prägte für das Sprechen über eigene Grenzen das Bild von Gebieten, die von Zäunen mit Toren umschlossen sind. Zäune sind flexibler und durchlässiger als Grenzmauern, Tore können offen oder geschlossen sein – man kann damit arbeiten, dass die Begrenzungen veränderbar sind, je nachdem was gerade mit wem wo erarbeitet wird. (Natürlich darf es bei der Arbeit mit dem eigenen Körper auch Zäune geben, die immer fest und verschlossen bleiben. Nur weil sie flexibel sein können, heißt es nicht, dass sie flexibel sein müssen.)

Dem Neubewerten von Grenzen geht voraus, dass anerkannt wird, dass es überhaupt welche gibt. Und das ist gar nicht so einfach: In den Darstellenden Künsten verschwimmen sie seit jeher zwischen privat und beruflich, Arbeit und Freizeit, Figur und Darsteller:in. Im Arbeitsalltag der Theaterschaffenden vermischen sie sich zu-

dem mit ungeschriebenen Verhaltensregeln auf der Bühne, in den Garderoben, in der Kantine – und die Definitionsmacht des Angebrachten liegt allzu oft bei denen, die in der Machtpyramide weiter oben stehen.

Bei Gesprächen, die ich in den letzten Jahren mit Kolleg:innen geführt habe, wurde deutlich: Es ist immer wieder kompliziert, sich in dieser Vermischung zu positionieren. Nicht nur für Berufsanfänger:innen, sondern auch für Menschen, deren Alltag seit Jahren geprägt ist von den sich probenbedingt ständig verändernden Gruppenkonstellationen. Natürlich ist der Körper die Grundlage des Handwerks, aber zugleich gibt es wenig konstante Handhabe für das Aushandeln, Benennen oder Halten einer Grenze. Dazu kommt, dass der Körper als Ressource der Lohnarbeit unter strenger Beobachtung kapitalistischer Verwertungslogik steht, was es oft von innen heraus schwierig macht, eine Grenze anzuerkennen.

Dem Neubewerten von Grenzen geht voraus, dass anerkannt wird, dass es überhaupt welche gibt. Und das ist gar nicht so einfach.

13

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Wogegen wir uns bei aller Vermischung jedoch nicht wehren können: Ein Körper hat Grenzen. Er ist verletzlich, hat vielleicht Höhenangst, hat eine Form, Fähigkeiten, Bedürfnisse. Wir müssen also mit ihm zusammenarbeiten. Wir müssen immer wieder herausfinden und akzeptieren, was er kann, und das mit dem abgleichen, was wir erreichen wollen. Ganz generell als Menschen, aber auch in allen Professionen für die Bühne.

Grenzen wahren Ein ganz wunderbares Bühnenbeispiel von produktiver Zusammenarbeit von körperlichem Können und Wollen ist die Kampfchoreografie: Nach einer Risikobewertung wird mit Simulationstechniken gearbeitet, um die Gefahren einzugrenzen für die beteiligten Körper und damit letztendlich auch für das Budget der Produktion (z. B. durch Produktionsunterbrechung oder Umbesetzungen im Verletzungsfall). Hierbei kommen fest verabredete Choreografien und technische Hilfsmittel

14

zum Einsatz, denn es ist natürlich weithin bekannt, dass z. B. die Schauspielerin der Figur Maria Stuart nicht in echt geköpft, erstochen, erschossen oder gesprengt wird. Die sichere und wiederholbare Darstellung von Gewalt wird deswegen unter Einbeziehung der körperlichen Grenzen und Möglichkeiten gemeinsam ästhetisch erarbeitet. Und da zudem der Körper nicht weiß, dass er spielt, muss er gut durch die körperlichen Aktionen der Szene begleitet werden – und trotzdem ekelt sich das Publikum vor Kunstblut, erschrickt sich beim Fallen der Fake-Guillotine oder weint über einen Bühnentod.

Es scheint logisch, dass auf der Bühne niemand unfreiwillig verletzt werden soll und deswegen die körperlichen Grenzen gewahrt werden müssen. Dieser Gedanke ist zwar weitverbreitet, bezieht aber nur einen Teil der Grenzen mit ein, die in den Darstellenden Künsten mitspielen. In den 2010er Jahren begannen Fachleute aus den Bereichen Performance und Kampfchoreografie zu erforschen, wie auch intime Szenen ohne Gefahr für die körperliche

1 Bitte lesen Sie hierzu auf tdz.de das frei zugängliche Vorwort und die Texte von Maren Rose und Magz Barrawasser/Franzy Deutscher in: „Challenge(d) Bodies – Herausfordernde und herausgeforderte Körper in der Kunst“, hrsg. von Josef Bairlein, Maria Goeth, Barbara Gronau, Antonia Leitgeb-Busche und Susanna Werger.

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos Nicole Marianna Wytyczak

Szenen aus „Ophelia’s Got Talent“, Konzept und Regie Florentina Holzinger. Bühne: Nikola Kneževic.

Uraufführung 2022 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

und psychische Integrität der Beteiligten inszeniert werden könnten.1 Die Intimitätskoordination entstand. Sie berücksichtigt, dass die Grenzen eines Körpers mehr umfassen als – ganz vereinfacht gesagt – Haut und Knochen und nimmt daher das persönliche und körperliche Empfinden von Intimität mit dazu.

Diese Erweiterung der einzubeziehenden Grenzen ist notwendig, da intime Szenen im Vergleich zu rein körperlichen Stunts drei Arten von Verletzungsrisiko bergen: Zunächst gibt es auch hier das Potenzial der physischen Verletzung. Dieses besteht immer, wenn sich Körper nähern – sei es stürmisch, vorsichtig, zärtlich, tänzerisch, akrobatisch, gewaltvoll.

Dazu kommen bei Szenen mit intimen Inhalten ein mentales und ein emotionales Verletzungspotenzial, das z. B. durch Berühren oder Zeigen intimer Körperstellen, durch unsensibles Verhalten oder privates Bewerten entsteht. Im Sinne des Arbeitsschutzes müssen intime Szenen also zwischen Darstellenden, Intimitätskoordination und Regie besonders gut geplant, transparent erarbeitet und sicher verabredet werden. Denn nur so kann die physische und psychische Unversehrtheit gleichermaßen gewährleistet werden. Das Spektrum der szenischen Vorgänge reicht dabei von Küssen über Erotik bis hin zu Sexualpraktiken, sexualisierter Gewalt oder Szenen, die sich mit körperlichen Vorgängen befassen (Untersuchungen, Pflege, Geburt, Stillen, Operationen u. a.).

Für diese Momente werden – genau wie bei der Kampfchoreografie – Simulationen erarbeitet. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Freiheit des Spieles vergrößert, wenn die Darstellenden spüren, dass dabei ihre Grenzen gewahrt werden, sie als Mensch und nicht nur als Körpermaterial wahrgenommen werden. Dass zudem Diskriminierung, Stereotypisierung und Klischees auf und hinter der Bühne vorgebeugt werden kann, ist der positive Nebeneffekt der

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Arbeit mit einem beziehungsweise einer gut ausgebildeten Intimitätskoordinator:in.

Kampfchoreografie und Intimitätskoordination verbindet, dass sich beide Disziplinen mit dem körperlichen Erzählen von Handlung befassen. Sie erkennen an, dass der Bühnenkörper nicht nur das Gestell ist, das Hirn und Stimmbänder an die Rampe trägt. Es wächst das Bewusstsein für die körperlichen, emotionalen und sozialen Bedürfnisse der Darstellenden: Der Bühnenkörper wandelt sich in diesem demokratischen Prozess vom rein künstlerischen Werkzeug zum Individuum. Und das ist gut so.

Es ist an der Zeit, von Ausbildungsbeginn an die Gesamtheit des Körpers für die Arbeit in den Darstellenden Künsten anzuerkennen. Logisch und doch revolutionär mutet es da an, dass die Ballett-Akademie der HMTM in München seit 2024 Tanz­ medizin, Ernährungswissenschaft und mentale Gesundheit als feste Bestandteile in ihre Ballettausbildung integriert hat.

Das ist nur eines der vielen Beispiele, das zeigt: Wir befinden uns in einem Kulturwandel, in dem Arbeitsweisen hinterfragt und Verletzlichkeiten enttabuisiert werden, denen der Bühnenkörper aus-

gesetzt ist. Selbstverantwortlichkeit und Mitspracherecht werden als Gegenentwurf zu anachronistischen Strukturen und Hierarchien gesetzt. Mentale Gesundheit ist ein integraler Bestandteil dieses Diskurses.

Und stirbt dadurch nun die Kunst? Mitnichten. Dieser Urangst kann entgegengehalten werden, dass eine Inszenierung tiefer, mutiger, kreativer und freier erarbeitet werden kann, wenn die Grenzen und Möglichkeiten aller Beteiligten einbezogen werden.

Und auch nach der Premiere geht dieser Prozess weiter, denn natürlich muss die zuschauende Perspektive mit bedacht werden, wenn wir über Körperlichkeit auf der Bühne sprechen. Abseits von Geschmacksfragen ist spürbar, dass das Publikum entspannter zuschauen kann, wenn es weiß, dass es den Menschen auf der Bühne gut geht. Nacktheit, simulierte Gewalt, erotische Szenen oder gar Selbstverletzung als Teil einer einvernehmlich erarbeiteten Inszenierung dürfen dann einfach angeschaut werden ohne die bohrende Frage im Hinterkopf, ob das voyeuristisch ist oder ob die Person auf der Bühne Hilfe, einen Mantel oder etwas zu essen braucht.

Sicherlich werden dabei immer wieder Sehgewohnheiten herausgefordert – aber

Wir sind in einem Kulturwandel, in dem Arbeitsweisen hinterfragt, Verletzlichkeiten enttabuisiert werden. dafür sind wir ja schließlich auch da. Sowohl als zuschauender als auch als darstellender Mensch ist es wichtig, hier stets die eigenen Vorurteile zu erkennen und die Schubladenscharniere im Hirn zu ölen.

So ist, heute genau wie seit Anbeginn der Bühnenkunst, das Zuschauen ein gesellschaftlicher Prozess. Wir sitzen beieinander, wir schauen, wir reagieren mit Leib und Seele, verhalten uns zum Gesehenen.

Wir sind dabei empathisch, emotional, haben Puls, ein Lachen im Hals oder eine Träne im Augenwinkel. Wir nehmen Anteil an den Erfahrungen der Figuren, denn wir sind verbunden durch die Tatsache, dass alles, was sie und uns ausmacht, getragen wird vom Körper. In dem einen Fall weiß er, dass er zuschaut, in dem anderen Fall weiß er nicht, dass er spielt und agiert damit in sehr vitaler Doppelfunktion auf einer Bühne. Und letzten Endes übernehmen wir in diesem Prozess immer füreinander Verantwortung, als anwesende Körper, als Menschen. Mit oder ohne Schluckauf.

Literaturtipps: Challenge(d) Bodies – Herausfordernde und herausgeforderte Körper in der Kunst, Edition Bayerische Theaterakademie August Everding, Verlag Theater der Zeit 2025. Siehe Vorabdruck hier im Heft, Seite 78 Staging Sex von Chelsea Page. Routledge 2020.

Intimitätskoordination. Intimität im Film und auf der Bühne inszenieren, hrsg. von Saskia Oidtmann, Henschel Verlag. Erscheint im Winter 2025.

Homepage des BIK e. V., dem Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie www.b-ik.art

Theater der Zeit 11 / 2025

15

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Szenen aus „Murmel Murmel“ von Dieter Roth. Regie und Bühne Herbert Fritsch. Kostüme Victoria Behr.

Premiere 2012 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Herbert Fritsch über Körper­ lichkeit und Komik im Theater im Gespräch mit Thomas Irmer

16

Ich habe kein Anliegen. Ich kann nicht anders. Ich kann nur über den Körper erzählen. Deswegen z. B. mache ich auch etwas, das bis vor Kurzem noch unmöglich war: vorzuspielen. Und das Vorspielen nehme ich aber nicht als ‚bitte mach das genau so‘, sondern das ist meine einzige Möglichkeit mich auszudrücken. Und den Geist in sich so zu beschwören, dass etwas mit einem passiert. Und da macht man einfach ganz simple Sachen, und sei es, was Vegard Vinge auch macht, die Sache 150 Mal zu wiederholen.

Das klingt tatsächlich eher nach Exerzitien.

HF Das Problem ist, zur Körperlichkeit gehört die Grimasse. Das ist das ganz Entscheidende. Das ist ja das Schlimmste, was wir zurzeit haben. Es ist wie eine Krankheit, dass alles bei uns glattgebügelt ist. Wir sind wie ein begradigter Fluss.

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos Marcus Lieberenz/bildbuehne.de

Auf dem Gipfel der Verzweiflung

Was ist der Körper auf der Bühne für dich?

Ist das ein Instrument, wie manche sagen, oder ist es tatsächlich eben die reine und dabei individuelle Körperlichkeit?

HERBERT FRITSCH Nein, also der Körper, ich sag’s mal ganz extrem, der Körper ist Geist. Der Körper, der kann gar nicht mechanisch sein. Der Geist, der da drinsteckt in dem Körper, das ist so komplex, was da stattfindet. Es geht darum, an einen Punkt zu kommen und so zu arbeiten, dass mit dem Körper etwas passiert, dass der Körper uns plötzlich etwas erzählt, was wir vorher nicht wussten.

Das ist jetzt natürlich sehr extrem, aber für mich ist es halt so, durch diese täglichen, ich würd’s gar nicht Proben nennen, sondern durch diese täglichen Exerzitien, die man macht, baut man die Schwingung auf im Körper. Ich sag, lass uns einfach irgendeine Bewegung machen, ohne an irgendeinen Sinn zu denken.

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Dass du möglichst keinen Ausdruck mehr hast. Du siehst es, wenn du mal in so eine Talkshow reinschaust. Weil da diese Gesichter über die heftigsten Sachen sprechen, ganz wichtige Themen. Und da ist nichts Verzerrtes in ihren Gesichtern. Alle sind so cool.

Ja, so sind aber heutige Konventionen der Polit-Talkshows im Fernsehen …

HF Im Film gibt es eine ganz andere Tradition von Körperlichkeit, im Stummfilm vor allem. Bei Charlie Chaplin, bei Buster Keaton, bei Laurel & Hardy. Das waren extreme Körperlichkeiten, mit denen Bilder geschaffen wurden.

Wenn man beim Gesicht anfängt, also das, wodurch du sprichst – Sprache braucht eine Körperlichkeit. Die gesprochene Sprache, die Wörter sind nur dann interessant, wenn sie einen Klang haben und wenn sie Körper haben. Wenn sie aber so gesprochen werden, wie ein Regisseur immer Schauspieler anweist und wie es mir auch immer gesagt wurde, hör mal, einfach nur den Text, sprich einfach nur den Text. Und da habe ich immer gedacht, jetzt muss ich es auch mal hinkriegen, dass ich einfach nur den Text

spreche. Stinklangweilig, saudoof, ohne Risiko, kein Alexander Moissi mehr.

Und da merkst du auch, wie fragwürdig Wörter sind, wenn du sie sprichst wie gedruckt. Das ist ja dieses eingleisige Denken. Und auch die Gesichter sind so, das ist alles ganz furchtbar. Du siehst keine Verzerrung mehr. Das Gesicht arbeitet nicht mehr. Das ist alles tot.

War das anders bei der Arbeit mit Opernsänger:innen bei György Kurtágs „Fin de Partie“, die ja andere Vorgaben in ihrem Fach haben?

HF Bei der Beckett-Oper „Fin de Partie“ in Wien habe ich immer mit ihnen daran gearbeitet und gesagt, Leute, das waren die großartigen Nagg und Nell, Charles Workman und Hilary Summers, ihr müsst aus der Tonne rauskommen. Sobald ihr mit dem Kopf auftaucht und rauskommt und guckt und euch bewegt und schaut, dann erzählt das was. Und es geht dann auch sofort in die Artikulation über. Ich will jetzt gar nicht sagen Sprache, sondern Artikulation.

Da merkst du sofort, das ist Körper.

Und in der Schauspielschule hast du immer gelernt, nimm mal zurück, weniger

ist mehr. Nicht so singen. Nicht singen mit den Wörtern. Ich dachte, genau das ist es doch. Genau das ist es doch, für mich ist es Gesang. Spätestens als ich dann NohTheater gesehen habe, bei dem ich dachte, ja bitte, da ist es.

Für die Oper ist es besonders herausfordernd, denn Sänger:innen wollen ja stehen beim Singen.

HF Allein aufgrund des Resonanzkörpers. Dieser Hamm muss aber sitzen.

Ich hatte das Glück vier wunderbare Sänger zu haben. Einen ganz hervorragenden Hamm, der eine ganz schwierige Partie hat. Das ist ja ein Riesending, seine Partie.

Die hat er ein Jahr lang vorbereitet, um das singen zu können. Weil es hochkomplex geschrieben ist von Kurtág. Die Dirigentin Simone Young hat der Musik eine große Leichtigkeit gegeben. Und dann der Clov, der herumrennt. Der ist super körperlich, der Georg Nigl wie auch Philipp Sly im Rollstuhl. Dazu die beiden in der Tonne.

Für die Beckett-Tradition, würde ich sagen, ist es falsch, dass das Absurde der Kommunikation völlig abstrahiert wurde von den Körpern, die das spielen. Das ist ein Missverständnis.

Die gesprochene Sprache, die Wörter sind nur dann interessant, wenn sie einen Klang haben und wenn sie Körper haben.

Theater der Zeit 11 / 2025

17

„Zentralfriedhof“ von Herbert Fritsch. Regie und Bühne Herbert Fritsch am Burgtheater Wien, 2024

18

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Matthias Horn

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Zu deiner frühen Schauspielerkarriere gehören extreme Körperleistungen.

HF „Ein Bericht für eine Akademie“ in Basel im Foyer. Der Hans Schenker, der hat nur dagesessen, hat einfach Kafkas Text gelesen. Ich kam aus dem Fahrstuhl raus und bin kerzengerade auf eine Wand zugerannt und voll dagegen geballert.

Und wollte nicht wahrhaben, dass da eine Wand ist, und wieder zurück und immer wieder. Und das so lange, bis der Text vorbei war, mit einem großen Motorradhelm auf dem Kopf.

Bei Robert Wilson bin ich immer wieder von der Bühne runtergestürzt. Da habe ich wahnsinnige Stürze gebaut. Eine unglaubliche Geschichte. Ich sagte zu Ivan Nagel damals in Stuttgart, oh, da möchte ich gerne mitmachen bei „Alcestis“.

Nagel sagte mir, Herbert, der kennt dich nicht und du bist ein völlig unbekannter Schauspieler, der wird nicht mit dir arbeiten wollen. Ich war ziemlich traurig und irgendwann rief mich Nagel an, Herbert,

Folgendes, du könntest bei Wilson mitspielen. Aber nur unter einer Bedingung, hat Wilson gesagt. Du musst ihn zum ­Lachen bringen, dann bist du mit dabei.

Das war natürlich eine knallharte Ansage.

Und wie hast du es geschafft?

HF Na ja, das war eben auch eine Körpergeschichte. Wilson war also angekündigt für diese Proben, ich wurde hinbestellt, aber Wilson kam aus Tokio und hatte große Verspätung. Es war ein heißer Sommer und wir saßen alle draußen vor der Probebühne in Stuttgart. Jeden Augenblick kam jemand. Irgendwann kam er, ein Gespann von Leuten dabei, alle so ganz coole Typen mit Sonnenbrille. Ich wusste nicht, wer das alles ist. Die saßen da alle und Wilson hat dann erst mal zwei Stöckchen rausgeholt und gesagt, okay, wenn ich die Stöckchen zusammenschlage, dann absolute Stille. Und wenn ich wieder damit schlage, kann man miteinander reden.

Und dann schlug er die Stöckchen und

hat, glaube ich, eine Viertelstunde nichts gesagt. Und das Irre war, von wegen Körperlichkeit, der Raum fing zu leben an. Da passierte ganz viel. Das hat mich so beeindruckt. Als das vorbei war, alle saßen da, auch von den Gewerken waren noch Leute dabei, sagte er ganz ruhig: Herbert, you want to show us something? Ich habe gezittert wie verrückt. Diese schöne Grundkörperlichkeit, diese Aufregung. Und dann führte mich seine Assistentin Ann-Christin Rommen in die Garderobe. Da war für mich ein Kostüm für diesen Diener der Alcestis, den ich spielen sollte. „Herbert, mach dich bereit. Wenn du angezogen bist, alles hast, dann komm raus.“ Was mache ich jetzt? Okay, scheißegal. Ich bin rausgegangen, habe nur gespielt, keinen Text gesprochen, versucht, den Tisch zu decken, der war aber schon gedeckt, und ich habe das alles umgeschichtet, immer mehr durcheinander, und dann flog das alles durch die Luft, bin noch über etwas drüber gestolpert, auf den Boden geknallt,

Anzeige

proberaum in schöneweide und mitte infos & miete

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

und ich hörte den Wilson lachen wie verrückt, und er sagte, stop, stop, stop, es ist okay, es ist okay. Ich soll die Szene selber entwickeln und er baut das dann ins Stück ein. Ich bin in dieser Szene immer hingeknallt, und da habe ich aus Quatsch mal gesagt, ja, es wäre toll, wenn mich jemand massieren würde. Wilson sagte, kein Problem, machen wir. Vom Stuttgarter Ballett kam der Masseur jedes Mal vor meinem Auftritt. Der Körper wurde fit gemacht für diese Anforderung, stuntmäßig von der Bühne runterzufallen.

War das für dich eine neue Reflexion von Körpertheater? Den Begriff gibt es ja wirklich, Körpertheater.

20

HF Wenn ich das Wort Körpertheater höre oder von Konzepten Körper im Raum, Bewegung im Raum, da wird es mir ein bisschen gruselig. Das ist in der Freien Szene oft sehr inflationär verwendet worden. Körper im Raum – das ist er ja sowieso.

Man hat bei deinen Sachen an der Volksbühne gesehen, dass es ein ganz besonderes Interesse an den Körpern dieser Spieler:innen gab und wie die sich tatsächlich im Raum bewegen, mit Trampolinsprüngen und verrenkten Bewegungen.

HF Das ist dann eben so ein fast SichMalträtieren, den Körper schwierigen Situationen aussetzen. Aber auch in so

einem Irrsinn, den ich als Schauspieler irgendwann nicht mehr akzeptieren konnte.

Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich dachte, nee, also so geht es für mich nicht weiter. Denn es war wirklich so ein Sich-Ausliefern.

Und jetzt finden wir das bei Florentina Holzinger, das Thema ist dann eigentlich Körper und Risiko. Wobei ganz klar ist, wir wollen uns nicht verletzen. Also wenn ich Christopher Nell nehme als Beispiel oder Wolfram Koch, wenn der bei „Die (s)panische Fliege“ auf dem Bauch bis nach vorn an den Rand der Bühne rutscht, da wusste ich, das kann er und er tut sich nicht weh. Bei „Marquis de Sade“, was ich in Bochum gemacht habe, hatte ich

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Matthias Horn

Szenen aus „Zentralfriedhof“ von Herbert Fritsch. Regie und Bühne Herbert Fritsch am Burgtheater Wien, 2024

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit es echt nicht weiter. Und das siehst du bei so großen Leuten wie Buster Keaton, wie der seinen Körper eingesetzt hat. Und wie das eben auch letztendlich ein Tanz ist.

Denn es hat einen Rhythmus, der aber nicht hergestellt wird mit einem Dirigenten oder mit einem Metronom. Es können auch ganz unregelmäßige Rhythmen sein.

Doch es hat einen organischen Rhythmus.

Wie bei Chaplin, mit seinem Bärtchen und Watschelgang, Laurel & Hardy. Auch Karl Valentin. Oder wenn du Hans Moser siehst.

Gibt es denn in der Gegenwart gute Beispiele für Körperkomiker?

HF Jerry Lewis war so einer.

diese Frau aus Dänemark eingesetzt, die sich immer an den Haaren aufhängt und nach oben ziehen lässt. Denn die konnte das, und ich wusste, die tut sich auch nicht weh. Schlimm wird es für mich, wenn man sich aufritzt oder Ähnliches. Damit kann ich nichts anfangen. Das ist so extrem, dass das Zugucken schon wehtut.

Der Zusammenhang zwischen Körper und Komik ist bei dir das eigentliche Thema.

HF Denn in der Komik bist du, wie Cioran in seinem Buch gesagt hat, „auf dem Gipfel der Verzweiflung“. Das ist die Komik. Dass du den Körper oder auch die ganze Produktion auf den Gipfel der Verzweiflung treibst. Wo man denkt, da geht

Theater der Zeit 11 / 2025

Der bewegte sich ganz und gar nicht wie im konventionellen amerikanischen Film.

HF Jim Carrey ist auch von dieser Art. In Deutschland gibt es eine ganze Reihe von großen Talenten des Komischen, mit denen ich auch schon gearbeitet habe.

Wenn sie leuchten, sieht man sofort das Komödiantentum als ihr Fach per se. Das Problem ist, dass die Komik in einem so schuldbeladenen Land wie Deutschland in Verruf geraten ist. Leute haben bei „Die (s)panische Fliege“ nachher gesagt, sie hätten sich geschämt, dass sie gelacht haben.

Diese Komiker, die ich so liebe, weil die das so toll können, kriegen nicht den Raum, die dringen nicht durch. Die werden immer wieder gezüchtigt von Regisseuren, die sagen, ja, lass mal diese Faxen, das machen wir richtig. Das sind diejenigen, die genau Bescheid wissen. Das ist furchtbar. Das Theaterkonzept in Deutschland ist halt auf etwas ganz anderes abgestellt.

Das ist immer noch die Neuberin, die da rumgeistert. Dieses Moralische, mit dem Sprache und Aufklärung das Dominante ist. Das ist das große Missverständnis.

Denn die Sprache ist Illusion. Sprache ist nicht für Verständigung geeignet. Sprache ist zum Lügen da oder für Gebrauchsanweisungen. Aber sie ist sonst nichts, diese gesprochene Sprache. Es gibt eine andere Sprache mit dem Körper, die die Worte nicht braucht. Mit Sprache kannst du vor allem behaupten.

Wenn jemand die Überzeugung hat, ich als guter Schauspieler kann nur die Tra-

gik spielen, was würdest du mit so einem machen?

HF Ich würde ihn die Tragik spielen lassen und ihm ein entsprechendes Gegenüber mit dazu tun. Das ist dann der weise Clown. Aber die Überzeugung ist verbreitet, dass ein guter Schauspieler mit Tragik in ergreifender Weise zu verkaufen ist.

Wenn ein Schauspieler echt weinen kann, gilt er als ein toller Schauspieler und kann einen Bundesfilmpreis dafür kriegen. Aber das ist lächerlich. Echt weinen ist lächerlich. Das ist unfreiwillig komisch, und saudumm. Und Ehrlichkeit ist auch so eine Sache, Ehrlichkeit ist in einer schrecklichen Welt wie jetzt Dummheit. Absolute Dummheit. Und Ehrlichkeit wird nur vorgegeben durch den Gestus und durch eine bestimmte Sprache.

Das Interesse, warum wir das jetzt machen, ist der aktuelle Diskurs, dass andere Körper ins Theater kommen. Das hat natürlich auch was mit dieser Vorstellung zu tun, es soll keiner ausgegrenzt werden.

Nicht alle sind gleich, aber alle sind gleichberechtigt. Es gibt behinderte Körper im Tanz inzwischen.

HF Es gibt keine anderen Körper. Es gibt nur Körper.

Der Schauspieler, Regisseur, Bühnenbildner und Medienkünstler Herbert Fritsch hatte gerade Premiere mit„Rabatz!“ am Schauspiel Köln

21

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit es toll, wenn es bunt ist. Das war immer so, auch in der Volksbühne. Die „Ratten“ waren da, die Obdachlosen, die unterschiedlichsten Menschen.

Siehst du etwas Positives, wenn es dieses verstärkte Interesse an Körperlichkeit im Performancebereich im weitesten Sinne gibt?

HF Für mich hat es nichts Positives.

Da merkt man, dass mit solchen Themen abgelenkt wird von einer abgrundtiefen Ungerechtigkeit, die herrscht. Es wird gesprochen über Führungspositionen, die so und so besetzt werden müssen. Aber es gibt keine Quote für Arme. Alle müssten vielleicht auch arm sein. Alle sollten vielleicht ein bisschen demütig sein.

Jeder ist anders, und jeder kann was anderes und muss dahin, was er kann. Das Theater knirscht unter diesen Dingen.

Das Leben ist voller Ungerechtigkeiten. Das ist voller Gifte. Voller Fallen. Voller Betrügereien. Und wir als Schauspieler, wir sind auch Betrüger. Wir sind Schlitzohren. Ohne eine gewisse kriminelle Energie können wir das gar nicht machen, was wir machen. Das geht gar nicht. Diese ganze Bravgetue, diese Ordentlichkeit an den Theatern, die die Körper verkümmern lässt, weil alles so in Anständigkeit untergeht. Ich ertrage das nicht mehr, das Regelbasierte.

„Zentralfriedhof“ von Herbert Fritsch. Regie und Bühne Herbert Fritsch am Burgtheater Wien, 2024

22

Das ist ja ein Begriff, der gerade in der Außenpolitik benutzt wird.

HF Deswegen, ein theaterregelbasier­ tes Theater. Wo ich sage, dass z. B. die Pause der Feind der Ekstase ist. Eine Pause ist für mich absolut antikörperlich. Dass ein Mensch, wenn er überlastet ist, erst mal ausruhen muss, das ist völlig klar. Und dass man Menschen nicht ausbeuten soll, etwas gegen ihren Willen zu treiben und durchzuziehen. Aber durch irgendwelche Grenzen gehen, das ist halt heute nicht mehr so möglich.

Die Gewerkschaft kümmert sich zwar nicht um bessere Gagen, aber immer mehr um Ruhezeiten. Und was weiß ich was alles. Also wenn ich daran denke, wie wir bis zur Erschöpfung irgendwelche Sachen durchgezogen haben. Und erst wenn du in der Erschöpfung bist, kommst du plötzlich auf etwas. Weil der Körper nachgibt. Weil er sich nicht sperrt. Weil nicht der Krampf drinsteckt.

Es sind auch so viele Sicherheitsbestimmungen, die den Körper einschränken.

Wenn ein Schauspieler von einem Meter Höhe runterspringen will, ist auf einmal ein Problem da. Oder wenn die Drehscheibe sich richtig schnell drehen soll mit allen Schauspielern darauf, geht das nicht, weil das verboten ist. Die könnten ins Publikum geschleudert werden. Alles, was Körperlichkeit einschränkt. Dieses durchgängige Reglementieren sicherheitstechnisch und psychologisch.

Also nicht Entfesselung, sondern Entregelung?

HF Mit einem natürlichen Gespür dafür, dass man Menschen nicht fertigmacht.

Ich verstehe diese ganzen Empfindlichkeiten nicht. Sie verhindern den Körper. Wenn das nur angstbedrängte Körper sind, und das ist nicht die produktive Angst, wo man merkt, oh wird das was, das ist was anderes. Aber dieser angstbedrängte Körper, ich könnte hier ungerecht behandelt werden.

Das Theater ist ungerecht. Und nicht nur das Theater, die ganze Welt ist ungerecht.

Wir müssen unsere Position da drin finden, dass man sich körperlich regelrecht aufrichtet und das verteidigt. Und wenn man das nicht kann, kann man vielleicht was anderes, mit dem man Künstler wird. T

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto links Matthias Horn, rechts Paula Reissig

Also der nicht konventionell genormte Körper und sein Aussehen. Eine Zeit lang hat man das an den Schauspielschulen gesehen, immer die gleichen Typen.

HF Ja, aber das liegt an den Schauspielschulen, die eh doof sind. Geh mal zurück, guck dir alte Theatersachen an.

Da hat es immer Leute gegeben mit unterschiedlichen Körpern.

Orson Welles, der war so fett. Qualtinger. Das war überhaupt kein Thema.

Das Schlimme ist, sich als Opfer darzustellen, ist keine Kunst. Dieses Bemühen, dass man ein Opfer ist, weil man einen bestimmten Körper hat, das ist ein Mangel des Selbstbewusstseins.

Was soll denn der Qualtinger sagen?

Was das für eine Granate war, dieser Typ. Nicht jeder kann es. Aber jeder kann was anderes. Also das Kriterium ist eigentlich nicht diese Gleichberechtigung, sondern eher das Selbstbewusstsein, mit dem Körper bestimmte Sachen machen zu wollen. Das ist grundsätzlich. Das trifft alle diese ganzen Identitätsthemen. Bitte nicht zum Opfer machen, sich behaupten!

Herbert Achternbusch hat gesagt, solange es Berge und Täler gibt, gibt es keine Gerechtigkeit. Denn da müssten wir die gesamte Welt, wie sie ist, umgraben. Glattmachen. Und jeder müsste einen Anspruch darauf haben, schön auszusehen. Ich finde

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Szenische Künstlerin und Fettaktivistin Katharina Bill bei ihrem Projekt „Fatsuit“

Körperpolitik ohne Ende Von Lara Wenzel

Nacktsein fühlt sich für Anna seit ihrer frühen Kindheit befreiend an und so zeigt sie ihren Körper auch. Während sie im Kurzfilm von Schauspielerin und Regisseurin Katharina Bill und der werkgruppe2 entspannt auf dem Waldboden liegt, wird ihr Körper im Alltag selten in Ruhe gelassen. Ihre Biografie ist geprägt von äußeren Zuschreibungen und Hürden, die sich in ihre Gedanken eingraben. Gespielt und entwickelt von Bill erzählt „Anna“ die Geschichte einer mehrgewichtigen Frau, der

Theater der Zeit 11 / 2025

23

Ein Porträt der mehrgewichtigen Schauspielerin Katharina Bill

von Beginn Rollen zugeteilt wurden. Im Schultheater spielt sie die Hummel, das Freitanzsolo bei der Ballettaufführung bekommt eine dünne Tänzerin. Anna berichtet von alltäglicher Fettfeindlichkeit und produziert dabei Gegenbilder: Katharina Bill inszeniert und spielt sie als Protagonistin, die im Bild präsent ist, ohne um ihr Solo kämpfen zu müssen.

In ihre erste filmische Arbeit flossen autobiografische Erfahrungen Bills: „Ich war sehr häufig in meiner Laufbahn als Künstlerin die einzige dicke Person in einer Theaterproduktion. Ich habe mich oft sehr alleine gefühlt, weil ich immer wieder versucht habe zu erklären, was das Problem ist, aber oft gab es dafür kein Verständnis.“ Trotz bester Absichten reproduzierten die meist dünnen Produktionsteams Fettfeindlichkeit, ohne es zu merken. Dicke Körper blieben vor und hinter der Bühne eine Leerstelle. „Es gibt mehr Fatsuits auf deutschen Bühnen als dicke Schauspieler:innen. Das Kostüm kann am Ende des Tages wieder

24

ausgezogen werden, ohne dass die Träger:innen Diskriminierungserfahrungen gemacht haben“, beschreibt sie die Situation. In einer lyrisch begleiteten Fotoserie verarbeitet Bill den Schmerz und die Wut, die das An- und Ausziehen der Körperhüllen in ihr auslöst. Fatsuits kommen häufig zum Einsatz, um negative Eigenschaften einer Figur zu betonen. Wenn eine Rolle besonders faul, dekadent oder gierig wirken soll, schlüpfen dünne Schauspieler:innen in die beige-braunen Anzüge und wiederholen fettfeindliche Stigmen.

Im Zentrum der Bühne zu stehen, ohne dass ihre Körper problematisiert oder zum Running Gag gemacht werden, ist mehrgewichtigen Schauspieler:innen selten vergönnt. Oft werden sie als wandelnde Klischees besetzt. Dann sollen sie etwa die lustige beste Freundin oder den gescheiterten Sozialhilfeempfänger spielen. Für die meisten scheitert der Weg auf die Bühne oder vor die Kamera jedoch an strukturellen Hürden: „Wir kommen aus einer Zeit,

in der es keine mehrgewichtigen weiblichen Personen auf der Bühne gab, weil sie systematisch von Schauspielausbildungen ausgeschlossen wurden. In den letzten Jahren hat sich das mit der Öffnung der Schulen nur marginal verbessert“, erklärt Fettaktivistin Bill. Fett versteht sie als politischen Begriff, den sich die Fat-Studies und die Fat-Acceptance-Movement in den USA seit den 1960ern angeeignet hat. Gegen Stigmatisierung und Ausgrenzung kämpft die Bewegung dafür, das vorherrschende Dogma aufzubrechen, dass nur schlanke Menschen schöne, leistungsfähige und wertvolle Mitglieder der Gesellschaft seien.

Gewichtsdiskriminierung spüren mehr­ gewichtige Personen in allen Aspekten ihres Lebens. Ihnen werden Fähigkeiten abgesprochen, sie bekommen schlechtere Jobs und werden beim Arzt nicht ernst genommen. Egal, welche Beschwerden sie haben, erst mal heißt es: „Nehmen Sie ab, dann sehen wir weiter.“ Diese Diskriminierungserfahrungen verstärken sich intersektional, wenn zur Gewichtsdiskriminierung noch Rassismus, Misogynie oder Ableismus hinzukommt. Wer aus der weißen, able-bodied und dünnen Körpernorm fällt, wird entlang des kapitalistischen Leistungsdiktats abgewertet.

In den letzten Jahren lockerte sich diese Norm und die Kulturindustrie kokettierte mit vielfältigen Körperformen. Neben Size-Zero-Frauen engagierten die Modelabels auch ein mehrgewichtiges Model für den Laufsteg und in den sozialen Medien posteten Body-Positivity-Influencer:innen über die Liebe zum eigenen Körper – inklusive Bauchrollen und Cellulitis.

Die kurzzeitige Integration mehrgewichtiger Personen, die sich meist auf weiße midsize Frauen beschränkte, scheint mit der Popularität von Abnehmspritzen wieder beendet zu sein. Ozempic oder Mounjaro werden mit dem Versprechen verkauft, dass ein schlanker Körper für alle möglich sei. Man müsse es nur wollen – und dafür bezahlen können. Dieser vermeintlich einfache Weg zum normschönen Körper verstärkt die Vorstellung, dass mehrgewichtige Menschen einfach zu faul seien, um abzunehmen. Neben den gesundheitlichen Risiken dieser Wundermittel wird die Möglichkeit negiert, dass

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Paula Reissig

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit es dicke Personen geben könnte, die nicht abnehmen wollen. Der Hype um den Ozempic-Body entwickelt sich entlang reaktionärer Machtverschiebungen. „Der durchtrainierte faschistische ‚männliche‘ Militärkörper und der weiße, dünne, gebärfähige ‚weibliche‘ Körper gehören zur Vorstellung der ‚gesunden Volksgemeinschaft‘ und sind wieder stärker im Trend“, erklärt Bill. Umso wichtiger ist es für die Regisseurin, der rechten Körperpolitik in ihren Performances mit nicht-professionellen Darsteller:innen etwas entgegenzusetzen. Am Staatsschauspiel Dresden entwickelte sie mit elf Jugendlichen eine Überschreibung von Friedrich Schillers „Maria Stuart“. Die schottische Königin und ihr Widerpart Elisabeth I. wurden während ihres Aufwachsens am Hof sexualisiert und erlebten Übergriffe. Aufgrund ihres Geschlechts diskutieren sie in Schillers Stück nicht über Weltpolitik; Eifersucht und Liebesschwüre treiben die Handlung bis zur Hinrichtung Maria Stuarts voran. Auf der Bühne fragen sich

die Schauspieler:innen, warum diese hoch­ gebildeten Frauen nichts Besseres zu tun hatten, als über die Schönheit der anderen zu sprechen. Mit Gesichtsmasken und beigen Bodysuits stellt die Inszenierung die Austauschbarkeit der Körper heraus, denn die Gewalt, die die Königinnen erleben, endet nicht mit dem Tod Marias.

In die Produktion flossen Überlegungen und Erfahrungen der Spieler:innen zu Misogynie, Gewichts- und Altersdiskriminierung ein, die in den Rollentexten anklingen. „Bei der Reproduktion von Gewalt auf der Bühne war ich vorsichtiger als die Jugendlichen. Ihnen war es sehr wichtig, über sexuelle Übergriffe auf der Bühne zu erzählen. Darüber haben wir auch im Probenprozess sehr viel gesprochen. Z. B. die Situation, wenn man mit dem Schlüssel in der Hand nach Hause läuft“, beschriebt Bill den Prozess. Die Darsteller:innen der Bür­ ger­­Bühne entschieden sich dafür, die angedeutete Vergewaltigung in Schillers Drama szenisch umzusetzen. Mit Mitteln der Distanznahme, wie einer Dopplung im Hin-

Vielfalt der Körper auf die Bühne zu bringen.

Körperpolitik bleibt eine Never-Ending-Story für sie.

tergrund und schematischen Bewegungen, gelang es ihnen, die Gewalt nachzustellen, ohne ihre Emotionalität zu wiederholen.

Mit ihrer Arbeit an Bürgerbühnen will Bill die gesamte Stadtgesellschaft ins Theater bringen. Ob in „Fighten“ am Deutschen Theater, einer Produktion über individuelle Kämpfe, oder einer Adaption von „Lügen über meine Mutter“ nach dem Roman von Daniela Dröscher, der von der Fettfeindlichkeit eines Ehemanns gegen seine Frau handelt – Katharina Bill inszeniert die Verletzungen des Alltags und macht ihre strukturelle Dimension sichtbar. Das schließt für sie ein, die Vielfalt der Körper auf die Bühne zu bringen. Körperpolitik bleibt eine Never-Ending-Story für sie. T

Anzeige

Sibylle Berg EIN WENIG LICHT. UND DIESE RUHE. Schauspiel Hannover · Regie: Lena Brasch

Felix Krakau

2025 / 2026 · Eine Auswahl

ANGST UND SCHRECKEN IN MYKENE Schauspiel Essen · Regie: Felix Krakau

Ruth-Maria Thomas DIE SCHÖNSTE VERSION Staatstheater Cottbus · Regie: Sarah Kohm

Elias Hirschl CONTENT Schauspielhaus Wien · Regie: Aslı Kışlal

Laura Naumann SCHLEUDERDRAMA Theater Bielefeld · Regie: Dariusch Yazdkhasti

John von Düffel DIE PRINZIPALIN Rheinisches Landestheater Neuss · Regie: Dirk Schirdewahn

Fayer Koch Mainfranken Theater Würzburg · Regie: Albrecht Schroeder

Tom Tykwer LOLA RENNT Das Da Theater, Aachen · Regie: Maren Dupont

www.rowohlt-theater.de

Foto-Copyright: Olaf Struck

DAS KLIMA (NO PRESSURE)

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit

„Ich lausche meinem Körper die choreografische Form ab“ Der Tänzer, Choreograf und Philosoph Michael Turinsky über Körperlichkeit und seinen Begriff von Crip Choreography im Gespräch mit Elisabeth Maier

Tanz denkt der Choreograf und Philosoph Michael Turinsky politisch. Der Künstler aus Wien zeigt in seinen Arbeiten die Widerständigkeit des behinderten Körpers.

Dessen Möglichkeiten „zu erlauschen“, ist ihm wichtig. In seiner Performance „Precarious Moves“ erkundet er den eigenen Takt und findet eine neue Mobilität. Dafür wurde er 2020 in Österreich mit dem Nestroy-Preis für die beste Off-Produktion ausgezeichnet.

„Work Body“, SoloPerformance von ­Michael Turinsky.

Idee, Choreography, Text und Performance Michael ­Turinsky. Eine Ko-Produktion von Michael Turinsky – Verein für philiosophische Praxis, Tanzquartier Wien, Theater RAMPE Stuttgart

26

Das Faszinierende an Ihrem künstlerischen Werdegang ist, dass Sie immer wieder Schnittstellen zwischen der Philosophie und dem Tanz auftun. Beim Festival der KulturRegion Stuttgart 2024 haben Sie als „Philosopher in Residence“ mehrere Salons moderiert. Außerdem arbeiten Sie immer wieder im theoretischen Bereich.

Was verbirgt sich hinter dem Begriff Crip

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Michael Loizenbauer

Michael Turinsky, von Haus aus sind Sie Philosoph, haben an der Universität in Wien studiert. Wie kamen Sie zum Tanz?

MICHAEL TURINSKY Eine Freundin, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, hat mir von ihrer Tanz-Improvisationsgruppe erzählt. Da bin ich einfach mitgegangen.

Von dem Leiter war ich sehr angetan. Der war richtig cool und hat sich sofort wunderbar auf meinen Körper eingelassen. Ich bin wild auf dem Boden herumgekugelt, was eine ganz neue Erfahrung für mich als körperbehinderter Mensch war. So bin ich dabeigeblieben. In der Gruppe habe ich Menschen getroffen, die auch im Bereich Körperarbeit, Tanz und Inklusion aktiv sind. Diese künstlerische Arbeit hat mich nicht mehr losgelassen. Deshalb habe ich mich nach dem Studium für den Weg des Tanzes und der Choreografie entschieden.

Darüber bin ich heute sehr froh.

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Choreography, den Sie geprägt haben?

MT Natürlich hat der Begriff Crip Choreo­ graphy (etwa: Krüppel-Choreografie) einen ironischen Unterton. Das ist kein philosophisches Konzept im engeren Sinn. Er ist angelehnt an die Crip Theory, die von Robert McRuer und Alison Kafer ent­ wickelt wurde. Die verbinde ich mit dem choreografischen Denken. Es geht um eine Widerständigkeit gegenüber dem, was McRuer „compulsory able bodiness“ nennt – also eine Widerständigkeit gegen die normale Verkörperung. Choreografie hat ganz klassisch mit der Organisation von Bewegung zu tun. Die muss kein Tanz sein. Choreografie kann viele verschiedene Bewegungsformen organisieren. Crip Choreo­graphy bedeutet, die widerständigen Qualitäten des Körpers einzusetzen und dominante Bewegungsformen auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. Es geht mir beim Tanzen darum, meine spezifische Körpersprache einzusetzen. D. h.: Mein Körper gibt radikal die Prinzipien vor und lässt sie sich nicht von außen aufzwingen.

Wie gestalten Sie also Ihre Bewegungen?

MT Ich halte mich an Power, weil das zu mir passt. Mit einem geschmeidigen Bewegungsfluss kann ich nichts anfangen. Es geht um stimmige Bewegungsgestaltung.

Eine Form wird nur dann stimmig, wenn sie sich aus dem Körper und aus seinen ureigensten Tendenzen entfaltet. Da gilt es aber zu bedenken, dass der Körper durch die Bewegungspraxis geformt wird. Körperlichkeit in reiner Natur gibt es nicht. Das lässt sich mit einem Vergleich erklären. Der Bildhauer gibt dem Stein nicht die Form vor. Er lauscht dem Stein die Form ab. Genauso lausche ich meinem Körper die choreografische Form ab. Das bedeutet für mich Stimmigkeit.

Welche Rolle spielt da die Musik?

MT Eine sehr, sehr wichtige Rolle. Es ist für mich spannend, das klanglich-gestische Geflecht zu gestalten. Zugleich denke ich da an Heidegger und an die Gestimmtheit. Musik ist ein Medium, in dem sich die Gesamtgestimmtheit des eigenen Weltbezugs bekundet. Die Zeit, die ich mit meinem Musiker im Studio verbringe, ist für mich besonders wichtig. Auch da geht es ja wieder um das Ablauschen: Was möchte die Arbeit von

Theater der Zeit 11 / 2025

mir? Welchen Klang will das Stück? Was wollen ich und mein Musiker? Das stimmig zu verbinden, ist die Herausforderung. Die Musik muss auch auf den Körper und auf seine Möglichkeiten reagieren. Da geht es um die Resonanz mit dem eigenen Körper.

Dem Schlagwort Inklusion stehen Sie auch kritisch gegenüber. Der Versuch, Projekte mit Kunstschaffenden mit und ohne Behinderung zu realisieren, stößt aus Ihrer Sicht an Grenzen. Welche Probleme sehen Sie da?

MT Grundsätzlich möchte ich den Begriff Inklusion gar nicht kritisch sehen. In einem Text habe ich mal den Gedanken formuliert, dass man sie kompositorisch denken muss. Da stellt sich die Frage: Wie gestalte ich einen Raum, in dem unterschiedlich Getaktetes miteinander sein kann?

Da gibt es den Beat und den Off-Beat. Ich liebe Reggae-Musik – das ist der Aufstand des Off-Beats gegen den Beat. Ich finde es wichtig, Inklusion als Polyrhythmie zu denken. Wie kann es gelingen, unterschiedliche Rhythmen und Stimmen in eine stimmige Einheit zu bringen? Dabei ist es wichtig, dass ich niemandem Gewalt antue – ganz gleich, welche körperlichen oder geistigen Möglichkeiten er oder sie mitbringt.

Wie können inklusive Tanz- oder Theaterprojekte gelingen?

MT Es gibt eine gewisse implizite Erwartung seitens des Publikums an solche Ensembles. Und manche Künstler:innen haben die Tendenz, sich anzubiedern. Die Akteur:innen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten tanzen fröhlich auf der Bühne herum und lassen sich beklatschen. Aber für mich geht es da um etwas anderes. Mir ist das stimmige Ganze wichtig. Jede und jeder sollte dem Körper das Widerständige ablauschen. Nur wenn diese Individualität sichtbar werden darf, machen inklusive Projekte Sinn. Das Potenzial des Sperrigen ist wichtig. Es geht darum, sich nicht anzubiedern. Für mich bleibt die Frage: Wie kann man sich widersetzen?

Als Zuschauerin ohne Behinderung sehe ich die Produktionen aus einer anderen Perspektive. Aber von Künstler:innen, die dieses Widerständige auf die Bühne brin-

gen, kann ich sehr viel lernen. Sie laden mich ein, mich auf einen anderen Rhythmus einzulassen. Dann findet die Inklusion auf Augenhöhe statt. Ist dieses gemeinsame Lernen für Sie von Bedeutung?

MT Mir geht es darum, dem Publikum auch etwas abverlangen. Die Zuschauer:innen sollen ins Denken und ins Lernen kommen. Als Choreograf spielt der Körper die Musik. Das heißt jedoch nicht, dass in der Kunst die Behinderung so präsent sein muss. Das Wichtige für mich als Künstler ist, meine Arbeit ab einem bestimmten Niveau zu reflektieren. Es geht darum, die eigene Arbeit im Kontext des zeitgenössischen Tanzes und der zeitgenössischen Performance zu reflektieren. Authentisch zu sein, ist einfach das Ergebnis einer reflektierten Suchbewegung. Sie schließt die Beschäftigung mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen ebenso ein wie das Aufspüren eigener Gefühle und Dringlichkeiten.

Verschmelzen in dieser Arbeitsweise Ihr Hintergrund als Philosoph und als Tänzer?

MT Viele Leute können Hirn, Herz und Körper nicht verbinden. Doch genau darauf kommt es an. Mit sich selbst im Gespräch zu bleiben, das ist wichtig. Da geht es um den internen Dialog. Das ist das, was mir so wichtig ist. Mit meinen Performances möchte ich das Publikum berühren und den Anstoß geben, sich auf diesen inneren Dialog mit sich selbst einzulassen.

Ihre neue Produktion „Work Body“ ist ein politisches Statement. Wie lässt sich Tanz und Körpertheater denn politisch denken?

MT In „Work Body“ beschäftige ich mich mit dem Rechtsruck im Arbeiter:innenmilieu. Die Tanzperformance ist ein Gegenentwurf, der den arbeitenden und den behinderten Körper in den Vordergrund stellt. Es geht mir um einen anderen Rhythmus, eine andere Taktung als die des kapitalistischen Systems, die allein auf Profit und auf Effektivität ausgerichtet ist. Inspiriert hat mich das Gedicht „Die Asche Gramscis“ von Pierre Paolo Pasolini. Das hat der berühmte Filmemacher Antonio Gramsci, einem der Begründer der Partito Comunista d’Italia, gewidmet. Was viele nicht wissen, ist, dass Gramsci selbst eine körperliche Behinderung hatte. T

27

Szenen aus „The Genesis“ vom Copenhagen Collective. Leitung und Choreografie Patrick King und Johan King Silverhult beim Düsseldorf Festival

Die Hüfte ist das Zentrum Der zeitgenössische Zirkus erlebt auch wegen seiner Körperlichkeit einen großen Aufschwung – das neue Copenhagen Collective ist ein gutes Beispiel

28

Foto David Poznic

Von Stefan Keim

Theater der Zeit 11 / 2025

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit Überschaubare Bühnenbilder, tolles Lichtdesign, ausgefeilte Soundtracks – und sonst erzählen die Körper. Der zeitgenössische Zirkus hat in den vergangenen Jahren einen großen Aufschwung erlebt. In Köln ist ein neues Zentrum entstanden: das CCC – Creative Centrum Contemporary Circus, hier gibt es seit einigen Jahren ein eigenes Festival. Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen wie beim Düsseldorf Festival ist das Genre zentral, auch die Ruhrtriennale hat mit „Falaise“ gerade ein Highlight der vergangenen Jahre gezeigt.

Allerdings ist dieser französische Geniestreich (Genaueres in den TdZ-Onlinekritiken) ein in mancher Hinsicht untypisches Stück mit einem aufwendigen Bühnenbild und Tieren auf der Bühne.

Meistens suchen die Ensembles eine Mischung aus Akrobatik und Tanz. Sie zeigen keine Nummernrevuen, sondern erzählen assoziative Geschichten. Weil sie spektakulär und direkt zugänglich sind, haben sie oft großen Publikumserfolg. In manchen Gastspielbühnen hat sich der zeitgenössische Zirkus zu einer Konkurrenz für tourende Tanztheater entwickelt. Früher hieß die Bewegung „Neuer Zirkus“, aber so neu ist sie inzwischen nicht mehr. Einige der inzwischen berühmten Kompagnien wie Circa oder Gravity & other Myths sind inzwischen 15 bis 20 Jahre alt. Neu ist allerdings eine Gruppe – das Copenhagen Collective.

Sein einjähriges Bühnenjubiläum hat das Ensemble vor wenigen Monaten gefeiert, auf Gastspielreise beim Zirkusfestival in Montreal. „Wir sind tatsächlich ein Kollektiv“, erzählt Gründungsmitglied David Ullrich, „und bestimmen, soweit wir können, basisdemokratisch alle Belange der Kompagnie. Das ist fast ein soziales Experiment. Und es ist wichtig, dass sich alle dessen bewusst sind. Das ist schon was anderes als ein normaler Job in der Zirkuswelt.“ Ein Blick auf „The Genesis“: Am Anfang ist es dunkel. Vielsprachiges Gemurmel tönt aus den Lautsprechern. Das Licht geht an und zeigt eine Gruppe Menschen auf der Bühne. Sie setzen sich in Bewegung, erst im Gleichschritt, wie eine kleine Armee. Dann springt einer aus der Reihe, dann eine andere. Aus der Masse werden

Theater der Zeit 11 / 2025

Individuen, die Salti schlagen oder sehr lange im Handstand verweilen.

David Ullrich hat seine Ausbildung an der Zirkusschule in Kopenhagen absolviert und ist so zum neu gegründeten Kollektiv gekommen. Andere wurden zu sogenannten Akro Jams geladen. Das ist kein Casting im klassischen Sinne, sondern ein gemeinsames Arbeiten, ein spielerisches Kennenlernen. So kam ein Ensemble von 20 Zirkuskünstler:innen zusammen. „Allein das macht das Projekt schon ungewöhnlich“, sagt David Ullrich. „Die anderen großen Kompagnien – Circa oder Gravity & other Myths – haben mit viel weniger Leuten angefangen und sind dann gewachsen. Wir sind mit einem Superlativ eingestiegen, der zeitweise auch überfordernd war. Aber die Kompagnie ist zusammengewachsen und hat sich so geformt, wie sie jetzt ist.“

Regieteam King Ein bisschen Fluktuation ist immer dabei, mit 17 Menschen aus 14 Nationen ist das Copenhagen Collective nun auf Tour. Um das erste Stück zu entwickeln, gab es eine dreimonatige Probenphase. Abgeschieden in einem alten Flugzeughangar in der Nähe von Kopenhagen. Was dort passiert ist, wie das Ensemble dort gelebt hat und wie sich die Show entwickelt hat, kann man in einer Dokuserie auf YouTube sehen. „The Origin Series“ hat 16 Episoden plus Bonusfolge, dem Trailer zur fertigen Aufführung. „Wir haben uns zusammengerauft“, sagt David Ullrich, „und eine Show kreiert, die den Leuten gefällt und mit der wir jetzt weitertouren können.“ Mit dabei war in der Entstehungsphase der Sponsor, Joachim Ante, der auch eine neue Zirkusschule in Kopenhagen gegründet hat. Denn eine Kompagnie auf einem Niveau zu gründen, das gleich für internationale Festivals qualifiziert, braucht natürlich ein gewisses Anschubkapital. „Jetzt stehen wir auf eigenen Füßen und finanzieren uns über die Shows, die wir spielen“, sagt Ullrich. Doch wie verläuft der Weg dorthin? Analysiert man gemeinsam den Markt, um zu schauen, wo die eigene Nische sein könnte? Das stand, sagt der Zirkuskünstler, nicht im Zentrum:

Man muss die Körper der anderen wirklich bis ins kleinste Detail kennen.­

„Wir haben sehr viel Zeit und Mühe auf­ gewandt, um unsere Identität zu finden.

Wir haben sehr viel Respekt vor den anderen Kompagnien, aber wir messen uns nicht an ihnen. Natürlich schauen wir, dass wir keine Tricks kopieren, die andere als ihre Markenzeichen etabliert haben.

Aber es geht um uns als Gruppe.“ In der Show bilden sich nach dem gemeinsamen Beginn Zweiergruppen, kurze Duos. Die Körper wickeln sich umeinander, Vertrautheit, Zuneigung, Liebe entstehen. Vielleicht sind wir bei Adam und Eva angekommen, doch es geht nicht nur um erotische Anziehung. Ein Tänzer hängt am Ende des kurzen Duetts in den Armen seiner Partnerin wie ein kleines Kind. Das Regieteam Patrick King und Johan King Silverhult bezieht sich nicht konkret auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel. „Der Name ist relativ spät gefunden worden“, berichtet David Ullrich. „Vielleicht hatten das die Regisseure schon vorher als Hintergedanken. Aber es hat gut zu unserem Konzept gepasst. Wenn man 20 Leute zusammen auf die Bühne bringt, die keine einzelnen Nummern spielen, sondern ständig interagieren, ist das ein sehr großes Kennenlernen. Man muss die Körper der anderen wirklich bis ins kleinste Detail kennen. Obwohl es eine lange Zeit war, ist sie doch nur der Anfang einer langen Reise. Insofern passt Genesis gut, es ist das erste Kapitel.“ Das Kennenlernen des anderen kann man sehr gut in der YouTube-Serie verfolgen. Da hängen die Akrobat:innen zunächst noch an Seilen. Es geht darum, wie die Sicherheit entsteht, sich auch bei waghalsigen Sprüngen und Stürzen nicht zu verletzen. Das Tolle an der Serie ist: Hier versucht niemand, wie ein Superheld zu wirken. Einer liegt mal am Boden und sagt, es wird zwei Tage dauern, bis der Körper wieder richtig funktioniert. Man sieht Menschen, die an ihre Grenzen gehen

29

Thema Freiheit und Grenzen der Körperlichkeit David Ullrich ist eine Base, er steht unten in den Körperpyramiden und hält das Gleichgewicht. Oder er ist ein Aufpasser neben der eigentlichen Action. „Ich fange die Leute, wenn sie fallen. Manchmal ist es fast intensiver, danebenzustehen und den Trick zu beschützen. Das schafft eine Form von Intimität, die man auch auf der Bühne sehen kann.“ Und wenn sich mal jemand nicht gut fühlt, erkältet ist, sich den Magen verdorben hat? Natürlich kommt das auch unter Zirkuskünstler:innen vor. Doch es gibt Lösungen: „Wir können in der Show ziemlich viel umbauen, ohne dass das Publikum es mitkriegt. Manchmal braucht der

Körper eine Pause, dann kann ein anderer einspringen. Die körperliche Unversehrtheit steht an allererster Stelle.“ All diese Schritte sind nötig, um in einen Flow zu kommen, die Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit zu entwickeln, die das Publikum begeistert. „Für jeden von uns kommt der Zeitpunkt“, sagt Ullrich. „wo wir die andere Person verstanden haben, die individuelle Art zu springen und so weiter.

Und dann werden die Flüge höher, die Abläufe klarer, dann klickt es und der Flow entsteht.“

In Babyschuhen „The Genesis“ hat kein Bühnenbild, dafür eine ausgefeilte Lichtregie. Scheinwerfer umgeben die Spielfläche. Die Musik wechselt, von einer ätherischen Sopranstimme auf Orchesterklängen bis zu rhythmischem Übermut. Es gibt einige witzige Szenen und immer wieder beeindruckende und originelle Bilder. Einmal bilden die Körper des Ensembles einen Haufen oder einen Hügel. Einer steht darauf wie ein Baum, dann klettert eine Frau auf ihn, er legt sich zurück, so dass sie auf seiner Brust stehen kann. Ohne weitere Absicherung, ein Bild wie ein Gemälde. „Die Show wird immer besser und geschmeidiger, bis heute“, erzählt David Ullrich. „Manchmal kommt der Moment, wo wir noch einen neuen Trick einbauen können. Das Stück entwickelt sich immer weiter.“ Gute Shows sind meistens drei oder vier Jahre unterwegs. Ist da schon Zeit, sich über ein neues Stück Gedanken zu machen? Ullrich meint, das sei noch etwas früh: „Wir stecken als Kompagnie immer noch in den Babyschuhen. Wir hoffen, dass die Show so gut ist, dass sie noch ein paar Jahre weiterläuft. Es ist noch gar nicht klar, wie die nächsten Schritte sein werden.“ Vielleicht etwas Neues mit dem ganzen Ensemble, vielleicht auch zwei Shows mit kleinerer Besetzung. Mal sehen.

Auf jeden Fall hat das Copenhagen Collective mit „The Genesis“ einen fulminanten Start hingelegt. Und wird den zeitgenössischen Zirkus mit eigenen Kreationen bereichern. T Das Copenhagen Collective vereint 20 Künstler:innen aus verschiedenen Ländern und Kulturen.

30

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto David Poznic

und darüber hinaus. Die aber verletzlich sind, aufeinander achten müssen.

Die Hüfte ist das Zentrum, sagt ein Akrobat in der Doku. An der Hüfte kann man erkennen, wo das Hauptgewicht des Körpers liegt und wie man den Kollegen oder die Kollegin auffangen muss. Die Grundlage der Zusammenarbeit ist radikale Offenheit, gerade auch was das eigene Befinden angeht. „In der Akrobatik kann man nicht lügen“, erklärt David Ullrich. „Ich kann tausendmal erzählen, dass ich topfit bin. Wenn die Kollegen mich berühren, merken sie sofort, was mit mir los ist.

Um Sicherheit zu schaffen, muss ich mich den anderen gegenüber öffnen.“

Theater der Zeit

Foto Jens Nober, Museum Folkwang © William Kentridge, 2025

Akteure

William Kentridge „Demands – Impossible!“ 2009. Tusche auf Buchseiten. Museum Folkwang, Essen

Kunstinsert William Kentridges Werke in Essen und Dresden

Theater der Zeit 11 / 2025

31

© William Kentridge, 2025

Foto Courtesy Kentridge Studio

Akteure Kunstinsert

Das Gewesene, das fortwährende Gewesene William Kentridges Werke in Essen und Dresden Von Stefan Keim

32

Theater der Zeit 11 / 2025

William Kentridge, „Self-Portrait as a Coffee-Pot“, 2024. Filmreihe in neun Teilen. HD-Video.

Filmstill aus Episode 4, Finding One’s Fate, 31 Min. 2 Sek.

Theater der Zeit 11 / 2025

33

William Kentridge „I Look in the Mirror, I Know What I Need“, 2023.

Tusche und Buntstift auf handgeschöpftem Phumani-Papier

34

Theater der Zeit 11 / 2025

rechts oben Thys Dullaart © William Kentridge, 2025, unten Kentridge Studio © William Kentridge

William Kentridge „Oh To Believe in Another World (Studio Still Life)“, 2022.

Tusche und Bleistift auf handgeschöpftem Phumani Papier, kaschiert auf Leinwand.

Privatsammlung

Foto links oben Thys Dullaart © William Kentridge, 2025, unten Courtesy Kentridge Studio © William Kentridge, 2025,

Akteure Kunstinsert

Akteure Kunstinsert

William Kentridge, „Drawing for Self-Portrait as a Coffee-Pot (2 Private Thoughts)“, 2021. Tusche, Buntstift, Kohle, Pastellkreide und Collage auf Papier. Courtesy Mark und Dana Strong

William Kentridge, Filmstill aus „Black Box/Chambre Noire“, 2005. 35-mm-Film, auf Video übertragen, zweiseitig projiziert auf ein Theatermodell mit Zeichnungen und mechanischen Puppen. Louisiana Museum of Modern Art, Humlebaek, Denmark. Acquired with funding from The New Carlsberg Foundation

Theater der Zeit 11 / 2025

35

Akteure Kunstinsert

E

Ein Miniaturtheater steht im dunklen Raum. Arien aus Mozarts „Zauberflöte“ erklingen wie aus einem alten Grammofon. Mechanische Figuren fahren über die Bühne, ein Megafon, wie es William Kentridge oft verwendet, ein Lautsprecherkopf auf einem fragilen Körper. Im Hintergrund flackert eine Filmcollage, dokumentarische Bilder, übermalt und überkritzelt. „Black Box/Chambre Noire“ heißt dieses Werk. Der Titel erinnert an einen traditionellen Spielort des Theaters, aber auch an die Dunkelkammer der Fotografie.

William Kentridge hat es 2005 gebaut, als er seine Fassung der „Zauberflöte“ probiert hat. Das ist typisch für ihn, Bühnenproduktionen bringen andere Kunstgattungen hervor. Diese filigrane Theatermaschine geht selten auf Tour, der Auf- und Abbau ist eine höchst komplizierte Angelegenheit. Nicht nur deshalb ist sie ein Höhepunkt der Ausstellung „Listen to the Echo“, die das Museum Folkwang in Essen mit den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden zu William Kentridges 70. Geburtstag entwickelt hat.

William Kentridge (geb. 1955 in Johannesburg) ist ein viele Künste verbindender Theatermacher mit derzeit mehreren Ausstellungen in Deutschland: „William Kentridge – Listen to the Echo“ läuft bis 18. Januar im Museum Folkwang Essen, bis 4. Januar im Albertinum Dresden, bis 15. Februar im Kupferstich-­ Kabinett im Residenzschloss Dresden und bis 28. Juni 2026 in der Puppentheatersammlung im Kraftwerk Mitte Dresden.

36

Die „Zauberflöte“ ist ein Werk der Aufklärung, geschrieben als Volkstheater für die Wiener Vorstädte, neben der „Beggar’s Opera“ eines der ersten Musiktheaterstücke, die sich von der Herkunft der Oper als Kunstform des Adels löste. Mozart und Textdichter Emanuel Schikaneder träumten von einem guten, vernünftigen, freundlichen Diktator namens Sarastro. William Kentridge hinterfragt diese Idee auf Basis der deutsch-afrikanischen Geschichte.

Während die Melodie von Sarastros Arie „In diesen heiligen Hallen“ von der Tonspur klingt, sieht man im Film, wie schwarze Schatten auf einen Menschen einprügeln. Es geht um den Genozid, den deutsche Soldaten an den Herero in Namibia verübt haben. Historische Totenlisten werden projiziert, Schädel, die von deutschen Wissenschaftlern analysiert wurden. Trotz Bitterkeit und Trauer hat dieses mechanische Theater Grazilität, Schönheit, sogar Humor. Gegen Ende liefern sich die Megafonfigur und ein Nashorn, das hinreißend auf den Hinterbeinen hüpft, ein Duell.

In dieser Bühnenmaschine steckt eine Menge von William Kentridges typischen Themen. Die Beschäftigung mit dem Erbe des Kolonialismus, das Zusammenwirken unterschiedlicher Kunstformen in einem sofort wiedererkennbaren Kentridge-­ Kosmos. Auch wenn man viele Stücke Kentridges gesehen hat – in den vergangenen Jahren waren sie häufig in Deutschland auf Tour –, erfüllt einen die Ausstellung im Essener Museum Folkwang i­mmer wieder mit Staunen. Die an die große Zeit des deutschen Expressionismus erinnernden Schwarz-Weiß-Filme „Mine“ über die Bergbauindustrie von Johannesburg scheinen auch die Geschichte des Ruhrgebiets zu spiegeln. Über dieses Phänomen berichtet William Kentridge auch in Interviews. Viele seiner Werke beziehen sich auf konkrete historische Ereignisse in Südafrika, doch seine Bildsprache ermöglicht es dem Publikum in anderen Ländern, das Gesehene zu abstrahieren und auf eigene Erlebnisse und Prägungen zu übertragen.

Besonders begeistert ein Rückblick gleich zu Beginn der Ausstellung auf die Anfänge William Kentridges im südafrikanischen Theater der siebziger Jahre. Beide Eltern waren Anwälte und

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos Museum Folkwang, Sebastian Drüen, Werke rechts © William Kentridge, 2025

Inspiration Monty Python

Akteure Kunstinsert ­ aben vor allem Schwarze während der Apartheid in Prozessen h vertreten. Kentridge studierte zunächst Politik und Afrikanistik in Johannesburg, doch schon in dieser Zeit zog es ihn auf die Bühne. Die Schau zeigt Plakate, die er für Stücke des Wits Theatre ­entworfen hat, in denen er selbst aufgetreten ist. „König Ubu“ von Alfred Jarry war 1975 der Beginn seiner Theatertätigkeit, ein Stück, das er immer wieder aufgegriffen hat. Aber Kentridge wirkt auch in Kinderstücken mit, im gleichen Jahr wie der „Ubu“ entstand sein Plakat zu „The Goat that Sneezed“ mit einer struppigen roten Ziege vor einem pointillistischen Blätterwald. Den vielen kunst- und filmhistorischen Bezügen in Kentridges Arbeit nachzugehen, dürfte noch Generationen von Studierenden beschäftigen. Satirische Zeichnungen erinnern z. B. an George Grosz und Max Beckmann – und an einen anderen Künstler aus dieser Zeit, der sich von ihnen inspirieren ließ: Terry Gilliam und seine rasant absurden Zeichnungen für „Monty Python’s Flying Circus“. Von dieser comicartigen Ästhetik war auch für Kentridge der Weg zu Animationsfilmen als wichtigem Ausdrucksmittel nicht weit. Mit ihnen wurde er in den achtziger Jahren bekannt.

Essen und Dresden haben in ihrem gemeinsamen Ausstellungsprojekt nach Bezügen in Kentridges Werk zu ihren jeweiligen Städten gesucht. So hat eines von Kentridges neuesten Werken – der 2022 in Luzern uraufgeführte Film „Oh to believe in another world“ – nach Dresden gefunden. Denn die Auseinandersetzung mit Held:innen der kommunistischen Revolution und der Entwicklung der Sowjetunion zu einer Diktatur korrespondiert mit dem berühmten „Fürstenzug“ in Dresden, dem Wandbild mit historischen Herrscherbildern auf Meißener Porzellanfliesen. Aber auch in Essen war dieser Film zu erleben, und zwar mit Livemusik in einem Konzert der Essener Philharmoniker. Kentridge hat die zehnte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch unangetastet in voller Länge als Soundtrack seines assoziationsreichen Filmes verwendet und die Biografie des von Stalin bedrängten und unterdrückten Komponisten mit einer Reflexion der Revolution verbunden.

Während der Film auf einer großen Leinwand über dem Orchester läuft, wird wieder einmal deutlich, worin der außergewöhnliche Rang, sagen wir ruhig mal die Genialität William Kentridges liegt. Seine Haltung ist klar und deutlich, niemals versinkt er in den ästhetischen Untiefen des Aktivismus. Ganz genau erspürt er, wo Schostakowitsch mit finsterer Ironie wie auch mit ergreifender Melancholie die musikalischen Formen unterläuft, wie tänzerische Momente durch brutale Tuttischläge zum Verstummen gebracht werden. Kentridge findet dafür vielschichtige Bilder, die niemals illustrieren, sondern immer neue Rätsel aufgeben. Schon die Tatsache, dass er diese Sinfonie, mit der sich Schostakowitsch acht Jahre lang gequält hat, mit einem

William Kentridge verbindet auf eigene Weise Politik und Poesie, die Erinnerung an Grausamkeiten und Genozide mit Trauer, aber auch einem Humor, der ein Überlebensmittel ist.

Theater der Zeit 11 / 2025

Ausstellungsansicht Museum Folkwang. William Kentridge. „Listen to the Echo“, 2025

Film versieht, ist ein Kommentar zur Biografie des Komponisten. Denn Schostakowitsch hat in dieser Zeit ausschließlich von Gelegenheitskompositionen fürs Kino gelebt, seine Opernkarriere hatte Stalin vernichtet, auch in Konzerten wurden seine Werke selten gespielt. Kentridge begegnet dem Künstlerkollegen von einst auf Augenhöhe und schafft einen packenden Essay über die Frage, wie sich der Glaube an eine bessere Welt erhalten lässt, wenn die Ideologie, die das verspricht, zu einer perfiden Lüge wird.

William Kentridge verbindet auf eigene Weise Politik und Poesie, die Erinnerung an Grausamkeiten und Genozide mit Trauer, aber auch einem Humor, der ein Überlebensmittel ist. Im Museum Folkwang stehen viele seiner oft verwendeten Lautsprecherfiguren im Raum, diese Megafone auf Stativbeinen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum sie so menschlich wirken. Vielleicht, weil sie das Bemühen spiegeln, Botschaften der Humanität in die Welt zu tragen, so laut wie möglich, damit sie vielleicht ein bisschen Wirkung zeigen. Und dabei so zerbrechlich wirken, als könnte jeder Böswillige eines der Beine wegtreten und sie zusammenbrechen lassen. So verstanden sind Kentridges Megafone ein sehr treffendes Bild für Künstler:innen, die sich allen Widrig­ keiten zum Trotz für eine andere Welt engagieren. Und dabei das „fortwährende Gewesene“, von dem Thomas Bernhards „Theatermacher“ ­Bruscon spricht, nie aus dem Gedächtnis verlieren.

Oder – wie Kentridge sagen würde – auf das Echo hören. T

Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

37

Foto By © কু উ পুলক, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=86441334

Stück Gespräch

Das Kerngeschäft im Theater sind Feelings Leo Meier im Gespräch mit Lina Wölfel

38

Theater der Zeit 11 / 2025

Stück Gespräch Würdest du dich als witzig bezeichnen?

LEO MEIER Ich glaube schon, dass ich stellenweise ganz witzig sein kann.

Ich stelle diese Frage natürlich, weil ich deine Texte arschlustig finde ...

LM Haha, es gibt auf jeden Fall auch Leute, die sagen: Ist gar nicht mein Humor.

Worauf ich aber schon stolz bin, ist, dass die Stücke in der Schweiz, in Österreich, im Osten und im Westen gespielt werden und überall Leute gelacht haben.

Reicht Humor als verbindendes Element in heutigen Zeiten?

LM Ich frage mich schon, ob meine Texte dringlich genug sind. Ich habe oft Momente, da weiß ich, dass am Abend irgendwo ein Text von mir gespielt wird.

Dann passiert an dem Tag etwas besonders Schlimmes auf der Welt, und ich denke, heute Abend kommt dieser Witz mit „Wie heißt Ihr Drache?“ „Kurt Cobain“ „Nein, Jackson“. Dann würde ich am liebsten beim Theater anrufen und sagen, dass sie den Text heute nicht spielen können, weil das einfach nicht reicht.

Aber entwickelt sich aus diesem Gefühl heraus etwas für den nächsten Text?

LM Nein, das ist ja das Schlimme daran. Oder ist es schlimm? Ich weiß nicht.

Ich glaube schon sehr an die Komödie.

Und ich glaube an eine einladende Erzählung. Ich will die Leute erst mal mitnehmen. Trotzdem weiß ich, dass es auch andere Erzählformen und Zugänge gibt, die an manchen Tagen vielleicht wichtiger sind.

Deine Texte haben eine besondere Form der Zeitgenossenschaft in Form einer subtilen Art, wie Alternativen für Probleme gezeigt werden, die nicht über Thesen, sondern emotional erfahrbar ist.

LM Im „Bagger“-Text gib es relativ am Anfang eine Szene im Fundbüro mit der Person, die ihren Opa ausgebuddelt hat.

Es geht in dem Stück ja um den Umgang mit Sterben und Verlust. Ich habe mich viel mit dem Soziologen Andreas Reckwitz beschäftigt. Seine These ist, dass wir in der westlichen Welt verlernt haben, mit dem Tod umzugehen, weil wir ihn ausgrenzen:

Theater der Zeit 11 / 2025

Klar, wir besuchen unsere 70-jährige Oma einmal im Monat im Pflegeheim, aber da riecht es auch immer komisch und wenn sie stirbt, wird sie schnell beerdigt und eine Gärtnerin pflanzt für 40 Euro im Monat einmal in der Woche was aufs Grab.

Reckwitz sagt dann: Wenn wir mit diesem großen Verlust einen Umgang finden – mit dem Sterben, dem Urverlust, der Urangst, was auch immer –, dann können wir vielleicht auch leichter mit den anderen Verlusten umgehen. Und das war der Ausgangspunkt dieser Szene, an der ich ewig rumgepuzzelt habe. Ich habe dann einen Teil geschrieben, in dem diese Figur das genauso wiedergibt, aber das war’s einfach nicht.

Am Ende meines Studiums war ich irgendwie wütend auf viele Theatertexte, die ich gespielt habe, und da ist schließlich „zwei herren von real madrid“ entstanden.

das tatsächlich ein bisschen magic. Und über das Schreiben komme ich auch den Themen nahe und vielleicht klopft dann irgendwann auch der gute Reckwitz an.

Und im besten Fall verstehe ich über das Schreiben etwas, das ich vorher nicht verstanden habe.

Weil es einfach Thesentheater wäre?

LM Ja, das wäre einfach eine Wieder­ gabe des Diskurses von Reckwitz. Ich habe mich gefragt, was genau mich an seiner These interessiert und bewegt. Dem Tod respektvoll zu begegnen und einen neuen Umgang mit ihm zu finden. Und im Theater können wir den Opa glücklicherweise wieder ausbuddeln und den ganzen Vorgang noch mal machen. Und diesmal beerdigen wir den Opa richtig.

Das klingt nach einem fast spielerischen Zugang zum Schreiben.

LM Ja, ich denke, das ist auch eine Erfahrung aus dem Schauspiel. Ich glaube, dass Schauspieler:innen am schlauesten im Spielen sind. Und eben nicht, wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen und alle erzählen: Oh ja, daran kann ich voll gut anknüpfen, weil ich habe auch mal einen Bagger verloren. Sondern im Machen.

Gehst du beim Schreiben immer von einem zentralen Thema aus?

LM Ich schreibe nicht nach zentralen Themen. Ich habe das mal probiert und es ist wahnsinnig schlecht geworden.

Eigentlich starte ich eher mit einer Form, einer Figur oder einem Bühnenvorgang.

Beim „Bagger“ hatte ich total Lust, den Abend mit einem Prolog zu beginnen. Ich liebe Prologe! Bevor es losgeht, in Ruhe auf die Bühne zu kommen und ein bisschen zu erzählen, in welcher Situation wir sind und was passieren wird. Gerade auch, weil es sehr einladend ist, also eine schöne Handreichung in Richtung Publikum. Und dann finde ich beim Schreiben heraus, was im Prolog gesagt wird und wer es sagt. Daraus ergibt sich die nächste Szene. Und aus der die nächste und im besten Fall schreibe ich mich dann hin zu was, was am Anfang vielleicht nur eine Ahnung war – oder nicht mal das. Das gelingt nicht immer – eigentlich ziemlich selten –, aber wenn’s gelingt, dann ist

Wie bist du als Schauspieler dazu gekommen, ein Theaterstück zu schreiben?

LM Es ist wirklich ein Wunder. Ich habe immer gern geschrieben. So wahnsinnig peinliche Sachen wie: Ein junger Mann steht im Club und fragt sich, wer er überhaupt ist. Und dabei durfte ich nicht mal in Clubs gehen. Während meines Schauspielstudiums habe ich immer mehr positive Resonanz für die Texte bekommen, die ich selber geschrieben habe. Also wenn ich jetzt einen Tschechow gespielt habe, hat kein Hahn danach gekräht, aber meine Monologe fanden viele lustig. An der Folkwang-Schule muss man aber auch schon bei der Aufnahmeprüfung einen eigenen Text vortragen, die fördern das sehr. Am Ende meines Studiums war ich irgendwie wütend auf viele Theatertexte, die ich gespielt habe, und da ist schließlich „zwei herren von real madrid“ entstanden. Der Text ist dann ein bisschen durchs Internet gewandert, bis der großartige Regisseur Lorenz Nolting in seinem Regiestudium

39

Stück Leo Meier

Szenenausschnitte von mir inszeniert hat. Die wurden aufgegabelt und an Fischer weitergeleitet. Deswegen ist das auch wie ein Wunder für mich, weil total viele Leute einfach fünf Minuten an den Text geglaubt haben und ihn immer wieder weitergeleitet haben.

Warte kurz: Du warst wütend auf Theatertexte?

LM Ich mag nicht, wenn auf der Bühne geschrien wird. Diese Haltung: Es kostet dich zu wenig, wo ist der Konflikt?

Ich finde das einfach wahnsinnig unästhetisch, gerade auch als Mann, dann muss man immer noch einen Stuhl wegtreten und dabei schreien. Ich fühle mich unwohl und ich denke an die armen Schauspieler:innen, die das proben müssen, Dienstag um 10.30 Uhr morgens ist noch ein Brief von der Versicherung im Briefkasten oder man konnte nicht schlafen.

Und dann kommen die auf die Probe und müssen erst mal schreien. Da liegt für mich einfach keine Dringlichkeit drin. Ich schalte dann eher ab. Und da habe ich gedacht: Wir können auch anders erzählen.

Und wie willst du erzählen?

LM Ich wünsche mir, dass die Zuschauer:innen auf ihren Sitzen nach vorne rutschen, einen – wenn auch imaginären – Schritt auf die Bühne zu machen und nicht nach hinten in ihre Sitze gedrückt werden. Ich glaube, das Kerngeschäft des Theaters sind Feelings.

In deinen Texten spielen Regieanweisungen eine besondere Rolle. Im „Bagger“Text heißt es z. B.: „alfi trommelt mit seinen kleinen fäustchen auf den boden (wie ich das manchmal getan habe, im supermarkt. einfach, weil ich nicht weiterwusste)“.

LM Vielleicht ist es ein bisschen eitel, sich als Autor in Regieanweisungen zu schreiben. Zum einen brauche ich das beim Schreiben aber, um mich am Text entlangzuhangeln und zu signalisieren: Das hier ist ein Prozess, einer von ganz vielen Prozessen, die stattfinden, das hier könnte vielleicht ein Anfang sein, aber mehr auch nicht. Und zum anderen gibt’s einen Wunsch in mir, dass an diesen Stellen vielleicht meine Hand aus dem Papier rausguckt und sagt: „Hi Leute, mich gibt’s und ich probiere hier auch so rum! Und wenn euch was Besseres einfällt und ihr was ändern wollt oder müsst, dann macht das bitte!“ T

Foto Jakob Fliedner

Ich wünsche mir, dass die Zuschauer:innen auf ihren Sitzen nach vorne rutschen.

Leo Meier, geboren 1995 in Berlin, nahm ab 2015 ein Schauspielstudium an der Folkwang Universität der Künste in Bochum auf. Für seine Abschlussinszenierung 2019 entwickelte er gemeinsam mit Rudi Klein und Yannik Heckmann das Theaterstück „Tote gehen nicht ins Kino“, das mit dem Folkwang-Preis ausgezeichnet wurde. Es folgte u. a. „zwei herren von real madrid“, das 2022 beim Heidelberger Stückemarkt ausgezeichnet wurde.

Anzeige

THEATER DER JUNGEN WELT

LEIPZIG

Spielzeit 2025/26

UND ENDLICH 10+ Mit jungen und alten Leipziger:innen von Karen Breece Regie: Karen Breece Uraufführung / Premiere: 7. November 2025

DIE SCHNEEKÖNIGIN 6+ Nach dem Märchen von Hans Christian Andersen Regie: Benedikt Grubel Uraufführung / Premiere: 16. November 2025

Theater der Zeit

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger Leo Meier für joshua hupfauer

personen alfi alfi

und am telefon

polizistin p

alfis mutter m

die frau im fundbüro f

alfis kindergärtner k

der mensch mit gelber jacke j aylin aylin politiker po oma oma

besetzung variabel, text ggf. anpassen.

showmasterin s

danke!

© S. Fischer Verlag 2025

Theater der Zeit 11 / 2025

41

Stück Leo Meier

D

42

prolog

durchquetschen. ich habe heute morgen extra nichts gefrühstückt, sondern nur an dem kaffee meiner oma genippt. sie passt gerade auf mich

der held dieser geschichte betritt die bühne: es

auf, weil meine mutter wieder zu ihrer blöden

ist der fünfjährige alfi. er hat seinen bagger und

weiterbildung fahren musste. dann gehe ich zur

einen geheimplan dabei, von dem er uns gleich

polizeistation auf der gegenüberliegenden stra-

berichten wird (weil man das so macht)

ßenseite des kindergartens. selbstverständlich werde ich erst links, dann

alfi

das ist mein bagger!

rechts und dann wieder links gucken, bevor ich

sie denken jetzt wahrscheinlich: ach mensch,

die straße überquere. ich bin zwar müde vom

das ist aber ein schöner bagger :)

leben, aber nicht lebensmüde! bevor ich die

falsch!

station der cops betrete, werde ich an etwas

das hier ist kein schöner bagger. das hier ist ein

trauriges denken. zum beispiel an die tote tau-

hässlicher bagger. der hässlichste

be, die ich neulich gesehen habe, als ich mit

bagger auf der ganzen welt, um genau zu sein!

meiner oma im park war. ich hatte sie neben

alle kinder im kindergarten haben schönere

der bank entdeckt. da war kein blut, sie lag nur

bagger als ich. der von aylin zum beispiel ist

da, einfach so -

ferngesteuert, meiner hingegen ist einfach

was ist mit der taube?, hatte ich gefragt

nur gelb und gammel. ich gehe also zu meiner

die ist tot, hatte meine oma geantwortet

mutter und sage:

was ist, wenn man tot ist?, hatte ich gefragt

mama, ich brauche einen neuen bagger

das weiß ich nicht, hatte mein oma gesagt

und meine mutter antwortet:

und da war ich in tränen ausgebrochen. ich

du hast doch schon einen bagger, alfi

gehe davon aus, dass das wieder klappt, wenn

ich heiße alfi

ich nur fest genug an die tote taube und das

so!

große geheimnis des sterbens denke. mit

und da haben wir den salat: ich brauche einen

verheulten augen werde ich dann die polizei-

neuen bagger, aber ich habe schon einen bag-

station betreten und in einer süßen stimme

ger. einen hässlichen bagger zwar, aber das

sagen:

scheint niemanden zu interessieren. ich breche

ich möchte bitte eine vermisstenanzeige aufge-

also die schaufel des baggers ab und gehe zu

ben. mein bagger ist verloren gegangen!

meiner mutter und sage:

den verlust lasse ich mir dann offiziell beschei-

mama, mein bagger ist kaputt :(

nigen und gehe damit zu meiner mutter, wenn

und was macht meine mutter? klebt die schau-

sie wieder da ist von ihrer blöden weiterbil-

fel wieder an! mit so einem stinkigen stinke-

dung!

kleber. jetzt habe ich einen noch hässlicheren

aber warum der ganze aufwand, alfi, denken sie

bagger, der stinkt und die schaufel kann nur

jetzt wahrscheinlich. warum gehtst du denn

noch ein bis zwei förmchen transportieren,

erst zu den cops? warum gehst du nicht gleich

nicht mehr vier, wie früher. sie können sich vor-

zu deiner mutter?

stellen, was für ein gejohle das war, als ich am

na, überlegen sie doch mal!

nächsten tag in den kindergarten gekommen

wenn ich zu meiner mutter gehe und sage:

bin!

mama, ich habe meinen bagger verloren

aber ich gebe nicht auf! gestern lag ich bis halb

dann sagt meine mutter:

neun wach und habe einen geheimen geheim-

da kann dir dein bagger ja nicht so wichtig ge-

plan ausgeheckt, den ich ihnen allen jetzt mit-

wesen sein, alfi!

teilen werde, weil man das so macht

ich lasse mir das ganze also tip-top wasserdicht

was ist also mein plan?

zertifizieren und gehe mit der vermisstenanzei-

sie müssen wissen, dass wir in meinem kinder-

ge zu meiner mutter und sage

garten morgens nach dem stuhlkreis freizeit

schau mal mama, eine echte vermisstenanzeige,

haben, wir dürfen zum beispiel bilder malen

sogar mit offiziellem

oder im garten spielen. sie müssen außerdem

stempel von den cops

wissen, dass es im zaun des gartens eine lose

ich meine -

latte gibt (ein geheimnis, das seit generationen

da wird sie dann ja wohl nichts mehr sagen

von kind zu kind weitergegeben wird). ich wer-

können …

de die lose latte im zaun lösen und mich hin-

und dann fahren wir zu spielzeug rudolf und

Theater der Zeit 11 / 2025

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger ich kriege einen ferngesteuerten bagger und auf

mmh, das ist aber ein bisschen komisch, findest

achso!

dem rückweg vielleicht noch mcdonalds :D

du nicht? ich sehe die kinder da drüben doch

ja, ganz genau!

spielen, im garten

ganz genau!

pause

ich bin ein kleines genie

alfi

schon immer gewesen!

1

nur ich habe heute keinen kindergarten

p

alfi steht vor der polizeistation. er schließt die

p

augen und denkt an die tote taube. und siehe

alfi

da, es funktioniert. alfi laufen warme tränen

tatsächlich habe ich frei bekommen, heute

p

die wange hinunter. zufrieden betritt er die poli-

ich hatte das große glück, frei zu bekommen -

­etwas?

zeistation. bisher läuft alles wie geschmiert

weil -

alfi

p

ein allgemeiner genius quasi

nur du hast heute keinen kindergarten? ja -

du hast frei bekommen?

ein mathe-genie?

alfi

ähm oder kannst du alle hauptstädte oder so es ist eher so ein allgemeiner -

na du kleiner, wie kann ich dir helfen?

alfi

möchtest du mal auf meinem polizeimotorrad

äh -

p

sitzen

p

havanna, klar! zu einfach -

brumm brumm

frei?

alfi

pause

was ist die haupstadt von den marshallinseln?

das ist sehr freundlich, aber ich -

alfi

majuro, das weiß ja sogar ich!

p

pause

dann machen wir mal was mit mathe:

ßen?

alfi

was ist wurzel 17 mal pi?

peng peng

p

alfi

alfi

p

p

nein, danke möchtest du mal mit meiner pistole schie-

ich wollte eigentlich -

genau wofür bekommt man denn im kindergarten

der bei mir festgestellt wurde … was ist die hauptstadt von kuba?

ähm das ist tatsächlich eine gute frage! für eine weiterbildung!

für eine weiterbildung? ja

oder nein! mal 8 prozent von pi! alfi

ähm

pause

lange pause

du groß bist?

p

alfi

alfi

alfi

möchtest du mal ein polizist werden, wenn gott bewahre, nein!

ich möchte bitte eine vermisstenanzeige aufge-

p

ben. mein bagger ist verloren gegangen!

afli

p

p

du armer! sollen wir mal deine mami anru-

fen? alfi

bitte nicht, bitte nicht!

wie alt bist du denn, kleiner mann? fünf im sinne von fast sechs? im sinne von gerade nicht mehr vier und da wirst du auf eine weiterbildung ge-

p alfi

jaja, genau, ähm -

lange pause p

schickt?

alfi

alfi

p

ganz genau

ich würde mal sagen wurzel 17 mal 8 prozent von pi

langsam bräuchte ich eine antwort ganz kurz noch eben, wurzel, äh wurzel? wurzel 17 mal 8 prozent von pi

also

p

ich meine: das ist garnicht nötig! meine mutter

alfi

ist auch unterwegs. ich bräuchte nur einen

p

wisch von ihnen, dass mein bagger vermisst wird

alfi

p

extrem

p

extremst selten

alfi

pause

p

malst mir deinen bagger auf? dein bagger ist

p

alfi

eins

doch bestimmt nicht hässlich! dein bagger sieht

und du musst mir versprechen, dass du ganz

p

richtig

doch bestimmt ganz toll aus!

ehrlich antwortest, okay?

pause

mit einer großen schaufel dran!

pause

alfi

alfi

p

p

wie sieht denn dein bagger aus?

alfi p

hässlich soll ich mal die buntstifte holen und du

wie gesagt:

von deinem kindergarten? jap so etwas habe ich ja noch nie gehört … es ist auch wirklich

ich frage dich jetzt mal was, kleiner mann.

okay?

ich zähle runter, dann musst du lösen: fünf vier alfi

ein staatlich-zertifiziertes dokument über den

pause

alfi

verlust würde mir schon reichen!

p

p

p

alfi

setzt dich doch mal hier hin und ich hole dir

keine sorge, ich schimpfe auch nicht ;) ja okay

ich habs gleich! drei ganz kurz noch eben! zwei

was? eins ist richtig! wirklich? ja klar!

wurzel 17 ist ungefähr 4, wenn wir 8 prozent

eine tasse kaffee und dann rufe ich mal im

pause

von pi für unsere rechnung brauchen, schla-

kindergarten an und dann holt dich jemand ab

p

ge

alfi

alfi

nein, nein!

bist du so eine art wunderkind? mmh?

ich vor, dass wir nur die ersten vier nach-

kommastellen von pi verwenden, sonst kom-

also, das ist sehr lieb und alles

p

ich kann mich auch gleich alleine zurück schlei-

so ein kleines genie?

hundertstel mal 3,1416 macht 0,25 ungefähr,

chen

alfi

das mal 4, ganz einfach: eins komma null ir-

zurück gehen, meine ich -

warum -

gendwas, gerundet: eins

also

p

pause

heute ist auch gar kein kindergarten!

für eine weiterbildung

p

p

alfi

alfi

heute ist kein kindergarten?

Theater der Zeit 11 / 2025

bist du ein wunderkind? äh weil dein kindergarten dir frei gibt oh

men wir ja in teufels küche. also: acht

aber gut, wem erkläre ich das! genau so habe ich das auch gerechnet!

43

Stück Leo Meier p mmh, dann probiere ich mal eine kniffligere aufgabe alfi wissen sie was? vergessen sie das mit dem bagger! ich ähm ich schleiche mich lieber wieder zurück in den kindergarten. vor dem mittagsschlaf wird durchgezählt. und ich habe gestern schon schimpfe bekommen wegen der sache mit dem p wie ist dein name, kleiner mann? alfi alfi p alfi ich mache dir jetzt mal eine ansage und du hörst mir ganz genau zu okay? alfi p okay, alfi? alfi ja okay :( pause p wir finden deinen bagger alfi was? p wir finden deinen bagger, alfi alfi darum geht es mir gar nicht p du musst mir nur versprechen, dass du mich erwähnst in deiner nobelpreisrede alfi ? p dass du meinen namen nennst, wenn du den nobelpreis entgegen nimmst, alfi! oder an mich denkst, wenn du mit dem bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wirst. dass du nicht vergisst, wer dich an die hand genommen hat. als niemand sonst dich an die hand genommen hat alfi ach das ist aber lieb sonst ich glaube, das ist gar nicht nötig! p keine sorge, alfi! wir finden deinen bagger! alfi oder sie zertifizieren mir einfach den verlust und ich zeige das meiner mutter und wir holen einen neuen bagger

p nein, alfi ich bin hier wir finden deinen bagger pause alfi oder ich schleiche mich zurück in den kinder­garten vielleicht ist das einfacher p alfi das ist ein schlüsselmoment in deinem leben hier gerade das kannst du mal in deiner autobiographie beschreiben später wir finden deinen bagger! alfi i p wir finden deinen hässlichen bagger! und wenn es das letzte ist, was ich tue, alfi! uff! alfis geheimer geheimplan scheint nach hinten loszugehen. lassen wir ihm also ein paar minuten zeit zum durchatmen und schauen währenddessen im fundbüro vorbei:

2 f mein opa wurde an einem dienstag vormittag beerdigt, es nieselte und ich trug den hosenanzug, den ich schon beim abiball getragen hatte. er war mir zu klein, aber ich wollte mir nicht extra einen neuen hosenanzug kaufen. ich trage ja sonst keine hosenanzüge. auf jeden fall standen wir am offenen sarg und hatten die hände so vor dem bauch gefaltet. sie hatten meinen opa schick angezogen, mit der krawatte, die ich von ihm kannte. es war komisch, ihn da so im sarg liegen zu sehen. ich wollte eigentlich nicht so genau hinschauen, aber ich tat es trotzdem. ich schaute meinem opa also eine ganze weile ins leblose gesicht und wunderte mich, wie anders er aussah, nur weil er tot war. und während ich so meinen gedanken nachhing, geschah es: seine lippen bewegten sich. ganz leicht nur, ich

dachte, ich hätte mich getäuscht. doch plötzlich stupste mein cousin mich von der seite an und flüsterte: seine lippen bewegen sich ich sehe es auch, sagte ich. langsam begann mein opa, mit seinen lippen buchstaben und einzelne wörter zu formen. aber es war kaum verständlich und sehr leise, weil er ja tot war. also beugten mein cousin und ich uns in den sarg hinein. mein cousin hatte vor der beerdigung einen kaffee getrunken, ich konnte es riechen. mein opa brabbelte weiter vor sich hin, aber wir konnten nicht verstehen, was er uns sagen wollte. die wörter waren unzusammenhängend. was will er uns sagen?, fragte mein cousin ich weiß es nicht, antwortete ich. und gerade, als wir unsere köpfe wieder aus dem sarg herausziehen wollten, sagte mein opa laut und deutlich: wo sind denn die anderen? welche anderen?, fragte ich, was meinst du damit? wir sind doch hier! aber mein opa antwortete nicht mehr, er war ja tot – der sarg wurde zugeklappt und er verschwand unter der erde mein cousin und ich haben nie wieder über den vorfall gesprochen, weil wir nicht so auf einer wellenlänge sind und uns seit dem tod meines opas auch nicht mehr gesehen haben aber nach und nach habe ich verstanden, worüber sich mein opa gewundert haben musste, da in seinem sarg: es war fast niemand zu seiner beerdigung gekommen. klar, mein cousin und ich waren da und ein paar andere, aber voll war die hütte wirklich nicht. es hatte geregnet und es war ein dienstag vormittag gewesen, aber ein paar mehr menschen hätten sich doch auf den weg machen können. ich meine du reißt dir fast 90 jahre lang den arsch auf und

Anzeigen

THEATERRAMPE.DE

DIE LUFT NACH OBEN URAUFFÜHRUNG

KÜMMERT EUCH DRUM, AUSREICHEND ZU TANZEN!

PERFORMANCE

NOVEMBER 2025 THEATER

von Alize Heiser

UNBOUND BATTLE TANZ

WORKSHOP

COMMUNITY

von Underground Soul Cypher, United Networks und RAMPE

HANDLE WITH CARE DEUTSCHLANDPREMIERE

von Ontroerend Goed

PARTIZIPATIVE PERFORMANCE

TANZTEE PARTY

von Rakete

STAUB URAUFFÜHRUNG

OBJEKTTHEATER

von O-Team

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger dann musst du miterleben, dass niemand zu deiner beerdigung kommt f geht nach hinten. nach einer weile kommt sie wieder nach vorne: sie hat ihren toten opa im arm ich habe ihn ausgebuddelt und ich will, dass wir jetzt von ihm abschied nehmen alle und zwar richtig sie legt ihren toten opa auf die bühne da liegt er nun, im scheinwerferlicht. f scheint auch nicht genau zu wissen, wie es jetzt weitergehen soll also ich habe das so auch noch nie gemacht pause wer will, kann ein paar worte sagen zum beispiel pause oder eine schöne erinnerung an meinen opa teilen oder so etwas er war streng und liebevoll und ich vermisse ihn pause ansonsten würde ich mich über einen moment stiller anteilnahme freuen stille anteilnahme. nach einer weile betreten alfi und die polizistin das fundbüro p hände hoch! hände hoch! mayday! mayday! leichenfund im fundbüro! ich wiederhole: leichenfund im fundbüro f das ist mein opa es tut mir leid das ist p mayday! mayday! die verdächtige widersetzt sich ich brauche dringend verstärkung! noch eine bewegung und ich schieße!

f ich kann das erklären, das ist mein opa ich verbuddel ihn gleich wieder, ich wollte nur die zeit nutzen p das war doch nur ein spaß! zeigt ihr walkie-talkie: hier, sind gar keine batterien drin f oh gott! oh mein gott! p jetzt machen sie sich doch mal locker! ist doch ihre sache, was sie mit ihrem opa machen da habe ich mich doch nicht einzumischen pause p machen sie ruhig noch eben zu ende f wie bitte? p machen sie ruhig noch eben zu ende mit ihrem opa f oh, das ist lieb, äh pause f wir hatten gerade still anteil genommen p hörst du das, alfi? stille anteilnahme! kein rumgezappel oder rumgehampel alfi okay f gut, dann äh, noch einen moment stille anteilnahme, bitte! ein kurzer moment stille anteilnahme f wissen sie was, ich bringe ihn eben wieder nach hinten. ich hatte das nicht richtig durchdacht, entschuldigung! p wie sie wollen f hebt ihren toten opa auf und bringt ihn wieder nach hinten. alfi nutzt die zeit, um die frage aller fragen zu stellen: alfi was ist, wenn man tot ist? die polizistin nutzt die zeit, um die antwort aller antworten zu geben: p keine ahnung f kommt wieder, hoffentlich geht es jetzt wieder um den bagger! f so! da bin ich wieder! was kann ich für sie tun?

Sächsische Staatskapelle Dresden

Highlights November

Porträtkonzert der CapellCompositrice Unsuk Chin 06.11.

Immersive Sounds X Global Sonic Research 08.11.

p das ist der kleine alfi. alfi hat seinen bagger verloren, oder, alfi? juhu! alfi äh ja, so ungefähr p und jetzt möchte er fragen, ob der bagger vielleicht gefunden und hier abgegeben wurde, oder, alfi? alfi ja, genau pause p also, alfi schieß los! alfi achso äh genau, ich soll fragen, ob hier ein bagger abgegeben wurde, nein, oder? f wie sieht denn dein bagger aus? alfi hässlich! f schauen wir mal nach ich kann dir einen handschuh anbieten. einen hut, eine hose oder einen hund. ein handy oder eine halbautomatische. aber auch dinge ohne h, natürlich. das war jetzt zufall: eine jacke zum beispiel! p mmh, da ist nichts für uns dabei, fürchte ich f die jacke würde noch ein portmonee und einen liebesbrief enthalten, als kleines extra. wenn es ihnen bei der entscheidungsfindung hilft. wirklich ganz schön und zart geschrieben. wollen sie mal hören? alfi liebesbriefe sind eklig! p na! alfi! sag doch sowas nicht! deine matheformeln werden dich nachts nicht warm halten. lass die nette frau vom fundbüro doch bitte einen fremden liebesbrief vorlesen die nette frau aus dem fundbüro liest: f „ich vermisse dich in meinen träumen liegen wir auf dem feld hinter der scheune unter dem apfelbaum

Robert Lippok

OPEN – CLOSE – OPEN – Daten, Drift und Übergang 21.11.

Freiheit, Aufbruch, Crash?

Vier Kurzstücke über die 90er 28. & 29.11.

Stück Leo Meier und reden über unwichtiges, bis die sonne aufgeht du in deiner gelben jacke und ich in meinem glück“ p oh! wirklich ganz schön und zart geschrieben f „p.s. ich habe gerade so unendlich viel bock mit dir zu vögeln“ alfi was bedeutet vögeln? p vögeln ist der dativ plural von vogel, alfi! wem oder was schauen wir nach, wenn sie nach süden ziehen? pause p wem oder was schauen wir nach, wenn sie nach süden ziehen, alfi? f ich würde sagen, wir schauen den vögeln nach, wenn sie nach süden ziehen, aber da könnte ihnen meine oma wahrscheinlich weiterhelfen, sie wusste immer p richtig, danke! wir schauen den vögeln nach, wie sie nach süden ziehen! alfi hat nur seine matheformeln im kopf, er ist ein mathe-genie, da fällt das sprachliche ja gerne mal hinten runter. wo viel licht ist, ist auch viel schatten alfi warum ziehen die vögel nach süden? p weil es da wärmer ist, alfi! die vögel ziehen nach süden, damit sie nicht frieren müssen! alfi aber hier ist es doch voll warm f guter punkt, das habe ich auch gerade gedacht pause p so genau habe ich das auch nicht wissen sie was? wir nehmen die jacke mit dem brief! f gute wahl! p damit wir nicht frieren müssen! f ich müsste mir nur noch etwas bargeld aus dem portmonee nehmen, als provision

p ihr gutes recht! f also danke! und tschüss p und ich würde den opa wieder einbuddeln, das fängt furchtbar an zu müffeln sonst! alfi und die polizistin verlassen das fundbüro und machen sich auf den weg in den park. doch bevor wir erfahren, wie ihre bagger-suche weitergeht, müssen wir uns zeit für ein kurzes intermezzo nehmen (sorry!)

wer mir diesen brief geschrieben hat. damit sie verstehen, warum es mir so wichtig ist, den brief wiederzukriegen, also. meine geschichte beginnt auf einem bauernhof -

3

kurzes intermezzo

die polizistin und alfi setzen sich auf eine parkbank, um das weitere vorgehen zu besprechen. wie es aussieht, hat alfi in der zwischenzeit die gelbe jacke angezogen. und wie es außerdem aussieht, schwitzt er darin

j entschuldigung! entschuldigung! ich möchte sie gar nicht lange stören, wirklich nicht! es geht ja auch hier um etwas anderes, um den bagger von alfi und den toten opa, wenn ich das richtig verstehe, deswegen bin ich auch sofort wieder weg, ich wollte nur kurz fragen, ob sie meine jacke gesehen haben? ich habe sie gestern hier liegen lassen, auf der bank. die sonne ist plötzlich rausgekommen, da war plötzlich der frühling und ich muss sie wohl einfach liegen gelassen haben sie ist gelb und ein portmonee und ein liebesbrief sind darin das portmonee und das geld sind mir egal, das geld können sie gerne behalten, es geht mir nur um den brief. ich möchte ihnen nicht genau sagen, was drin steht, in dem brief, weil es sozusagen privat ist eine privatangelegenheit es geht mir auch gar nicht so sehr um den inhalt ich will ihn nur ab und zu in den händen halten, das papier fühlen und die schrift die schrift gehört ja einer person und woran soll ich mich sonst festhalten? am wind in den bäumen? und es geht auch wirklich gerade um etwas anderes, das weiß ich ja auch, um diesen bagger, aber ich möchte ihnen trotzdem kurz erzählen,

p schau mal, alfi, die wolke da! alfi die da? p nein, die andere. die sieht witzig aus, oder? alfi ja, die sieht wirklich witzig aus oh, es geht weiter. entschuldigung! also wenn sie die jacke p tut mir leid, dass wir nicht fündig geworden sind alfi ach, kein problem trotzdem danke p ich hatte so gehofft, dass jemand deinen bagger abgegeben hat alfi ich auch p ich war richtig aufgeregt im fundbüro alfi mmh… j das gibt es doch nicht, das ist doch meine gelbe jacke! p dafür hast du jetzt eine gelbe jacke alfi genau pause p damit siehst du selber ein bisschen aus wie ein bagger! die beiden lachen p verzeih mir, alfi, dass ich dir nicht helfen konnte alfi oh kein problem

Anzeigen

JONAS ZIPF KAMPNAGEL TOUR #2_ MIT#RUNDGANG 5 2 0 HARD BREAK </3 2 V O N MARCO MERENDA #PERFORMANCE AMBURG H L E G A N [Y] TALES KAMP #TANZ #PERFORMANCE REGINA ROSSI FAIR MEHR INFOS AUF BOLERO #TANZ KAMPNAGEL.DE RYKENA / JÜNGST STRIPPING KONTAKTHOF – ECHOES OF ‘78 PINA BAUSCH / MERYL TANKARD #TANZ AUF ANFANG #LESUNG MAX CZOLLEK & HADIJA HARUNA-OELKER ALLES

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger j ruft entschuldigung! p doch alfi, das ist ein problem. du hast deine hand ausgestreckt und ich wollte sie nehmen aber ich konnte es nicht alfi immerhin haben wir es versucht p versuchen reicht nicht alfi schaffen, darum geht es schaffen wie willst du denn so den nobelpreis gewinnen? die besitzerin der jacke betritt zögernd szene 3 j entschuldigung ist das wo hast du denn die jacke her, kleiner? p was interessiert sie denn, woher alfi seine jacke hat? j weil weil ich gestern hier meine jacke verloren habe. sie ist gelb und sieht genau so aus wie die da. ich muss sie hier auf der bank liegen gelassen haben – p hier lag keine jacke j und in der jacke war ein brief alfi in dieser jacke ist auch ein brief alfi holt den brief hervor j ach wirklich? kann ich mal sehen? das sieht genauso aus wie der brief, den ich die polizistin schnappt sich den brief und verstaut ihn in ihrer weste p jetzt machen wir mal alle halblang hier, ja? fremder leute briefe lesen, soweit kommt es noch. das ist ein sehr persönlicher brief. ein liebesbrief, um genau zu sein. sehr zart und schön geschrieben. er ist hintenraus sogar etwas angesext! ich denke, sie können verstehen, dass wir ihnen diesen brief nicht vorlesen werden! geschweige denn aushändigen! und außerdem: machen sie doch mal die augen auf. sie sehen doch, dass es dem jungen nicht gut geht. will ihm noch das letzte hemd neh-

14.11.

15.11.

men, wo er sowieso schon am boden zerstört

ähm -

ist. jetzt geht es hier einmal nicht um sie und

pause

den blöden brief! jetzt geht es hier einmal um

j

den jungen. wie wärs denn mal mit ein bisschen

eigentlich nur kurz von dem brief erzählen und

empathie?

von der person, die ihn mir geschrieben hat -

j

p

oh, das tut mir leid

alfi

äh, kein problem -

ich habe gar nichts vorbereitet, ich wollte

es geht nicht um ihren verdammten brief

hier! wie oft soll ich das noch sagen?

p

der kleine alfi hat seinen bagger verloren

j

j

oh, ja! das hatte ich mitbekommen

okay

p

ach, das hatten sie mitbekommen? aber ihr

pause

entschuldigung, ähm

toller brief war ihnen trotzdem wichtiger, was?

j

alfi

du findest deinen bagger bestimmt wieder

ich glaube, wir müssen garnicht streiten.

alfi!

ich werde über den bagger hinwegkommen ich

p

empathischer!

mache mich jetzt auch mal wieder auf den rück-

j

auch wenn das leben manchmal schwer ist

weg in den kindergarten

p

aha!

– danke für alles – wenn sie mir kurz die ver-

j

und, äh -

misstenanzeige unterschrieben könnten –

du dich fragst: wo ist mein bagger?

p

warum denn noch aufstehen?

das meine ich!

genau das meine ich!

wenn das leben sowieso unfair ist

der kleine gibt auf!

p

sehr schön!

der kleine ist dabei, aufzugeben!

j

worauf denn noch hoffen, wenn jeder atem-

pause

zug wehtut

p

dann denk daran -

und sie stehen hier rum

pause

denk daran -

p

und sie stehen hier rum

p

woran soll er denken?

j

ich?

j

denk daran

p

ja, sie!

p

ja?

sie stehen hier rum

j

dass das leben

j

ich fürchte, ich verstehe nicht -

das leben, alfi

p

da verliert ein kind gerade die hoffnung und

das leben und -

sie stehen hier rum!

p

und der bagger

j

soll ich mich setzten?

j

genau

p

sie sollen empathisch sein, verdammt noch

und der bagger

mal!

das leben und der bagger

j

das leben und der bagger und -

achso, okay

okay!

und der schmerz auch

jetzt verstehe ich!

der schmerz

entschuldigung

und -

PERFORMANCE

fft-duesseldorf.de

© Christophe Berlet

Stück Leo Meier p

und wo schmerz ist, da ist auch?

aufpasserin sitzen einigermaßen ratlos auf der

alfi

j

und wo schmerz ist, da ist auch

bank herum. nach einer weile:

pause j

da ist auch -

eben

dann -

p

reimt sich auf sud

j

sud?

p

ja, braten-sud, so etwas

j

j

ach sud!

haben?

danke

p

ja!

alfi

sie bewegt sich nicht

j

wut!

j

p

richtig!

alfi

j

wut!

4 darf ich wenigstens mein portmonee wiederklar

da fehlt ja das ganze geld ich weiß

dann räume ich wohl lieber mal das feld. und du kannst weitersuchen! alfi

j

wenn ich jetzt gehe, dann komme ich wohl

nicht wieder, was?

pause

alfi

wo schmerz ist, da ist auch wut!

j

j

p

und meine jacke auch

okay

wahrscheinlich nich

okay

aha! da ist auch wut!

alfi

und wie groß ist diese wut?

j

j

diese große wut

pause

sie bewegt sich nicht

p

größer!

j

j

j

diese größere wut

alfi

p

noch größer

lange pause

alfi

j

diese noch größere wut

j

sie bewegt sich nicht

p

nein, noch größer

darf ich dich etwas fragen?

j

j

diese

alfi

ich meine geschichte erzählen kann?

unbedingt

danke kommt die polizistin nochmal wieder? keine ahnung

du, alfi wir haben den brief laut vorgelesen. alle

ich wollte nur okay und meine geschichte, die wird dann wohl

mit mir verschwinden ja, das kann sein

und wird es einen ort für mich geben, an dem

unendliche wut!

hier haben ihn gehört!

einen anderen ort?

p

aha! diese unendliche wut

j

alfi

j

ja! diese unendliche wut

wissen, danke

sie bewegt sich nicht

diese unendliche wut auf-

ich wollte dich eigentlich nur fragen -

j

p

diese unendliche wut auf wen?

das hier ist die suche nach dem verlorenen bag-

schichte das ist. wer mir diesen brief geschrie-

j

genau, alfi!

oh! das war gar nicht die frage. aber gut zu

das weiß ich leider nicht

wenn die leute wüssten, was für eine ge-

ger, oder?

ben hat und warum ich immer die gelbe jacke

diese unendlich wut auf wen?

alfi

trage. dann würde es bestimmt einen ort geben.

diese unendliche wut auf wen denn eigentlich?

j

pause

mein brief und die gelbe jacke

schichte geben

p

das hat rein gar nichts mit deinem bagger zu tun

alfi

alfi?

ja

und es ist wie die polizistin sagt, oder?

da hat dich gerade jemand etwas gefragt!

und ob du ihn wiederfindest

alfi

alfi

p

ähm hast du nicht zugehört?

alfi

doch, doch!

ich fürchte nicht

pause alfi

schon

j

p

tut mir leid

nein, nein, da kannst du ja gar nichts für!

dann würde es bestimmt einen ort für meine gebestimmt

sie bewegt sich nicht j

aber dieser ort hier soll es wohl nicht sein

sie bewegt sich nicht j

hier, alfi. nimm meine jacke. sie soll eine er-

innerung an mich sein!

es ist nur -

alfi

da waren nämlich ein paar wichtige punkte da-

dieser brief und alles, was damit zusammen-

j

bei!

hängt, die geschichte dahinter, das ist meine ge-

alfi

„dein leben und der bagger

schichte. und sie ist mir so unendlich wichtig,

j

und dein schmerz und die wut“

weil es die einzige geschichte ist, die ich habe

alfi

schreib dir das hinter die ohren! das sind alles

und hier ist sie jetzt fehl am platz

es ist viel zu heiß für eine jacke und dann muss

lektionen für dein leben hier!

hier ist sie einfach egal

ich sie die ganze zeit mit mir rumschleppen

zu j:

alfi

j

sehen sie, es geht doch. mal nach links und

j

rechts gucken, nicht immer nur ich, ich, ich

alfi

so!

nur nicht so wichtig, jetzt gerade

okay?

ich habe eine idee. sie passen auf alfi auf und ich

j

alfi

bin gleich wieder da

alfi

wir finden deinen bagger!

nur für mich und meinen bagger, da ist sie eben

okay

j

darf ich meinen brief denn noch -

nicht wichtig

j

p

zum allerletzten mal: es geht hier nicht um

j

und ich verschwinden jetzt. wir verschwinden

gut!

sie ist nicht egal!

was ist sie dann? sie ist -

meine geschichte ist nicht wichtig? doch, natürlich ist ihre geschichte wichtig!

du hast recht

wir kennen uns doch gar nicht!

ich bestehe darauf, nimm die jacke! das kann ich nicht annehmen -

doch, alfi, das kannst du :) nein, das kann ich wirklich nicht annehmen,

behalte die jacke, sie ist ein geschenk. ein ge-

schenk aus meiner geschichte. und wenn du die jacke trägst, dann denkst du ab und zu an mich, äh

ja dann verschwinde ich jetzt. meine geschichte

den verdammten brief!

dein bagger ist für meine geschichte ja auch

jetzt und wir kommen auch nicht wieder. und

die polizistin verschwindet. alfi und seine neue

nicht wichtig

vielleicht wird es nie einen ort geben, an dem

48

Theater der Zeit 11 / 2025

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger ich meine geschichte erzählen kann sie geht. am bühnerand bleibt sie noch einmal stehen j

was schade wäre

denn meine geschichte hat eine moral, ohne moralisch zu sein sie ist klug, ohne zu klugscheißen und sie ist schwer und leicht zugleich man weiß nie, ob man lachen oder weinen soll aber vor allem ist sie erotisch wahnsinnig erotisch mir wird heiß und kalt, wenn ich nur daran denke wenn ich nur an den ganzen SEX denke, den jetzt alle verpassen, weil ich gehen soll pause oder soll ich etwa nicht gehen? pause soll ich etwa von den heißen küssen in der scheune erzählen, mit denen meine geschichte beginnt? von der nacht auf dem feld, die so wild war, dass sich nicht einmal die sonne traute aufzugehen? und soll ich von der erkenntnis erzählen, die ich im postkoitalen dämmerschlaf hatte, als ich unter dem apfelbaum lag, splitterfasernackt und durchgeschwitzt? oder soll ich erzählen, wie wir im morgengrauen noch einmal übereinander herfielen, wie schlangen im kampf alfi j

was ist denn SEX?

weiß du was, alfi?

ich muss los! viel glück bei deiner suche!

5 alfi sitzt alleine auf der parkbank. er weiß nicht weiter. sein plan ist nach hinten losgegangen. zu allem überfluss muss er auch noch die blöde jacke tragen. alfi weint. doch wie es manchmal so ist, in der dunklen stunde in der stunde der wölfe kommt eine freundin aus dem gebüsch

6 aylin

psst

psssst, alfi alfi! alfi

aylin?

was machst du denn hier? aylin alfi aylin

warum bist du nicht im kindergarten? warum bist du nicht im kindergarten? warum bist du nicht im kindergarten?

Theater der Zeit 11 / 2025

alfi ich verfolge einen geheimplan aylin den geheimplan mit dem bagger? alfi pssst! woher weißt du das? aylin du hast den plan vorhin lang und breit erklärt! alfi ja, es geht um den bagger na und? ich brauche halt einen neuen bagger aylin ja, den brauchst du wirklich dein bagger ist hässlich, alfi alfi ich weiß pause aylin und nicht mal ferngesteuert alfi ja pause aylin und die schaufel ist abgebrochen alfi musst du nicht langsam zurück in den kindergarten? aylin musst du nicht langsam zurück in den kindergarten? alfi musst du nicht langsam zurück in den kinderarten? pause aylin neue jacke? alfi ja aylin iiih! alfi ja, ich weiß, die farbe ist ein bisschen aylin iiiihhh, ist das eklig! alfi jetzt mach mal halblang, aylin! ich bin auch nicht top zufrieden aylin ich glaube, ich muss gleich kotzen was ist das? alfi das ist eine ganz normale jacke! wie schon gesagt, die farbe ist scheiße, aber aylin da neben der bank! alfi was? aylin was ist das da neben der bank? alfi schaut neben die bank. das gibt es doch nicht: da liegt die tote taube, die er neulich mit seiner oma entdeckt hat alfi aylin! das ist die tote taube, von der ich dir erzählt habe! das gibt es ja nicht. sie liegt immer noch hier aylin es ist so sau ekelig, ich glaube, ich kotze gleich! alfi ich hätte sie fast nicht erkannt sie hat sich irgendwie aufgelöst aylin alfi, mir wird schlecht, bitte alfi ich kann die kleinen knochen sehen! und da kommen käfer aylin alfi! alfi sie fressen die augen, glaube ich aylin kotzt in das gebüsch, alfi mustert weiter den toten vogel, nach einer weile:

alfi

weiß du, was ist, wenn man tot ist, aylin?

aylin alfi

nein ich auch nicht

pause alfi

niemand weiß es

aylin

nicht mal deine oma?

alfi

nein, nicht mal meine oma

es ist ein geheimnis pause aylin

und müssen wir beide auch einmal tot

sein, alfi? alfi

nein, aylin, wir beide müssen nie tot sein

pause aylin alfi

versprichst du es mir? ich verspreche es dir

aylin

gut

lange pause alfi

sind deine lieblingstiere immer noch

­vögel, aylin? aylin

ja. und danach kommen weiße tiger

alfi

wusstest du, dass die vögel nach süden

ziehen? aylin alfi

was heißt das? ich weiß nicht genau -

dass die vögel nach süden ziehen halt aylin alfi

warum? weil es hier so kalt ist

aylin

aber es ist doch voll warm

du schwitzt doch wie ein schwein in deiner neuen jacke, das sehe ich doch! alfi so genau habe ich das auch nicht verstanden pause aylin

und die tote taube da, zieht die auch

nach süden? alfi

ich denke schon

aylin

cool!

würdest du auch nach süden ziehen, wenn du dich in einen vogel verwandeln könntest? alfi

na klar

aber erst würde ich schreien: yipiiieh jabbajabbaduuuuu ich flieege ich flieeeege ich kann flieeegeeeen aylin

das würde ich auch als erstes machen!

und was würdest du dann machen? alfi

dann würde ich so hoch fliegen, wie ich

könnte und du wärst nur noch ein mini-winziger punkt aylin

kannst du mich trotzdem noch winken

sehen? alfi

ja, ich sehe dich winken!

ich winke dir zurück! mit meinen flügeln

49

Stück Leo Meier aylin das sieht witzig aus, alfi alfi aylin! aylin! aylin was? alfi ich kann unseren kindergarten sehen von hier oben! aylin wirklich? alfi ja! ich sehe unseren kindergarten und den garten und die grüne bank und den schuppen da ist frau ropertz was macht sie denn da? oh nein! sie sucht nach uns sie ruft unsere namen aylin scheiße alfi aylin aylin ja? alfi aylin! aylin ja! alfi sie steuert auf die lose latte im zaun zu sie ist kurz davor, die lose latte im zaun zu finden! aylin mach irgendetwas alfi! sonst sind generationen von kindern im kindergarten eingesperrt! alfi äh, was soll ich machen? was soll ich denn machen? aylin scheiß ihr auf den kopf alfi was? aylin du sollst ihr auf den kopf scheißen alfi ich weiß nicht aylin trau dich, alfi alfi ich weiß nicht, ob ich scheißen muss, meine ich! aylin probier es trotzdem! alfi ich habe heute morgen nichts gefrühstückt aylin du musst einfach drücken, alfi drück so fest wie du kannst! alfi das mache ich ja! das mache ich ja! oh gott aylin was ist? alfi es hat geklappt ich habe geschissen aylin super, alfi! hast du ihr auf den kopf geschissen alfi nein, auf die schulter und ein paar spritzer am arm aylin schade alfi ja, wirklich schade aber es hat funktioniert, sie ist stehengeblieben oh gott! aylin was ist? alfi sie hat mich entdeckt

50

sie schimpft mich aus jetzt geht sie in den schuppen sie hat ein gewehr sie hat ein gewehr aus dem schuppen geholt aylin im schuppen gibt es ein gewehr? alfi anscheinend! aylin cool! alfi was soll ich machen? sie zielt auf mich! sie schießt aylin alfi? lange pause aylin alfi? sehr lange pause aylin du hast mir versprochen, dass wir nie tot sein müssen, alfi! alfi sie hat die taube neben mir getroffen! aylin flieg schnell weiter, alfi flieg schnell weiter alfi das mache ich alfi fliegt schnell weiter alfi da ist die polizeistation ich kann die komische polizistin sehen, sie telefoniert vor der tür jetzt fliege ich über den rathausplatz da ist meine oma! da ist meine oma, aylin sie sitzt mit ihren freundinnen beim bäcker aylin cool! alfi aber sie erkennt mich nicht, weil ich ein vogel bin aylin logisch! alfi ich fliege weiter in richtung bahnhof der wind ist ganz warm in meinem gesicht aylin vögel haben keine gesichter, alfi alfi ich weiß ich meine nur, dass der wind warm ist, weil ich nach süden ziehe aylin schickst du mir eine postkarte, wenn du da bist, alfi? alfi natürlich schicke ich dir eine postkarte aber aylin aylin ja? alfi ich kann nicht schreiben pause aylin ich kann nicht lesen pause alfi okay, das klären wir später ich bin jetzt beim bahnhof ich fliege einfach den schienen nach in richtung süden da ist ein zug aylin flieg so schnell wie der zug, alfi! alfi das mache ich! das mache ich! ich bin neben dem zug, ich fliege so schnell wie der zug -

aylin super alfi! alfi das gibt es ja nicht! aylin was ist? alfi da sitzt meine mutter im zug! aylin echt? alfi ja aylin cool! alfi sie fährt zu ihrer weiterbildung sie sitzt da in einem abteil ganz alleine und da ist ihre tasche und aylin und was? pause aylin und was, alfi? alfi sie weint lange pause aylin wirklich? alfi ja sie weint pause aylin mit tränen und allem? alfi ja aylin oh dann mach irgendetwas lustiges, um sie aufzuheitern! alfi was soll ich denn lustiges machen? aylin pick gegen die scheibe oder zwitscher herum oder so etwas alfi das ist eine gute idee das mache ich alfi pickt gegen die scheibe und zwitschert herum alfi mist, sie hört mich nicht aylin lauter, alfi! alfi das mache ich ja! aber sie hört mich nicht der zug wird zu schnell, aylin aylin flieg so schnell du kannst, alfi, du musst deine mutter aufheitern alfi das versuche ich ja! das versuche ich ja! ich bin nicht schnell genug der zug verschwindet am horizont, aylin ich komme nicht hinterher ich kann ihn nicht mehr sehen pause aylin ich wusste nicht, dass erwachsene weinen können alfi ich auch nicht aylin kinder weinen alfi ja, das tun sie lange pause, vielleicht umarmt aylin ihren freund alfi? aylin tut mir leid alfi was? aylin alles alfi danke pause

Theater der Zeit 11 / 2025

Anzeigen

aylin sollen wir das gewehr von frau ropertz aus dem schuppen klauen und bierdosen vom zaun schießen? alfi ich brauche noch diesen offiziellen wisch von den cops damit ich auch einen neuen bagger kriege aylin okay dann viel glück ich halte dir im kindergarten den rücken frei! alfi danke, aylin! ab, alfi sitzt eine weile alleine auf der bank. die polizistin kommt wieder (shit!). offensichtlich hat sie einen plan im gepäck (shit!)

7 p alfi, warum hast du einen schnabel und federn und flügel? alfi weil ich ein vogel bin! p hör auf mit dem quatsch! dafür haben wir jetzt keine zeit! ich habe uns etwas organisiert, alfi: wir machen deinen bagger zum politikum alfi oh, äh eigentlich bin ich der erste, der sachen zum politikum macht. aber ich glaube, ich fliege mal lieber wieder in den kindergarten. meine oma kommt mich gleich abholen und wenn ich nicht da bin, dann macht sie sich sorgen wenn sie mir noch kurz die vermisstenanzeige unterschreiben könnten p neulich habe ich einen mörder gejagt, alfi. und ich hatte glück, weil er plötzlich ins straucheln geriet. er war auf einer monster energy dose ausgerutscht. ich haue ihm also meinen knüppel zwischen die beine und er fällt hin, vor mir auf den boden. ich stürze mich sofort auf ihn und drücke ihm seinen arm auf den rücken. und auf einmal auf einmal sind unsere gesichter einander ganz nah. der mörder hatte auch zwei augen und eine nase und einen mund, alfi. und an der seite waren ohren dran, genau wie bei mir. und plötzlich dachte ich: vielleicht wollte der mörder gar kein mörder werden. vielleicht wollte er ein polizist werden. aber niemand hat seine hand genommen, als er sie ausgestreckt hat und vielleicht wollte die polizistin gar keine polizistin werden, sondern eine nobelpreisträgerin. sie war immer gut im kopfrechnen und in chemie stand sie zwischen eins und zwei pause vielleicht hätte ich es schaffen können, alfi den nobelpreis zu gewinnen oder etwas zu tun, das mich glücklich macht ich träume manchmal davon pause

und als du heute auf die wache gekommen bist und die hand ausgestreckt hast, da wusste ich, dass ich sie nehmen muss. weil niemand meine hand genommen hat, als ich sie ausgestreckt habe alfi

was ist mit dem mörder passiert?

p ich habe ihn laufen lassen alfi p

echt? ja

pause p

mein kollege hat ihn dann an der nächsten

ecke geschnappt alfi und die polizistin machen sich auf den weg ins rathaus. hier soll also die nächste station ihrer bagger-odyssee sein. höchste zeit also, dass wir den politiker kennenlernen!

8 po

kinder

Warten auf Beckett von Max Merker und Aaron Hitz Uraufführung

Ab 21.11.25 Stadttheater Solothurn & Biel

pause kinder kommen in ganz unterschiedlicher ähm form daher also im sinne von -

www.tobs.ch

ich meine, kinder sind ganz unterschiedlich das wollte ich sagen und einzigartig natürlich das ist das wichtigste, dass jedes kind einzigartig ist einige kinder sind auch groß für ihr alter, zum beispiel andere eher klein manche kinder sind dürr wie kleine stöcke andere eher ja ich würde schon sagen: pummelig und das ist auch beides völlig okay darum geht es ja auch gar nicht ich will auch nur darauf hinaus, dass jedes kind auf seine ganz eigene art süß ist also das hat sich jetzt missverständlich angehört entschuldigung ich meine natürlich ähm ich würde sofort jedes kind dieser welt knuddeln! gut, dass klang jetzt auch ähm worauf ich hinaus will, ist eigentlich nur, dass äh -

tdz.de/abo Theater der Zeit 11 / 2025

30 Tage für 1 € testen

Stück Leo Meier ich mich für kinder interessiere also, natürlich nur im sinne von, äh kinder sind die zukunft darum geht es mir dass kinder unsere zukunft sind nicht die zukunft ist die zukunft nein, nein! die kinder sind die zukunft und die zukunft sieht ja bekanntlich sehr düster aus deswegen ist es auch ein gutes zeichen, wenn ich mich also wir uns! um die kinder sorgen äh weil wir uns damit auch ganz automatisch um die zukunft sorgen damit haben wir also zwei fliegen mit einer klappe geschlagen wobei man sollte kinder natürlich nicht schlagen ganz im gegenteil man sollte sie wobei das würde sich jetzt ganz falsch anhören ähm genau! mein team und ich haben also für meine kampagne eine kindersprechstunde eingerichtet, in der ich mir die sorgen und nöte der allerkleinsten anhöre deswegen kommt jetzt auch ein kind und äh ja wir reden über nöte und ängste auf augenhöhe so ist es geplant und dann schauen wir mal, ob ich vielleicht auch helfen kann dem kind für seine zukunft für unser aller zukunft

9 die polizistin und die zukunft (alfi) betreten das rathaus p hallo ich hatte mit ihrem team telefoniert, wegen der kindersprechstunde das ist der kleine po uppala, ich unterbreche sie gleich mal heute geht es darum, dass ich mit dem kind rede auf augenhöhe p na gut, dann erzähl mal selber, alfi alfi was soll ich denn jetzt groß erzählen?

52

po was macht dir angst, im hinblick auf die zukunft? p er hat seinen bagger verloren po ich muss sie bitten, das kind zu wort kommen zu lassen p okay, entschuldigung alfi genau, äh p ich hatte nur gedacht, wir könnten die sache vielleicht zum politikum machen po entschuldigung! ich muss sie jetzt wirklich bitten, das kind reden zu lassen das hier ist die kindersprechstunde, die mein team und ich extra ins leben gerufen haben für die kinder p okay po weil sie unsere zukunft sind p okay po also? alfi ja, äh, genau, wir haben schon überall gesucht p erzähl vom fundbüro po so! jetzt reicht es! ich muss sie bitten, vor der tür zu warten! das ist ist jetzt mal ein raum nur für die kinder hier p na gut, wenns sein muss! alfi, denke dran zu erzählen, dass du po raus! die polizistin verlässt die bühne, der politiker und alfi sind alleine po endlich allein! das hat sich jetzt komisch angehört, entschuldige ähm genau, wir kommen jetzt einfach ins gespräch, okay? alfi wenns sein muss lange pause, keiner der beiden weiß, was er sagen soll. beide schwitzen (aus unterschiedlichen gründen) po coole jacke, du siehst ja aus wie ein richtiger checker! alfi was? po was? lange pause, das gespräch will nicht so recht in gang kommen, wie mir scheint po hast du mich gewählt? alfi ich bin fünf po naja, musst du ja auch nicht sagen pause po ich war auch mal fünf, kannst du dir das vorstellen? alfi nein po ich kann’s mir auch kaum mehr vorstellen, das war -

lass mich überlegen in den 1960ern eine halbe ewigkeit ist das her die zeit vergeht und wir vergehen mit ihr, was? alfi mmh po wir hatten damals noch keine handys oder computer nur einen kleinen fernseher, im wohnzimmer. und immer wollte ich fernsehen schauen, aber nie durfte ich weißt du warum? alfi weil sie ihre medienzeit für die woche schon verbraucht hatten? po weil es kein fernsehprogramm für kinder gab. darum. es gab nur die nachrichten. aber ich wollte trotzdem unbedingt fernsehen schauen! ich wollte in diesen kleinen, magischen kasten gucken! es war alles noch in schwarz-weiß damals, und streifen flimmerten über den bildschirm, aber für mich war es trotzdem das größte der welt. und deshalb habe ich mich immer hinter der tür versteckt, abends, und gehofft, einen blick auf die nachrichten zu erhaschen. aber jedes mal hat uns mein vater erwischt. mich und meine drei geschwister und dann hat es ordentlich was hinter die ohren gegeben, da kannst du aber gift drauf nehmen. zack! zack! zack! zack! ab ins bett! nur einmal, da hat er uns nicht erwischt. da hat er vergessen, nach uns zu schauen ich stand mit meinen drei geschwistern hinter der tür und wartete auf das backpfeifengewitter. aber es kam nicht. mein vater kam nicht. er saß nur da und starrte auf den fernseher, wie wir auch. da waren schiffe zu sehen, viele schiffe, große schiffe, mit kanonen drauf. meine drei geschwister und ich hielten den atem an, so etwas hatten wir noch nie gesehen. und dann auch noch im fernsehen. das war der schönste tag in unserem leben weißt du, welche schiffe das waren? weißt du, wo sie lagen? alfi im wasser? po ich gebe dir einen kleinen tip: sie lagen vor einem inselstaat. er grenzt im nordwesten an mexiko, im nordosten an den atlantischen ozean und im süden an das karibische meer pause alfi ich bin noch nicht in der schule po kuba! sie lagen vor kuba es war die kuba-krise, die ich da im fernsehen sah, weil mein vater vergessen hatte, mich ins bett zu schicken er saß nur da, auf seinem sessel, und starrte auf

Theater der Zeit 11 / 2025

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger den kleinen fernseher und dann sagte er plötzlich: jetzt gibt es krieg pause po er sagte es nicht zu uns. und auch nicht zu sich. er sagte es einfach in den raum hinein. er sagte es einfach in die luft hinein. aber nicht einmal, sondern zweimal: pause po jetzt gibt es krieg pause po jetzt gibt es wieder krieg pause po und weißt du, was ich in diesem moment dachte, da hinter meiner tür? ich dachte: hoffentlich gibt es krieg dann hört es auf mit den ohrfeigen und ich darf den ganzen tag fernsehen gucken. ich war dumm! ein dummes kind. und meine drei geschwister waren auch dumm. wir waren dumm. kinder sind dumm! alfi schönen dank auch po aber jetzt bin ich nicht mehr dumm. jetzt weiß ich, was ich damals nicht wusste, da hinter meiner tür: der kriegt hat meinen vater zerstört pause po und dich und mich wird er auch zerstören die tür fliegt auf: alfis oma steht darin! sie hat eine plunderschnecke für alfi und szene 10 im gepäck

10 oma alfi! hast du genug gegessen? alfi omi? p sie ist einfach an mir vorbei gerannt, ich habe versucht, sie aufzuhalten oma du hast dein ganzes frühstück stehen lassen. ohne frühstück geht mir niemand aus dem haus, das weißt du doch! alfi entschuldigung, omi! oma hier. ich habe dir eine plunderschnecke mitgebracht alfi oh, cool! eine plunderschnecke! danke, omi! po guten tag die dame! oma sie werden so schnell groß, was? po ja, äh, kinder sind wirklich ein wunder der natur oma morgens ist er noch ein fünfjähriges kindergartenkind und nachmittags ist er schon ein spitzenpolitiker! na, mich soll es nicht stören. ich freue mich ja, dass aus dem jungen doch noch was geworden ist das war nämlich nicht abzusehen, wenn ich das

Theater der Zeit 11 / 2025

mal so sagen darf. gerade in den ersten jahren. da war er komplett neben der spur. ich habe es gleich gemerkt, schon als ich ihn das erste mal gesehen habe, kurz nachdem er auf die welt gekommen ist: da hat er einfach nur da gelegen. hallo, habe ich gesagt, ich bin deine omi. und alfi? hat mir nicht geantwortet. hat mich komplett ignoriert. kein: hallo, kein: nett, dich kennenzulernen, liebe omi, kein: schöne bluse, ist die neu? er lag einfach nur da und hat gestarrt. ich erwarte ja auch keine luftsprünge. aber etwas mehr engagement hätte ich mir schon gewünscht. so ging es dann weiter. auf meinem runden geburtstag zum beispiel – da war er gerade ein halbes jahr alt – haben meine freundinnen für mich sketche aufgeführt. po oh, nett oma ja, ich war wirklich ganz gerührt. und da sehe ich plötzlich: alfi war eingeschlafen po das gibt es doch nicht oma doch, er war einfach auf dem schoß seiner mutter eingeschlafen, während meine freundinnen sketche für mich aufführten. klar, schauspielerisch war das nicht das gelbe vom ei, die meisten von ihnen hatten DIN-A4-zettel mit dem text in der hand. und das timing war komplett für die tonne. die sketche waren auch wirklich nicht lustig. und er war auch nicht der einzige, der eingenickt ist. fast alle meine freunde vom bingo lagen mit dem kopf auf dem tisch. aber es ging ja um die geste. um die geste für seine oma. aber das war dem feinen herrn leider egal. hat nur fröhlich vor sich hingeschnurchelt mit ein oder zwei jahren hat er sich dann mal bequemt, mit seiner omi zu sprechen, aber es war größtenteils wirr, was er da gebrabbelt hat. ich konnte leider wenig aus unseren gemeinsamen gesprächen mitnehmen. das ist jetzt besser geworden, das gebe ich zu, alfi hat sich wirklich gemausert, nur nur das weinen das ewige weinen. immerzu muss er weinen. neulich, als wir eine tote taube im park gefunden haben, da hat er gleich wieder losgelegt. alfi, habe ich gesagt, wir kommen aus dem nichts und wir gehen ins nichts. aber das wollte er gar nicht hören, hat nur geweint und geweint um die blöde taube pause oma wie will er sich denn später einmal durchsetzen? po sie meinen in der zukunft? oma genau! po ja, kinder sind unsere zukunft oma ich möchte, dass es der junge mal besser hat. ich hatte es nämlich nicht immer leicht. und

seine mutter schon gar nicht ach, alfi, das habe ich ganz vergessen: ich habe hier irgendwo noch einen apfel für dich, damit du groß und stark wirst alfi

aber omi, mir wird doch immer schwinde-

lig, wenn ich gesunde sachen essen muss! oma

stimmt, das hatte ich ganz vergessen. na

gut, dann gibt es jetzt noch ein eis. oder müsst ihr hier noch irgendetwas besprechen oder sozialleistungen kürzen oder so etwas? po

das ist schon lange erledigt!

oma p

sehr schön! dann gehen wir jetzt -

entschuldigung! wir haben doch noch gar

nicht seinen bagger oma

mein enkel macht jetzt mal eine pause

und isst ein eis und dann können sie gerne alle weitermachen mit was auch immer das hier ist! alfi

wie viele kugeln darf ich?

oma

eine

11 alfi und seine oma sitzen auf dem rathausplatz. irgendwie hat alfi sie in eine zweite kugel reingequascht. selbstverständlich hat er sich für erdbeere und schlumpf entschieden oma

wolltest du deiner oma gar nicht sagen,

dass du in die politik gehst? alfi

es sollte eine überraschung sein

oma

na, die ist dir auf jeden fall gelungen

pass nur gut auf dich auf, alfi alfi

ja, mache ich

oma

und nimm dir nicht alles so zu herzen

alfi

ja, mache ich, omi

oma

und wenn du genug hast von der politik,

dann steigst du einfach wieder aus, okay? alfi

okay!

oma

dann machst du einfach lobbyarbeit für

einen autokonzern oder so etwas versprichst du mir das? alfi

ja, ich verspreche es dir, omi

oma

gut!

worüber habt ihr denn geredet, du und dein kollege? alfi

die meiste zeit hat er geredet:

über kuba oma

über kuba?

alfi

ja

oma

was soll denn ein kuba sein? ist das so

ein politik-begriff? alfi

ich weiß nicht

irgendetwas mit schiffen

53

Stück Leo Meier oma und du bist sicher, dass er kuba gesagt hat?

ich hätte ganz allgemein gar keine lust, mich zu

alfi

prügeln

ja, ganz sicher. er hat von kuba erzählt.

13

und von schiffen in der karibik. und es ging um

oder mich durchzubeißen

fernsehen und ziemlich viel um seinen vater

sagen wir, ich hätte viel mehr lust, mich durch-

oma

zuwurschteln

s

sag das doch gleich!

und auch gar nicht bis zum bitteren ende im-

IST NICHT ALLES VERLOREN!

natürlich! jetzt weiß ich, was du meinst:

mer

herzlich willkommen zu einer neuen ausgabe

kiba

sondern einfach nur bis zum ende

von ES IST NICHT ALLES VERLOREN! auch

kirsch-bananensaft

oder soweit ich eben kann

heute haben wir wieder berührende schicksale

hat er das gesagt?

und dabei würde ich mir eben doch immer alles

für sie, von menschen, die etwas verloren ha-

alfi

zu herzen nehmen

ben. denen etwas verloren gegangen ist, auf

oma der politiker hat kirsch-banenesaft getrun-

weil es ja auch gar nicht anders geht

dem weg. aber keine sorge! WIR ERKENNEN

ken, auf einer kreuzfahrt in den tropen, während er

weil doch in jedem moment ein herz in meiner

DIESEN VERLUST NICHT AN! mit ihrer hilfe

mit seinem vater fernsehen geguckt hat?

brust schlägt

da draußen, mit eurer hilfe, erkennen wir die-

alfi

ich meine -

sen verlust nicht an! denn wenn wir zusammen-

eine ganz komische stimmung irgendwie

wie soll es denn anders gehen?

stehen, wenn wir einander helfen, dann ist

oma

warum guckt der politiker denn fernse-

oma

nicht alles verloren! als kleines bonbon für un-

hen, wenn er auf einer kreuzfahrt ist? warum

pause

schaut er denn nicht raus aufs meer?

alfi

okay …

zwei autos unter allen anruferinnen und anru-

alfi

keine ahnung

oma

so. die oma geht jetzt zum bingo. hast du

fern, die helfen wollen. und weil es beim letzten

oma

na, ich hoffe, du hast ihm gesagt, dass

noch eine sitzung im rathaus? müsst ihr noch

mal missverständnisse gab: nicht zwei autos für

nicht alle kinder den ganzen tag auf kreuzfahrt-

den spitzensteuersatz senken oder so etwas?

zwei anruferinnen, sondern zwei autos für eine

schiffen herumlungern und kiba in der sonne

alfi

anruferin. wir sind eine authentische sendung.

schlürfen können. dass er das mal ein bisschen

garten

wertschätzen muss, dass er mal raus aufs meer

oma

schauen soll!

dann geh zurück in den kindergarten

sen sie, das wisst ihr – viele verlierer. wie der

alfi

ja, das habe ich gesagt

und pass gut auf dich auf, ja?

bauer olaf, der letzte woche bei uns zu gast war

oma

sehr schön, alfi!

ich hole dich später ab!

und dessen schicksal millionen menschen im

alfi

und es gab noch ein ordentliches back-

alfi

ganzen land berührt hat: ihm war die ernte

achso! alfi!

äh, ja, das kann sein

ich habe nicht so genau zugehört, es war

es geht immer anders, alfi

die große abschluss-show beginnt ES IST NICHT ALLES VERLOREN! ES

entschlossene verlosen wir auch heute wieder

ich will einfach nur zurück in den kinder-

und es kann nur einen gewinner geben! na gut, alfi

und wo ein gewinner ist, da sind – und das wis-

mach ich!

pfeifengewitter. für ihn und seine drei ge-

alfis oma geht zum bingo. afli schleckt sein eis

eines ganzen jahres verloren gegangen: die ap-

schwister

zu ende und macht sich auf den rückweg in den

felbäume hatten nicht geblüht und die kartof-

oma

kindergarten. ende.

feln waren nicht gewachsen, in ihrer staubtro-

gleich vorgeknöpft? 4 gegen 1? und ich sehe

kleiner spaß ;) natürlich kommen die polizistin

ckenen erde. wie zum hohn waren seine felder

nicht einen kratzer. na, du kannst dich also

und der politiker auf den rathausplatz gerannt:

zum schauplatz perverser sexspielchen gewor-

seine drei geschwister hast du dir auch

doch durchbeißen. wer hätte das gedacht. ich

den, von irgendwelchen yuppies, die es nicht

12

bin stolz auf dich! alfi

danke, omi

oma

so. ich muss jetzt zum bingo und du

p

alfi, alfi! warte mal, alfi!

nur zu zweit trieben, sondern auch zu dritt, manchmal zu viert, häufig zu fünft. in der scheune, auf dem feld, unter dem apfelbaum.

gehst zurück in den kinder -

ich habe dem politiker alles erklärt, dass du ein

aber mit ihrer hilfe da draußen, mit eurer hilfe,

alfi

genie bist

konnten wir bauer olaf zur seite stehen in dieser

und dass dein bagger verloren gegangen ist und

schweren zeit: wie er mir gestern am telefon erzählte, erreichen ihn seit letzter woche hunderte

warum hat mama geweint?

pause oma

weil sie sich sorgen macht

–

alfi

um mich?

po

und ich habe meine kontakte spielen las-

päckchen, liebevoll geschnürt, mit samen für sei-

sen und ich will nicht zu viel verraten, aber

ne felder. aber keine sexuellen samen, die diese

heute abend wird jeder mensch in diesem land

yuppies verteilen, wo sie gehen und stehen, son-

lange pause

wissen, dass ich kinder liebe

dern echte samen: samen von mangos. samen

alfi

omi?

äh

von avocados. samen von ananas, samen von

oma

ja, alfi?

das hat sich jetzt komisch angehört

bananen. durch sie hat bauer olaf neuen mut ge-

alfi

nur mal so theoretisch:

jeder mensch wird wissen, dass du deinen bag-

schöpft, wie er mir am telefon erzählte, und hat

sagen wir, ich würde doch nicht in die politik

ger suchst, das meine ich

begonnen, die samen auf seinen feldern zu pflan-

gehen

und dass ich dir dabei helfe, ihn zu finden

zen. er hofft, schon in wenigen monaten das ern-

oder einen nobelpreis gewinnen oder so etwas

so!

ten zu können, was er mit ihrer hilfe gesät hat:

und ich hätte auch nicht gegen vier erwachsene

p

gekämpft, gerade

es ist nicht alles verloren!

pause oma

54

um alles

alfi, hörst du das? ist das nicht wunderbar?

drachenfrüchte, wassermelonen, kokusnüsse. ihnen und euch allen dafür: vielen, vielen dank!

Theater der Zeit 11 / 2025

Stück auf der suche nach dem verlorenen bagger und wir geben nicht auf. wir machen da weiter,

ger haben möchte, aber alfi wollte unbedingt

f

wo wir aufgehört haben. denn noch ist nicht

ein neues fahrrad! ich habe ihm gesagt: neues

ich wollte mich entschuldigen. ich glaube, es

alles verloren! auch heute haben wir eine ge-

fahrrad oder neuer bagger, beides geht nicht -

war ein fehler, meinen opa zu exhumieren

schichte für sie, die unter die haut geht.

s

also wissen sie nicht, wo der bagger ist?

s

wie bitte?

stellen sie sich doch für einen kurzen moment

m

nein! und es ist mir -

f

es ist nur so -

vor, sie sitzen gemütlich im sandkasten und

s

dann muss ich sie bitten, die leitung freizu-

ich denke, wir müssen lernen, einen umgang zu

spielen mit ihrem bagger. und plötzlich ist der

machen. für anruferinnen, die wirklich helfen

finden

bagger weg. so geschehen dem kleinen alfi. alfi,

wollen

mit dem tod

kommst du bitte zu uns :)

kanntest du diese frau, alfi?

und wenn wir den großen verlust nicht mehr

alfi kommt ins fernsehstudio. er trägt immer

alfi

ausblenden

noch seine gelbe jacke und fragt sich, wie es so

s

weit kommen konnte (so, wie ich das manchmal

und wir haben schon den nächsten anrufer in

anderen verlusten umzugehen

tue, wenn ich im bett liege und es dunkel wird)

der leitung! alfi, die leute wollen dir helfen, ist

die da ja kommen werden

s

das nicht schön?

das ist ja sicher, dass die verluste kommen werden

alfi, in deinen worten, wie ist das ganze abge-

k

so sicher wie der tod

laufen?

wir sitzen hier mit der ganzen igel-gruppe, wir

pause

alfi

äh, plötzlich war der bagger weg und -

sind super stolz auf dich, du bist ja ein richtiger

f

und der bagger?

s

und da hast du ganz bitterlich geweint,

star! alfi, die aylin hatte ein ganz tolle idee,

f

welcher bagger?

wahrscheinlich?

­aylin, sag doch mal -

s

wir sind auf der suche nach dem verlorenen

alfi

eigentlich im gegenteil, ich -

aylin

hallo alfi

bagger. der kleine alfi hat seinen bagger verlo-

s

und du warst enttäuscht, oder, alfi?

alfi

hallo aylin

einen riesen applaus für den kleinen alfi!

das war meine mutter oh, das tut mir leid

hallo? hallo? alfi?

hallo! äh -

dann wird es uns auch leichter fallen, mit den

ren!

pause

aylin

wenn du willst, kannst du dir meinen

f

s

oder, alfi?

bagger leihen übers wochenende. dann kannst

äh

alfi

joar

du auch direkt nach dem aufwachen damit

was sucht er?

spielen

s

einen bagger!

wiederhaben …

k

f

ich gehe mal nach hinten und schaue nach

pause

alfi

s

vielen dank

s

k

s

und du möchtest deinen bagger unbedingt

oder, alfi?

nicht so schüchtern!

alfi

alfi

k

wissen sie was: ich gehe jetzt einfach nach

was sagt man da, alfi? danke aylin und? und den anderen igeln jaaa! alfi, du kannst das gerade nicht sehen,

oh, achso! entschuldigung!

die frau vom fundbüro geht nach hinten, wir hören türen auf und zu gehen. plötzlich sagt sie ganz unvermittelt:

hause!

aber alle kinder machen vor freude den igel-

f

s

tanz. mach auch den igel-tanz!

ich hatte die idee, dass mein opa der wind sein

heute nicht nach hause. und dafür brauchen wir

alfi macht den igel-tanz

könnte

sie! dafür brauchen wir euch! haben sie einen

k

er könnte der wind in meiner frisur sein, auf

bagger gesehen? alfi, wenn du deinen bagger be-

fernsehzimmer. töröööö! das schreit doch nach

dem heimweg in der dämmerung

schreiben müsstest, wie würdest du das tun?

dem elefanten-tanz, oder, alfi?

wir hören, wie boxen auf und zu gehen und sa-

alfi

alfi macht den elefanten-tanz

chen herumgeräumt werden

k

f

s

keine angst: ohne deinen bagger gehst du

gelb und gammel sie haben es selbst gehört, liebe zuschaue-

und da ist kommt die elefanten-gruppe ins

und da kommen die kinder aus der robben-

ich hatte noch eine idee vorhin

das gibt es ja nicht! hier ist ein bagger! lassen

rinnen, liebe zuschauer! wir suchen einen gel-

gruppe! robb, robb, robb! mach den robben-

sie mal sehen: wurde heute mittag hier abgegeben!

ben bagger, der gammel ist! die leitungen sind

tanz mit uns, alfi

s

ach wirklich?

offen, die nummer ist eingeblendet. uuuund wir

alfi macht den robben-tanz

f

ja. ziemlich dreckig und ein bisschen oll,

haben schon die erste anruferin in der leitung

k

aber es ist ein bagger

das ging flott!

tschüüüs, alfi, tschüüüüüüs!

s

mit wem spreche ich?

alfi winkt zurück

deinen bagger wieder

m

warum bist du nicht im kindergarten?

s

vielen, vielen dank! alfi! wir haben es geschafft!

alfi

scheiße

schlag von deiner freundin, oder?

dein oller bagger ist wieder da! es ist doch noch-

s

wie bitte?

k

mal alles gut gegangen! wir haben es geschafft!!!

m

warum bist du nicht im kindergarten, alfred?

aber es ist nicht dasselbe, wie einen eigenen

alfi, jetzt können wir es ja sagen: wir hatten

s

können sie uns vielleicht etwas über den

bagger zu haben

schon einen neuen bagger besorgt, ferngesteuert

verbleib des baggers sagen? wir suchen einen

s

natürlich ist es nicht dasselbe, wie deinen

und mit led-scheinwerfern, falls sich hier nie-

gelben bagger, der gammel -

alten bagger wiederzuhaben, der schon so

mand meldet, weil wir helfen wollen, aber den

m

das ist mir scheiß egal, wo sein bagger ist.

schön eingespielt ist, was? aber wir geben nicht

können wir ja getrost wieder umtauschen! du

er hatte vor zwei wochen geburtstag, ich habe

auf, wir akzeptieren deinen verlust nicht, wen

hast deinen alten bagger wieder!

ihn hundertmal gefragt, ob er einen neuen bag-

habe ich an der strippe?

alfi fängt an zu weinen

Theater der Zeit 11 / 2025

alle kinder winken dir. wink uns zurück!

na, alfi, das ist doch mal ein netter vorja, ist es wirlich!

hörst du das, alfi? hörst du das? wir haben

55

Stück Leo Meier s na, da fließen die freudentränen. es ist doch nochmal alles gut gegangen. es gab doch noch ein happy end! alfi trommelt mit seinen kleinen fäustchen auf den boden (so, wie ich das manchmal getan habe, im supermarkt. einfach, weil ich nicht weiterwusste) s und ein freudentanz! erst der igel-tanz, dann der elefanten-tanz, dann der robben-tanz und jetzt der freudentanz! tanz es raus, champ, lass es raus! falls es die doppelbesetzung zulässt, kommen die polizistin, der politiker und alfis oma auf die bühne gerannt und werfen alfi in die luft: p es ist doch für etwas gut, dieses leben! es ist doch für etwas gut! po ich liebe kinder! ich liebe kinder! ich liebe kinder! oma morgens ist er noch ein kindergartenkind, mittags ist er schon ein spitzenpolitiker und abends ist er ein fernsehstar! oder so ähnlich. es ist einigermaßen trubelig, bis alfi anfängt zu schreien. endlich! alfi ICH WILL EINFACH NUR EINEN NEUEN BAGGER! SEIT ANFANG AN WILL ICH EINFACH NUR EINEN NEUEN BAGGER! DAS WAR MEIN PLAN. EINEN NEUEN BAGGER ZU BEKOMMEN. ICH SCHEIßE AUF MEINEN ALTEN BAGGER. ICH SCHEIß DRAUF! ICH WILL EINEN NEUEN BAGGER! EINEN NEUEN, FERNGESTEUERTEN BAGGER! DAS IST ALLES! DAS WAR DIE GANZE ZEIT ALLES, WORUM ES MIR GING!

epilog alfi

ich weiß nicht, ob sie sich noch an mich

erinnern können ich bin’s, alfi. ich habe ihnen heute morgen von meinem geheimen geheimplan erzähltund, ja er ist schiefgelaufen ich habe hausarrest einen monat für jedes schimpfwort, das ich im fernsehen gesagt habe. ich konnte mir die aufzeichnung noch nicht ansehen, weil ich medien- und technik verbot habe, aber es wa-

deinen bagger abholen und dann kommst du auf direktem weg wieder nach hause! alfi scheiße alfi geht in das fundbüro. dann fährt er mit seinem neuen bagger auf die bühne es ist kein spielzeugbagger mit angeklebter schaufel, es ist ein echter bagger alfi beginnt, die schaufel zu bewegen. sanft und konzentriert und da: im surren des motors. im biss auf die lippe trost

ren anscheinend einige schimpfwörter dabei. und jetzt muss ich noch meinen blöden bagger vom fundbüro abholen, bevor ich eingesperrt werde. und ich muss den ganzen weg

– ENDE –

laufen, der mega lang ist, weil ich mein neues fahrrad nicht benutzten darf. ich habe fahrrad verbot! und ich soll mich auch noch entschuldigen also, ja entschuldigung alfi geht zum fundbüro. vor der tür hält er inne. dann, nach einer weile: alfi

neulich, als ich nach dem spazieren gehen

noch eine fanta durfte da habe ich gesehen, dass sich das licht so in meinem glas bricht und meine mutter hat mir erklärt, dass das licht die richtung ändern muss weil es von einer niedrigen dichte in eine hohe dichte übergeht und dass es sich deswegen langsamer ausbreitet

FICKEN SCHEIßEN KACKWURST

aber dass es sich trotzdem ausbreitet alfis mutter ruft von der seitenbühne m

alfi! ich bekomme mit, dass du da vorne

probierst, zeit zu schinden. du gehst jetzt sofort

black.

Anzeige

Lesen Sie unsere Zeitschriften und Bücher – noch bevor sie aus dem Druck kommen

Newsletter Jetzt abonnieren

Theater der Zeit

Foto Julian Röder

Diskurs & Analyse

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen

Essay Zur „Peer Gynt“-Serie von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Serie Ride & Resistance: Thaddäus Maria Jungmann

Theater der Zeit 11 / 2025

57

Diskurs & Analyse Essay

„Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

„Brutal ist die Sanftheit und die Sanftheit brutal“ Foto Julian Röder

Zur „Peer Gynt“-Serie von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Von Lorenz Just

58

Theater der Zeit 11 / 2025

Diskurs & Analyse Essay Schon nach der Premiere war klar, dass damit niemand das Ganze gesehen hat.

während ich weiß, dass in der Volksbühne gerade alle Register gezogen werden. Kein Ort wäre passender für diesen heilenden Verschwendungspotlatsch. Katharsis wird erreicht, wenn die Sau rausgelassen wird, und die frenetische Sau war mitten im Rampenlicht. Wie kannst du dir das nicht antun?

Nüchterner betrachtet: Bei Vinge/Müller war schon nach der Premiere klar, dass damit niemand das Ganze gesehen hat. Das lag nicht nur am geblufften Cliffhänger, dass nach acht Stunden, die, laut Vinge, kein Theater seien, gerade mal der erste Akt geschafft sei. Dass alles gezeigt werden soll, doch nur ein Bruchteil auf die Bühne kommt, war spürbar Programm. Ähnlich einem Open-World Videogame wurde Einblick in einen Kosmos suggeriert, der sich jederzeit in alle Richtungen fortsetzen oder durch anhaltende Repetitionen verewigen könnte. Wie die ausgestellten Bilder im Seitenfoyer: Wimmelbilder, die scheinbar bodenlos sind.

Den Drang, einmal komplett das Ganze zu sehen, kennen doch alle. Also rennt man hin, zwei Mal, drei Mal. Zur vorläufigen Derniere war unverändert kaum mehr als der erste Akt geschafft.

Besuch in Gyntiana

Martialisch brachiale „Tom & Jerry-Gewaltorgien. Zuckersüße Liebesanbahnungen. Eine schlammgeborene, Frankenstein’sche Aphrodite namens Ingrid. Alles irgendwie eine zur Manie gewordene anale Phase. Mitten aus der ärgsten Popvermüllung heraus die rührende Liebe zur klassischen Oper. Arien getreu dem Motto geschmettert: Not because I can, but because I love to. Natürlich muss der Penis ab, bevor ein Gynt fliegen kann. Die unsterbliche Mutter wird vermöbelt, zig Mal abgeknallt, doch zuletzt am Sterbe­bett bricht aus dem kleinen Peer trotzdem die große Liebe zum ambivalenten Muttermonstrum hervor. Ein Pakt wird geschlossen und der Dovre getanzt.

Warum tust du dir das drei Mal an, wurde ich mehr als einmal gefragt. Ich kann doch nicht zu Hause sitzen und Tee trinken,

Theater der Zeit 11 / 2025

Wenn acht Stunden kein Theater sind, was ist dann Theater? ­Theater bei Vinge/Müller zielt auf den Ausnahmezustand. Auf diesen imaginären Punkt rast und schleicht und kriecht das ganze Unterfangen zu. Bis selbst die Live-Regie ungeduldig wird und das mit kindlicher Hingabe gemalte Bühnenbild zu zerhacken beginnt, natürlich an den festgelegten Sollbruchstellen vorbei.

Auf die hatte es der vielköpfige Gynt prinzipiell nicht abgesehen.

Etwas von einem Hochleistungssportler strahlte der junge Gynt aus, besessen davon, den eigenen Rekord wieder und wieder zu brechen. (Ein herbei onanierter Live-Orgasmus war so eine selbstgesetzte Challenge.) Wobei das Publikum im olympischen Sinne dabei war, weniger Zuschauer:in war als Zeug:in. (Vgl. Andrew Friedmans Laudatio in TdZ 06/2025) Gelingt es, aus dieser abgezirkelten Situation eines Theaterabends ein Ereignis hervorzupressen? Nach vier Stunden war die Atmosphäre im Saal völlig umgekrempelt. Kein stillhaltendes, aufs Ende schielendes Publi­kum. Wie in einem koptischen Gottesdienst, der den ganzen Feiertag über andauert, hatte sich ein unruhiges Kommen und Gehen zwischen den Sitzreihen eingestellt. Ausverkauft, aber zwischendurch war jeder Platz stundenlang frei. Manche gingen Pizza essen oder Kaffee trinken mit Mutti. Andere versuchten sich an einem Date, das aber irgendwie nicht passte, weshalb sie dann doch wieder zurückkehrten. Bei meinem ersten Besuch in ­Gyntiana schrieb ich einer Freundin, die Vinge/Müller noch aus der legendären Prater-Zeit kannte: Gibt es Pausen oder müssen wir die einfach machen? Musste einfach machen, war die Antwort.

59

Szenen aus „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie, Bühne, Musik Vegard Vinge, Ida Müller, Trond Reinholdtsen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Was vielleicht viel sagt über die Beziehung, die dieses Spektakel zum Publikum unterhält. Eine Kritik meinte, dieser Abend bräuchte kein Publikum, sondern genüge sich selbst, worin mehr Wahres liegt, als gemeint war. „Troll, sei dir selbst genug!“, ist das Credo von Ibsens Trollen, in deren fantastischer Unterwelt die finalen Höhepunkte zelebriert wurden. Peer Gynt liebt sein Publikum, deshalb lässt er es teilhaben an der ekstatischen Totalverausgabung. Die Kritikerin aber will gebraucht werden. Für derartige Bedürfnisse gab es keine Verführungsstrategien. Anders auch als Florentina Holzinger, die das Publikum in Wellen mit Artistik, Schocker, Schönheit überwältigt, wird das Überwälti-

60

gende bei Vinge/Müller durch nervenraubende Repetition wieder heruntergeholt. Wer einen Moment wegschaut, hat noch lange nichts verpasst. Niemand plant dir deine Pinkel-, Raucher- oder Stretching-Pausen. Wer bleiben will, der bleibt, wer gehen will, darf gehen. Und das war eine schöne Abwechslung. Dass sich da niemand extra für dich zum Clown macht, sich niemand die Seele aus dem Leib kreischt, um die Gunst der holden Zuschauerschaft zu gewinnen, oder im Gegenteil eifersüchtig von der Bühne herab jeden abgelenkten Gast mit gehässigen Kommentaren bedenkt.

Merch wurde ins Publikum geschleudert, nicht verkauft.

Kann natürlich auch schiefgehen. Minutenlang war es sicher allen mal zu doof. Als plötzlich ein Arsch im Video auftaucht und uns fröhlich entgegenkackt, der kleine Scheißer dann die eigene Kacke mit Volksbühne, Prater beschriftet und noch eine Finanzenaufstellung dazuschreibt, bevor die Würstchen verschmiert werden. Das stank selbst von der Leinwand noch runter. Muss man drüberstehen. War immerhin nicht echt, immerhin nicht durch den Saal geschmissen. Kleine Übung in Alltagstoleranz.

Wird schon seine Gründe haben, der Herr Vinge. Wer’s genauer wissen will, kann bei Freud nachschlagen. An den drei Abenden, die ich da war, gab’s das nur einmal zu sehen. Meine süße Lieblingsszene dafür drei Mal. Ich bin gar kein Musical-Fan, doch diesem gärtnernden Schneider dabei zuzuhören, wie er seine Lebensgeschichte singt, war wunderschön. Obwohl ich weder wusste, woher das Lied kommt, noch auf Anhieb verstanden habe, was ein Schneider an diesem Abend zu suchen hat. Eine naive Freude.

Opening ... tiny shop.

Kurzer Exkurs: Vorm Café Tinto, dem Späti am Mehringdamm, hätte ich mich letztens beinahe in Scheiße gesetzt. Da hatte eine doch tatsächlich ihre Füße hochgelegt, die in Stiefeln steckten, mit denen sie frisch in Scheiße gelatscht war. Hab ich sie höflich darauf hingewiesen, sie meinte nur: Sorry, hab ich nicht bemerkt. Was ich sagen will: In dieser latenten Anfechtung, mit der Vinge/Müller ihr Publikum konfrontieren, spiegelt sich auch die Stadt, in die es uns alle zieht. Wenn in der Tram mir auf sechs Stationen drei Mal gesagt wird „Berlin ist hart, aber herzlich, also seid nett zueinander“, bin ich schneller am Ende mit meiner Geduld als nach acht Stunden „Gynt“. In aller verpuppten Verfremdung kam dieser Abend einer großstädtischen Wirklichkeit näher als all die Kammerstücke an der modernen Küchenzeile.

Der Zeit total hinterher sei der Abend, habe ich auch gehört.

Verstehe ich. Es gab diese unverhohlene Ebene der Nostalgie: eine Verklärung des Analogen und der Zeit, als die Popkultur noch Originale hervorgebrachte, „Rambo“, Alien“, „Pulp Fiction“. „Stranger Things“-like war’s damit auf alle Fälle. Nostalgie durchsticht die Bubble der Gegenwart, hat in unserer Zeit aber auch eine besondere Relevanz. Nicht nur mit Rambo, auch politisch haben wir längst die dritte oder vierte Reproduktionsschleife durchlaufen, Schleifen, die sich mittels KI zu verselbstständigen drohen, was die Sehnsucht nach den Originalen nur befeuert.

Vielleicht daher diese Zerstörungswut, mit der immer wieder Teile des Bühnenbilds geschrottet wurden, weil der Glaube sich hält, dass nur aus Zerstörung Neues entsteht – gewisse romantische Züge sind bei Vinge/Müller nicht zu leugnen.

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos Julian Röder

Diskurs & Analyse Essay

Diskurs & Analyse Essay Andererseits war’s gar nicht so out-of-date. Die Rollenbilder, an denen sich abgearbeitet wird, wünschen wir uns zwar lieber in die mistigen Siebziger, sie erleben aber ein Comeback und nicht nur im mistigen Internet. Hätte doch Grab-her-by-the-PussyTrump aus seiner renitenten toxic masculinity denselben Schluss wie Peer gezogen: Kastration. Pimmel ab und endlich kann er fliegen und Frieden machen mit der sterbenden Über-Mutter. ­ Unseren Anspruch an Frauen-, Männer- und Menschenbilder ­ auf der Bühne verwirklicht zu sehen, ließe wenig Raum für solch radikale Katharsis. Der hampelmännische Gynt, der der Solveig das Kleid runterreißt und es überhaupt kaum mal schafft, seinen Pimmel Pimmel sein zu lassen und sich ’ne Hose drüberzuziehen, wird nicht als Ideal auf die Bühne gestellt, nach dem wir streben, ganz im Gegenteil. Bei Ibsen landet er in der Irrenanstalt des Prof.

Dr. Begriffenfeldt in Kairo, bei Vinge/Müller, wie gesagt, kulminiert es in der Selbstentmannung, die ihn schlussendlich befähigt, in der grünbemalten Tochter des Trollkönigs sein exhibitionistisches Soulmate zu erkennen. (Bei Ibsen jedoch erfahren wir, dass Peer eher an einer Situationship interessiert war als an einer Ehe auf Lebenszeit und so auch die schöne Trollin ghosten musste.)

Signature Move Was Vinge/Müller in einigen Köpfen hervorkitzeln, könnten mit gewisser Wahrscheinlichkeit immer auch die Dünkel des verinnerlichten Kulturbürgertum sein. Das sollte selbstkritisch zumindest in Betracht gezogen werden, wenn man sich fragt: Was soll der Mist? Der Oper wird zwar gehuldigt, aber wurzeln tut der Vinge/ Müller-Kosmos fest im Trash der Popkultur, in der ein spezieller Umgang mit Gewalt gepflegt wird. Endlose Prügeleien, bei denen literweise Blut spritzt, doch niemand je k. o. geht, scheinen Gewalt eher zu feiern als zu problematisieren. Ist ungewohnt im Theater.

Aber der Medienkonsum spricht dafür, dass Gewalt liebend gern auf diese Weise konsumiert wird. So up-to-date, wie wir wünschen, ist unsere Welt leider nur in sehr kleinen Kreisen, auf die sich der Horizont des Theaters nicht beschränken darf. Auch der Sex bei Vinge/Müller scheint vom Porno informiert. Warum auch nicht, youporn und onlyfans prägen den Mainstream. Und wie schön war eigentlich diese einvernehmlich bombastische Fickerei! Mama Gynt fassbinderte als Emmi mit dem Berber-Sohn Ali, bis sie ungeschickt wie gierig übereinander herfielen. Dem einen wurden die Eier gepudert, der anderen die Möse geschleckt, und im Anschluss ganz neue Stellungen kreiert. Im Sinne der allgemeinen Emanzipation lautete der Subtext dieser Szene: Auch die Alten wollen Spaß!

Es ist nicht die leichteste Sache, aus Ficki-Ficki-Spielchen Kunst zu machen. Dass der bluttriefende Sohn zugegen war, fügte eine psychologische Ebene hinzu, nicht unbedingt subtil, aber doch erweiternd. Wie Peer anschließend mit der Bohrmaschine ein Loch in die Brustwarze von Edvards Munchs ikonischer Madonna bohrt, die auf einem Poster über dem Küchentisch hängt, und aus diesem Loch Milch zu fließen beginnt, die er heulend von der Wand und vom Boden schlürft, das sind Momente grandioser Verdichtung, die Trash und Poesie vereinen. Der ganze Vinge/

Theater der Zeit 11 / 2025

Der ganze Vinge/Müller-Kosmos scheint aus solchen endlosen Verkettungen von Referenzen, Überlegungen, spontanen Einfällen, von Lust und Verzweiflung aufgebaut zu sein.

Müller-Kosmos scheint aus solchen endlosen Verkettungen von Referenzen, Überlegungen, spontanen Einfällen, von Lust und Verzweiflung aufgebaut zu sein. Auf einem dünnen Gerüst an ­Ibsen-Plot wird hier mit allem, was das Theater aufzubieten hat, und Unmengen an Material stegreif-komponiert. Dass die Schauspielenden von Abend zu Abend mehr Bandagen und Pflaster tragen, spricht gegen das Sicherheitskonzept, jedoch für eine riskante Offenheit im jeweiligen Arrangement.

Es gab extrem viel zu sehen, so viel zu denken. Street-ArtFarbschlachten aus dem Feuerlöscher. Unmengen verschütteter Schleim, dem bevorzugten Bindemittel aller organischen Substanz.

Krakelzeichnungen neben High-Quality-Videos. Überhaupt die ganze Puppenhausästhetik. Vinges berüchtigten Signature Move, sich in den eigenen Mund zu pissen, hab ich irgendwie verpasst.

Nicht so schlimm. Im Mai geht’s wieder los. T

1.4-Seite_hoch_TdZ_November 2025_Fast Forward_89,5 x 109 mm_FINAL.indd 1

Anzeige

61

07.10.2025 18:39:56

Diskurs & Analyse Neue Serie: Theater und Sport #1 Nicht erst seit Einar Schleefs extrem sportiver Uraufführung von Elfriede Jelineks „Ein Sportstück“ (1998) ist die Verbindung zwischen Körperertüchtigung, Politik und Theater ein interessantes Feld geworden. In dieser neuen Serie zum Auftakt ein Indoor-Cycling-Trainer:in-Solo von Thaddäus Maria Jungmann.

Ride & Resistance Vom Indoor-Cycling als Ausdauersport zu politischem Theater?

Oder: Im neonroten Sonnenuntergang dem neoliberalen Heilsversprechen entgegenreiten

Foto picture alliance / Reuters | SHANNON STAPLETON

Von Thaddäus Maria Jungmann

62

Theater der Zeit 11 / 2025

Anzeige

Welcome Leser:innen. Nice that you’re here. My name is Tár, and I’ll guide you through the next five minutes of this text. First things first: Is your Stanley-Bottle filled with water? Stay hydrated! Because I’ve brought you a hot topic today: Indoor-Cycling as an ästhetische Überhöhung of a sportliche Praxis [yes, I switch fluently between German & English to make it more dramatic].

Today’s motto: Let’s ask ourselves why Indoor-Cycling is so close to performative aesthetics and verortbar im Diskurs von Ritual und Kult. Because Indoor-Cycling is more than just Ausdauersport – you know that, and that’s exactly why you love it. But before I dim the lights and we dive in, listen closely to my ASMRvoice: Are you ready to go? [now scream wherever you are] Can’t hear you – once again, ask yourself: ARE YOU READY? [please scream louder, because I want it] We start easy. Widerstandsregler: three turns from zero – close your eyes for a moment, arrive in this space, leave the boring everyday behind and dive into 45 minutes of pure entertainment.

And while you ride, I wanna share something really personal: Als ich vor ein paar Monaten beschlossen habe, Cycling-Instructor:in zu werden, lag das weniger an sportlichen Ambitionen, sondern vielmehr daran, dem ikonografischen Bild von Britney Spears mit Headset entsprechen zu wollen: die Verkörperung des totalen Performanceideals – full of personality, always in motion, und dabei jederzeit volle Kontrolle über Stimme und Publikum.

Open your eyes. Please give it up for myself. And now take a look around: Der ganze Raum ist von Performativität und rituellen Prozessen des Theaters durchzogen. Ein minimalistisches Bühnenbild aus Fahrrädern, ausgerichtet auf ein Podest, auf dem THE INSTRUCTOR steht. Diese Erhöhung spiegelt symbolisch die hierarchischen Strukturen des Theaters wider, den Geniekult der Regie. But sorry, not sorry: this time the instructor is more than just the leader – they are the music, the lights and the performance. [lol – you actually want me to play that role that sassy] Mit popkultureller Musikauswahl und reizüberflutendem Lichtdesign verwandelt sich die dunkle Kammer der Selbstoptimierung in einen Club. Deren Rhetorik oszilliert zwischen Übungsanweisung, Beschwörung, Drill Sergeant and Best Friend. Die Figur dirigiert durch choreografierte Sequenzen – von Gleichschaltung bis zur absoluten Ekstase: Come with me! Go even harder! Don’t disappoint me!

Indoor-Cycling, ursprünglich in den 1980er Jahren als Spinning-Methode entwickelt, hat sich längst zu einem eigenen Ökosystem aus Formaten und Stilen entwickelt. Was einst nüchtern als effizientes Ausdauertraining gedacht war, ist heute ein Hybrid: Low impact, high intensive cardio – und spätestens mit der Gründung von SoulCycle in New York in den 2010er Jahren zugleich ein Ort, an dem Clubkultur, Fitnessindustrie und Selbsthilfepraktiken aufeinandertreffen. Zwei Varianten sind dabei prägend: zum einen das Cardio-Cycling mit Brustgurtsystemen, bei dem Herzfrequenzen, Kalorien und Wattzahlen live auf eine Leinwand übertragen werden. Ein ständiger Überwachungsprozess, der die Teilnehmenden dazu bringt, sich nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen zu messen, permanent kontrolliert vom Instructor:innenBlick. Extremely dramatic like in a Tragödie: ein katastrophaler

Theater der Zeit 11 / 2025

Das eingebildete Tier (DEA)

Ein ekstatisches Menschheits-Spektakel von Valère Novarina | Regie: Julie Grothgar

Ein anderes Blau (UA)

Meditation über die Sehnsucht nach Novalis u.a. | Regie: Charlotte Sprenger

Antropka (UA)

360°-Live-Mixed-Reality-Theater von Maria Vogt | Regie: Maria Vogt / KGI

Showdown – eine Übung des Erbstreits (UA) von subbotnik

Queue (UA)

XR Multiplayer Spiel von OBLIQUE SENSATIONS

Performances, Workshops, Konzerte, Diskurse

u.a. mit Lisa Hofmann, Dominik und Natalia Eulberg, Rike Scheffler, Theresa Hannig

Kunst-Installationen

u.a. von RaumZeitPiraten, Kara Handgraaf, Claudia Robles-Angel, Andrea Familari, OBLIQUE SENSATIONS, MIREVI

Diskurs & Analyse Neue Serie: Theater und Sport #1 Konflikt des Posthumanismus zwischen menschlichen Schwächen und dem Drang, sie überwinden zu wollen. Dem gegenüber steht das Rhythm-Cycling, das Fitness mit Party, Ekstase und kollektiver Euphorie verschmelzen lässt. Für 45 Minuten wird die Gruppe zu einer Community, die sich gegenseitig anfeuert, zujubelt und im gemeinsamen Rhythmus verschmilzt – Head off, Heart on!

Wer ist die Zielgruppe? Wer ist das Publikum? Now please add five more big turns, because finding an answer to this seemingly impossible question is like climbing a metaphorical mountain. So, go all in or go home! Aufgrund der medialen Shareability ist vor allem Rhythm-Cycling ein vorwiegend intragenerationaler Magnet für Gen Z – eben genau die jungen Menschen, die das Theater so sehnsüchtig erwartet – mit gelegentlichen Ausreißern bei Millennials oder sogar Boomern, soweit sie popkulturelle Credibility vorweisen können. Aber auch hier gilt: Check your privileges. Denn wir haben es – auch aufgrund der Preise – mit einem selektierten Ort für almost white, gutbürgerliche abled bodies zu tun, der die überspitzte Beobachtung zweier binärer Archetypen zulässt: Das Cardio-Cycling zieht den performative male an. Gerade noch hat er bei einem Matcha-Latte seinem Labubu aus bell hooks vorgelesen, jetzt strampelt er unter Wettkampfcharakter auf dem Rad, um Stärke und Durchhaltevermögen in der Gruppe zu beweisen – und im abschließenden Ranking nicht von FLINTA*s überholt zu werden; eben tragisch anzuschauen. Beim RhythmCycling hingegen dominiert das Phänomen, das im Podcast „­Fashion the Gaze“ in der Folge „SPORTY FACISM“ als the white clean girl bezeichnet wird. Sport wird durch einen inklusiven Dresscode in Form eines Lululemon-Abonnements und eines passenden Healthy-Lifestyle-Kults zur Inszenierung von Zugehörigkeit – und zugleich Abgrenzung. Selbst Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte käme bei diesem Phänomen ins Schwitzen, denn die autopoietische Feedbackschleife reicht in diesem Fall längst nicht mehr als theoretisches Wissenstheorem aus, um zu beschreiben, wie die Teilnehmer:innen den Ride mit ihrer leiblichen Co-Präsenz nicht nur beeinflussen, sondern durch ihre Inszenierung selbst zu Performer:innen werden. Vorab auf Social Media inszenieren sie ihre alltäglichen Optimierungsrituale über Supplements, Säfte und Stories; die Spiegelwand dient während des Rides in Foucault’scher „Überwachen & Strafen“-Manier dazu, ihre Performance permanent zu überprüfen und bei einem Proteinriegel mit einer passenden Post-Riding-Story zu vollenden: „Bewegungstherapie.“ But I have to tell you: I’m not your therapist – I’m just a cycling instructor.

Wenn Kim de l’Horizon im Podcast „Alles gesagt?“ von Die Zeit davon spricht, dass Theater heute in vielerlei Hinsicht die Funktion der Kirche übernommen habe – in Struktur, Ritual und vor allem Gemeinschaft –, lässt sich dieser Gedanke unmittelbar

So überspitzt es beim Indoor-Cycling erscheinen mag: Auch hier geht es um Ordnung, Transformation und Sinn in einer beschleunigten, unsicheren Welt.

64

auf Indoor-Cycling übertragen: ein Raum säkularisierter Rituale, in dem Performativität, körperliche Praxis und liturgische Synchronität eine kollektive Gemeinschaft hervorbringt, die schlussendlich zur Transformation trainiert wird. Because for the next part, let me turn off the lights and light three battery-operated candles, like the votive candles you’d find in a church. Now, when you’re drifting in the delirium between absolute ecstasy and total exhaustion, comes what we call the mindful moment. Instructor:innen schlüpfen in eine predigende Rolle, um das neoliberale Heilsversprechen zu verkünden: Wer genug schwitzt, glaubt, kämpft, sich und andere inspiriert, kann nicht nur fitter, sondern auch stärker, authentischer und vielleicht sogar – im religiösen Sinne – erlöst werden. Während alle im choreografierten Gleichklang zum Techno-Beat in den neonbeleuchtenden Sonnenuntergang fahren, über dem in Form eines Slogan-Kreuz „All we have is now“ prangt, entfacht die Rede dramaturgisch das Potenzial eines kathartischen Moments: Man geht hinein, durchlebt starke Gefühle und geht „gereinigt“ wieder heraus. Schwitzen als kollektives Opfer.

But let’s cool down. Drink something, grab your towel, treat yourself best. Reconnect with your breath and then give your neighbour a high five. Indoor-Cycling entfaltet ein Spektrum zwischen gemeinschaftsstiftender Clubkultur und selbstoptimierendem Heilsversprechen. Anhand der Phänomene des performative male und des white clean girl zeigt sich, wie stark das Ganze längst Kultcharakter angenommen hat. Aber hinter dem Kult steckt auch eine Verletzlichkeit: Der healthy lifestyle erschöpft sich nicht nur in Bildern, er vermittelt tatsächlich Zugehörigkeit, Orientierung und Halt in einer Welt voller Krisen und Unsicherheiten. Eine weitere Parallele zum Theater. Schon im 19. Jahrhundert erfüllte es eine ähnliche Funktion: Als „bürgerlicher Bildungstempel“ versprach es moralische und ästhetische Erhebung, war keine bloße Unterhaltung, sondern eine Instanz gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Später, im 20. Jahrhundert, wurde es in Krisenzeiten zum kritischen Forum – Brecht etwa nutzte es, um unter den Bedingungen des Nationalsozialismus eine Form geistiger Gegenwehr und kollektiver Reflexion zu schaffen. Und so überspitzt es beim Indoor-Cycling erscheinen mag: Auch hier geht es um Ordnung, Transformation und Sinn in einer beschleunigten, unsicheren Welt.

And before we give it up for ourselves, I also, as an Instructor, have to ask: What kind of confused role do I actually take on, caught between these manipulative Genie- & Allmachtsfantasien up here on the podium? Could this mindful moment be about more than personal transformation – about transforming the space itself?

Turning it into something like a political stage? A space where we don’t just sweat out our own struggles; less about reaching your personal paradise and more about confronting political hells, addressing the systemic ones: exploitation, inequality, exclusion. And maybe those High-Resistance Classes could be just that: the ones where we add even more resistance, not only on the wheel but also in conversation – turning up the resistance while talking politics.

What if Indoor-Cycling became less about self-optimization and more about collective resistance – a kind of politisches Theater on the bike? And with that big question in mind: carry your new energy with you. See you next week – same time, same place! T

Theater der Zeit 11 / 2025

Theater der Zeit

Foto waleed awny

Report

Die Eröffnungsproduktion „The Triumph of Horus“ im Rahmen des CIFET in Kairo, Ägypten

Neustart Weimar: Ein Trio hat als Teamintendanz das Nationaltheater übernommen Kairo Das Cairo International Festival for Experimental Theatre als Wimmelbild ver­ schiedenster Theaterkulturen Serbien In Serbien spitzt sich die Lage zu – die Theater­ szene und das renommierte BITEF-Festival mittendrin Schweiz Das Kulturfest zeit:fluss zeigt in seiner ersten Ausgabe ein künstlerisch ambitioniertes Programm

Theater der Zeit 11 / 2025

65

Report Weimar

Einer für alle, alle für einen Neustart in Weimar: Ein Trio hat als Team­intendanz das Nationaltheater übernommen Von Michael Helbing

66

Es war ein so bemerkenswertes wie auch etwas merkwürdiges Sig­ nal zum Auftakt nach dem Stabwechsel, der einen Machtwechsel inkludiert: Kleists Lustspiel „Der zerbrochne Krug“ als 40-minü­ tiger Operneinakter von Viktor Ullmann (1942), in dem Weimar aus dem Richter Adam Herrn Adam Richter macht, seines Zei­ chens Intendant und Chefregisseur eines, wenn nicht gar dieses einen Theaters. Dort ereignet sich das Finale eines Machtmiss­ brauchs, das den Verursacher zu Fall bringt.

Valentin Schwarz hat das inszeniert, als handwerklich glän­ zend arrangierte Backstage-Comedy in sich drehender Szenerie zwischen Theaterkantine, Probebühne und Schreinerwerkstatt (Andrea Cozzi und Ella Steinbach), mit parallelen und sich überlappenden Vorgängen. Das Nationaltheater lässt sich darin optisch kaum wiedererkennen; allerdings ist explizit von Weimar die Rede, das Goethe-Schiller-Denkmal kehrt uns zeichenhaft den Rücken zu. Man spielt und irritiert hier mit Uneindeutig­ keiten.

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Sandra Then

„Penthesilea“ & „Der zerbrochne Krug“, Trauer- und Lustspiel mit Musik von Othmar Schoeck und Viktor Ullmann. Musikalische Leitung Daniel Carter.

Inszenierung Valentin Schwarz. Bühne Andrea Cozzi. Kostüme Andy Besuch

Report Weimar Dass sie in der Klassikerstadt die Klassiker renovieren anstatt konservieren möchten, also „entstauben, auffrischen, neu beleuchten“, ist weder hier noch generell im Theater neu.

Vorgänger übernommen. Das Trio verortet sich mithin irgendwo zwischen Kontinuität und Aufbruch. Reformation statt Revolution.

Sie rennen aber auch schon mal offene Türen ein. Dass sie in der Klassikerstadt die Klassiker renovieren anstatt konservie­ ren möchten, also „entstauben, auffrischen, neu beleuchten“, ist weder hier noch generell im deutschsprachigen Theater sonder­ lich neu. Gleichwohl setzen sie neue Akzente, indem sie etwa im Schauspiel gleich doppelt mit Goethe-Dramen eröffneten. Jenseits des „Faust“, dessen jüngste Version von Jan Neumann sie ebenso wiederaufnehmen wie Swaantje Lena Kleffs Auseinandersetzung mit dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (siehe TdZ 04/2025), spielten am Stadt- und Staatstheater der G ­ oethe-Stadt solche Klassiker seit langer Zeit überhaupt keine Rolle mehr.

Jetzt sind „Iphigenie auf Tauris“ nach fast 30 und „Stella“ nach 25 Jahren hierher zurückgekehrt. Beide Inszenierungen arbeiten auf sehr unterschiedliche Weise mit Mitteln der zeitgenössischen Überschreibung, worin sich die ernüchternde Botschaft doppelt,

Anzeige

RETZHOFER DRAMAPREIS ERwAcHSEnE jungES PublIkuM

EInREIcHTERMIn

15 Janner 2026

Schwarz ist de jure Nachfolger von Generalintendant Hasko Weber als künstlerischer Geschäftsführer des Hauses, de facto aber, mit dem Zusatztitel Chefregisseur versehen, einer von drei Teamintendanten, die jetzt eine neue Ära einläuteten, ohne damit den völligen Bruch zu behaupten. Weber hatte entschieden, nach zwölf Jahren vorzeitig das Haus zu verlassen; sein dritter Vertrag hätte bis 2027 gereicht. Stattdessen ist er jetzt für eine Saison Übergangsintendant in Cottbus. „Ein Generalintendant ist ein Ding der Unmöglichkeit“, hatte Schwarz in der Vorbereitungszeit zu Protokoll gegeben, „weil sich ja niemand in allen Sparten gleichgut auskennt.“ Von Machtmiss­ brauch war nicht die Rede, schon gar nicht Weimar betreffend.

Im Gegenteil bescheinigen er sowie Dorian Dreher und Timon Jansen als neuer Opern- beziehungsweise Schauspieldirektor, dass unter Weber längst effiziente Teamstrukturen im Haus entstanden seien, auf die man sehr gut aufbauen könne.

Und nun sehen wir also auf der Bühne den Intendanten Richter, der langhaarig, mit Künstlerschal und dicker Zigarre vom Intendan­ ten Weber allerdings weit entfernt ist, wie er der Sängerin Eve direkt an die Wäsche geht, die gerade eine Premiere hinter sich gebracht hat. Auch das ist übrigens klug gedacht und elegant organisiert.

Denn vor der Pause dieses Doppelabends zu systemischer Gewalt sa­ hen wir einen anderen Operneinakter nach Kleist: Othmar Schoecks „Penthesilea“ (1927). Deren Personal findet sich in der von Marthe Rull bewirtschafteten Kantine ein, um den Triumph zu feiern.

Schreiber Licht ist hier Chefdramaturg, Ruprecht ein Schrei­ ner, Frau Brigitte die Putzfrau; Gerichtsrat Walter kommt als Kul­ turminister aus Erfurt hinzu. In dieser Konstellation werden die tödlichen Küsse und Bisse aus dem martialischen Gewaltakt der „Penthesilea“ noch mal virulent, im Satyrspiel nach der Tragödie dann allerdings heilsam aufgelöst. Und drei Frauen übernehmen die Theatermacht.

Schwarz versteht das, neben allem anderen, als augenzwinkern­ den Kommentar zum und auf den Neustart, der nicht nur das In­ tendantenmodell infrage stellt, sondern auch die Alternative befragt.

Der langhaarige Chefregisseur ist im wirklichen Leben schließlich er selbst. Und jegliche Struktur, erklärt er auf Nachfrage, berge in sich das Risiko, problematisches Verhalten erzeugen zu können.

Das Risiko ging zunächst die im Aufsichtsrat vertretene Politik von Staat und Stadt ein, als sie 2024 der Empfehlung der Findungs­ kommission folgte, einer Teambewerbung für zunächst fünf Jahre den Vorzug zu geben. Das ist jenseits des kleinen Theaterhauses Jena neu für Thüringen. Und mit Blick hinter die Landesgrenzen hinterließ Hasko Weber, 61, zum Abschied die Einschätzung: „Es gibt Versuche, die aufgegangen und solche, die gescheitert sind, auch in der Doppel- oder Dreifachspitze.“ Nach zwei, drei Jahren werde man wohl wissen, was Vor- und was Nachteile sind.

So wie Weber sind Schwarz, 36, Jansen, 35, und Dreher, 40, die sich seit 15 Jahren kennen, regieführende Intendanten. Dem äußeren Erscheinungsbild von Schwarz verdankt sich, dass man sie am Haus liebevoll-spöttisch die drei Musketiere nennt. „Einer für alle, alle für einen“ könnte in der Tat ihr Motto sein. Tabula rasa veranstalteten sie in Weimar allerdings nicht; rund 85 Prozent der künstlerisch Beschäftigten auf und hinter der Bühne haben sie vom

Uraufführungspartner:innen: Burgtheater Wien, Next Liberty und TaO! DRAMA FORUM

Theater der Zeit 11 / 2025

www.dramaforum.at

67

Report Weimar mit Goethe selbst oder ihm allein ließe sich nicht viel anfangen.

Der erste Satz der neuen Weimarer „Iphigenie“, immerhin einer von Goethe, sagt schon alles: „Es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“ Und eben das ist ihr Problem.

Dramatikerin Julienne De Muirier hat aus diesem Sprechthea­ ter eines humanistischen Ideals doppeldeutig „eine Heimsuchung“ und aus Iphigenie ein Trio (!) aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wahlweise aus These, Antithese und Synthese gemacht.

Das unterläuft aber, in Miriam Ibrahims Regie, jeden hohen Ton; zieht den Text zu sich runter, anstatt sich zu ihm aufzuschwingen.

Oben: „Stella“, Drama in fünf Akten von Johann Wolfgang von Goethe.

Inszenierung Patricija Katica Bronić. Bühne und Kostüme Jana Furrer und Lenki Behm Mitte: „Iphigenie“, Schauspiel in fünf Aufzügen von Johann Wolfgang von Goethe und Julienne De Muirier. Regie Miriam Ibrahim. Bühne Nicole Marianna Wytyczak Unten: „Euridice“, Oper in einem Prolog und sechs Szenen von Jacopo Peri.

Libretto Ottavio Rinuccini. Musikalische Leitung William Shaw, Inszenie­ rung Jochen Biganzoli

68

Die Flucht vor originalem Text tritt auch der „Stella“-Abend von ­Patricija Katica Bronić an. Die Regisseurin schickt die darin angeleg­ te Ménage-à-trois-Verstrickung auf Forschungsreise in eine trostlose Vulkangegend, wo es ordentlich qualmt, wo die Eruptionen der Lie­ be aber dampfend verpuffen. Es wird dennoch der vergleichsweise verbindlichere und verbindendere Goethe-Abend daraus.

Insgesamt vier Premieren an einem Wochenende eröffneten die neue Ära, darunter auch die anno 1600 entstandene allererste Oper: Jacopo Peris „Euridice“ als frische Studioproduktion mit Gesangsstudenten der Musikhochschule. Das alles kam als „Äqui­ noktium“ daher: ein kleines dichtes Festival, wie es nun stets zur Tag-und-Nacht-Gleiche im September und März stattfinden soll.

Dass es ausschließlich Premieren bietet, war aber die Ausnahme: ein riesiger Kraftakt zum großen Auftakt.

Seitdem folgten drei weitere Premieren, darunter Schillers Schauerromanfragment „Der Geisterseher“ als inszenierter Spazier­ gang Robin Ormonds durch Weimar, für zwei Schauspieler und 25 Zuschauer. Daraus ist eine höchst sehenswerte Vergegenwärtigung eines alten, ursprünglich in Venedig siedelnden Textes über das halbgebildete Taumeln durch die Welt geworden. Damit hat sich das Haus gleichsam eine neue Spielstätte erschlossen: „Stadttheater als Theaterstadt“, wie es Timon Jansen gerne nennt. Dergleichen soll auch die mindestens fünfjährige Interimszeit vorbereiten und ein­ läuten helfen, die nach letztem, mehrfach nach hinten korrigiertem Stand wohl 2028 beginnt: die Generalsanierung des Nationalthea­ ters für insgesamt 167 Millionen Euro von Bund und Land.

Bis dahin ist die Öffnung des Hauses nach außen wie nach in­ nen zugleich immersives Konzept, wie es längst an diversen Orten divers versucht wird: Menschen zu erreichen, denen die Schwelle zum Theater bislang eine zu hohe Barriere bedeutet. Dem begegnet man, zwecks Begegnung, mit einer vorerst unregelmäßigen Ver­ suchseinrichtung namens „Offenes Foyer“. In der Beletage hat man mit Regalen und Sesseln Lese- und Spieleecken geschaffen, Orte auch, um einen Nachmittag lang Schulaufgaben zu erledigen, einen Kaffee zu trinken und sich in Gruppen oder Vereinen zu treffen.

Drei Intendanten entwickeln ihr Theater über die Kunst hin­ aus zum dritten Ort. Auch das: ein bemerkenswertes Signal. Und sie wissen, dass es zu einem merkwürdigen werden kann, sollte es sich nicht absehbar, mit entsprechend personalintensiver Betreu­ ung, einigermaßen verstetigen lassen. T

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos links Candy Welz, rechts Tamara Janković

Offenes Foyer

Report Ipsum

Die Performance „Igra (bez) zajednice“ (Spiel (ohne) Gemeinschaft) wurde beim Festival des Internationalen Studententheaters (FIST) gezeigt

Unregelmäßigkeiten im Brandschutzsystem In Serbien spitzt sich die Lage zu – die Theaterszene und das renommierte BITEF-Festival mittendrin Von Ivana Ječmenica

Theater der Zeit 11 / 2025

Autoritäre Regime, kreativlos und tyrannisch, wie sie sind, grei­ fen sie zuerst Kultur und Universitäten an. Der serbische Präsi­ dent behauptet offen, dass heute „nur noch Menschen, die gegen ihn sind, ins Theater gehen“ und dass die öffentlich finanzierten Theater dem Staat gegenüber loyal sein müssten, vor allem das Nationaltheater in Belgrad sei unwillig zu begreifen, dass es um ein nationalistisches Theater gehe. Ein Parteikollege empfiehlt den Schauspieler:innen, dauerhaft zu streiken, da sie eine „sno­ bistische, gesellschaftlich irrelevante Gruppe“ seien, die „Schwei­ nereien auf Staatskosten produziert“ (sic!), und fordert die sofor­ tige Privatisierung aller Theater. Der ehemalige Premierminister verurteilt Schauspieler:innen, die die Bühne „politisch missbrau­ chen“ und Studierende mit „blutigen“ Händen oder Transparen­ ten („Korruption tötet!“) unterstützen. In Theatersprache gesagt: Alle drei haben sich stark mit der Rolle des Staates identifiziert, für eine spezifisch serbische Mischung russischer Methoden aus Stanislawski und Meyerhold, und damit, den Bürger:innen jede Unterscheidungsfähigkeit zwischen Staat und Partei abzutrainie­ ren. In Serbien fließen nur 0,68 Prozent des Staatshaushalts in Kultur, und der Großteil davon geht in den Schutz des kulturellen Erbes und traditionsbasierter Kunstformen, auf Kosten der zeitge­

69

Report Serbien nössischen Produktion. Was hier problemlos zeitgenössisch sein darf, ist die extraktivistische Wirtschaftslogik, ganz im Einklang mit den Nicht-EU-Standards der EU.

Soft-Censorship Die Grenze zwischen Theater und Protest ist fließend, bereits zu Beginn unterstützten Theaterschaffende gemeinsam mit Universi­ tätsprofessor:innen die Studentenproteste und wurden zu Staats­ feind:innen, die diszipliniert werden müssen. Nun steht auch das BITEF-Festival, 1967 gegründet, trotz Sanktionen, Bombardierung und Pandemie bisher nie verschoben, mit dem bisher kleinsten Budget, vor totaler Ungewissheit. Der systematische Angriff auf ­BITEF begann mit dem Ende des Vertrags des künstlerischen Lei­ ters Nikita Milivojević im März. Kulturpolitisch gilt er als Persona non grata, seit Milo Rau beim letztjährigen Festival in seiner Rede Rio Tinto, die EU-Lithiumpläne für Serbien und die Rolle der serbi­ schen Regierung als Hauptförderer dieses Neokolonialismus scharf kritisierte. Parallel dazu wurde das Festivalformat grundlegend verändert. Die künstlerische Leitung wurde abgeschafft, während der Festivalrat das Programm nun eigenständig bestimmen kann.

Trotzdem ernannte der Ratsvorsitzende Svetozar Cvetković im Mai Miloš Lolić zum neuen künstlerischen Leiter und verschob das Fes­ tival auf Ende November. Mittlerweile ist es fast Mitte Oktober, und weder Geschäftsführerin Ksenija Đurović noch Herr Cvetković können offizielle Informationen zu Datum und Programm geben.

BITEF ist nicht das einzige Festival in prekärer Lage: SterijinoPozorje in Novi Sad, das Festival der professionellen Theater der Vojvodina, das Festival für ökologisches Theater für Kinder und Jugendliche sowie Milivojevićs Shakespeare-Festival standen eben­ falls unter Druck, wobei Letzteres am Ende Studierendenprodukti­ onen zeigte. Studierende der Universität der Darstellenden Künste sagten aus Solidarität mit inhaftierten Kommiliton:innen ein Gast­ spiel ab, da freier künstlerischer Ausdruck damals unmöglich war.

Das Regime setzt seine Soft-Censorship nun gegen die Freie Szene fort. In diesem Jahr erhielten unabhängige Theater und Tanzkompanien kein Budget und mussten auf nationale und in­ ternationale Solidarität setzen. Um die solidarische Kette fortzu­ setzen und Auftritte in staatlichen Institutionen zu verweigern, während Studierende und Bürger:innen staatlicher Gewalt aus­ gesetzt waren, sagte das Dah Theater den Monat der Freien Szene 2025 ab und spielte stattdessen direkt an der Universität, was eine bewusste Infragestellung der Institutionen in der Praxis war.

Das größte Problem, so Virdžinija Đeković Miketić aus der Assoziation der unabhängigen Kulturszene, ist, dass keine Insti­ tution auf Appelle reagiert, wohin die ohnehin unverhältnismäßig und intransparent verteilten Kulturgelder fließen. Mindestens eins ist klar: Unterstützt wurden ein privates Tanzfestival und Folklore.

Solche Kulturpolitik verfolgt das Ziel, die kulturelle Identi­ tät des Landes zu kontrollieren. Angesichts des historischen Mo­ ments ist es enttäuschend, dass ein Festival wie BITEF, stolz auf seinen avantgardistischen und experimentellen Theateransatz, nicht den Mut hat, Nein zu diesem Staatsdilettantismus zu sagen.

In der Regel predigt Theater weltweit auf der Bühne oft das eine,

70

dem es off stage widerspricht, aber wenn ein Festival dieses Kali­ bers die herabwürdigendste Behandlung freiwillig hinnimmt, wie sollen andere in der serbischen Kulturszene dann nicht um ihr Existenzrecht, öffentliche Förderung, künstlerische Integrität und kulturelle Würde fürchten?

Erstaunlicherweise waren die Studierenden nach über zehn Monaten ermüdenden Kampfes mutig genug, sich selbst zu or­ ganisieren und ihr Festival des Internationalen Studententheaters (FIST) nicht aufzugeben. Ihre Arbeitsprozesse, an die realen Bedin­ gungen angepasst, kommunizierten klar ihre Schwächen und feh­ lenden Ressourcen als Ausgangspunkt für eine breitere Reflexion über die heutige Realität künstlerischer Arbeit. Gemeinsam mit Kommiliton:innen aus dem Ausland übernahmen sie Methoden aus den Bildenden Künsten, um ein Guerilla-Theaterlaboratorium des Widerstands zu bespielen. Sie wählten das Konzept des Anti-Events, um hegemoniale Strukturen aufzudecken und zu stören – in diesem Fall im Kontext des Megaprojekts mit megakorruptivem Potenzial wie EXPO 2027, das keine transparenten Einblicke in seine ökono­ mischen, städtebaulichen und ökologischen Aspekte gewährt, Mittel für Bildung und Kultur abzweigt und als Paradigma falscher gesell­ schaftlicher Prioritäten fungiert. FIST-Mentorin Jelena Kneževic´ ist außerordentlich zufrieden, dass ihre Studierenden ihre Politizität durch sorgfältig durchdachte Produktionen gezeigt haben, im Ver­ such, eine nie stattgefundene, gesellschaftlich notwendige offene Debatte endlich zu provozieren. Auch wenn niemand der Verant­ wortlichen die Einladung wahrgenommen hat, wurde Ignoranz als Kulturpolitik bestätigt, im Fall des Nationaltheaters sogar die Rache.

Theater der Zeit 11 / 2025

Report Serbien

Erstaunlicherweise waren die Studierenden nach über zehn Monaten ermüdenden Kampfes mutig genug, sich selbst zu organisieren und ihr Festival des Internationalen Studententheaters (FIST) nicht aufzugeben.

Foto links Ivana Ječmenica, rechts Gavrilo Andrić

Theaterschaffende und Studierende protestieren im Belgrader ­Nationaltheater.

Ende der vergangenen Saison wurde Dragoslav Bokan, ein Kriegsverbrecher, zum neuen Verwaltungsdirektor ernannt. Dies wurde als ultimative Beleidigung der Künste und des Kunstsek­ tors insgesamt wahrgenommen. Alle Kulturgewerkschaften re­ agierten und bezeichneten diesen Schritt als moralisch und gesell­ schaftlich inakzeptabel. Das Kulturministerium schwieg. In der Zwischenzeit verabschiedete die Theaterleitung einen repressiven „Arbeitskodex“, nach dem Mitarbeiter:innen die Arbeitsdisziplin verletzen, wenn sie im Rahmen ihrer Tätigkeit politische oder an­ dere Haltungen verbal, durch Symbole oder Gesten äußern, die nicht unmittelbar mit der Theaterarbeit verbunden sind. Der Dra­ maturg Željko Hubać kommentierte, die Absurdität dieses Doku­ ments führe so weit, dass ein Schauspieler, der in „Der Meister und Margarita“ Jesus spielt, nach dem Ausspruch von Bulgakows Satz „Jede Regierung ist Gewalt über das Volk“ entlassen werden müsste. Jurist:innen wiesen bereits darauf hin, dass der Kodex in zahlreichen Punkten gegen die Verfassung und grundlegende Arbeitsrechte verstößt und nach der Vorstellung am 1. Oktober veröffentlichte das Schauspielensemble eine Erklärung mit drei Forderungen: den Rückzug der Satzung, die Abberufung des Ver­ waltungsrats und seines Vorsitzenden sowie die Überprüfung der Arbeit des Kulturministers. Da keine Antwort kam, kündigte das Ensemble für den 3. Oktober einen Warnstreik an. Daraufhin schloss die Theaterleitung das Haus angeblich wegen „Unregel­ mäßigkeiten im Brandschutzsystem“ für drei Wochen. Offensicht­ lich ist die Schließung ein Machtinstrument, um den Widerstand der Künstler:innen zu brechen, doch endete der Tag trotzdem mit einem Bürgerprotest vor dem Theatergebäude. Darüber hinaus stärkte dies die Solidarität zwischen den Theatern und das Atelje 212 bot dem inkriminierten Ensemble nach der Vorstellung auf

Theater der Zeit 11 / 2025

seiner Bühne Raum, sich zu artikulieren. Für Branimir Trifunović, Schauspieler dieses Theaters, ist Solidarität das Einzige, was ih­ nen geblieben ist, nachdem wir zu lange Unterdrückung erdul­ det haben. Gleichzeitig gibt es Gegenbeispiele, etwa die Pro-Re­ gime-Theaterschaffenden, die beschlossen haben, ihre eigenen Vorstellungen für extrem hohe Gagen im ethisch und ästhetisch ruinierten Šabac-Stadttheater zu spielen. In diesem Sinne ist es wichtig, auch die transnationale Unterstützung zu denken. Milena Dragićević Šešić, emeritierte Professorin und ehemalige Rektorin der Universität der Künste, betont, dass die globale Theaterszene zeigen müsse, dass ihre Kolleg:innen in Serbien weder allein noch vergessen sind, obwohl sich das Europäische Parlament weiter­ hin weigert, die allgemein undemokratische Situation in Serbien ernsthaft auf die Tagesordnung zu setzen.

Und wo befindet sich gerade die serbische Theaterszene? In einer satirischen Ansage empfahl Ivan Medenica, Theaterkriti­ ker und Professor, alle Aufführungen, die wir auf dem diesjähri­ gen nicht stattfindenden BITEF nicht sehen werden, anzusehen.­ Daran ist nichts Surrealistisches, denn seit fast einem Jahr in­ szenieren die serbischen Bürger:innen selbst die brennenden lo­ kalen und globalen Fragen und performen über 10 000 Minuten kollektiven Schweigens für die 16 Korruptionsopfer des Bahn­ hofseinsturzes in Novi Sad. Ein BITEF-loser Herbst bietet der Theaterlandschaft eine einmalige Chance: Statt internationaler Produktionen könnte man die Performativität des Widerstands analysieren und verkörpern. In einem Land, in dem Theater selten politisch und in your face ist, ist das Politische einfach ins Theater hineingebrochen. T

71

Report Kairo

Bei Raskolnikow Begeisterungsalarm Das Cairo International Festival for Experimental Theatre als Wimmelbild verschiedenster Theater­ kulturen

Vor der ägyptischen Eröffnungsproduktion „The Triumph of Ho­ rus“ gab es eine kleine Hommage für den Ende Juli verstorbenen Robert Wilson. Was dann folgte, hätte diesem vermutlich gefallen: Hieroglyphen im Tempel von Edfu geraten per Projektion in Bewe­ gung und führen einen jungen Ägyptologen über einen Zeitsprung in mythische Vergangenheit. Der falkenköpfige Horus, Sohn von Isis und Osiris, wird in einen Kampf mit seinem Widersacher Seth, der in Gestalt eines Nilpferds auftritt, in einen Kampf um die göttliche Ordnung verwickelt. Diese Horus-Geschichte wurde erst spät von dem britischen Hieroglyphenexperten H. W. Fairman entschlüsselt und 1974 von ihm als Buch veröffentlicht. „The Tri­ umph of Horus“ wurde nun von Muhammad Samir al-Khatib als modernes Bühnenstück bearbeitet und von Walid Aouni mit der Modern Dance Theatre Company im großen Opernhaus inszeniert.

Als bombastisches Spektakel mit prächtigen Kostümen und raffi­ nierten Licht- und Videoeffekten im Format eines bunten Musicals mit der Botschaft, dass die antike Welt und ihre zentralen Mythen als Stoff für zauberhaftes Unterhaltungstheater taugen, mit dem die Gastgeber das Festival als wahrlich großen Auftritt eröffnen.

„Othello“-Weiterschreibung Das Flaggschifffestival der arabischen Welt wurde 1988 vom da­ maligen ägyptischen Kulturminister Farouk Hosni gegründet und blickt mittlerweile auf eine bewegte Geschichte zurück. Seinerzeit standen stattliche 14 Millionen ägyptische Pfund für den Start zur Verfügung, heute sind es rund eine halbe Million (etwa 10 000 Euro), die das Kulturministerium für dieses Prestigeprojekt aus­ gibt. Die Agenda ist indes dieselbe geblieben, nämlich das zeit­ genössische Theater von Marokko bis zur arabischen Halbinsel und darüber hinaus zusammen mit Produktionen aus Europa zu präsentieren. Der Großteil des Budgets von insgesamt 350 000 Dollar setzt sich aus Sponsoreneinnahmen, Partnerschaften und logistischer Unterstützung von verschiedenen Einrichtungen in

72

Kairo zusammen, wo ein Dutzend Spielstätten sich über der Stadt mit ihren 20 Millionen Einwohner:innen und entsprechendem Verkehr verteilen. Eine Herausforderung ohne Vergleich, der alle teilnehmenden Theater und Gäste mit Bewunderung begegnen, gleich ob sie nun aus Italien oder Saudi-Arabien kommen.

Ein Knackpunkt ist auch der Name des Festivals, der zumindest im europäischen Kontext irritiert. Denn am Experimentellen sind die allermeisten Einreichungen, aus denen das Festival von einem sechs­ köpfigen Komitee zusammengestellt wird, nicht orientiert. Sameh Mahran, der seit 2023 wieder als Präsident des Festivals fungiert, ist sich dessen sehr bewusst. Schon während seines ersten Mandats an der Spitze von CIFET, wie die gängige Abkürzung lautet, wollte er 2016 mit „contemporary theatre“ die Ansage ändern, aber das Ministerium war dagegen. Es war auch ein schwieriger Moment, denn in den Jahren nach dem Arabischen Frühling konnte das Festival gar nicht stattfin­ den und brauchte für den Neustart seinen etablierten Markennamen.

Nur selten bekommt man Gelegenheit, gleich mehrere Thea­ terproduktionen der arabischsprachigen Welt auf einmal zu sehen.

Zwei Drittel der gezeigten Produktionen kamen aus diesen Ländern, darunter Saudi-Arabien, Katar und die VAE, von deren Theater­ kultur wenig bekannt ist. Ein großes Problem waren durchweg feh­ lende Übertitelung oder Simultanübersetzungen. So war z. B. schwer zu erkennen, ob Ahmed Al-Ben Hamdhas Stück „The Collar“ (Fan Box Troupe, Saudi-Arabien) über langweilige Büroarbeit ein flaches Arbeitsweltenstück war oder unter der riesigen Uhr als Bühnenbild existenzielle Themen anriss. Auch die tunesische Weiterschreibung von Shakespeares „Othello“ hätte das genauere Durchdringen der Textebene benötigt für die interessante Idee des Autors Bokhtir Dou­ ma, das Schicksal einer überlebenden Desdemona aus heutiger Pers­ pektive zu erzählen (vom Hammamet International Cultural Center).

Ein ganz anderer Fall war dagegen die Adaption von Dosto­ jewskis „Schuld und Sühne“ im vollgepackten Hoftheater der ­Kairoer Theaterakademie. Auch hier gab es keine Übertitel, aber die Aufführung in der Regie von Emad Al-Alwani war von der ersten

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos waleed awny

Von Thomas Irmer

Report Kairo

Szenen aus „The Triumph of Horus“ von H. W. Fairman. Regie Muhammad Samir al-Khatib, Choreographie Walid Aouni im Rahmen des CIFET in Kairo, Ägypten

­ inute an mitreißend und in ihren Ausdrucksmitteln ohne Weiteres M lesbar. Die Version kommt mit nur drei Schauspieler:innen aus, um die Geschichte von Raskolnikow und Sonja zu erzählen vor einer Art Bretterverschlag für diverse Räumlichkeiten. Ngham Saleh spielt Sonja als aktive junge Frau, die dem geplagten Raskolnikow zwar Beistand leistet, ihm am Ende aber nicht in die Verbannung folgt.

Abdullah Saad sieht mit seinem riesigen Lockenkopf wie ein alter­ nativer Student aus, der vielleicht noch auf den großen Demonst­ rationen am Tahir-Platz während des Arabischen Frühlings dabei war. Das überwiegend junge Publikum ist wie elektrisiert, und zum ersten und fast einzigen Mal war bei diesem Festival zu spüren, dass ein geheimer Bund von Theaterbegeisterten mit der Darbie­ tung auf der Bühne entsteht. Der Applaus dafür erschien nicht nur enthusiastisch – sondern vor allem auch sehr dankbar. Das Kairoer Publikum war auch sonst schnell bei standing ovations.

Becketts „Not I“ Die Erwartung des Experimentellen lag zweifellos auf der Adaption von Heiner Müllers „Hamletmaschine“ von Artémakar Producti­ ons (New York, Jerewan) des armenisch-amerikanischen Regis­ seurs Arthur Makaryan. Der Autor Ani Vardanyan nutzt in dem Monologstück Teile von Shakespeares „Hamlet“ für einen Einstieg in die „Hamletmaschine“, die allerdings so amputiert wurde, dass die Müller-Zeilen aus den ersten beiden Teilen eher wie eine Er­ gänzung Shakespeares wirkten. Die Ambition, damit eine Ausein­ andersetzung mit den von Hamlet Getöteten vom Ende her im in­ neren Monolog darzustellen, konnte der beeindruckend körperlich spielende Narek Baghdasaryan nicht auf die bis auf einen einfachen Tisch leere Bühne bringen. Auch bei dieser Produktion stellte sich die Frage nach den kuratorischen Kriterien des Festivals, dessen Programmierung erkennbar nach neuen Formen von Theater sucht, aber dabei auch viele Kompromisse in der Qualität und Relevanz der Eingeladenen zu machen scheint. Deutlich war allerdings auch,

Theater der Zeit 11 / 2025

die großen geopolitischen Konflikte gerade in dieser Region als Thema zu vermeiden und sehr allgemein vage Wünsche von Frie­ den und Harmonie oder deren Wiederherstellung (eine Botschaft der Eröffnungsproduktion) zu beschwören.

Zwei Beispiele aus Italien und Rumänien können dafür ste­ hen, wie das CITEF tatsächlich neue Formen in einen Dialog mit der arabischen Theaterwelt bringt. Léo Delibes’ und Caterina ­Mochi Sismondis Variation auf das Ballett „Coppelia“ ist ein mus­ tergültiges Beispiel für die Amalgamierung von Schauspiel, Tanz und Neuem Circus als auch musikalischem Theater. Die produ­ zierende Fondazione Cirko Vertigo mit mehreren Standorten in Italien ist eine Ausbildungseinrichtung mit hohem Potenzial für Neuen Circus und artistischem Körpertheater. Ein Volltreffer als Präsentation aktueller Trends im internationalen Theater.

Die multimediale One-Woman-Performance des Tony Bu­ landru Theater in Târgoviş te nimmt unter dem Titel „#notMe“ Becketts fragmentierten Monolog „Not I“ für das Erzählen einer Missbrauchsgeschichte auf. (Beckett hatte diesen Hintergrund für die Figur ausdrücklich verneint.) Die Schauspielerin Andrea Tanase ist umstellt von bildgebenden Geräten und Screens, die den Bewusstseinsstrom der sich an ihre Jugend im umbrechen­ den Rumänien erinnernden Frau wie einen zerfetzten Bildertep­ pich umgeben. Cassandra Topologeanus Inszenierung mit drei Live-Technikern, in deren Kunst sich die einsame Tanase sehr gut zu behaupten weiß, zeigte auf jeden Fall etwas von der Zukunft des technisierten Monologstücks, das durchaus auch im Berliner HAU oder auf Kampnagel interessant zu sehen wäre.

Im CIFET war das eine kleine, feine Produktion, bei der man gerne gewusst hätte, was das einheimische Publikum darin sieht und fühlt. Doch Nachgespräche und Artist Talks gibt es bei­ diesem Festival nicht. Es wäre ja noch einmal die Frage der Über­ setzung. So geht es, mit nachdenklichen Eindrücken, wieder hin­ aus in den von niemandem choreografierten Tanz der Menschen und Mobile im Verkehr Kairos. T

73

Report Schweiz Eine Anekdote besagt: Wenn die Welt untergeht, erfährt man es in Sils Maria im Waldhotel einen Tag später von einem unaufgeregten Portier. Im Hochtal im Oberengadin in spektakulärer Kulisse fand dieses Jahr die erste Ausgabe des neuen Kulturfest zeit:fluss statt.

Ein Fest soll es werden, kein Festival, betont der Intendant von zeit:fluss, Till Löffler, in seiner Eröffnungsrede. Keine fer­ tigen Produktionen, die nur nach Sils eingeladen werden, son­ dern ein Ensemble, eine Gemeinschaft, die hier vor Ort entsteht.

Eine Wandergruppe, eine Seilschaft gar, denn die Dramaturgie des ­Programms der ersten Ausgabe – unter der Künstlerischen Leitung von Anne-May Krüger und Mike Svoboda – stellt eine Bergwanderung dar. Das Motto: „Von Aufstiegen und Abgrün­ den“. Dafür eignet sich die atemberaubende Berglandschaft des Engadins natürlich bestens. Steile Berghänge, Alpenglühen im Sonnenuntergang, minütlich wechselnde Farben an den Hängen, weltbekannte Wolkenformationen. Aber auch ein Fest besonders für Sils und das Engadin sollte es werden. Dafür hat Till Löffler, Komponist, Theatermusiker und Dozent, mit den Menschen und Institutionen vor Ort zusammengearbeitet.

Das Kulturfest zeit:fluss zeigt in seiner ersten Ausgabe in Sils Maria ein künstlerisch ­ambitioniertes Programm – einladend und stets mit einem Augenzwinkern Von Nathalie Eckstein

Oben: Eröffnungskonzert „Besammlung“ im Rahmen des zeit:fluss Festivals in Sils Maria in der Schweiz Unten: Das zeit:fluss Kulturfest fand auch in den Räumlichkeiten des Waldhaus Sils statt

74

Anlässe zur Begegnung Präsentiert wird zeit:fluss vom legendären Waldhotel Sils, eins der wenigen Fünf-Sterne-Hotels der Schweiz, das sich seit 1908 in Fa­ milienbesitz befindet. Und die Familie begrüßt jede:n der 12 000 Gäste pro Jahr persönlich, heißt sie willkommen, zeigt das Haus, beantwortet Fragen, wie mir Felix Dietrich, die vierte Generation, erklärt. 2010 hat er die Hotelleitung an seinen Sohn Claudio und damit in die fünfte Generation übergeben. Doch auch viele andere Akteur:innen vor Ort sind eng eingebunden.

Mit dem Eröffnungskonzert „Besammlung“ beginnt das Fest in der örtlichen Grundschule. Der von Löffler eigens komponierte „Silser Gruss“ ruft zur kulturellen und ideellen Wanderung.

Ein eigensinniges Programm hat Till Löffler für das Fest zu­ sammengestellt. Herausfordernd zuweilen, aber immer unterhalt­ sam, lustig. Es passt zu den Gegebenheiten einer Bergtour – der Gipfel will erklommen werden!

Doch schon das Eröffnungskonzert zeigt sich programma­ tisch: Humoristische Unterbrechungen wie die Lesung aus Hans Castorps Wanderung durch die nahegelegene Umgebung von Davos in Thomas Manns „Zauberberg“ durch den Schauspieler Gottfried Breitfuß, der zwiebackkauend, röchelnd, singend und die Szene brechend mal zum Lachen bringt und mal Gerd West­ phal den Rang abzulaufen droht, wechseln sich im Eröffnungs­ konzert mit klassischer Musik auf höchstem Niveau ab.

Till Löffler schließt damit im Engadin an eine Tradition an und setzt ihr gleichzeitig etwas Neues entgegen: Bis 2023 fand im September in Sils das internationale Kulturfestival Resonan­ zen statt – nun, nach einem Jahr Unterbrechung gibt es wieder im September ein Kulturfest im September. Neben Musik auch mit Lesungen, einem Ausflug zu einem 3D-gedruckten Turm so­ wie einem Talk mit Jonathan Meese, für den Sils Maria – genauso wie für Friedrich Nietzsche – eine Landschaft zum Denken ist.

(Seinen Talk zur Kunstfreiheit verpasse ich leider, aber Jonathan

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto oben Steve Hadorn, unten Gian Giovanoli

Höchstes Niveau im Hochtal

Anzeigen

Eine kulturell überreiche Landschaft Auch das Rahmenprogramm begeistert: Jeden Morgen bieten ­kurze musikalische „Morgengrüße“ der Ensemblemitglieder eine Einstimmung auf den Tag in der Hotelkapelle, in einer Master­ class für Cello unter der Leitung von Martina Schucan perfektio­ nieren Studierende ihr Spiel.

Die Ansprüche an ein kulturelles Programm in Sils Maria sind hoch wie die Lage des Ortes. Eine kulturell fast überladene Land­ schaft, eine faszinierende Natur, mit der Till Löffler, wie er selbst sagt, als Intendant konkurriert, aber das Kulturfest zeit:fluss leis­ tet einen eigensinnigen, hochkarätigen und charmanten Beitrag dazu. Und das ist nur der Auftakt: Die dramaturgisch fein ge­ setzten Vorzeichen fürs nächste Jahr lassen sich schon erkennen: Einer der musikalischen „Morgengrüße“ fand vor dem Triptychon „Werden Sein Vergehen“ des Oberengadiner Künstlers Giovanni Segantini (1858–99) im nach ihm benannten Museum statt, das Motto der nächsten Ausgabe soll der Titel des Triptychons wer­ den – ein weiterer Rahmen, der viel verspricht! T

Theater der Zeit 11 / 2025

nn

e

n vo

Ho

rvá

ann

th

2025

m Vo

Eine Pop -O l ks s pe tüc rv kv o on Öd n J o ön

ha

fm

Pr

em

ier

e6

.12.

nach de

Meese grüßt fröhlich im Aufzug des Hotels, seiner Mutter gefällt die Bluse, die ich trage.) Statt das Fest aber auf klassische Musik im Hotel zu begrenzen, erweitert Löffler das Programm.

Das ist dementsprechend vielfältig und ebenso anspruchsvoll wie immer auch mit einem Augenzwinkern versehen. Charmant und auf höchstem Niveau. Und dabei stets gastfreundlich und einladend.

In einer Scheune im Silser Familienbesitz wird im Konzert „Anstieg“ Neue Musik präsentiert (Posaune Mike Svoboda, Akkordeon Ste­ fan Hussong, Klarinette Karin Dornbusch, Drehorgel und Gesang ­Anne-May Krüger), und nur dadurch, dass es künstlerisch so prä­ zise und dramaturgisch so ausgeklügelt ist, kann es so lustig sein.

Auf einer Drehorgel werden beispielsweise die Lochkartenkom­ e präsentiert. positionen von Mike Svoboda von Anne-May Krüger .d he u r Das hochkarätige Ensemble ist diekaganze Woche vor Ort, rls rate Programm in wechseln­ e arbeitet und präsentiert das ausgefeilte h t s staat den Konstellationen. Im Konzert „Abhang“ in der Offenen Kir­ che zeigen die Musiker:innen u. a. das anspruchsvolle „Rondo mit einem Januskopf“ der Schweizerischen Komponistin Helena Winkelmann (Violine Elisabeth Kufferath, Violoncello Karolina Öhmann) und eine Stahlskulptur kommt als Klangkörper zum Einsatz (Kontrabass Stefan Preyer). „Anlässe zur Begegnung“ wollen Till Löffler und sein Künstle­ risches Leitungsteam schaffen, wie er mir im Gespräch beim Früh­ stück im Grand Hotel sagt. Und nicht nur das gelingt: Der Monolog „Biwak“ des Schauspielers Gottfried Breitfuß (Dramaturgie AnneMay Krüger) reflektiert in Texten von u. a. Kurt Tucholsky, Thomas Mann (der in Davos bekanntlich die Inspiration zum „Zauberberg“ fand) und Henriette d’Angeville (die erste große Alpinistin) mal melancholisch, mal heiter und auch absurd die entlegene Bergwelt – nicht nur des Oberengadin – mit ihren Freuden, Strapazen, dem Tuberkulose-Topos – und auch der Sehnsucht und dem Heimweh nach ihr. Breitfuß, lange Ensemblemitglied in Stuttgart und unter Matthias Hartmann in Zürich, ist virtuos, lässt das Publikum keine Sekunde entgleiten und hat es völlig in der Hand.

o sH

staatstheater-karlsruhe.de

SHT–Highlights im November Fünf Uhr morgens

‫الخامسة فجرا‬

П‘ЯТА РАНКY

Lubna Abou Kheir, Ursina Greuel 05.–08.11.25

Adepte de mon être

Yaya Sanou, Compagnie Fientan In Kooperation mit Culturescapes Sahara 2025 13.+14.11.25

Mülheim Absturz Ruhr

thecodes – theatercompany dennis schwabenland (UA) 28.11.–06.12.25

www.schlachthaus.ch

Schlachthaus Theater Rathausgasse 20/22 3011 Bern

Anzeige

Neuerscheinungen aus dem Verlag

Strahlkraft und Neugier Strahlkraft und Neugier Neue Akzente im Kulturbahnhof (KUBAA) durch das Theater der Stadt Aalen 64 S., € 10 (print oder digital)

Der KulturBahnhof (KUBAA) in Aalen

76

„Oper am Rhein für alle“ auf den Rheinwiesen mit rund 17 000 Besucher:innen: Es wurden in Echtzeit, also noch während des Konzerts, in den sozialen Netzwerken Videos und Fotos des Open-Air-Ereignisses geteilt – und damit weit mehr als 100 000 Menschen erreicht. © Lucas Hirtz

Oper am Rhein für alle

16 Jahre Generalintendanz Christoph Meyer „Oper am Rhein für alle“, es klang wie ein Versprechen, das Christoph Meyer und die neue Theaterleitung im August 2009 abga­ ben, als sie zum Auftakt ihrer ersten Spiel­ zeit die Live-Übertragung der Eröffnungs­ gala aus dem Düsseldorfer Opernhaus auf den Burgplatz ermöglichten. Mehrere Tau­ send Menschen waren gekommen, Opern­ fans und Schaulustige, neugierig auf dieses außergewöhnliche musikalische Event. (...)

Die Deutsche Oper am Rhein zu leiten, ist kein einfacher Intendantenjob. Es verlangt besonderes Geschick, den künst­ le­ rischen wie organisatorischen Ansprüchen eines Doppelinstituts gerecht zu werden, das in zwei kommunal unterschiedlich ge­ arteten Städten beheimatet ist. Sein topografisch bestimmter Name soll das Ver­ bindende betonen. Doch die idyllische Düsseldorfer Flusslandschaft unterscheidet sich von der rheinseitigen Industriedichte Duisburgs ebenso, wie sich die Mentalität und soziale Struktur der beiden Städte voneinander ab­ heben. Der „Rheinoper“ oder DOR, wie die internen Kürzel lauten, ist also auch etwas Disparates eigen. Eine Auf­f ührung im Opern­ haus an der Heinrich-­Heine-Allee ist nicht

identisch mit der ­ Aufführung desselben Werkes in gleicher ­Inszenierung am Thea­ ter Duisburg. Ein anderes Orchester, eine andere Sängerbesetzung, andere Bühnen­ techniker und auch ein anderes Publikum schaffen eine eigene Atmosphäre. Zu den beiden Spielstätten kommen weitere lokale Streuungen: das Balletthaus in DüsseldorfBilk, das Produktions- und Probenzentrum in Duisburg Wanheimerort und seit einigen Jahren auch das mobile UFO – Junge Oper Urban, mit dem sich an verschiedenen Or­ ten andocken lässt. Ein solches Konstrukt aufrechtzuerhalten, erfordert einen hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand.

Aber es bietet einen unschätzbaren kulturel­ len Mehrwert für beide Städte. Darüber ist man sich in Düsseldorf wie in Duisburg einig.

Aus dem Vorwort von Hella Bartnig

Oper am Rhein für alle Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Generalinten­ danz Christoph Meyer (2009–2025) 208 S., € 38 (print oder digital)

Theater der Zeit 11 / 2025

Fotos links unten Robin Kucher. links oben Lucas Hirtz, rechts unten Thomas Pirot, Lea Hopp

In der Spielzeit 2025/26 feiert das Theater der Stadt Aalen zwei Jubiläen: Vor 35 Jah­ ren wurde in der größten Stadt des Ostalb­ kreises ein Theater gegründet, das vor fünf Jahren in die deutlich größere und mit zahl­ reichen Architekturpreisen ausgezeichnete Spielstätte im KulturBahnhof (KUBAA) zog.

Anknüpfend an die Publikation „Klein und kraftvoll. 20 Jahre Theater der Stadt Aalen“, beleuchtet die neue Jubiläumsschrift die letzten 15 Jahre. In diesen standen neben zahlreichen, auf Aalens Partnerstädte ab­ gestimmten Uraufführungen, vor allem spar­tenübergreifende Arbeiten mit Artistik, Tanz und Videoprojektionen im Mittelpunkt.

Weiterhin prägten das Haus der Ausbau der Sparte Junges Theater, ebenso wie der Umzug in den KulturBahnhof. In „Strahlkraft und Neugier“ geben Mitarbeitende und wegbegleitende Personen Einblick in diese Entwicklungen.

Theaterarbeit RECHERCHEN 175 Yana Prinsloo Theaterarbeit.

Praktiken der Freien Szene 320 S., € 24 (print oder digital)

Theaterarbeit umfasst mehr als nur ästhe­ tische Erfahrungen – wird sie doch von körperlichen, sozialen und politischen Prak­ tiken geprägt. Im Gegenwartstheater der Freien Szene führt die Aufmerksamkeit für die Produktionsweisen hinter der Bühne zur Enthierarchisierung primär künstlerischer Gesichtspunkte.

Dieses Buch diskutiert das wissen­ schaftliche Handwerkszeug zu dieser Be­ deutungsverschiebung und eröffnet neue Perspektiven auf die netzwerkartigen und losen Arbeitsweisen des Gegenwartsthea­ ters: Wie beeinflussen kulturpolitische und theaterwissenschaftliche Erwartungen die Freie Theaterarbeit? Welche Rolle spie­ len unsichtbare Praktiken wie die Care-­ Arbeit? Ausgangspunkt der Studie sind das 11. ­ Politik-im-Freien-Theater-Festival 2022 sowie die Theater-/Arbeit der Gruppen She She Pop, The Agency und Swoosh Lieu.

Ultrawelten RECHERCHEN 176 Hannah Schünemann Ultrawelten. Radikale Formsprachen in den Inszenierungen von Susanne Kennedy, Lucia Bihler und ­ Florentina Holzinger 360 S., € 26 (print oder digital)

In der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts verändert sich das Theater radikal: Neue Formsprachen gehen nicht vom klassischen Text oder seiner Dekonstruktion aus, son­ dern nutzen vielfältige Medien, innovative Technologien und interdisziplinäre Ansätze, um ganze Welten zu entwerfen. Die weg­ weisenden Inszenierungen von Susanne Kennedy, Lucia Bihler und Florentina Holzin­ ger stehen exemplarisch für diesen forma­ len Wandel, der seit den 2010er-Jahren in den Darstellenden Künsten sichtbar wird.

Dieses Buch untersucht anhand fundier­ ter theoretischer Reflexion und ausführlicher Interviews die formalen Strategien der drei Künstlerinnen und ihrer Teams. Dabei zeigt es auf, wie sie die Ästhetik des postdrama­ tischen Theaters ins 21. Jahrhundert über­ führen und eine zeitgemäße Bühnensprache entwickeln. Die Autorin analysiert Theater­ welten, die am Puls der Zeit entstehen.

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie mehr als 9000 Texte auf tdz.de. Den Zugang gibt es ab € 5,99 pro Monat, inkl. E-Paper-Download.

30 Tage für € 1 testen unter tdz.de/abo

TdZ on Tour

Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partner:innen organisieren. ­Eintritt frei für TdZ-Abonnent:innen (abo-vertrieb@tdz.de) 12.11. Gero Troike.

In unmittelbarer Nähe Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Berlin 02.12. Mut Palucca.

Faszination und Verantwortung Palucca Hochschule für Tanz Dresden 18.01. Klaus Zehelein.

Unerhörte Augenblicke Staatsoper Stuttgart

Zur NewsletterAnmel­dung

Bücher in Vorbereitung 100 Jahre Rheinisches Landestheater Neuss Mut Palucca. Faszination und Verantwortung Kunst der Marionette: Albrecht Roser und Herbert Bross

Bücher Mit

Alexandra Waierstall Challenge(d) Bodies Deutsche Oper am Rhein Diversité Suisse Gero Troike Hannah Schünemann: Ultrawelten Improvisationstheater Joscijka Abels Lektionen Neue Dramatik Rheinisches Landestheater Neuss Palucca Hochschule Thalia Theater Hamburg Theater der Stadt Aalen Ute Nyssen XYZ: Schule und Theater Yana Prinsloo: Theaterarbeit

Vorschau Herbst 2025

Yana Prinsloo ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theaterwissenschaft am Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der ­Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Theater der Zeit 11 / 2025

Hannah Schünemann ist seit der Spielzeit 2025/26 Chefdramaturgin am Schauspielhaus Zürich

Laden Sie die aktuelle Verlags­vorschau als PDF herunter, um mehr über die Bücher des Verlags zu erfahren.

Die Verlagsvorschau online durchblättern

77

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

Perspektiven der Körperlichkeit Ein drängendes Thema für Kunst und Kultur

Foto Kamill Lippa / Hanno Dreyer

Von Lydia Grün

„Teufelsgeige“, eine Performance von und mit Kamill Lippa, trace_patch, Levin Mayerhofer und Pauline Weertz an der Akademie der Bildenden Künste, München

78

Theater der Zeit 11 / 2025

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck Körper und Körperlichkeit haben an Kunst- und Musikhochschulen, gerade mit Blick auf die Performativität der Künste, eine zentrale Bedeutung. Umso treffender der Titel des gemeinsamen Respekttags der Münchner Kunsthochschulen im Mai 2024: Challenge(d) Bodies.

Die Studierenden der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) setzen sich im wahrsten Sinne des Wortes mit „Leib und Seele“ für die Kunst ein: Der Körper ist ihr Instrument, ein Teil der individuellen Performance und damit ihrer künstlerischen Identität. Das erfordert von unseren Studierenden nicht nur technische Perfektion und virtuoses Handwerk in ­Musik, Tanz, Theater. Der gesamte künstlerische Prozess erfordert, sich mit der eigenen Stimme, der eigenen individuellen Haltung und Persönlichkeit auf die Bühne zu stellen, sich einem Publikum zu präsentieren, sich mit Haut und Haaren in den künstlerischen Prozess einzubringen.

Die Situation auf der Bühne in ihrem gesamtheitlichen künstlerischen Prozess ist für die Künstler:innen mit hohem persönlichen Risiko, mit einem Moment des Ausgesetztseins verbunden. Der Moment der Performance ist auch ein Moment der Verletzlichkeit. Musiker:innen, Tänzer:innen, Schauspieler:innen sind auf der Bühne immer berührbar und in direkter Verbindung mit den hörenden und sehenden Menschen im Publikum. Das künstlerische Individuum ist dabei das konstituierende Element dieses Moments. Voraussetzung ist das Bewusstsein der eigenen künstlerischen Identität.

Die Situation, in der sich Künstler:innen auf der Bühne befinden, ist deshalb existenziell und außergewöhnlich. Unsere Studierenden müssen dieser Situation nicht nur begegnen, sondern sie auch gestaltend für ihre Entwicklung als künstlerische Persönlichkeit nutzen können.

Deshalb sind die mentalen und körperlichen Anforderungen in künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Studiengängen (und späteren Berufen) sehr hoch.

Gleichzeitig besteht an Kunsthochschulen und künstlerischen Ausbildungsstätten ein hochkompetitives Umfeld, auch unter den Studierenden. Damit gilt es, klug, vorausschauend und ausgewogen umzugehen.

Theater der Zeit 11 / 2025

Als Kunsthochschulen haben wir deshalb den Anspruch, die Studierenden so zu unterstützen, dass sie diesen persönlichen Prozess und ihren späteren Beruf erfolgreich, lange und gesundgestalten können.

Bereits seit mehreren Jahren gibt es an den Kunsthochschulen in Deutschland verschiedene Ansätze, die Studierenden ganzheitlich auf ein möglichst gesundes Berufsleben vorzubereiten und sie in der Entwicklung ihrer Künstler:innenpersönlichkeiten zu unterstützen. Im Zentrum stehen Empowerment, das Finden von künstlerischer Identität, das Kennen des eigenen Körpers und das Gestalten des performativen Moments in Verbindung mit dem Publikum.

Die HMTM bietet ihren Studierenden aktuell verschiedene Angebote in Musikmedizin oder Kurse rund um Prävention und Sensibilisierung. Die Studierenden der Ballett-Akademie profitieren außerdem von einer umfassenden Health Policy, die Angebote aus Tanzmedizin,

Challenge(d) Bodies. Herausfordernde und herausgeforderte Körper in der zeitgenössischen Kunst Herausgegeben von Susanna Werger, Maria Goeth, Josef Bairlein und Barbara Gronau Edition Bayerische Theaterakademie August Everding Paperback mit 200 Seiten, € 22 Verlag Theater der Zeit 2025

Neue Bücher von Theater der Zeit online voll­ ständig lesen. Weitere Infos unter tdz.de/abo

Ernährungswissenschaften und Psychologie kombiniert. Diese Unterstützung und Sensibilisierung wollen wir in Zukunft deutlich ausbauen, um möglichst viele Studierende aller Studienrichtungen zu erreichen. Ziel ist es, ein ganzheitliches Konzept Kunst und Gesundheit für die HMTM zu entwickeln, das Studierende aller Fachrichtungen und ihre spezifischen Anforderungen systematisch integriert.

Dazu werden wir Aspekte der physischen und psychischen Anforderungen der künstlerischen und pädagogischen Praxis in den Blick nehmen, etwa Themen wie Regeneration, Körperbewusstsein oder Mentaltraining. Geplant sind außerdem präventive Angebote – etwa über Sensibilisierung und Lehrentwicklung – wie auch ein Netz an Beratung und Betreuung.

Auch Forschungsvorhaben in diesem Bereich sollen gestärkt werden.

Spinnt man den Gedanken des englischen Begriffs „body“ weiter – so, wie er im Titel Challenge(d) Bodies seinen Platz findet –, kann er auch „Institution, Einrichtung, Organisation“ bedeuten. Auch die Kunsthochschulen als Institutionen sind aktuell herausgefordert. Konsequentes Vorgehen gegen Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Diskriminierung erfordern von uns ein hohes Maß an Einsatz, Ernsthaftigkeit und Durchhaltevermögen.

An der HMTM haben wir diese Herausforderung angenommen und treiben unser Bemühen um respektvolle und diskriminierungsfreie Räume entschieden voran.

Gleichzeitig treffen wir als Kunsthochschulen, als freiheitliche und interdisziplinäre Orte für Diskurs, Austausch und Reflexion auf politische und gesellschaftliche Kräfte, die demokratische Grundwerte infrage stellen. In Zeiten, in denen die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel knapper werden, bleibt für uns klar: Wir stehen für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Kunsthochschulen sind Orte der Demokratie, der Freiheit, der Diversität und Gendergerechtigkeit. Die damit einhergehenden Herausforderungen nehmen wir an und setzen uns mit aller Kraft für ihre Verwirklichung ein. T Prof. Lydia Grün ist Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater München

79

Magazin Bücher

Erforschung mit doppeltem Boden Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder erzählt in seinem zweiten Roman eine abenteuerliche Expedition in den frühen Jahren der USA Von Thomas Irmer

80

Die Aufklärung brachte in den Wissenschaf­ ten auch seltsame Blüten hervor, wenn es um Vergleiche der Ordnung der Natur in ver­ schiedenen Weltgegenden ging. In Frank­ reich gab es z. B. Akademievorträge darüber, dass die Tierwelt Nordamerikas weniger entwickelt sei als die in Europa, eine Art zoologischer Eurozentrismus. Da, wo diese nicht einmal ansatzweise erforschte Fauna zu Hause war, stachelte das den noch jun­ gen nationalen und damit auch politischen Ehrgeiz an, mit ganz besonderen Spezies aufzuwarten. Etwa dem, nach Knochenfun­ den, vermuteten Amerikanischen Mastodon, das als Verwandter von Sibirischem Mam­ mut und Afrikanischem Elefant aufgespürt werden könnte und als größtes Tier der Neu­ en Welt eine Sensation wäre. Gleichsam als Symbol für Größe und Vielfalt.

Das ist der historische Hintergrund für die fiktive Expeditionsgeschichte, die der für seine sozialgeschichtlich grundierten Stücke prämierte Christoph Nußbaumeder im Jahr 1796 ansiedelt. Der wegen Freigeis­ terei in seiner süddeutschen Heimat an der Donau exkommunizierte Pfarrer Johannes Gottstein wird in New York von Oliver Han­ cock für eine Forschungsreise angeworben, bei der das damals sogenannte American Incognitum in den Black Hills gefunden wer­ den soll, einer Europäer:innen kaum bekann­ ten Gegend im heutigen South Dakota. Dass Tierarten ausgestorben sein könnten, ge­ hörte nicht zum Horizont wissenschaftlicher Erkenntnis, allenfalls hätten sie sich zurück­ gezogen und hielten sich wie später Yeti und Nessie verborgen.

Gottstein, der als Erzähler vor allem das Verhalten innerhalb der zwölfköpfigen Aben­ teurertruppe auf ihrem Weg in den Westen beobachtet, ist von Nußbaumeder damit als eine Art Sonde in die junge amerikanische Demokratie angelegt. Welche Hierarchien bilden sich heraus, wie wird mit Konflikten umgegangen? Vor allem aber lässt er diese eher ruppigen Männer in der Wildnis das selbst diskutieren, was die Erzählung der von allerlei Widrigkeiten belasteten Expeditions­ reise manchmal überfrachtet, aber eben deutlich macht, dass es nicht allein um diese geht, sondern auch um ein mentales Bild der frühen USA in einem rein männlichen Mik­ rokosmos. Stilistisch arbeitet Nußbaumeder mit Anklängen der deutschen Literatur jener Zeit, also sanft archaischen Ausdruckswei­ sen. In Gottsteins „nach dem genossenen Bad“ ist das frühe 19. Jahrhundert zu hören,

ohne dass man drüber stolpert und vielleicht erst nachschlagen müsste.

Wirklich spannend ist dann die Begeg­ nung mit dem Lakota-Stamm am Zielort, offenbar ethnologisch recherchiert in der Darstellung indigenen Lebens und der Miss­ verständnisse dieser sich allmählich dezi­ mierenden Incognitum-Truppe. Da weder Nußbaumeder noch sein Erzähler einen dokumentarischen Bericht abliefern, geht ­ der Roman hier in die Sphären des Ma­ gischen Realismus, was dem ernsthaften Spiel des Romans um Amerika damals und heute natürlich weitere Dimensionen öffnet.

Und dabei an, sagen wir, frühe Romane T. C. ­Boyles erinnert wie an die manische Jagd nach „Moby Dick“ als ultimativer Symbolik von Amerikas Seele. Ein Urtier als Größe, gejagt auf heiligem Grund der Ureinwoh­ ner:innen Amerikas, für profanen Ruhm. Da ist einiges beieinander, was gerade in Sa­ chen Amerika bewegt und diesen Roman in der deutschen Gegenwartsliteratur so ganz ungewöhnlich macht. T

Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem, Roman, Rowohlt, Berlin 2025, 448 S., € 25

Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de

Anzeige

Bücher bestellen

bei einar-und-bert.de und den lokalen Buchhandel unterstützen.

Theater der Zeit 11 / 2025

anz_unidram_theater_zeit.qxp_Layout 1 12.06.25 10:51 Seite 1 Anzeigen

25 Stellenausschreibung

Künstlerische Intendanz ab 01.09.2027 Der Zweckverband „Neue Bühne – Niederlausitzer Theaterstädtebund Senftenberg“ sucht zum 01.09.2027 eine künstlerische Intendanz für die neue Bühne Senftenberg.

Die neue Bühne Senftenberg ist ein Theater mit langer Tradition und einer klaren reginalen wie überregionalen Bedeutung. Als Regional- und Landesbühne verbinden wir die kulturelle Verankerung in der Lausitz mit einer Ausstrahlung weit über die Region hinaus. Unser Repertoire umfasst Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, eigene Musiktheaterproduktionen sowie ein vielfältiges theaterpädagogisches Angebot. In den Sommermonaten bespielen und betreiben wir zusätzlich das Amphitheater am Senftenberger See. Mit einem festen Ensemble von 18 Schauspieler*innen, rund 100 Mitarbeitenden und bis zu 450 Vorstellungen pro Spielzeit gestalten wir einen abwechslungsreichen Spielplan, der sowohl dem Stammpublikum vor Ort als auch einem überregionalen Publikum neue Impulse bietet.

Die neue Bühne wird als kommunaler Zweckverband geführt. Sie erhält von den Zweckverbandsmitgliedern Landkreis Oberspreewald-Lausitz und Stadt Senftenberg finanzielle Unterstützung und wird vom Land Brandenburg institutionell gefördert.

Mit der Spielzeit 2027/28 wird die Theaterleitung in einer klaren Doppelspitze organisiert: • eine künstlerische*r Intendant*in mit voller künstlerischer Verantwortung • eine Verwaltungsdirektion mit Verantwortung für Finanzen, Personal (TVöD) und Organisation Als künstlerische Leitung gestalten und prägen Sie die künstlerische Ausrichtung des Hauses auf all seinen Spielstätten. Im Einzelnen erwarten Sie: Künstlerisches Profil & Programm • Entwicklung und Umsetzung eines innovativen, zeitgemäßen Spielplans mit hoher künstlerischer Qualität • Verbindung von Regionalität und überregionaler Ausstrahlung • Balance zwischen Tradition, Gegenwartsdramatik und neuen künstlerischen Formen Ensemble & künstlerische Entwicklung • Künstlerische Leitung, Förderung und Weiterentwicklung des Ensembles • Gewinnung und Zusammenarbeit mit Gastkünstler*innen, Regisseur*innen und weiteren Kunstschaffenden • Initiierung von Projekten, Kooperationen und neuen Veranstaltungsformaten Publikum & Vermittlung • Weiterentwicklung der Publikumsbindung und Erschließung neuer Zielgruppen • Zusammenarbeit mit der Theaterpädagogik und Kulturvermittlung • Präsenz als künstlerische Persönlichkeit in Stadt, Region und Öffentlichkeit Kooperation & Netzwerk • Zusammenarbeit mit Partnern im Theater- und Konzertverbund Brandenburg • Vernetzung in der deutschen Theaterlandschaft • aktive Pflege von Kontakten zu Personen aus den Bereichen Förderung, Zuwendung sowie dem Land Brandenburg und der Kulturpolitik Verantwortung & Zusammenarbeit in der Doppelspitze • gemeinsame strategische Ausrichtung mit der Verwaltungsdirektion • Die Zusammenarbeit zwischen Intendanz, Verwaltungsdirektion und Verbandsleitung basiert auf gegenseitigem Vertrauen, klarer Kommunikation und gemeinsam verantworteten Zielen.

• Mitwirkung bei langfristigen Planungen, ohne die kaufmännische Verantwortung zu tragen

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Die vollständige Stellenausschreibung sowie die Bewerbungsmodalitäten finden Sie unter dem nebenstehenden QR-Code.

Bewerbungsfrist ist der 30.11.2025.

Wir freuen uns aus Sie.

Handa Gote Research & Development (CZE) Reckless Sleepers (BEL/GBR) Compagnie La Pendue (FRA) RUE OBSCURE (DEU) Thomas Noone Dance (ESP) Rufus Temple Orchestra (DEU) Fekete Seretlek & Studio Damúza (CZE) Claudia Castellucci/Mòra Company (ITA) schoenbrodtkuerschner (DEU) Tobias Piero Dohm (DEU) My!Laika (FRA)

Tickets unter 0331 73042626 www.unidram.de | www.t-werk.de

Magazin Kolumne

Von Lina Wölfel

„Ein gefräßiger Schatten“ von Mariano Pensotti in eigener Regie. Mit Sebastian Klein und Manuel Harder. Bühne und Kostüm Mariana Tirantte

82

in Österreich also Berge und Familientrauma?

Dass die Alpen als Szenerie und das Bergsteigen als rites de passage und Auslöser epiphanischer Momente in der neuesten österreichischen (Dramen-)Literatur eine bedeutende Rolle spielen, kann angesichts eines Landes, dessen Bundeshymne das „Land der Berge“ besingt, nicht wirklich überraschen. Aber was ist mit der Dramatisierung von Familientraumata?

Die Familie wird in der gegenwärtigen österreichischen Dramatik einerseits zum Träger des globalen und lokalen zivilisatorischen Wandels (siehe Prossers „Verschwinden in Lawinen“), andererseits als möglicher (wenn auch mitunter toxischer) stabilisierender Faktor der sich stetig wandelnden Umwelt heraufbeschworen (wie etwa Julie in „Liliom“). Identitäts- und Modernisierungsfragen, Wertewandel, Alltäglichkeit und Vergangenheitsbewältigung lassen sich am Konstrukt der Familie gleichermaßen erzählen. Familienbilder und -geschichten können so als Perpetuum mobile ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sogar Zukunft darstellen. Und: Als universeller Anknüpfungspunkt eignen sie sich dazu, Träger von globalen und l­okalen, intrinsischen und externen Problemen zu werden, an denen Leser:innen wie Zuschauer:innen andocken können. Insbesondere in der ­Erinnerungskultur scheint diese Technik des hypothetischen Hin- und Herbewegens als zentrale Strategie, das Verschwiegene zu enttabuisieren, indem es privatisiert wird. T

„Wir gehen rein“ – An dieser Stelle greift TdZ-Redakteurin Lina Wölfel Phänomene der ­ Theaterwelt auf.

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Nurith Wagner Strauss

Wir gehen rein Berge und Familientraumata

Als ich diese Kolumne schrieb, kam ich gerade von einer zweiwöchigen Dienst­ reise durch Österreich zurück. Auf dem Plan stan­den neben dem steirischen herbst in Graz, einem Prozessstück in Linz (s. Seite 6) und dem Burgtheater-Kassenschlager „Liliom“ auch zwei Uraufführungen: „Verschwinden in Lawinen“ nach dem Roman von Robert Prosser in Innsbruck und „Untersberg“ von der Schweizerin Anaïs Clerc in Salzburg. Es geht um Familientraumata und Berge. Irgendwie habe ich einen Flashback. Wir gehen rein.

Ich war im April dieses Jahr zum ersten Mal in Österreich im Theater. „Azur oder die Farbe von Wasser“, eine Uraufführung von Nestroy-Preis-Gewinnerin Lisa Wentz, am Theater in der Josefstadt.

Auf der Bühne: ein schlichtes Einfamilienhaus mitsamt Kruzifix in der Küche, das Thema: Österreich 1988, Missbrauchsfälle im katholischen Bubeninternat, die unglückliche Liebesbeziehung zwischen zwei Männern, Konventionen und die Unfähigkeit, aus ihnen und dem bürgerlich ländlichen Leben auszubrechen. Ganz schön starker Tobak, dazu psychologisches Spiel und viel Nebel.

Das zweite Mal dann im Juni, Wiener Festwochen, ein Volksstück. „Ein gefräßiger Schatten“ von Mariano Pensotti: Ein Bergsteiger macht vor Ende seiner Karriere die gleiche Gipfelexpedition, von der sein Vater Jahrzehnte zuvor nicht zurückgekehrt ist. Ein Mann am Kipppunkt seiner Biografie, eine Parabel auf das Verhältnis zur Natur, den Wunsch nach einem anderen Leben und was zutage tritt, wenn der Gletscher schmilzt. Familientrauma und Berge also!

Und in Anaïs Clercs Auftragswerk für das Salzburger Landestheater geht es um Kaiserin Karla, die im Inneren des Untersbergmassivs sitzt und den sich konstant verschlechternden Zustand des Berges beobachtet. Hier werden die erosiven Veränderungen am Berg zu Symbolen des Miteinanders: Was heißt es, einander zuzuhören und sich vorurteilsfrei zu begegnen?

Was in der Gegenwartsdramatik in Deutschland Queerness und die DDRVergangenheit und in der Schweiz Verdingkinder und das Schweigen sind, sind

Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Michael Helbing, Stefan Keim, Elisabeth Maier, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 11 / 2025 Magz Barrawasser, Regisseurin, Intimitätskoordinatorin, Bochum Thaddäus Maria Jungmann, Performer:in, Kulturjournalist:in, Köln Lorenz Just, Schriftsteller, Berlin Terézia Mora, Schriftstellerin, Berlin Joachim F. Tornau, Journalist, Kassel

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand.

Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin

Vorschau Arbeitsbuch

80. Jahrgang. Heft Nr. 11, November 2025. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 06.10.2025 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44 Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook und Instagram Facebook.com/theaterderzeit Instagram.com/theaterderzeit Threads.com/theaterderzeit Bluesky/theaterderzeit.bsky.social

Vorschau 12 / 2025

tdz.de Heiner Müller. Foto Brigitte Maria Mayer

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Dezember 2025 Am 30. Dezember jährt sich der Todestag von Heiner Müller zum 30. Mal. Ein Schwerpunkt mit unbekanntem Material zu Müllers fami­

Theater der Zeit 11 / 2025

liärer Herkunftsgeschichte und einem Beitrag von Wolfgang Storch.

Außerdem ein Porträt der schreibenden Regisseurin Carolin Millner.

83

Magazin Interview

Im Gespräch mit Michael Helbing

Philipp Adlung, geb. 1966 in Kaltenkirchen, ist Musikwissenschaftler, Jurist und Kultur­ manager, der über Mozart promovierte. Als Direktor leitete er ab 2007 das Händel-Haus in Halle/Saale, ab Mitte 2009 das Beetho­ ven-Haus in Bonn. 2014 wechselte er als Referatsleiter für Theater und Musik in die Abteilung Kultur und Kunst bei der Thüringer Landesregierung. Seit dem 1. November 2021 ist Philipp Adlung Direktor der Meinin­ ger Museen, die zusammen mit dem Staats­ theater Meiningen und dem Landestheater Eisenach von der Kulturstiftung MeiningenEisenach getragen werden.

84

Sie planen, 2029 auf gut 1200 Quadratmetern auf Schloss Elisabethenburg das Deutsche Theatermuseum Meiningen zu eröffnen. Was sagt das Deutsche Theatermuseum München dazu?

PHILIPP ADLUNG: Wir stehen im guten Kontakt. Freundschaftliche Konkurrenz gibt es sicherlich. Aber München befasst sich, ähnlich wie das Theaterwissenschaftliche Institut Köln, primär mit Forschung und Sammlung. Wir sind ein Museum, das etwas zeigen will.

Das Meininger Theatermuseum gibt es seit 25 Jahren. Welche Idee steckt hinter der Erweiterung?

PA Es gibt für 500 Jahre deutsche Theatergeschichte bislang keinen Ort, an dem sie erzählt wird. Wir wollen das Desiderat schließen und können auf ein solides Fundament bauen: Meininger Theatergeschichte als wesentlicher Teil der deutschen. Wir haben die Sammlungen, Strukturen und im Schloss die Flächen dafür, wo ganz am Anfang, im Riesensaal, Liebhabertheater gespielt wurde.

Zwei Begriffe verbinden sich landläufig mit Meiningen und dem Theaterherzog Georg II. am Ende des 19. Jahrhunderts: Wiege oder Vorläufer des Regietheaters sowie Ensemblebildung.

Die „Wiege des Regietheaters“ halte ich für schwierig. Was wir heute darunter verstehen, ist nicht das, was Georg II. wollte. Den Regisseur gleichsam als Autor hätte er streng von sich gewiesen. Er wollte mit seinen zeitgebundenen Ideen absolut dem Werk dienen.

Sprache und Vollständigkeit der Vorlage waren ihm wichtig, die Bühnenbilder sollten in ihrer üppigen Pracht überwältigen.

Aber die „Erfindung des Regisseurs“ geht doch schon auf Meiningen zurück?

PA Das ist richtig. In Lehrsätzen der „Meininger Prinzipien“ wurde die Rolle des Regisseurs erfunden. Und der Gedanke, zu Musteraufführungen durch Ensembles zu gelangen, die in einem Stück lange zusammenzuarbeiten, ist ebenfalls wichtig. Das gab es zuvor, so fair muss man sein, schon in Weimar. Goethe befasste sich bereits mit dem Ensemblegedanken. Als es dort mit dem Theater leicht bergab ging, baute Meiningen darauf auf: in Idealaufführungen, die von

einem Ensemble über Jahre hinweg perfektioniert wurden, in europaweit über 2000 Aufführungen von 1874 bis 1890.

Wie stellen Sie sich der Ambivalenz zwischen regionalem und nationalem Erzählen?

PA Das ist ein nationales Projekt. Aber wir werden nicht den Fehler begehen, die deutsche Theatergeschichte ausschließlich hier zu verorten. Es geht um Inhalte, z. B. um den Wandel vom Wander- zum stehenden Theater. Dafür war das uns nahe Gotha unter Conrad Ekhof Vorreiter: Schauspieler wurden verbeamtet. Wir wollen beispielhaft Phänomene erzählen, etwa die Idee des Nationaltheaters anhand von Weimar, die Entstehung bürgerlichen Theaters anhand von Eisenach.

Sie planen mit 7,2 Millionen Euro: jeweils 3,5 vom Bund, die bereits bewilligt sind, und von Thüringen, zudem jeweils 100 000 Eigenanteil von Stadt und Kreis. Was finanzieren Sie damit?

PA 3,5 Millionen Euro sind für die bauliche Ertüchtigung vorgesehen: für die Flächen im Schloss sowie das bereits vorhandene Theatermuseum in der ehemaligen Reithalle.

Der Rest gilt der konzeptionellen Um­setzung.

Wir haben Thüringens Anteil für den Haushalt 2026/27 frühzeitig angemeldet, im Entwurf der Regierung ist das Geld eingestellt. Jetzt muss der Landtag entscheiden.

Falls es schiefginge, wäre dann alles schon wieder vorbei?

PA: Nein. Aber es würde sehr schwierig werden, weil wir das Bundesgeld bis 2029 ausgegeben und abgerechnet haben müssen.

Es würde dann also sehr, sehr eng werden; man müsste mit dem Bund neu reden. Aber ich bin vorsichtig optimistisch, dass Thüringen sich das nicht entgehen lassen wird.

Weshalb war die große Zeit der „Meininger“ nach 1890 eigentlich schon wieder vorbei?

PA Es gab eine große Ermüdung im Ensemble. Intendant Ludwig Chronegk starb 1891, Georg II. konzentrierte sich im fortgeschrittenen Alter aufs Theater vor Ort. Dass der Zweck der Gastspiele erfüllt gewesen ist, halte ich zwar für eine romantische, latent missionarische Deutung. Aber es stimmt schon: Man befand sich plötzlich in Konkurrenz mit Ensembles, die diese Ideen aufgriffen. T

Theater der Zeit 11 / 2025

Foto Meininger Museen, Katharina Spiegel 2

Was macht das Theater, Philipp Adlung?

QUARTETT ZUM QUADRAT Heiner Müllers „Quartett“ trifft auf Leoš Janáčeks Streichquartette

Radialsystem 4. bis 7. Dezember 2025

EINE KOOPERATION DER EXPERIMENTA UND DES THEATERS HEILBRONN

Maschinen träume 19. bis 23.1 1.2025