Theater der Zeit 12/2025–Tilda Swinton

Theater der Zeit Schwerpunkt Heiner Müller Neues zur Biografie

Mit

Kristin Schulz Wolfgang Storch Hans-Jochen Vogel Carolin Millner Gerhild Steinbuch Thom Luz

Dezember 2025 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Tilda Swinton

Zwischen Bühne und Film

Bücher seit 1996

Mit

Angelika Endres Dietmar Fritzsche/Volkmar Draeger Helmut Becker Hochschule für Musik und Theater Rostock ixypsilonzett Marcel Kieslich Mark Sieczkarek Mozartfest Würzburg Schauspielhaus Düsseldorf Theater und Orchester Heidelberg Theater Pfütze, Nürnberg Theater Winkelwiese, Schweiz Theresa Kovacs/Kevin Rittberger

Vorschau Frühjahr 2026 30 Jahre Buchverlag

Foto Jörg Brüggemann, Ostkreuz

Theater der Zeit Editorial

„Heimsuchung” von Jenny Erpenbeck, Regie Adrian Figueroa am Staatstheater Hannover

Nach dem Tod von Heiner Müller am 30. Dezember 1995 entstand das erste TdZ-Arbeitsbuch mit dem Titel „Kalkfell“.

Es folgten ein zweiter „Kalkfell“-Band und viele Einzelstudien und Aufsatzbände in der TdZ-Recherchen-Reihe sowie in der Zeitschrift immer mal wieder Texte aus Müllers Nachlass, die im Entstehen der Werkausgabe bei Suhrkamp entdeckt wurden. Dazu opulente Bände zu Müllers eigener Inszenierungsarbeit und B. K. Trage­ lehns Müller-Inszenierungen. Die Biografie Heiner Müllers war indes bisher kein ausgeprägtes Feld bei Theater der Zeit. Im hier aus Anlass des kleinen Gedenkjubiläums zusammengestellten Schwerpunkt finden Sie neben den Beiträgen von Kristin Schulz und Wolfgang Storch die Erinnerungen von Hans-Jochen Vogel an seinen Cousin Heiner. Die Lebenswege gingen schnell weit auseinander – Müller verließ schon jung den erzgebirgischen Herkunftsraum und ging nach Berlin, ­Vogel blieb in der Gegend und wurde Studentenpfarrer in Karl-Marx-Stadt beziehungsweise Chemnitz. Verbunden blieben sie durch das Interesse aneinander – und deshalb ist Vogels (online vollständig zu lesendes) Memoir ein erhellendes Stück Müller-­ Literatur heute.

Theater der Zeit 12 / 2025

Einen eigens kuratierten Gastbeitrag vom Schweizer Netzwerktreffen zu sexualisierter Gewalt in der Kulturszene finden Sie auf den Seiten 58 bis 61.

Mit Tilda Swinton kommt man in die verschiedensten Bereiche von Film und Theater, so wie das Kunstinsert an ihre Zusammenarbeit mit Derek Jarman und Pedro Almodóvar erinnert. Ihre Zeit mit Christoph Schlingensief ist legendär und nebenbei war bei der Arbeit an diesem Beitrag auch noch von ihrer Rückkehr auf die Bühne zu erfahren. 1982 schrieb der Regisseur Manfred Karge sein erstes Stück, „Jacke wie Hose“, über eine Frau, die in der Weltwirtschaftskrise von 1929 die Stelle ihres verstorbenen Mannes annimmt und fortan, heute würde man sagen, als ‚männlich gelesen‘ weiterleben muss. 1987 spielte Swinton am Londoner Royal Court Theatre die englische Erstaufführung – und 2026 wird sie diese „Man to Man“-Szenen wieder am Royal Court spielen, mit einem geplanten Gastspiel im Berliner Ensemble.

Kommen Sie gut ins neue Jahr! Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Heiner Müller 12 Memoir Fern und nah Der Pfarrer Hans-Jochen Vogel erinnert sich an seinen Cousin Heiner Müller und Familienzusammenhänge im Herkunftsraum Von Hans-Jochen Vogel

16 Essay „Hölderlin: Die hinhörende Verfahrensart“ Heiner Müller zu seinem 30. Todestag Von Wolfgang Storch

20 Essay „Es führt kein andrer Weg als vorwärts / Und weil kein Ende ist, muß wieder Anfang sein“ Tilda Swinton in front of Eye Filmmuseum

by Victor Wennekes, 2025

Bücher seit 1996

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe: die Verlags­vorschau auf das Frühjahrsprogramm des Verlags Theater der Zeit

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Inge und Heiner Müller im Spiegel der Archive Von Kristin Schulz

Weitere Texte zum Thema finden Sie unter tdz.de/person/mueller

Mit

Angelika Endres Dietmar Fritzsche/Volkmar Draeger Helmut Becker Hochschule für Musik und Theater Rostock ixypsilonzett Marcel Kieslich Mark Sieczkarek Mozartfest Würzburg Schauspielhaus Düsseldorf Theater Heidelberg Theater Pfütze, Nürnberg Theater Winkelwiese, Schweiz Theresa Kovacs/Kevin Rittberger

Vorschau Frühjahr 2026 30 Jahre Buchverlag

Theater der Zeit 12 / 2025

Foto links oben picture-alliance / dpa | Hubert_Link, unten Eye Filmmuseum/Fotograf: Victor Wennekes, rechts Clara Wildberger

Autor und Regisseur Heiner Müller, der am 30. Dezember 1995 in Berlin gestorben ist

Inhalt 12/ 2025

Akteure 24 Kunstinsert Eine Reibung mit der Gegenwart Tilda Swinton reflektiert ihr vielfältiges Werk in der Amsterdamer Ausstellung „Ongoing“ Von Volker Gebhart

30 Porträt „Weder Sonder- noch Einzelfall“ Das Geschichtstheater der Autorin und Regisseurin Carolin Millner Von Lara Wenzel

Diskurs & Analyse 58 Gastbeitrag m2act x Helvetiarockt Prävention als Kultur. Schweizer Netzwerktreffen zu sexualisierter Gewalt in der Kulturszene Von Annette Hoffmann

60 Sexualisierte Gewalt ist ein Merkmal des Patriarchats Agota Lavoyer im Gespräch mit Annette Hoffmann über ihre Arbeit

61 Themen aus der Szene mit der Szene

Saima Linnea Sägesser im Gespräch mit Annette Hoffmann über einen Wandel in der Kulturszene

62 Serie: Theater und Sport So You Think You Can Turniertanz?

Von Peter Sampel

Report 66 Hamburg und Hannover Im Wettlauf um Gegenwarten Die Neustarts am Hamburger Thalia und Schauspiel Hannover im prüfenden Vergleich Von Jens Fischer

70 Neustart Ein Romantiker im Süden der Republik Felix Rothenhäusler startet seine Intendanz am Theater Freiburg Von Bodo Blitz

73 Leipzig Warum sollen Israelis nicht über Fußball sprechen?

Das Festival Politik im Freien Theater trumpft in Leipzig mit starken Beiträgen Von Lara Wenzel

76 Erfurt Ein Schauspiel, ach, ein kleines Schauspiel nur Eine einst unter Schmerzen und falschen Vorzeichen geschlossene Sparte kehrt mittelfristig ins Theater der Landeshauptstadt Erfurt zurück Von Michael Helbing

Stück 34 Stückgespräch Das Erdrutschgefühl im Text einfangen Gerhild Steinbuch im Gespräch mit Elisabeth Maier

37 Stück „GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen“ Von Gerhild Steinbuch

Magazin 4 Bericht Jugendclub Spieltrieb in Duisburg

Von Stefan Keim

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Sabine Leucht, Stefan Keim, Lina Wölfel, und Shirin Sojitrawalla

8 Kolumne Dramaturgische Fürsorge

Von Anna Bertram

86 Vorabdruck Etwas Neues, total Ungewohntes Von Ute Nyssen

88 Bericht Festival Voices in Berlin Von Sophie-Margarete Schuster

89 Bücher Brecht in Anekdoten Von Stefan Keim

78 China Von Kunqu-Oper bis Drohnenfeuerwerk

90 Kolumne Wir gehen rein

Wie China in seiner perfekt inszenierten Wasserstadt Wuzhen Kultur, Technologie und Macht choreografiert Von Paul Tischler

92 Was macht das Theater, Thom Luz?

Von Lina Wölfel

Im Gespräch mit Elisabeth Feller

82 Polen Start des Vorprogramms Lublins Festival Konfrontacje bietet einen Ausblick auf die Kulturhauptstadt 2029 Von Thomas Irmer

84 Ungarn Wir sind Punks

1 Editorial 91 Autor:innen & Impressum 91 Vorschau

Das ungarische Theaterkollektiv Kerekasztal begegnet Repression und Kürzungen Von Janka Visky

Theater der Zeit 12 / 2025

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Magazin Bericht

Repertoire aus dem Nichts

Zwei Premieren innerhalb weniger Wochen.

Erst „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, dann „Der zerbrochne Krug“, stoff, klar, das spielt gerade jeder. Ein Abi­ großes Repertoire mit viel zeitgenössischer Der Jugendclub Spieltrieb am Theater Dramatik ergänzt die Klassiker. Hier handelt Duisburg gilt seit 20 Jahren als Vorreiter es sich nicht um den Spielplan eines Stadtder Sparte theaters, sondern um den Jugendclub Spieltrieb am Theater Duisburg, der nun zwanzig Von Stefan Keim Jahre alt ist. Neben den jugendlichen Darsteller:innen stehen Profis auf der Bühne, manche „Jugendclubgewächse“ haben inzwischen eine Schauspielausbildung gemacht. Das Niveau ist hoch, das Publikum strömt. Ganz einzigartig ist das deutschlandweit nicht, das Deutsche Theater Berlin hat seit Jahren eine das Haus mitprägende und künstlerisch ausgezeichnete Jugendsparte, aktuell mit dem Namen DT Jung*. Aber könnte das mit sehr geringen Mitteln arbeitende Theater Duisburg ein Modell sein für Bespielbühnen, die nicht nur Gastspiele zeigen, sondern auch selbst produzieren und sich in der Stadt vernetzen wollen? Oder auch anderswo eine Möglichkeit, Geld zu sparen und dennoch einen spannenden künstlerischen Betrieb aufrechtzuerhalten?

Erst einmal steckt hinter dem Duisburger Spieltrieb eine besondere Geschichte. Das Theater ist nur ein halbes Bespieltheater und Spielstätte der Deutschen Oper am Rhein, die Musiktheater und Ballettaufführungen in Duis-

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burg zeigt. Nur im Schauspiel gibt es Gastspiele, im Rahmen des Festivals Duisburger Akzente kommen immer wieder die großen Bühnen Deutschlands. Vor zwanzig Jahren hat Michael Steindl die Leitung des Theaters übernommen. Er war zuvor Dramaturg am Schauspiel Essen nebenan, hatte dort auch schon einen Jugendclub namens Spieltrieb aufgebaut und den Namen samt Grundidee mitgebracht. „Schon in Essen war es so“, erzählt Michael Steindl, „dass Intendant Jürgen Bosse den Jugendclub wie alle anderen Produktionen behandelt hat. Es gab mindestens acht Vorstellungen im Spielplan und die Unterstützung der Gewerke, festgelegte Zeiten z. B., in denen die Werkstätten für den Jugendclub arbeiteten.“ So etwas fehlt allerdings in Duisburg weitgehend, doch davon später mehr.

Michael Steindl begann zunächst mit zwei Inszenierungen pro Spielzeit. Dazu kamen sehr schnell mehrere Projekte in kleineren Besetzungen, weil sich sofort ehrgeizige Gruppen bildeten, die mehr spielen wollten.

Die Grundlage ist bis heute die der meisten Jugendclubs. Es gibt kein Casting. „Wer den zeitlichen Aufwand akzeptiert, ist dabei“, sagt Michael Steindl. Das bedeutet z. B. für die nächste Produktion, dass nicht nur zweimal die Woche, sondern auch in den Weihnachtsferien geprobt wird. Sina Ebell wird kein klassisches Stück inszenieren, sondern den Essay „Ein Zimmer für sich allein“

Theater der Zeit 12 / 2025

Fotos Sascha Kreklau

„Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht, Regie Damira Schumacher am Theater Duisburg

Magazin Bericht von Virginia Woolf, einen grundlegenden Text des Feminismus aus dem Jahr 1929.

Spieltrieb dockt also an aktuelle Theatertrends an, hier die Dramatisierung von Prosatexten. Andererseits achtet Michael Steindl darauf, was das Publikum in Duisburg sehen will. Textflächendramatik und intellektuell-selbstreferenzielle Performances laufen in der Stadt nicht, sogar „Quartett“ von Heiner Müller zählt zu den wenigen Kassenflops der vergangenen Jahre, weil der Text als zu abgehoben empfunden wurde.

Ein großes Publikum zieht dagegen zeitgenössische britische Dramatik, die sogenannten well made plays. Was zum persönlichen Geschmack des Theaterleiters passt. „Mich interessieren Schauspieler:innen in Rollen und Geschichten“, sagt Michael Steindl. Damit zieht er u. a. die aus vielen Film- und Fernsehrollen bekannte Friederike Becht an, die in Dennis Kellys ebenso heftigem wie humorvollem Monolog „Girls & Boys“ glänzt.

Auch hier ist der Jugendclub dabei.

Normalerweise käme in einer freien Theaterproduktion niemand auf die Idee, bei einem Monolog stumme Rollen dazu zu erfinden.

Das verbietet meist schon die finanzielle ­Situation, die oft für die Kunst bedrohliche Melange aus – dringend nötigem – Mindestlohn für professionelle Darstellende und oft sinkenden Zuschüssen. Doch mit zwei jungen Frauen aus dem Jugendclub kann Regisseur Alexander Vaassen zwei Schatten der Hauptfigur besetzen, die der Inszenierung eine zweite optische Reflexionsebene verleihen.

Michael Steindl unterteilt seinen Spielplan in drei Arten von Produktionen. Da gibt es die Stücke mit großem Ensemble, bei denen alle mitspielen können, die kleineren Inszenierungen, für die Mitwirkende gezielt angesprochen werden, und die Produktionen mit Profis im Zentrum, die in Duisburg entstehen, aber auch woanders gezeigt werden können. Wobei nicht nur in L fetzteren Profis zum Einsatz kommen. In Steindls Inszenierung vom „Zerbrochnen Krug“ gibt es z. B. ein gemischtes Ensemble. Gespielt wird manchmal auf der großen Bühne, aber viel öfter im Foyer III unter dem Dach des Theaters. Das ist die Spielstätte, die Michael Steindl frei disponieren kann.

Hier läuft auch ein Spieltrieb-Dauerbrenner, das Jugendstück „Stabil, Habibi!“, das mit sechs Patenklassen der Jahrgangsstufen sieben, acht und neun entwickelt worden ist.

Theater der Zeit 12 / 2025

Solche Projekte gibt es inzwischen an vielen Bespieltheatern. Fast überall schrumpfen die Abos, die Bühnen müssen sich um neue Formen und ein junges Publikum bemühen und tun es meist auch mit großer Leidenschaft und Überzeugung. In Nordrhein-Westfalen gibt es dafür einen eigenen Fördertopf der Landesregierung. Doch dass ein Jugendclub eine tragende Säule des Spielplans in einem großen Haus geworden ist, bleibt zumindest eine Seltenheit.

Dabei wäre es naiv, den Spieltrieb als Sparmodell für tolles Theater auszurufen.

Denn Michael Steindl benennt nach zwanzig erfolgreichen Jahren auch kritische Punkte. „Ich leuchte alle Vorstellungen im Foyer III selbst ein und schiebe – vielleicht mal mit einem Praktikanten – nach den Vorstellungen auf der großen Bühne die Kostüme in den Keller. Ich bin das sprichwörtliche Mädchen für alles mit 15-Stunden-Tagen.“ Denn der normale Job als Theaterleiter muss ja auch getan werden. Das kann bei aller nicht nachlassender künstlerischer und menschlicher Begeisterung irgendwann zermürben und führt zu einem zentralen Problem des Kulturbetriebs. Menschen wie Michael Steindl, die für ihr Theater leben, werden an Jubiläen bejubelt. Danach gehen alle davon aus, dass sie immer so weitermachen. Aber irgendwann geht das nicht mehr, und wenn keine Strukturen geschaffen worden sind, findet man nicht so leicht jemanden, der zu einer derart aufopferungsvollen Tätigkeit bereit ist.

Dennoch gehen vom Spieltrieb einige Impulse aus, die sich auch woanders entwickeln und weiterdenken lassen. Es gibt eine Menge Jugendliche, die sich für Theater begeistern und sich ausprobieren wollen. Die Verbindung mit Profis eröffnet viele Möglichkeiten, und durch anhaltende Qualität lässt sich auch ein großes Publikum jenseits von Freund:innen und Verwandten entwickeln. Natürlich erlebt man bei solchen Projekten immer wieder, dass zentrale Leute aufhören, etwas anderes machen oder an eine Schauspielschule gehen.

Aber wenn es eine stabile Basis gibt, lassen sich stets neue Spielende finden.

Man muss kein Pessimist sein, um festzustellen, dass sich unsere Theaterlandschaft verändern wird und nicht alles erhalten werden kann. Diesen Wandel nicht zu bejammern, sondern ihn mit neuen Ideen zu gestalten, ist Aufgabe und Herausforderung. Und da lohnt

Fast überall schrumpfen die Abos, die Bühnen müssen sich um neue Formen und ein junges Publikum bemühen.

Und tun es meist auch mit großer Leidenschaft.

der Blick nach Duisburg, auf ein spannendes, lebendiges Theater, das sich quasi aus dem Nichts entwickelt hat. Durch einen enorm engagierten Theaterleiter und die vielen Partner:innen, die Michael Steindl gefunden hat.

Doch – auch das ist eine Erkenntnis aus zwanzig Jahren Spieltrieb – Schulterklopfen reicht nicht, um für das Fortbestehen so eines spannenden Projekts zu sorgen. Es braucht auch die kulturpolitische Erkenntnis, dass eine zielgerichtete Förderung hier eine große und nachhaltige Wirkung haben wird. T

„Girls Boys“ von Dennis Kelly, Regie und Bühne Alexander Vaassen am Theater Duisburg

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Magazin Kritiken

Münchner Kammerspiele

Lokalgeschichte meets historische Schuld „Zeit ohne Gefühle“ von Lena Gorelik (UA) – Idee und Regie Christine Umpfenbach, Bühne Nuphar Barkol, Kostüme Pascale Martin, Live-Musik Manuela Rzytki, Video Patrik Thomas

„K

önnen Sie noch? Ist nicht leicht, diese schweren Geschichten zu hören, ich weiß. Wir nähern uns aber der Stunde der Befreiung.“ Kaum hat Johanna Kappauf als etwas didaktische Erzählerin diese Sätze gesprochen, gehen vier Scheinwerfer über der Bühne an und blenden die Zuschauer:innen.

Sie werden durch unterschiedliche Mittel einbezogen in das sprunghafte Spiel, das die Geschichte jüdischer Holocaust-Überlebender ebenso beleuchten will wie die Unmöglichkeit, sich in sie hineinzuversetzen. Als Nachgeborene, als sich lückenhaft oder Lieber-nicht-Erinnernde, als Schauspieler:innen.

Wie können wir diese „Zeit ohne Ge­ fühle“ in unsere Zeit holen? Wo hallt sie in ihr wider? Das sind die Leitfragen des gleichnamigen Theaterabends an den Münchner Kammerspielen. Die Münchner Dokumentartheatermacherin Christine Umpfenbach wie der ihrer Inszenierung zugrunde liegende Text von Lena Gorelik machen darin die Verantwortung des Erzählens selbst zum Thema, das sich immer wieder vergewissern muss, dass es fehleranfällig ist und – sofern es einzelne Schicksale in den Mittelpunkt rückt – andere exkludiert. Mit der tragischen Geschichte des 15-jährigen ungarischen ­Juden Mordechai Teichner, der in Auschwitz Mutter und Geschwister und in einem

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Jette Steckel inszeniert „Das große Heft“ von Agota Kristóf am Schauspielhaus Bochum

Schauspielhaus Bochum

Gefühle sind Schwäche „Das große Heft“ nach Agota Kristóf – Regie Jette Steckel, Bühne Florian Lösche, Kostüm Pauline Hüners, Musikalische Leitung Mark Badur, Video Zaza Rusadze

G

efühle sind Schwäche. Wer ein Gewissen hat, stirbt. Nur die Rücksichtslosen können einen Krieg überleben. Und die beiden Zwillinge in Agota Kristófs Roman „Das große Heft“ wollen auf keinen Fall sterben.

Sie protokollieren die Übungen, mit denen sie sich abhärten, körperlich wie emotional. Diese Aufzeichnungen sind das „große Heft“. In ihrem Roman zeigt Agota Kristóf eine völlig verrohte Gesellschaft. Mord und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung, auch der Pfarrer verfolgt nur seine eigenen Interessen. Eine Mutter weiß nicht, wie sie ihre beiden Söhne ernähren soll. Sie bringt die Zwillinge zur Großmutter aufs Land. Die Großmutter reagiert überhaupt nicht erfreut, sie hat die Kinder noch nie gesehen. Sie ist eine knallharte Frau, die sich niemals wäscht, von morgens bis abends arbeitet und wenn sie mal muss, einfach auf den Boden uriniert.

Ein Fünfer-Ensemble spielt alle Rollen.

Das ist nichts Originelles, so ähnlich funktioniert gerade jede zweite Literaturbearbeitung auf der Bühne. Doch die Regisseurin Jette Steckel schafft klug Orientierung, Pierre Bokma ist immer die grantig-kantige Großmutter, Linde Dercon bleibt die Mutter der Zwillinge, die einzige Figur, die ein bisschen Mitgefühl in die Geschichte bringt. Die Situationen sind klar erzählt, es gibt viele Dialoge, nur manchmal erinnern Erzähltexte daran, dass hier ein Roman inszeniert wird.

Die mit Erde bedeckte Bühne von Florian Lösche zeigt einen Wald aus langen schmalen Stahlstangen. Wenn sich das Ensemble hindurchbewegt, verursacht es ziemlich viele Geräusche. Die Stangen können hochfahren und in verschiedenen Kombinationen wieder herunterkommen. So öffnen und verengen sich die Räume. Karsten Riedel am Schlagzeug und Matthias Jakisic an der elektronischen Violine begleiten den ganzen Abend live. Ein mal roher und oft auch sehr subtiler Soundtrack, den Mark Badur komponiert hat.

In zwei Stunden erzählt Jette Steckel den Roman im ruhigen Rhythmus mit vielen Denkpausen. Auf Aktualisierungen verzichtet sie, die parabelhafte Geschichte der Zwillinge, die in sich alle Menschlichkeit abtöten, braucht keine Hinweise auf die Gegenwart, in der wieder über Wehrdienst und Kriegstüchtigkeit debattiert wird. Die Zwillinge formulieren es nicht so, aber im Prinzip erziehen sie sich selbst zu Supersoldaten. // Stefan Keim

Theater der Zeit 12 / 2025

Fotos links oben Julian Baumann, unten Armin Smailovic, rechts oben Bernd Schönberger, unten Seweryn Zelazny

„Zeit ohne Gefühle“ von Lena Gorelik in der Regie von Christine Umpfenbach an den Kammerspielen München

Außenlager des KZ Dachau seinen Vater verloren hat, begnügen sie sich deshalb ebenso wenig wie mit der des malerischen Feldafing am Starnberger See, wo die Nazis 1934 bis 1945 die „Reichsschule“ als Kaderschmiede für die NS-Eliten unterhielten, in der nach der „Befreiung“ durch die Alliierten am 30. April 1945 bis zu 6000 „Displaced Persons“ untergebracht waren. Teichner hat dort die sogenannte Stunde null erlebt; da berühren sich beide Geschichten. Und an diesem einen Punkt hängt der Abend all seine Erzählstränge auf, in denen er sich mit den besten Absichten verheddert. Weil die Erinnerung ein Minenfeld ist und die anhaltende Identitätsdebatte auch, springen fünf der sechs Schauspieler:innen hektisch durch Goreliks mit aktuellen Zitaten gespickte Materialcollage, spielen abwechselnd Täter- und Opferrollen und debattieren wie und warum. „Jede:r kann jede:r sein. So ist das Leben“, heißt es gleich zu Beginn. Nur bei Josef Mengele weigern sich alle.

Der Abend entwickelt wohl planmäßig keinen Sog, will nicht leichter konsumierbar sein als seine Themen. Für das Publikum ist dieses theatrale Tretminen-Hopping allerdings nicht nur unbefriedigend, sondern leistet einem Aufmerksamkeitshopping Vorschub, das kaum gewollt sein kann. // Sabine Leucht

Magazin Kritiken

„Die schönste Version“ (UA) nach dem Roman von Ruth-Maria Thomas in einer Inszenierung von Sarah Kohm am Staatstheater Cottbus

Staatstheater Cottbus

Wie Licht, das gedimmt wird „Die schönste Version“ von RuthMaria Thomas in einer Fassung von Sarah Kohm (UA) – Regie Sarah Kohm, Bühne und Kostüm Lena Marie Emrich, Musikalische Leitung Lenny Mockridge

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ie Geschichte ist erst mal so eingängig wie alltäglich, dass man sie scheinbar nicht nacherzählen muss. Jella und Yannick (mit Doppel-n) sind ein Paar. Sie lernen sich in einer Bar kennen, Jella will einen Wein trinken, Yannick sagt, sie solle doch einen Gin Tonic nehmen. Jella will eine Gurke in ihrem Gin Tonic, Yannick sagt, Zitrone passe besser zu diesem Gin. Am Ende ist das auch egal, weil die Bar nicht das richtige Tonic Water hat – findet Yannick. Jella interessiert das nicht, weil ihre Haut an der Stelle, wo Yannick sie berührt hat, so warm vibriert. Die beiden verlieben sich, verbringen Sommer am See, die bis in den Herbst andauern. Bis es zwischen ihnen immer häufiger eskaliert.

Aber hey, diese Momente zeigen doch nur, wie besonders sie beide sind, oder? Oder?

Davon ist Jella überzeugt. Bis Yannick sie aus Eifersucht würgt, und Jella sich mit einem Pfefferstreuer wehrt.

Die Cottbusser Autorin Ruth-Maria Thomas hat mit „Die schönste Version“ einen poetischen und gerade in und durch diese Poesie schonungslos ehrlichen Roman über das Aufwachsen im Patriarchat geschrieben. Es gelingt ihr, die schönsten Worte für jenen schleichenden Prozess zu finden, wenn sich zwischen Abhängen im Partykeller der coolen Jungs und klebrigen Autositzen die eigenen Grenzen in kleinen

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Schritten immer weiter verschieben. Dafür, wie übergriffiges Verhalten und Gewalt an FLINTA-Personen, eben weil sie strukturell ist, so in uns verinnerlicht ist, dass wir sie oft erst dann entdecken, wenn es eigentlich zu spät ist und sich eine Marianengraben-tiefe Kluft auftut. Regisseurin Sarah Kohm gelingt es, die Sprachgewalt und Zärtlichkeit des Textes auf die Bühne zu übertragen und der Stückfassung dort ein eigenes Leben zuzusprechen. In einem kongenialen Schachzug wird Jella nicht nur eine äußere und eine innere Stimme gegeben, sondern die innere Stimme gleich an ihre beste Freundin aus Jugendzeiten Shelly geknüpft. Zu den Stärken der Bühnenbearbeitung zählt auch, dass in den Dialogen ein feiner und oft notwendiger Humor durchscheint. Da sind all die Szenen zwischen Jella und ihrer besten Freundin Shelly, die uns mit „Time to Pretend“ von MGMT, Föhnfrisuren und low-waist-hotpants unmittelbar in die frühen 2000ern katapultieren. Nathalie Schörken und Lea van Acken spielen Jella und Shelly so herzzerreißend-authentisch, dass man sich eine „­Bravo“-Hits einlegen, Schoko-Lipgloss auf die Lippen schmieren und auch über Marco ablästern will, der sich für den nächsten Goethe hält. // Lina Wölfel

Muawia Harb, Anna Staab, und Jakob Gail in „Der Schmerz“ am Theater Willy Praml

Theater Willy Praml Frankfurt

Französische Leichtigkeit und Deutsche Erdenschwere „Der Schmerz“ von Marguerite Duras – Regie, Fassung und Bühne Michael Weber, Kostüme Paula Kern

A

n keinem Moment der fast zwei Stunden ertönt hier ein Wort, das nicht durchlebt und durchdacht scheint von denen, die es sprechen. Das kann verwundern, zumal bei einer Romanadaption, und zwar nicht irgendeiner, sondern Marguerite Duras’ „Der Schmerz“. Ein harter Text, der das Grauen unverblümt zur Sprache bringt. Im Mittelpunkt steht eine Frau, Marguerite Duras, die darauf wartet, dass ihr Mann aus dem Konzentrationslager heimkommt. Als Mitglied der Résistance war Robert L. (im echten Leben Robert Antelme) in deutsche Konzentrationslager deportiert worden. Bald steht er abgemagert und an Körper und Seele zerschunden vor ihr. Ein großer Mann mit nur noch 37 Kilogramm. Ein Wrack, in Frankfurt verkörpert von Jakob Gail. In einem Seitenraum der Frankfurter Naxoshalle beherrscht ein ausgebrannter Bus die Bühne. Er nimmt fast die gesamte kleine Spielfläche ein, das Publikum nimmt an drei Seiten drumherum sehr dicht am Geschehen Platz. Der Bus und die Art, wie er bespielt wird, erinnert an Castorf-Behausungen auf der Bühne: unwirtliche Orte, an denen das Leben, die Liebe, der Hass und vor allem der jeweilige Text kulminieren. Zu Anfang sitzt hier im selben Moment nervös und stoisch Anna Staab als bildschöne Frau mit tolldreist eingedrehter Frisur nach der Mode der damaligen Zeit.

Die Flamme eines Feuerzeugs illuminiert ihr Antlitz. Schon dieser Beginn erweist sich als so spektakulär unspektakulär, dass man die Augen nicht abwenden möchte.

Immer wieder sind es kleine Details, Momente am Rande, die an diesem konzentrierten Abend Eindruck hinterlassen. Die triste Fabrikhalle Naxos, in der früher Schleifmittel hergestellt wurden, ist als Spielort in diesem Zusammenhang ein Geschenk. Ein unbehaglicher Ort für einen unbehaglichen Text. Manches gerät sehr illustrativ, da kräuselt dann Zigarettenrauch aus der Dachluke des Busses, wenn von den Krematorien der Lager die Rede ist. Ein sicht- wie erfahrbares Grab in den Lüften. Und ein Abend, der als ein Stück Erinnerungskultur an die Nieren geht. // Shirin Sojitrawalla

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de/kritiken

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Dramaturgische Fürsorge Von Anna Bertram

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Im Prozess der Psychotherapie gibt es diesen einen Moment, in dem etwas vor einem liegt, aber nicht greifbar ist. Nah, aber unzugänglich. Ein inneres Erleben, das sich andeutet, doch in diesem Augenblick noch nicht denkbar, sagbar oder fühlbar ist – das man jedoch als wesentlich erkennt. Diese Schwelle, an dem etwas Unbewusstes oder Abgespaltenes ganz nah an die Oberfläche kommt, doch noch nicht integriert werden kann – ist ein entscheidender Punkt. An dem vor allem eines wichtig ist: Beziehung. Die Verbindung zwischen Therapeutin und Patientin, die trägt und hält.

Im Theater liegt – an genau an derselben Schwelle – das Zauberhafte und das Politische. Eben dort, im Schatten einer Ahnung, Beziehung und Erkenntnis. Es ist nicht allein die befreiende Katharsis, die wirkt, sondern die Fürsorge im Davor und das Danach. Als ich mich als Kind in Theater verliebte, war es jenes im Raum geteilte Gefühl der depressiven Nostalgie für etwas, das nie realisiert wurde. Oder zu unerwartet einbrach. Die Unmöglichkeit, die im Raum flimmert, unaufgelöst bleibt, vielleicht in der Zukunft oder Vergangenheit liegt. Aber nie in der Gegenwart. Das Phänomen begriff ich oft erst, wenn es bereits verflogen war. Doch was sich bis dahin in mir ausbreitete, war ein Gefühl von Halt.

Was da geschah, war Trost. Das also, was eine verletzte Gesellschaft gerade jetzt und immer braucht. Im Theater erfahren wir diese seltsame Befreiung von Sprache. Der Kopf wird nicht ausgeschaltet, tritt aber zurück. Und vielleicht ist das der Moment, in dem eine sinnlichere Art der Dramaturgie beginnt. Eine, die den Menschen zuhört, bevor sie spricht. Diejenigen ernst nimmt, die Teil einer politischen Debatte sind. Theater muss unbedingt der Öffentlichkeit zuhören, ehrlich und unprätentiös. Wo Zuhören gelingt, zeigen sich echte, zärtliche Momente.

Die etwas in Bewegung setzen und für die es kein strategisches Erfolgsrezept gibt. Da liegt Hoffnung, Utopien, Märchenhaftes.

Ausbrüche, Einbrüche, Unterwanderungen, kleine Fluchten. In diesen Augenblicken wird das Theater – und wir selbst – verletzlich.

Und mutig.

Mit etwas Abstand könnten diese Kategorien wohl zu einem Grundlagenkurs der Demokratie zugehören: Vertrauen, Dialog und Zuhören, Verantwortung und Gemeinsinn. Und das, obwohl ich sozialdemokratischen Versprechen und ihren oft kosmeti-

schen Eingriffen in ein verdorbenes System eher skeptisch gegenüberstehe. Wenn auch der Begriff „Werte“ fast veraltet klingt, sind es doch genau diese Werte, die eine Dramaturgie von Beziehungen ermöglichen. Denn je nach Einladung und Bereitschaft kann da tatsächlich eine verbindende Resonanz zwischen Bühne und Publikum entstehen – ein Raum von Zugewandtheit, des Suchens nach den Punkten, an denen wir als vereinzelte Subjekte nicht weiterkommen. Beziehung. Das gemeinsame Erfahren der Unmöglichkeit, geteilte emotionale Entlastung, die Suche nach einer kollektiven Emanzi­ pation, der Schmerz einer anhaltenden Geschichte. Ein Publikum spürt, ob ein künstlerisches Angebot ernst gemeint ist.

Es sind die bekannten Fragen der Kuration und Programmation, der Repräsentation und ihrer Dramaturgie. Wessen Erfahrungen stehen auf der Bühne, was wird erzählt, wer wird repräsentiert? Wer darf an Erzähltes anknüpfen und sich dazu eingeladen fühlen?

Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass künstlerische Leitungen Zeit und Ressourcen haben, sich diesen Fragen zu widmen – und nicht nur bloß Zahlen hinterherzulaufen.

Dort, wo Menschen den Mut haben, nach Verborgenem in sich selbst und dem Unterbewusstsein ihrer Zeit zu suchen, dort sollten sie nicht allein bleiben. Dort, wo Kunst, ihre Rezeption und öffentliche Debatte sich berühren, braucht es eine Haltung der Beziehung und der Fürsorge. Ähnlich einem warmen Bett, auf das man sich fallen lassen darf, gehört Zugewandtheit ins Theater. Es ist Arbeit. Sie braucht Zeit und ein behutsames Herantasten an Schmerzhaftes, an Fehlendes, an Nicht-Heilbares, an das, was trotzdem wächst. In dieser Beziehung gestaltet sich dann, vielleicht, ganz weich, eben nicht mehr nur Arbeit. Sondern ein sicheres Erleben im Hier und Jetzt, in dessen Nachwirken sich das Alte neu ordnen darf. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen im monatli­ chen Wechsel: die Schriftstellerin und Übersetzerin Terézia Mora, die Dramaturgin Anna Bertram und ein Team vom Theaterhaus Jena.

Theater der Zeit 12 / 2025

Foto links Elia Quadri, rechts Ballhaus Naunynstraße Berlin: Yoel Diaz, Kaserne Basel: Zvonimir Brkan - Stani, Theater Konstanz: Ilja Mess, Neuköllner Oper: Murat Aslan, Sophiensæle: Hauen & Stechen, Theater Marie: Bettina Diel, Theaterhaus Berlin: Porson‘s Khashoggi, Theater Thikwa Berlin: Holger Rudolph

Magazin Kolumne

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präsentiert Kaserne Basel Freund*innenschaft am Ende der Welt: Patricija Katica Bronić & Team beginnen in KLAPA einen performativen Dialog zwischen Kulturen und Menschen. Premiere am 9.12.2025 an der Kaserne Basel, www.kaserne-basel.ch 9.12. (Premiere), 10.12. bis 13.12.

Hausregisseurin Franziska Autzen

KLAPA

Mozartfest Würzburg Hell ist die Nacht. Eine Dokumentation 6. 12. (Buchpremiere)

Neuköllner Oper Berlin Der Kirschgarten soll verkauft werden!

Doch an wen? Beim Familientreffen wird klar: dafür gibt es ganz unterschiedliche Ideen.

Und keine will so recht passen in eine Welt, in der alle Karten neu gemischt werden.

11.12. bis 16.1.

Theater Konstanz Mit Mareike Fallwickls „Und alle so still“ setzt sich unsere Hausregisseurin Franziska Autzen mit den großen feministischen Gesellschaftsfragen um Widerspruchsgeist auseinander. www.theaterkonstanz.de 13.12. (Premiere) 14.12. bis 4.2.26

Theater Thikwa, Berlin In CRAZY X OPPENHEIMER traumwandeln Theater Thikwa und Das Helmi durch die großen Rätsel und Schrecken der Menschheit.

Los Alamos am Kreuzberg! Dann habe ich einfach gemacht, sagt Oppenheimer, einfach etwas erfunden.

17.12. (Premiere) bis 21.12.

Sophiensæle Berlin Ignorance is Bliss vom Musiktheaterkollektiv Hauen & Stechen ist eine dystopische Verwechslungskomödie und zugleich Opernparcours über geschichtliche Mythen und Verlockungen der Ignoranz, Erkenntnishunger und Propaganda.

11. bis 14.12.

Kirschgarten als Musical

Hellarau Dresden MUT PALUCCA 100 Jahre Palucca Hochschule für Tanz 2. 12. (Buchpremiere)

Theater der Zeit 12 / 2025

Theaterhaus Berlin Proberaum in Berlin?

Im theaterhaus berlin finden Freie Darstellende Künstler*innen in Mitte und Schöneweide günstige Proberäume, professionelle Arbeitsbedingungen und ein kreatives Umfeld. theaterhaus-berlin.com

Theater Marie Das Stück legt sein Augenmerk auf Randfiguren, die in der Nahaufnahme zu eigensinnigen Protagonist:innen werden und lässt Texte von Klaus Merz aufleuchten.

Verspielt, präzise und mit feinem Humor.

13.12. (Sternensaal Wohlen)

Silke Geertz in „Eine Ahnung vom Ganzen“

„Abdruckkörper“ von Yatri Niehaus

Ballhaus Naunynstraße, Berlin „Schwarz Tragen“ (E. Blonzen), „Jung, giftig und Schwarz“ (A. Eisner, T. Sebe), „Aesthetics of Color“ (T. Körner), … „Abdruckkörper” ist das achte im Haus zur Aufführung gebrachte afrodeutsche Drama.

16. bis 19.12.

Probe „Mirrordrom“, Porson’s Khashoggi, 2022

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„Mauser“ von Heiner Müller. Regie, Bühne, Musik Oliver Frljić, Kostüme Sandra Dekanić am Residenztheater München, 2017

Thema Heiner Müller

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Foto Konrad Fersterer

Am 30. Dezember 1995 starb Heiner Müller. An jenem Abend lief im Berliner Ensemble seine Inszenierung von Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“, die dann noch lange an diesem Theater und auf der ganzen Welt gezeigt wurde. Der Schauspieler Hermann Beyer trat vor den Vorhang und verkündete Müllers Tod. Heute, dreißig Jahre später, gilt das Interesse neben Müllers Werk auch verschiedenen Aspekten seiner Biografie, u. a. dem familiären und sozialen Herkunftszusammenhang. Der Studentenpfarrer Hans-Jochen Vogel, ein Cousin Heiner Müllers, hinterließ in seinen Memoiren ausführliche Betrachtungen dazu (Langfassung unter tdz.de/person/mueller). Wolfgang Storch untersucht einen Hamlet-Bogen in Müllers L ­ eben und Kristin Schulz die Arbeitsbeziehung mit Inge Müller, die zu Zeiten verklärt, dann auch verschwiegen oder unterschlagen wurde.

Fern und nah Der Pfarrer Hans-Jochen Vogel erinnert sich an seinen Cousin Heiner Müller und Familienzusammenhänge im Herkunftsraum

Bräunsdorf. Da stamme ich her. Da bin ich aufgewachsen. Als ich zur Welt komme, leben mein Onkel Kurt, seine Frau Ella, Heiner und Wolfgang noch in Waren an der Müritz. Ich lerne sie erst nach dem Umzug nach Frankenberg kennen.

Der Onkel als Bürgermeister mit Dienstwagen und Chauffeur. Wolfgang, der Dinge erzählt, von denen ich noch nichts wußte, z. B. von der Kasernierten Volkspolizei, die mit Schalmeienklängen durch Frankenberg – vom Kaiserreich bis heute Garnisonstadt – marschiert. Wolfgang, der Draufgänger, der Bäumekletterer, der sich ein bißchen wie der Beschützer seines großen Bruders zu fühlen scheint und dessen Freundin/Braut neckt.

In Bräunsdorf findet meine erste erinnerte Begegnung mit Heiner statt. Da hat er sich schon nach Berlin abgesetzt. Ich bin noch ein Kind. Lebe mit meiner heim-

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arbeitenden Mutter, Vater gefallen 1944 in Lettland, und meinen mutterseitigen Großeltern in dem Haus, in dem Heiner mit seinen Eltern untergekommen war, als die Nazis den Vater hinausgeworfen hatten, also auch dem Elternhaus des Vaters.

Heiner ist zu Besuch mit seiner jungen Frau Rosi und der kleinen Tochter Regine. Für mich, der ich in einer sehr prüden Familie aufwachse, vielleicht das Aufregendste, wie Rosi ihre Brust entblößt, um ihr Kind zu stillen – Säugetier Mensch.

Heiner plaudert aus der Berliner Theaterszene. Erzählt vom großen Brecht. Spricht er damals von „Brechts Harem“? Wie muß man sich dies vorstellen? Der Eingeweihte, der in uns fremden Sphären verkehrt.

Mit dem Tonfall sarkastischer Bewunderung. Er kann auch anderes, kennt sich in der Karl-May-Welt aus. Er zeichnet mir einen reitenden Indianer. Er spricht von

Büchern und Schriftstellern. Ich glaube, gar von Ganghofer, den die „Mutter“ u. a. neben Rosegger liest, soweit von früher noch vorhanden. […] Von ihm muß ich damals schon gehört haben, daß Malerei die Wirklichkeit nicht abbilden soll, denn das könne der Fotoapparat besser. Formalismus nannte man dies später, oder Dekadenz.

Wer sich da als junger Intellektueller in den aufzubauenden Sozialismus hineinbegab, das war offensichtlich jemand, der von anderswoher kam und Lektüren und Gedanken mitbrachte, die von der den Aufbau leitenden „führenden Kraft“ nicht unbedingt vorgesehen, geschweige denn akzeptiert waren.

Der späte Heiner Müller war jedenfalls, so wird es im Rückblick deutlich, schon der frühe Heiner. Der „Lohndrücker“ ist ein Schritt auf seinem Weg. Man konnte

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Fotos Stefan Petraschewsky, Foto Hans-Jochen Vogel Von Straktur - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=29259250, enhanced with Recreate.ai

Oben: Heiner Müllers Eintrag im Taufbuch Unten: Die alte Schule in Eppendorf Unten rechts: Der Pfarrer Hans-Jochen Vogel

Thema Heiner Müller da vieles mißverstehen. Die Kulturwächter der SED haben es beizeiten begriffen, daß Heiner nicht so naiv war, einfach den gewünschten Fortschritts- und Aufbauoptimismus abzuliefern. „Blut ist im Schuh“, auch in dem aus der VEB Schuhfabrik Xyz. Der „Lohndrücker“ nahm den sozialistischen Anspruch beim Wort, bezog ihn jedoch auf eine blutige Geschichte von Faschismus und Krieg zurück, aus der die Menschen als aktiv beteiligte kamen, die man jedoch glaubte, durch Ausrufung einer neuen Ordnung im wesentlichen überwunden zu haben. Die gestern für den Faschismus ins Schlachten gezogen waren, konnten sich nun, soweit sie es mit einigermaßen heilen Knochen überlebt hatten, als in die antifaschistisch-demokratische Ordnung, bald auch, deutlicher: den Sozialismus, kooptiert fühlen. Daß dies irgendwie zu funktionieren schien, sprach dies nicht für die neue Gesellschaft? Oder doch vielleicht eher gegen sie? Oder für sie und gegen sie zugleich, etwa in Abhängigkeit davon, wie sie auf ein Theaterstück wie den „Lohndrücker“ eingehen würde?

Keine Zeit, sich mit solchen Fragen den Kopf zu zerbrechen! „Bau auf, bau auf ...!“ Die subversiven Fragen, die Heiner stellte, konnten durch integrierende Kommentierung zeitweilig stillgestellt werden; Belobigung und Auszeichnung als Versuch der Entschärfung und Neutralisierung.

Dann hören und sehen wir lange nichts von ihm. Briefe schreibt er nicht und wird auch später keine schreiben. Was wir erfahren, kommt großenteils von seinem Vater, der inzwischen im Westen ist, in Reutlingen wohnt, in Tübingen arbeitet.

Manches auch von Liesel, unserer Tante, also Vater Kurts Schwester, die sich mit ihrem Mann ebenfalls in Reutlingen niedergelassen hat.

Der Skandal: die Scheidung, Neuverheiratung, noch einmal Scheidung von/ mit/von derselben Frau, und die Begleitumstände. So etwas hat es in der Familie noch nicht gegeben. Es mag zu dem Bild passen, das man sich von der Welt der Schriftsteller und Theaterleute in der fernen Hauptstadt macht, und das Heiner mit seinen Anekdoten und der Art, wie er sie erzählte, bestätigt wo nicht gar erst erzeugt hatte.

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Lange Zeit heißt es, er schreibe an einer größeren Sache. Aber man hört nichts Genaues. Gespottet wird etwas resigniert; was für ein bedeutendes Werk wird er schon schaffen, der Heiner, das Heinerle! „Der Heiner, der Heiner mit seiner krummer Beiner.“ „Heinerle, Heinerle hat kein Geld.“ (Woher nur stammen diese Zitate?)

Und man hört immer noch nichts. Eine neue Frau hat er inzwischen wieder, erfährt man. Sie sei auch Schriftstellerin und sehr intelligent.

Dann plötzlich ist es da, das Werk, eben: „Der Lohndrücker“. 1957 in der „Neuen Deutschen Literatur“. Onkel Erich besorgt das Heft. Es folgen „Die Korrektur“, jedenfalls ist dies die Aufeinanderfolge in der erinnerten Wahrnehmung, und „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ nach dem Buch von John Reed über die Oktoberrevolution. Immer: „in Zusammenarbeit mit“ – für die Aufbaustücke ist es Inge Müller. Der „Klettwitzer Bericht“ steht schon im Lesebuch, als ich die Oberschule besuche.

Man weiß nicht, soll man stolz sein oder sich schämen. Einerseits hat man ja nun einen berühmten, oder sagen wir: namhaften Cousin, andererseits sind das Stücke vom Aufbau, „Geschichten aus der Produktion“, „sozialistische“ Stücke, also grundsätzlich irgendwie DDR, und proletenmäßig. Dazu hat man in der Verwandtschaft ein gestörtes Verhältnis. Man ist Arbeiter, aber nicht Prolet, und schon gar nicht Kommunist, und die Russen und ihre DDR mag man nicht. Außerdem, was weiß der Heiner denn von Produktion?

An dieser Stelle ist ein Exkurs fällig über diese Müller-Familie. Sie ist, von Heiners Vater und dessen einer Schwester abgesehen, die einen kleinen Handwerker heiratet, dessen Mutter ein bescheidenes Textilgeschäft betreibt, tatsächlich proletarisch. Die Großmutter Anna Maria (der Name Anna wird dann als der des letzten Kindes von Heiner wieder auftauchen) geb. Suttner kommt als ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind, aus der oberpfälzischen Armutei in den „goldenen Osten“, die industrielle Boom-Region Sachsen. Die Versprechungen des Arbeitsvermittlers erweisen sich als leer. Die Kleine landet als Magd bei einem Bauern in einem Dorf,

Der späte Heiner Müller war jedenfalls, so wird es im Rückblick deutlich, schon der frühe Heiner.

mutterseelenallein, fern der Heimat, verzweifelt. Ein Zurück gibt es nicht, auch nicht mal schnell aufs Wochenende nach Hause zu Muttern. Verlassenheit, Tränen, Verzweiflung. Sie lernt den Strumpfwirker Max Müller kennen. Sie haben ein erstes Kind und müssen heiraten. Aber dazu ist es erforderlich, daß sie zur evangelischen Kirche übertritt. Sie wird diesen Schritt auf unseren Rat gegen Ende ihres Lebens rückgängig machen. Wir werden dann froh sein, daß sie damit wenigstens in dieser Hinsicht wieder Frieden mit sich selbst gefunden hat, nachdem sie ihr Leben lang wegen ihres Abfalls von ihrer Kirche mit sich gehadert hatte. […] Anna also eine Fremde und Arme, im Widerspruch zu Werten, die ihr anerzogen waren. Aber auch stark, von Kindesbeinen an fähig zum Aufmucken, zum Kämpfen, wo es drauf ankam.

Zehn Kinder, eins früh gestorben; der älteste Sohn verliert durch Meningitis als Kind das Gehör. Er wird sein Leben lang für das Dorf der taubstumme Erich bleiben. Ein Intellektueller eigentlich. Mit seinem Bruder Kurt, Heiners Vater, der sich intensiv um ihn kümmert, eng verbunden, mit ihm auch die linke Fraktion der Familie bildend. Weil er meint, dies zur Rettung der Familie tun zu müssen, tritt er nach dem Krieg in die SED ein. Mitgliedsbeiträge wird er mangels Masse kaum haben zahlen können.

Erich ist im Übrigen auch die zweite Quelle, aus der wir direkt authentisches von Heiner erfahren. Er fährt gelegentlich nach Berlin, besucht Heiner, bringt aus dessen reichlichen Beständen auch WestKrimis mit und erzählt, was er beim Neffen erfahren und erlebt hat.

Kurts andere Brüder sind in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos. Drei werden Nazis. Werner ist SA-Mann. Hans hat dann eine leitende Funktion beim Reichsarbeitsdienst. Der jüngste, Felix, ist nicht organi-

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Oben: Die Heiner-Müller-Schule in Eppendorf Unten: Das Geburtshaus von Heiner Müller

siert, aber wohl umso überzeugter. Nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit ist er wieder in Lohn und Brot. Er ist etwas eigenbrötlerisch, liebt die Natur und Bücher, von denen er sich aus seinen knappen Mitteln eine ganze Reihe kaufen kann. In einem von ihm hinterlassenen MetallarbeiterTaschenkalender finde ich eine Skizze der Sitzverteilung der Parteien im Reichstag.

Er hat mit Bleistift über alles Hakenkreuze gezeichnet und daneben geschrieben: So „geschehen im Jahre des Heils 1933“. Er ist aus dem Krieg wie seine Brüder Hans und Werner nicht zurückgekommen, zuerst als vermißt gemeldet: Jahre nach dem Krieg wurde über einen Kameraden sein Tod bekannt. Die Mutter hatte ihn am innigsten geliebt, hoffte lange noch verzweifelt auf seine Rückkehr und war besonders über seinen Tod untröstlich. Ein wenig scheint

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ich dann bei ihr seine Stelle eingenommen zu haben; manchmal redete sie mich mit seinem Namen an.

Ich nehme an, die Mutter wird eher von der Überzeugung der Söhne angesteckt als umgekehrt. Die konservative Grundeinstellung, die Abneigung gegen den gottlosen Kommunismus sind einmal vorhanden. Es ist wohl die alles beherrschende elementare, instinktive Mutterliebe, die sie auf dem Hintergrund der erfahrenen langen Arbeitslosigkeit dazu bewegt, sich mit dem zu identifizieren, was ihre Söhne treibt und treiben. Und davon wird auch der Zusammenhalt in der Familie bestimmt. Wenn sich Kurt und Hans ideologisch streiten, legt sie ihnen nahe, sich als Brüder zu vertragen, was sie auch beherzigen. Als Kurt von den Nazis inhaftiert wird, kämpfen alle darum, daß er wieder frei kommt; da spielen die politischen Differenzen keine Rolle. […] Beim Lesen einiger Texte von Heiner und auch jenes Buches, das als Autobiografie von ihm autorisiert worden ist, könnte man den Eindruck gewinnen, als sei sein Verhältnis zur Familie seines Vaters ein vor allem von den Kämpfen der Klassen gezeichnetes gewesen. Die Zurückweisung, die Heiners Mutter in Bräunsdorf nach ihren Aussagen erfahren hat, könnte auch aus der Mißbilligung herrühren, die man gegenüber dem Verhalten Kurts empfunden hat, der seine Partnerin Martha mit dem gemeinsamen Kind Liane zugunsten Ellas verlassen hatte. Dies war nach dem in der Familie herrschenden Moralverständnis verurteilenswert. Es war einfach ausgeschlossen. Hätte man selbst sich so verhalten, es hätte die wirtschaftliche und soziale Katastrophe für alle Beteiligten bedeutet. Moralische Rigidität als Überlebensstrategie. Man war zudem offenbar – und dies entspricht einer wohl bis heute nicht unüblichen Denkweise – eher bereit, dem Mann, der ja noch dazu der eigene Sohn war, den „Fehltritt“ nachzusehen (wie gesagt: gebilligt hat man sein Verhalten nie) als der Frau, die die andere verdrängt, ihr, nach dieser Sichtweise, den Mann ausgespannt hatte. Die Großeltern haben denn auch Liane zeit ihres Lebens ebenfalls als ihr vollwertiges Enkel betrachtet und jedes Versteckspielen hin-

sichtlich der familiären Zusammenhänge abgelehnt. […] Die anscheinend dann doch alles überwölbende Harmonie in den Beziehungen zwischen Kurt und seinen Kindern einerseits und dem Rest der Familie andererseits, aber auch zwischen ihm und seinem Vater – ist sich Heiner schon in seiner Schulzeit voll darüber im Klaren, daß sie durch das Erleben der Verhaftung des Vaters, durch die als demütigend empfundenen Erfahrungen in Bräunsdorf, aber auch durch das als erniedrigende Anpassung empfundene Verhalten des Vaters etwa im Falle des Schulaufsatzes über den Autobahnbau nicht wiedergutzumachenden Schaden genommen hat?

Was in Heiners Texten an Hinweisen über seinen familiären Hintergrund erscheint, befindet sich in erheblicher Spannung zur Wahrnehmung der anderen noch lebenden beteiligten Personen bzw. derer, die ich gekannt habe, und offensichtlich auch zu den dokumentarisch feststellbaren Sachverhalten. Gegenstand von Verwunderung und Verärgerung, mancher Debatten in der Verwandtschaft.

Sicher wollte man vieles nicht zur Kenntnis nehmen oder nicht ernst nehmen.

Es hätte ein Eingeständnis eigener Schuld bedeutet. Da die eigenen ethischen Maßstäbe so beschaffen waren, daß man im Blick auf sie das eigene Verhalten als akzeptabel verstehen mußte. Kriterien, die darüber hinaus reichten und eine politische Dimension eingeschlossen hätten, besaß man kaum. Für Heiner aber geht dann die Mikrogeschichte in der Makrogeschichte auf, wird von dieser vollständig absorbiert. Heiner hätte so niemals einen Roman schreiben können. Der Roman, die bürgerliche Literaturgattung kat’ exochen, mit seiner Bemühung um differenzierte, vielschichtige Darstellung einzelner Personen und ihrer mit einander verflochtenen Geschichten, Polyfonie der Stimmen, Stimmigkeit der Charaktere. Noch weniger hätte er einen nach-kafkaschen, nachjoyceschen oder nouveau roman zustande gebracht. Es war nicht seine Art zu sehen, zu denken.

Aber da gab es noch den Schock seiner kurzen Erfahrung des Krieges als Jugendlicher, fast noch ein Kind, im letzten

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Fotos Stefan Petraschewsky

Thema Heiner Müller

Thema Heiner Müller Aufgebot der Nazis. Da muß spätestens der Bruch geschehen sein. Darüber jedoch wurde in der Familie nie gesprochen. In ihr gab es den Jungen Heiner, dem der Geruch eines etwas verzogenen und leicht verdorbenen Muttersöhnchens anhaftete, und später den hungerleidenden Poeten, der sich vorgenommen hatte, ein Genie zu werden. Daß dazwischen eine Traumatisierung stattgefunden hatte, die auch seinen Blick auf das Vorher verändert haben könnte, blieb ausgespart, unbekannt, verdrängt? Auch Heiner selbst sprach nicht direkt darüber, jedenfalls hatte ich keine Gelegenheit, ihn darüber sprechen zu hören. Aber gerade hier muß doch einer der stärksten Antriebe für sein Schreiben gelegen haben.

Seine Erinnerungen werden schließlich auf Beispielhaftigkeit und dramatische Situativität in geschichtlicher Dimension hin verformt. In seinen Texten tauchen die freundlichen Menschen, denen er familiär verbunden war, jetzt auf als Mitspieler in einer blutigen Tragödie, Mitspieler in einem Ausmaß, das ihnen selbst nicht bewußt zu sein schien, was ihre Verstrickung jedoch nicht ungeschehen machen konnte.

Findet hier eine Verdrängung statt?

Hat Heiner unter dem Schock der eigenen Erfahrung des Kriegsendes und der Erlebnisse und Erkenntnisse, die sich damit und daraus für ihn ergaben, auch das ganze Umfeld, aus dem er kam, danach vor allem als Zusammenhang eines schuldhaften geschichtlichen Verhängnisses wahrgenommen? War ihm sein eigenes Erleben, sein einstmaliges eigenes Eingebundensein in diese Familie in dieser Gesellschaft, nun nur noch schwer zugänglich? Will er nicht mehr sehen, daß er in den Verwandtschaftsbeziehungen auch Wärme, Schutz und Hilfe erfahren hat?

Oder ist es das Gegenteil von Verdrängung? Schreibt er sich von dieser Vergangenheit frei? Vielleicht weil er sich andernfalls durch sie korrumpiert fühlen würde?

Sein Text über den Vater sei von den jüngeren Leuten im Westen, den „88ern“, sagt er später einmal, wohl deshalb so gut aufgenommen worden, weil auch sie einen Vatermord hinter sich hatten. Hat Heiner, was er als Verrat seines Vaters beschreibt (noch einmal: die Geschichte vom Aufsatz

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über den Autobahnbau) gar schon damals als inneren Bruch erlebt – wenn ja, dann in welchem Ausmaß, in welcher Bewußtheit?

– oder handelt es sich um das zurückprojizierte Ergebnis eines längeren Prozesses der Auseinandersetzung und Klärung?

Sein Verhältnis zu den Verwandten von Fleisch und Blut blieb, so oft sie ihm begegneten, auch weiterhin freundlich, ja herzlich; über lebhafte und gute Erinnerungen an gemeinsame Vergangenheit konnte er ungezwungen mit ihnen sprechen.

Unnachsichtig in den Texten, war er nachsichtig im persönlichen Umgang.

Nach der mühseligen inneren Selbstbefreiung (durch Fremdbefreiung Deutschlands erst möglich geworden) und Distanzierung dann doch auch Aussöhnung mit der Tatsache, daß er sich selbst denen verdankte, deren Verstrickung er schreibend enthüllen mußte. Seine literarische Auseinandersetzung mit ihnen zuerst eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Mit sich selbst als geschichtlichem Wesen. […] Warum breite ich dies alles aus?

Weil Heiner für mein eigenes Nachdenken über die Zusammenhänge, aus denen ich komme, einen Kristallisationskern bildet.

Er ist der, der aus der Sippe aufbricht in die Welt, Texte schreibt, die zurückwirken auf meine Wahrnehmung meiner eigenen Ursprünge. Wir anderen können nun nicht mehr so tun, als habe nicht einer von uns, aus dem, woraus er kam, worin wir lebten bzw. woraus wir kamen, Literatur gemacht, eine Literatur, die quer zu dem lag, worauf wir eingestellt waren. Ich begann mich, für diesen Cousin und das, was er machte, zu interessieren. Ich wollte auch heraus aus dieser Verhängnisgeschichte.

Die Trauer und Not der Jahre, in denen ich heranwuchs, das erwachende Bewußtsein des Erbes von Schuld und Schande, das da auf uns kam. Das hilflose Geständnis der Großmutter: „Wir waren doch Nazis.“ Es kam heraus: Einer aus dem Dorf hatte berichtet, was im Osten mit den Juden geschah. Die Großmutter: „Als ich das gehört habe, habe ich gedacht, ich muß wahnsinnig werden.“ Ihr Schreien im Schlaf, wenn die Alpträume sie quälten.

Meiner Generation war es aufgegeben, die Schuld unserer Eltern- und Großelterngeneration zu erkennen, uns dessen

Was in Heiners Texten an Hinweisen über seinen familiären Hintergrund erscheint, steht in Spannung zur Wahrnehmung anderer.

bewußt zu werden, daß die Menschen, denen wir unsere Existenz verdankten, von denen wir aufgezogen und geprägt waren, größtenteils schuldig geworden waren, als sie den Faschismus mit herbeigebracht, mit Begeisterung und Überzeugung unterstützt und mitgetragen, oder eben doch wenigstens hingenommen und in ihm „ihre Pflicht“ getan hatten. In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR wurde das faschistische Regime verurteilt, seine exponierten Vertreter, Menschen, die für es Verbrechen begangen hatten, wurden zur Verantwortung gezogen, seine Juristen, Propagandisten, Schergen und hohen Militärs hatten hier ausgespielt (sie fanden im Westen oftmals ihr gutes Auskommen und führten ihre Karrieren in vielen Fällen fort). Einer der noch dokumentierbaren Konflikte, die Kurt Müller schließlich zur überstürzten Flucht nach dem Westen veranlaßten, allerdings zeigte, daß die unauffälligen subalternen Anpasser sich dem neuen System auch im Osten schnell anzudienen wußten und bereit waren, ihrerseits jene mit Intrigen und Beschädigungen zu überziehen, die erwiesene Gegner des Hitlerreichs gewesen waren und auch nicht bereit waren, sich der stalinschen Ordnung blind zu unterwerfen. […]

Geschrieben 2004. Eine längere Version dieser Aufzeichnungen Hans-Jochen Vogels erschien 2008 in dem Band „lebendig werden“ im nicht mehr existierenden Scheunen Verlag Kückenshagen.

Mit freundlicher Genehmigung von Elke Vogel.

Den vollständigen Text und weitere Texte zum Schwerpunkt finden Sie unter tdz.de/person/mueller

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Thema Heiner Müller

„Hölderlin: Die hinhörende Verfahrensart“ Heiner Müller zu seinem 30. Todestag Von Wolfgang Storch

Viel hat von Morgen an, Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.

Hölderlin, Friedensfeier

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Ein Raum der Stimmen, sein Theater als Kind „Warum haben Sie sich entschieden, fürs Theater zu schreiben und nicht zum Beispiel Lyrik?“, fragte Flavia Foradini 1988 Heiner Müller. „Das war keine Entscheidung. Die erste Erklärung dafür ist vielleicht, dass ich als Kind wenig Spielgefährten hatte. Ich war oft allein, und so dachte ich mir eben Leute aus, mit denen ich sprechen konnte.“ (W 11, 334) Er gehörte zu den 1929 Geborenen, gewollt, erhofft, gezeugt, als sich die wirtschaftliche Situation nach dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise stabilisiert hatte; auf die Welt gekommen, als sich seit dem Herbst die Eltern der Weltwirtschaftskrise, deren Folgen, der sich ausbreitenden Massenarbeitslosigkeit ausgesetzt, durch die sich steigernden Klassenkämpfe herausgefordert sahen, daran teilzunehmen, gespalten auf welcher Seite oder nicht. Vor dem nahen Ende der Weltwirtschaftskrise gewann die von Teilen der Industrie unterstützte NSDAP die Reichstagswahl. Die Uniformierung der Gesellschaft begann mit einer ersten Welle von Verhaftungen.

Das Reden wurde blockiert, der Sprache die Freiheit genommen. Der nächste Krieg wurde vorbereitet und ausgelöst, als das dafür bereitgestellte Geld ausgegeben war.

Um Chemnitz, Deutschlands zweitgrößtem Industriegebiet, hatte sich in klei-

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nen Städten die Textilindustrie angesiedelt, so in Eppendorf, 20 km entfernt. Der Vater, Kurt Müller, war in der Verwaltung des Rathauses tätig. In der SPD organisiert, war er in die 1931 sich abspaltende Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands eingetreten, führte sie dort im Einsatz gegen die NSDAP. Er wurde verhaftet, in ein Lager bei Flöha gebracht, dann in die zum KZ eingerichtete Sachsenburg. Mit Heiner zu spielen, wurde Freunden von deren Eltern verboten. Die Mutter arbeitete als Näherin. Wie ihre Mutter, die aus einer reichen Bauernfamilie stammend, enterbt worden war, als sie einen Schuster ohne Ausbildung heiratete. Sie lebten in Armut. Zehn Kinder kamen, zwei starben. Er brachte es fertig, niemals Heil Hitler zu sagen. Kurt Müller wurde, unter der Bedingung, nicht nach Eppendorf zurückzukehren, eine Entlassung vor Weihnachten angekündigt. Seine Frau zog nach Bräunsdorf in das Elternhaus ihres Mannes. Dessen Vater, deutschnational, hatte als Strumpfwirkmeister gearbeitet. Seine Frau stammte aus der Oberpfalz, in Chemnitz war ihr eine Arbeit zugesagt, angekommen, gab es sie nicht, auf einem Bauernhof nahe Bräunsdorf fand sie eine Anstellung als Magd. Die Katholikin musste, um heiraten zu können, Protestantin werden, es fiel ihr schwer. Kurt war das erste Kind, viele folgten. Hitlerbegeistert dominierte sie das Haus. Heiners Mutter hatte es schwer. „Und eine zweite Erklärung ist vielleicht“, fuhr Heiner Müller fort, „dass man im Theater die Möglichkeit hat zu lügen.

Also die Chance, dass man andere sprechen lassen kann anstelle von sich selbst, Figuren, die Masken des eigenen Ich sind. Man kann so viele haben, wie man will. Und man kann von einer etwas sagen lassen

und von der anderen genau das Gegenteil.“ (W 11, 334) Er schuf sich mit dem Austragen der aufgerufenen, einkehrenden, zu erfahrenden Stimmen einen eigenen Raum im Gegenüber.

Der Vater, schließlich zurückgekehrt, zog mit Frau und Sohn in eine kleine Wohnung. Ohne Arbeit suchte er seinen Sohn, um ihm sein Wissen, seine Erfahrungen zu vermitteln, in einer Zeit, die nichts mehr davon wissen wollte, führte ihn in die Geschichte der Arbeiterbewegung ein, eröffnete ihm die Werke der Dichter, Schriftsteller, Philosophen, die er studiert und exzerpiert hatte, selber schreibend mit einem „literarischen Ehrgeiz“ (W 8, 19), ließ ihn teilnehmen an seinem juristischen Selbststudium.

Die Not, keine Arbeit zu finden, veranlasste den Vater, seinem Sohn, der, mit Aussicht auf eine Prämie, einen Aufsatz über den Autobahnbau zu schreiben hatte, den Satz zu diktieren: „Es ist gut, dass der Führer Autobahnen baut, dann bekommt vielleicht auch mein Vater wieder Arbeit, der so lange feiern musste.“ Der Satz, bekannte Heiner Müller, „löste bei mir den Verratsschock aus. Ich war so erzogen, dass ich wusste, draußen ist der Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich. Zuhause sind wir eine Festung und halten zusammen. Plötzlich war da dieser Riss.“ (W 9, 17) Der Vater bekam die Arbeit beim Bau der Autobahnen. Körperlich überfordert, kehrte er nach einem halben Jahr zurück.

1938 fand er eine Anstellung bei der Landeskrankenkasse in Waren/Müritz an der Mecklenburgischen Seenplatte. 1939 folgten Frau und Sohn.

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Hamlet, seine Gestalt Für Heiner Müller begann 1941 auf dem Gymnasium der Englisch-Unterricht. Er holte sich aus der Schulbibliothek eine gut kommentierte Shakespeare-Ausgabe, um „Hamlet“, den er kannte, im Original zu lesen. „Ich habe natürlich fast nichts verstanden, aber immer wieder gelesen“, berichtete er. Es wurde eine grundsätzliche Erfahrung, „man lernt dabei viel mehr, als wenn man alles versteht. Dadurch kommt man sozusagen von unten heran an die Sache, aus dem Keller.“ (W 9, 208) Das

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Thema Heiner Müller Stück selbst ist eine Erforschung. Shakes­ peare versucht, „etwas zu formulieren, was er nicht im Griff hat, eine Erfahrung, die er nicht fassen kann“ (W 9, 209). „Hamlet“ blieb für Heiner Müller sein Leben lang Shakespeares wichtigstes Stück, „weil es am meisten mit mir zu tun hat, und mit Deutschland“ (ebd.).

Gustaf Gründgens, der 1931/32 Berlin als Mephisto in „Faust I“ und „Faust II“ erobert hatte, wurde 1935 vom preußischen Ministerpräsidenten Göring zum Intendanten des Preußischen Staatstheaters berufen, entschied sich, als Hamlet sich zu zeigen. Inszeniert von Lothar Müthel, fand die Premiere Ende Januar 1936 statt.

Heftig umstritten, wurde sie die erfolgreichste Aufführung, Gründgens erreichte durch sie die Generalintendanz. Am 22. Juni 1941 begann der Überfall auf die Sowjetunion. Vielen war klar, Kurt Müller sagte es dem Sohn, der Krieg ist verloren.

Gründgens begann, „Faust I“ zu proben, und verabschiedete sich von „Hamlet“ zu Beginn seiner siebten Spielzeit, gefeiert noch einmal mit Berichten und Fotos. Heiner Müller verwies auf die Inszenierung, als er 1989/90 „Hamlet“ probte.

Paul Fechters Würdigung des Hamlet von Gründgens und dessen Antwort in Briefform waren im Deutschen Shakes­ peare Jahrbuch 1941 zu lesen, an den Gymnasien zu finden. Fechter beschrieb den ersten Auftritt: „Wenn alle aufstehen und abgehen, bleibt Hamlet allein sitzen und bricht zum ersten Male aus. Es ist, als ob er aufbrüllen will: er fällt mit gebreiteten Armen auf den Tisch und brüllt seinen Ekel vor der Welt langsam und laut heraus.“ (Deutsches Shakespeare Jahrbuch 77, 1941, 125) Gründgens bestätigte: „Wenn der Vorhang aufgeht, will ich Hamlet nicht spielen, sondern ich will nach Wittenberg zurück. Wider meinen Willen wird mir eine Aufgabe aufgehalst, der ich mich nicht entziehen kann, und die durchzuführen mir ebensoviel Qual wie äußerste Verantwortung auflegt. Es ist wirklich ein Fluch, zu denken, dass ich geboren bin, die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken.

Und mein Zögern und mein immer wieder Überlegen ist die Sorge, einer Aufgabe, die für mich zu groß ist, im weitesten Sinne des Wortes gerecht zu werden.“ (ebd., 132)

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Als die DDR-Kulturpolitik mit der Ausweisung von Wolf Biermann im Novem­ ber 1976 ihren Tiefpunkt erreicht hatte, begann Benno Besson, wissend, das Deutschland noch lange mit Hitler beschäftigt sein wird, als Abschied seiner Intendanz an der Volksbühne mit den Proben zu „Hamlet“.

Er kam mit der von Heiner Müller vorgeschlagenen Übersetzung nicht zurecht und bat ihn im Januar, als schon die Proben liefen und Heiner Müller in Sofia an der „Hamletmaschine“ arbeitete, „Hamlet“ zu übersetzen. Es wurde Heiner Müllers eigener Text. Als er im Sommer weiter an der „Hamletmaschine“ arbeitete, sah er vieles in der Übersetzung schon eingebracht. Aus 220 Seiten wurden neun. Der erste Satz des „Hamletdarstellers“ die Absage: „Ich war Hamlet.“ (W 4, 545) Der Schrei zu Beginn, die Qual, sich ausgeliefert zu wissen, durchzieht Heiner Müllers Stücke. „Traktor“ (1955/61, 1974), die Szene „Der Schrei“: Der Traktorist, der es 1946 wider seinen Willen auf sich genommen hatte, ein gegen das Anrücken der sowjetischen Panzer vermintes Ackerland zu pflügen, und über eine Mine fuhr: „du bist was da brüllt / In der Ruine die dein Blut und Fleisch war / Eh dich die Mine aus der Welt gesprengt hat / Und alles was Du bist sind meine Schmerzen / Und was mich noch zusammenhält dein Schrei.“ (W 4, 493) „Germania Tod in Berlin“, 1971, die nur zu hörende Szene „Nachtstück“ beginnt: „Auf der Bühne steht ein Mensch. Er ist überlebensgroß, vielleicht eine Puppe. Er ist mit Plakaten bekleidet. Sein Gesicht ist ohne Mund.“ Und endet: „Aus den leeren Augenhöhlen des Menschen, der vielleicht eine Puppe ist, kriechen Läuse und verbreiten sich schwarz über sein Gesicht. Er schreit. Der Mund entsteht mit dem Schrei.“ (W 4, 372, 373) Zum Welttheatertag am 27. März 1976 notierte Heiner Müller die Gruß­ adresse: „Eine buddhistische Legende erzählt von einer Frau, die zu den Göttern erhoben wurde. Aber auf der Schwelle zum Nirwana hörte sie den Schrei der Welt und kehrte um zu den Menschen. Seit aus dem Opfer die Tragödie und aus der Orgie die Komödie geworden ist, gerät Theater von Zeit zu Zeit auf diese Schwelle. Es sind das die Zeiten, in denen von seiner Krise

An einer Wand von Müllers Direktionszimmer hing 1995 ein Blatt mit einem großen „G“, die Mahnung an sein Stück „HiB – Gründgens“.

geredet wird. Wenn es die Schwelle in d/ er/ falschen Richtung überschreitet, gibt es die Bedingung seiner Exist/enz/ auf.“ (W 8, 578) Der in Amerika 1976 gefundene Schluss für sein Stück, das ihm das nächste blieb: „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“: „Die Kellner, nun in Schutzhelmen, verpassen Lessing eine Lessingbüste.

Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befreien.

Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Applaus von Kellnern BühnenSchrei. ­ arbeitern (Publikum)“ (W 4, 535f.) „Der Engel der Verzweiflung“, sein Auftritt in „Der Auftrag Erinnerung an eine Revolution“, geschrieben 1979: „Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei.“ (W 5, 16) Gründgens erinnerte im Brief an eine Äußerung von Jürgen Fehling, der sich eine Vorstellung ansah und sagte: ‚Ich weiß nicht, ob das Shakespeares Hamlet ist, was Du spielst, aber es ist so, als wenn sich mit dem Gongschlag bei Beginn der Aufführung das Grab Hamlets öffnet und er noch einmal, wie aus einer anderen Welt, sein Schicksal gestaltet“. (Deutsches Shakespeare-Jahrbuch 77, 1941, 9) Heiner Müller notierte: „H: Denken vom (individuellen) Tod aus / her“, seitlich: „out of / Grave / – Vampir – / denken)“, darunter: „(Fatzer) / my time Zeit nach / meinem Tod / mein Leichnam / ich meines Todes Leib“.

(HMA 3394) Hamlet von seinem Tod aus zu spielen, es wurde der Ansatz von Heiner Müller und Ulrich Mühe für ihren Hamlet 1989/90 am Deutschen Theater.

Am Ende seines Briefes fasst Gründgens zusammen: „die von Ihnen als bewusst angemerkten Stellen sind bewusst von Hamlet und nicht bewusst von dem Schauspieler Gründgens. Der ist überzeugt, dass er den Hamlet nur spielen kann, wenn er sich zum Gefäß der Wor-

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Thema Heiner Müller te und Gedanken macht und nichts will.“ (Deutsches Shakespeare-Jahrbuch 77, 1941, 125) Ein Prozess des Wegfindens, der sich den Zuschauenden eröffnet. Wie es Heiner Müller generell formuliert hat: „Das ist das eigentliche Geheimnis, glaube ich, diesen Punkt zu finden, wo der Zuschauer das fertigmachen muss …“ Also: „Die Bedeutung ist Sache des Publikums.“ (Regie: Heiner Müller, Zentrum für Theaterdokumentation 1993, 96) „Die Konfrontation mit der Macht – das ist für mich Geschichte als persönliche Erfahrung“, erklärte Heiner Müller Lotringer 1981. (W 10, 210) In diesem Jahr konzipierte er das Stück „HiB – Gründgens“. Er skizzierte die Rollen: „Schauspielerepisode / G[ustaf]G[Gründgens] (Pasol.), Gertrud (Schauspieler + Volk) / Claudius – Göring / (die neue Ordnung) / Polonius der Philosoph (Althusser) / killing Ophelia ? / (erwürgen damit sie nicht / mehr spricht) Horatio – Stasikomplex / Claudius das Volk / d. Arb. + Bauernmacht)“ (W 4, 593) Und: „HiB Gründgens (theromanactor) I ich bin[gestr.] kein Volk ich bin Schauspieler / Gr. – Kortner (postwar) der „Mitläufer“ + d. Emigrant [...] / Hamlet statt Meph. / als Vehikel / Göring Claudius // Laerte (Otto) – H. (Gr.) – NS“. (HMA 5334) Der Schauspieler Hans Otto, Mitglied der KPD – als Laertes gedacht –, von Jessner 1930 an das Preußische Staatstheater geholt, wurde dort hochgelobter Hauptdarsteller. Im Februar entlassen, tauchte er unter, arbeitete im Widerstand. Am 14. November 1933 verraten, wurde er von der SA verschleppt, von einem Gefängnis zum anderen gebracht, nichts verriet er, schließlich im Sitz der NSDAP-Gauleitung Berlin aus dem dritten Stock gestürzt. Er starb am 24. November 1933. Keine Meldung ging hinaus.

Gründgens bezahlte sein Begräbnis. Goebbels verbot jede Teilnahme.

Die Notizen zu dem Stück „HiB Gründgens“ gingen im Oktober 1995 ein in das Gedicht „Notiz 409“: „Gründgens speist mit Göring dem Jäger und Sammler / Im Keller erteilt die Geheime Staatspolizei / Dem Kommunisten Hans Otto Gesangsunterricht / ICH BIN SCHAUSPIELER KEIN VOLK sagt Hamlet / Wenn Laertes politisch wird Er seinerseits / Weiß wie man sich dreht und wendet im / Ge-

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spräch mit Mördern aus Liebe zur Kunst / ICH DENKE EINEN SCHLAF ZU TUN / War das letzte was man ihm gehört hat“. (Warten auf der Gegenschräge, 376f.) In Manila nahm sich Gründgens am 7. Oktober 1963 das Leben.

An einer Wand des Direktionszimmers von Heiner Müller hing 1995 ein Blatt mit einem großen „G“, die Mahnung an sein Stück „HiB – Gründgens“, es nach „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“ zu realisieren. „Hamlet“ überspannt den Einsatz von Heiner Müller vom Anfang bis zum Ende, seine Erfahrung in der Konfrontation mit der Macht, sich seinen Raum schaffend.

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Die Rückkehr der Sprache 1945.

Was er hörte, in Waren/Müritz bis 1947, in Frankenberg bis 1950, in Berlin seit 1950 – sein Auftrag „Die Zeit nach dem Krieg war ziemlich wüst, aber auch intensiv.“ (W 9, 35) Heiner Müller erfuhr die Herausforderung, die den Menschen gestellt war ihren Weg zu finden, und an ihn selbst, ihren Stimmen den Raum zu schaffen, zu hören im Theater von einem anderen Kollektiv im Gegenüber. Diese ganze Zeit war der Grundstock für mindestens zwanzig Jahre meiner Arbeit.“ (W 9, 37 )1947 wurde sein Vater Bürgermeister in Frankenberg, suchte dort das Aufeinandertreffen der Interessen der sozialen Schichten, konfrontiert mit den Maßnahmen der Partei, zu ordnen. Der Sohn las Freuds „Traumdeutung“, begann Träume aufzuzeichnen: „Die ganze Anstrengung des Schreibens ist“, bezeugte er später, „die Qualität der eigenen Träume zu erreichen, auch die Unabhängigkeit von Interpretation.“ Eine Freiheit zu gewinnen gegenüber der Politik. Der Versuch des Vaters auszugleichen gelang nicht. Ein Prozess kam auf ihn zu.

Er ging in den Westen, der Sohn ging nach Berlin. Er suchte erneut die Menschen, die Nächte in den Kneipen, die sie brauchten, mit ihren Kriegserlebnissen, was sie geworden waren, in ihrem Sich-Einfinden in die neue Ordnung und wie im Verweigern, im Suchen, im Reden-Müssen. Er hörte, was die Menschen durchlebt hatten, was sie brauchten, er brauchte sie, um ihnen

im Theater eine Öffentlichkeit zu verschaffen, eine Stimme zu geben, die er durch sie finden konnte. Seine Texte sind eine Rückgabe an die, deren Berichte er gehört hatte. Ihr Zeugnis eine Weitergabe als Prosa, Gedicht, Szene, freigelegt in der Form, gewonnen aus dem innewohnenden Rhythmus, dem Stocken, die Sprache nicht finden, dem in der Verweigerung zu Hörende. Geschult durch die Kenntnis der Dichter und Schriftsteller in der Bibliothek seines Vaters, herausgefordert durch Autoren, die nach dem Krieg auf ihn zukamen. Gegenüber Bertolt Brecht: er sah von ihm inszeniert „Der Hofmeister“, der Weg war gefunden, las das „Vorspiel zur Antigone“, imaginiert die Szene in Berlin am Ende des Krieges, und schrieb „Das Laken“, eine Szene real im Keller, Berlin, zur der gleichen Zeit, die er erlebt hat.“ Zwei Seiten. Seine Sprache hatte er gefunden, seine Texte ein Vermächtnis: zu hören, zu entdecken zu anderer Zeit. Konstitutionen, keine Dokumente. Freigelegt seelische Felder der einzelnen im Gegenüber.

Material für eine erneute Selbstbefragung.

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Das erste Stück 1957 „Der Lohndrücker“, dessen Offenlegung in der Inszenierung 1988 Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 wurde die Entstalinisierung beschlossen. Die SED-Führung suchte herausgefordert ihren Weg. In dieser verunsichert sich öffnen müssenden Situation entschlossen sich Heiner und Inge, er hängte eine kurze versöhnliche 15. Szene an, aus dem allseits bekannten Einsatz von Hans Garbe, der Reparatur eines im Betrieb befindlichen Ringofens im Februar 1950 ein Stück zu schreiben. Einen Versuch, Garbes Biografie folgend, hatte Bertolt Brecht hatte 1951 gemacht. Heiner und Inge Müller sprachen mit den Arbeitern. Das Stück schrieb er, wartend auf die Stimmen. Es gilt nicht dem Helden, mit 14 Stationen ein Kreuzweg, alle treten in der letzten Szene auf, das Stück gilt allen. Als er die 14. Szene schrieb, hörte er im Radio die Panzer in Budapest einfahren. Mit vielen Darzustellenden ein schmales Stück, viele Pausen, jede eine eigene Zeile: In der Findung der Worte, Setzung

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der Antwort ereignet es sich. Es wurde aufgeführt, wurde Pflichtlektüre. Heiner und Inge Müller erhielten dafür 1959 den Heinrich-Mann-Preis. 1988 inszenierte er es am Deutschen Theater, keiner wusste, warum in dieser Zeit der keinen Weg findenden DDR-Regierung. Grischa Meyer, einer seiner Mitarbeiter, berichtet von einer Probe: Die Schauspieler übergaben, hohe Schule, einander die Sätze. So nicht. Heiner Müller ließ sie die Sätze, die wie sie damals nach den Gesprächen herausgefordert durch die historische Konstellation der Handlung auf ihn zugekommen waren, immer neu erprobend, bis er sie selbst noch einmal entdeckte. Nach der halben Probenzeit legte er ihre Findung fest. Dass das Ende der DDR dem Stück eingeschrieben war, es wurde hörbar für ihn. Die 14 Stationen gelten allen.

Die Inszenierung wurde, die vierte Regie, sein Durchbruch. Er hatte die Autorschaft gegenüber den Darzustellenden an die Schauspieler weitergegeben, die Darsteller wurden die Entdecker der Darzustellenden und übergaben sie so dem Zuschauer zur Entdeckung weiter.

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Eine Europäische ­KünstlerSozietät 1990 – die Mauer war gefallen, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde rasch als eine Übernahme von Ostdeutschland durch die Bundesrepublik vollzogen.

Heiner Müller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR seit 1984, wurde von der Volkskammer im Frühjahr deren Präsidentschaft angeboten. In der Zusammensetzung mit den von der SED eingesetzten Mitgliedern war sie nicht fortzuführen.

Heiner Müller überlegte, sie in eine Europäische Künstler-Sozietät umzuwandeln, und übernahm dafür am 16. Juli das Amt. Sie sollte Raum schaffen für zwanzig westdeutsche, zwanzig ostdeutsche, sechzig ausländische Künstler. Er sprach mit den Politikern, mit Vorständen von Banken und Großindustrie über eine Finanzierung, mit Künstlern, gewann Claudio Abbado, JeanLuc Godard, Daniil Granin, Ernst Jandl, Mauricio Kagel, Jannis Kounellis, Wole Soyinka, Klaus Staeck, Wim Wenders, Robert Wilson. Jack Lang war in Paris tätig.

Für ein Künstlerforum zu der Begründung der Europäischen Künstler-Sozietät am 28./29. September 1991 schrieb er: „Die Geschichte hat die Maske der Politik abgeworfen und zeigt das eiserne Gesicht des Marktes; der Alltag fragt mit Marx und Brecht wieder: wer wen. Die Teilung Deutschlands war ein Ausdruck der Teilung der Welt, die nicht aufgehoben ist mit der Einheit Deutschlands und mit der Entspannung zwischen Ost und West.

Die große Sintflut, die Bertolt Brecht über die bürgerliche Welt hereinbrechen sah, kommt anders: als Flutwelle der implodierenden zweiten und dritten Welt, das Ende der Geschichte ist ein Wunschtraum saturierter Eliten. Auch in Europa wird das Vakuum nach dem Verlust der Feindbilder in Schwarz und Weiß durch den Fall der Mauer zunehmend zum Abgrund, in dem sich Verdrängtes und Vergessenes formiert: Nationalismen und Rassismen, ihr Nährboden der Hunger, die Demütigung durch kulturellen Imperialismus der Zentralgewalten, die Frustration im Schrott der Utopien. Die Regionen essen die Imperien, die Toten haben das letzte Wort.

Mit dem Golfkrieg ist die Erfahrung des Scheiterns wieder Allgemeingut, nicht mehr Privileg der Intellektuellen Osteuropas. Nach dem Ende der Ideologien muss der notwendige Dialog auf dem Boden der Tatsachen geführt werden. Die Kunstwerke sind das Gedächtnis der Menschheit, Gedächtnis setzt das Überleben der Gattung voraus. Sie steht zur Disposition, die Abwicklung des Planeten ist im Gange. Berlin wird als Drehscheibe zwischen Ost und West ein Ort sein, an dem Entscheidungen fallen, die nicht nur für Europa relevant sind. Deshalb die Idee einer Europäischen Sozietät in Berlin, die nicht eurozentrisch gedacht ist – einer Werkstatt der Künste, die aus dem Dialog der Akademien mit den Toten heraustreten müssen in die Zugluft der Gegenwart und des öffentlichen Denkens, gegen modische und/oder ökonomisch definierte Szenarien des Untergangs, für eine mögliche Zukunft ohne Selektion. Wir brauchen Ihre Hilfe.“ (W 8, 394f.) T

Warten auf Beckett von Max Merker und Aaron Hitz Uraufführung

Ab 21.11.25 Stadttheater Solothurn & Biel

www.tobs.ch

W – Heiner Müller, Werke 1–12, Suhrkamp Verlag HMA – Heiner Müller Archiv, Akademie der Künste Berlin

tdz.de/abo Theater der Zeit 12 / 2025

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Thema Heiner Müller

„Es führt kein andrer Weg als vorwärts / Und weil kein Ende ist, muß wieder Anfang sein“ Inge und Heiner Müller im Spiegel der Archive

Vom Ende her denken: dass Heiner Müllers Tod dem Inge Müllers nicht unähnlich war – er sei, so Adolf Dresen im Zeitzeugeninterview, auch an den Verhältnissen gestorben –, eine kompliziertere, weniger offensichtliche Art des Selbstmords. Die Schlussbilder des Filmes „Dialog mit einer Toten“ von Gabriele Conrad und Gabriele Denecke (ORB 1996), die u. a. mithilfe der Stimmen von Adolf Dresen, B. K. und Christa Tragelehn, Bernd und Wolfgang Müller sowie Richard Pietraß ein Porträt der Autorin Inge Müller nachzeichnen, zeigen eines der wenigen, bekannten Bilder des Paares: Inge und Heiner Müller auf dem noch gefrorenen Eis des Lehnitzsees, er fasst sie am Arm, gibt ihr Halt, und es wird überblendet mit immer stärker werdendem Regen, der die Oberfläche des Bildes aufweicht und am Ende auf das ­ ­Seewasser einprasselt. Das Eis, auf dem sich die beiden bewegen, ist immer noch dünn – ähnlich wie die Rezeption zu den beiden beziehungsweise zu Inge Müller, die erst zwei Jahrzehnte nach ihrem Selbstmord am 1. Juni 1966 einsetzte.

Der hundertste Geburtstag von Inge Müller am 13. März 2025 hat immerhin für so viel Aufmerksamkeit gesorgt, dass nun auch die letzten Exemplare der wenigen, sämtlich nicht mehr lieferbaren Ausgaben Inge Müllers antiquarisch zu Höchstpreisen gehandelt werden, darunter die erste breitere Textauswahl von Ines Geipel „Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn“ 1996 (zum dreißigsten Todestag) – Inge Müller in Reutlingen, zu Besuch bei Heiner Müllers Eltern

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Foto links privat, rechts picture alliance / SZ Photo | Brigitte Friedrich

Von Kristin Schulz

Thema Heiner Müller eine Nachauflage der bisher umfangreichsten Werkausgabe „Daß ich nicht ersticke am Leisesein“, 2002 von Sonja Hilzinger herausgegeben, hat der Aufbau Verlag abgelehnt, auch die beiden Biografien von Ines Geipel und Sonja Hilzinger sind vergriffen. Damit kann von Sichtbarkeit in ihrem Fall keine Rede mehr sein, und der Gang in die Archive und damit Ausgrabungsarbeit (aus der erlebten und wiederholten Verschüttung) steht an.

Und auch wenn die nun beiderseits vollständig erschlossenen Archive Inge und Heiner Müllers an der Akademie der Künste nicht auf alle offenen Fragen Antworten liefern können, offenbaren sie doch zwei Nachlässe, die eng miteinander verwoben sind. Sucht man nach wechselseitigen Spuren des einen im Nachlass der anderen (und umgekehrt), entsteht, trotz aller Lücken und Leerstellen, ein differenziertes Bild einer intensiven Liebes- und Paar­ beziehung im Schreiben wie im Leben, das die üblichen Schuldzuweisungen beziehungsweise Opfer-Täter-Kategorien hinter sich lässt, in denen die Inge- und HeinerMüller-Rezeption sich oftmals bewegt. „Wir trafen uns im Kreis / Von Schreibern und solchen dies werden wollten“, schreibt Inge Müller, acht Jahre nach Kriegsende, über die Begegnung mit Heiner Müller im Herbst 1953. Da hieß sie noch Ingeborg Schwenkner, war in zweiter Ehe verheiratet mit dem Direktor des Friedrichstadtpalasts Herbert Schwenkner (einen Sohn, Bernd, hatte sie aus erster Ehe mitgebracht) und gerade dabei, sich einen Namen als erfolgreiche Kinderbuchautorin zu machen – während Heiner Müller die erhoffte Aufnahme in die Schar von Brechts Meisterschülern am Berliner Ensemble verwehrt blieb und er sich mühte, als Autor in Berlin Fuß zu fassen. Ein Ungleichgewicht, das später in die Gegenrichtung kippt. Bald schon zieht er nach Lehnitz ins Haus der Schwenkners und die jeweils bestehenden Ehen werden geschieden, sodass Inge und Heiner (ein „Traumpaar“, urteilen die Freund:innen) einander am 4. Juni 1955 heiraten können.

Der passende Antrag Heiner Müllers dazu findet sich: „Icke hab dir lieb, du dofe dusslige dämliche / varükte, kaliebtige ­ särtlige süße bleede – / Icke will, daß meine

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Tuppa ­Müller heißt / sonst will ick Meyer heißen.“ (IMA 333 – Tuppa war der gegenseitige Spitzname füreinander, der auch den Bruder Heiner Müllers, Wolfgang, mit einschloss.) Und er steht auf einem Blatt mit mehreren Entwürfen eines Gedichts von Inge Müller: „Im Garten im dichten Buchengeäst / Sah ich im Frühjahr ein Vogelnest, / Darin eine Amsel, die brütete still. / Ich sah sie an, blieb lange stehn, / Und dachte dann im Weitergehn, / Daß ich ihr helfen will.“ (ebd.)

Solche Blätter sind kein Einzelfall, nicht nur gegenseitige Korrekturvorschläge, Ergänzungen oder auch Abschriften von Texten des jeweils anderen lassen sich in ihren Archiven finden, sondern etliche Manuskript- oder Typoskriptblätter weisen neben Textentwürfen zudem Spuren einer beziehungsreichen Alltags- und Liebeskommunikation auf: einander ge­widmete Kurznachrichten, Gutscheine (für nicht gleich verfügbare Mangelwaren wie Stiefel oder Handschuhe, Rad oder Föhn), Versgeschenke (zum Begegnungsjubiläum) neben Wochen- beziehungsweise Arbeitsplänen („Tuppa helfen!“ – notiert Inge Müller), To-do- oder Besorgungslisten etc. sind dabei keine Seltenheit und überwiegen das Format klassischer Briefe. Heiner Müllers immer wieder aufgeschobener und über mehrere Jahre verfasster „Neujahrsbrief 1963“ an seinen Vater lässt sich in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch lesen – er war, anders als Inge Müller,

kein Briefeschreiber, nur wenige Einzel­ fälle aneinander adressierter Briefe sind in den beiden Archiven überliefert. Dafür berichtet der Sohn Bernd (1996 im Zeitzeugeninterview) von einer großen Liebe der beiden und ihrer gelebten Nähe im Alltag – kein Spaziergang, ohne dass die beiden nicht einander einen Stein, einen Zweig o. Ä. mitbrachten und hinlegten.

Und selbst das Tagebuch, das Inge Müller bei ihrem Krankenhausaufenthalt im Herbst 1957 beginnt („Es ist doch nützlich, Tagebuch zu schreiben. Ich habe im Krankenhaus wieder angefangen: Gedächtnisstütze. Mein schlechtes Gedächtnis macht mir immer mehr und immer ernsthaftere Sorgen. Liegt es an der Krankheit und ist also zu heilen? Oder ist es Schlimmeres? Tagebuch wird auf jeden Fall nicht schaden. Heiner wird – trotz Erwägungen – doch keins führen. Schon deshalb wichtig.“), wird von Heiner Müller als Arbeits- und Notizheft nach der Mitte weitergeführt – er übernimmt, setzt fort beziehungsweise neu an, kennt damit mutmaßlich auch den Beginn, selbst wenn er sich nicht unmittelbar darauf bezieht.

Partnerfragebogen Ein interessantes Dokument aus dem Archiv ist ein selbsterdachter Fragebogen (IMA 859), in dem beide – mit Zahlen­ werten von 5 (ja)/1 (nein) – auf dieselben Fragekategorien antworten: „Halten Sie Ihre Frau/Ihren Mann für schön/interessant/geistreich/klug/intelligent/naiv/ berechnend […]“ etc. Auf der ersten Seite überwiegen Antworten mit jeweils der gleichen höchsten beziehungsweise niedrigsten Punktzahl – Abweichungen betreffen die Kategorien „charakterstark“ und „energisch“: Heiner Müller vergibt beide Male 5 Punkte für sie, sie nur 2–3 für ihn (identisch bei „unbedingt andere Männer beeindruckend“: Er vergibt 5, sie 2–3 Punkte). Ebenso bekommt sie bei den Kategorien „eine ausgezeichnete Hausfrau“, „umsichtig, gut sorgend“ sowie „fleißig, beharrlich“ von ihm 5, er von ihr nur 2–3 Punkte attestiert. Ablesbar ist weiterhin, dass sie beide einander sowohl für „Ihren besten Freund u. Kameraden“ als auch „Ihr Ideal“ und „Ihre Geliebte“ (jeweils 5 Punk-

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Thema Heiner Müller Erst nach ihrem Tod beginnt seine Abwehr der Gedichte (wie auch das Minimieren ihres Anteils an den Stücken). te) halten und nicht für „treulos“, „flatterhaft, unbeständig“ beziehungsweise „ein amüsantes Spielzeug“ (jeweils 1), sondern für „unbedingt zuverlässig“ (jeweils 5).

Aufschlussreich ist auch die Rückseite des Blattes, denn hier ergänzen beide drei zusätzliche individuelle Eigenschaften beziehungsweise formulieren Wünsche: Heiner Müller hält Inge Müller für „einfühlig, verständnisvoll 5 / unentbehrlich 5 / Dynamo 5“. Inge Müller hält Heiner Müller für einen „‚ganz zarten, ernsthaften Spielkameraden‘ (wie man ihn sich mit 4 Jahren wünscht) 5 / genialen Pöten 5 /anpassungsfähig/rücksichtsvoll 5“. Seine Wünsche sind: „Die Erkenntnis (u. Praktizierung), daß, was sie möchte, daß ich täte, ich auch will, nur Bestätigung brauche / 2 Abgewöhnen v. Angst, mich zu ‚beeinflussen‘ / Daß sie sich nichts draus macht + und nicht ernst nimmt, wenn ich, wenn sie mir ‚erzieht‘, erst pubertätlich reagiere. / Daß sie, wenn sie nervös ist, Mimosigkeit richtig versteht“.

Inge Müller wünscht sich: „Daß Du über Brecht ‚erhaben‘ bist / daß Du stolz auf Deinen Namen bist / daß Du verstehst, daß ich wenn ich ärgerlich oder empfindlich bin weißt, daß ich Dich nicht schlechter behandle als ‚Max‘, sondern besser! / keine Angst mehr vor unsrer Musik hast“.

Kriegstrauma Inge Müller als „Dynamo“ ihres Mannes, als „unentbehrlich“, die ihn auch „erzieht“, ähnlich beschreiben auch die Zeitzeugen im Film wie Richard Pietraß Inge als „Motor der Müller’schen Eisenbahn“ – passend zu ihrer Fragebogeneinschätzung, dass es Heiner Müller an Beharrlichkeit sowie Fleiß und Antrieb eher mangele. Interessant ist auch, dass Inge Müller Heiner Müllers Schreiben thematisiert (genialer Poet!) und ihn in ihrem Glauben an sich (jenseits und unabhängig von Brecht) bestärkt, während ihr Schreiben inhaltlich keine Erwähnung findet. Dabei ist es das, was ihr als einzige

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Zuflucht bleibt, als Heiner Müller spätestens mit der Arbeit an dem Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ beginnt, die enge Arbeits- und Produktionsgemeinschaft (u. a. bei den Stücken und Hörspielen „Der Lohndrücker“, „Die Korrektur“, „Klettwitzer Bericht“) mit ihr zugunsten B. K. Tragelehns aufzulösen.

Am Anfang ist sie es noch, die ihm hilfereichend die Hand entgegenstreckt, ins Bild gefasst in dem frühen, gemeinsam verfassten Gedicht „Da ist die Brücke“: „1 Und ich seh dich gehen Über die Planken aus Holz. Drei fehlen in der Mitte.

Ich reiche dir die Hand Und du siehst sie nicht. […]

I. S. 2 Ins Wasser blickend sah ich Deine Augen, die mich suchten. Da Fand ich mich. Und ich fürchtete den Wind Nicht mehr. Er trägt uns Die sich an den Händen halten.

H. M. Das ist keine lyrische Höchstform, eher eine Art Bekenntnis. „Da / Fand ich mich“ – Inge Müller wird sich später diesen ein­ fachen Vers Heiner Müllers (und damit das Ende der Suche) auf ihre Art anverwandeln: „TRÜMMER 45 Da fand ich mich Und band mich in ein Tuch: Ein Knochen für Mama Ein Knochen für Papa Einen ins Buch.“ Knapper (und aufs Wesentliche reduziert) lassen sich (Kriegs-)Trauma und Fassung kaum ins Bild setzen. Doch auch Heiner Müller hört nicht auf nachzuhaken: Ein Briefgedicht, handschriftlich datiert auf September 1962, lautet: „FRAGEN EINES TUPPALESERS 1 Wer hat gegessen vom blutigen Teller?

Wie lang war die Nacht im Bombenkeller?

Wieviel Tote stecken in unserer Haut?

Was kostet der Schweiß, der die Häuser baut?“ Rechts unten notierte er dazu: „b. w.“ und auf der Rückseite: „will ich wissen / T.“ (IMA 358)

Hier offenbart sich Heiner Müller als Leser von Inge Müllers Gedichten, und zudem als einer, der in den Dialog mit ihren Texten tritt und Fragen stellt, die (durch das Briefformat beziehungsweise den Nachsatz verstärkt) sich nicht rhetorisch, sondern als dringliche lesen lassen.

Erst nach ihrem Tod beginnt seine Abwehr der Gedichte (wie auch das Minimieren ihres Anteils an den frühen, gemeinsam geschriebenen Stücken), beispielsweise wenn Heiner Müller über Inge Müllers Gedichte für eine geplante erste Ausgabe 1968 schreibt: „[M]anche waren mir fremd, einige ärgerlich, verstanden habe ich viele erst nach dem freiwilligen Tod der Frau, die sie geschrieben hat in dreizehn Jahren neben mir.“ Zu Lebzeiten hinterlegt er ihr (und sie notiert als Datum den 2. November 1964 darunter): „Für T. Dein Leben ist kein Gedicht Dein Gedicht ist dein Leben.

T.“ (IMA 358) Und in einer längeren Variante ergänzt er die ersten beiden Verse um zwei weitere: „… / Die andern habens nicht / Du mußts ihnen geben.“ (vgl. HMA 3712) Auch Heiner Müller selbst offenbart sich das lyrische Schreiben am Ende seines Lebens als einzig geeignete Form der Darstellung, wenn die Dramen längst schon geschriebene sind: „MÜLLER SIE SIND KEIN POETISCHER GEGENSTAND / SCHREIBEN SIE PROSA Meine Scham braucht mein Gedicht“. Eine Annäherung auch an Inge Müller und ein aufrechterhaltener beziehungsweise nie ganz abgebrochener Dialog. „Mit einem Menschen leben heißt ihn vergessen bis der Tod der ihn auslöscht ihn ins Gedächtnis ruft.“ (Heiner Müller) T Kristin Schulz erarbeitet derzeit eine umfangreiche Edition von Texten und Materialien Inge und Heiner Müllers, die im Herbst 2028 im Suhrkamp Verlag erscheinen wird.

(Das Titelzitat stammt aus einem Gedicht von Inge Müller.)

IMA = Inge Müller Archiv, Akademie der Künste, Berlin; HMA = Heiner-Müller-Archiv, Akademie der Künste, Berlin

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Foto Joanna Hogg

Akteure

Still from Joanna Hogg’s Flat 19, 2025. Commissioned by Eye Filmmuseum, co-produced by Onassis Stegi

Kunstinsert Tilda Swintons vielfältiges Werk ist in Amsterdam zu sehen Porträt Das Geschichtstheater der Autorin und Regisseurin Carolin Millner

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Akteure Kunstinsert

Tilda Swinton photographed by Casper Sejersen, 2023

Eine Reibung mit der Gegenwart Tilda Swinton reflektiert ihr vielfältiges Werk in der Amsterdamer Ausstellung „Ongoing“ Von Volker Gebhart

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Foto links Casper Sejersen, rechts oben Tim Walker, unten Luca Guadagnino

Tilda Swinton, Fashion: Yves Saint Laurent, Reykjavik, 2011

Still from Luca Guadagnino’s „Camaraderie“, 2025. ­Commissioned by Eye Filmmuseum, co-produced by Onassis Stegi

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Tilda Swinton photographed by Ruediger Glatz, 2024

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Foto links oben Jacqueline Lucas Palmer, unten Ruediger Glatz, rechts Tim Walker

Tilda Swinton photographed by Jacqueline Lucas Palmer, 1991

Tilda Swinton mist falling, Scotland, 2025

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Tilda Swinton photographed by Brigitte Lacombe

„Tilda Swinton – Ongoing“ ist eine Ausstellung von wichtigen Kollaborationen der Schauspielerin. Die 65-jährige Schottin hat die Schau im Dialog mit ihren künstlerischen Partner:innen sowie dem Team des Eye Filmmuseums in Amsterdam konzipiert. „Tilda Swinton – Ongoing“ ist bis zum 8. Februar im Eye Filmmuseum in Amsterdam zu sehen.

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tesy Basilisk Communications Limited, with thanks to BFI National Archive

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Zuerst geht einmal die Orientierung verloren: Tilda Swinton fletscht als Vampir blutrote Zähne. Im nächsten Moment fuchtelt sie mit einem Schwert herum, dann wird sie selbst mit einem Gewehr bedroht. Swinton räkelt sich als Liebende im Bett, um schließlich, der ultimative Schluss, als Alien in ein Raumschiff gebeamt zu werden: In 2 Minuten und 28 Sekunden und mithilfe zahlloser Schnitte rast der Showreel-Clip, der zu Ehren Swintons zur 75. Berlinale erstellt wurde, durch das filmische Werk der schottischen Schauspielerin. Mit dieser ersten Arbeit stellt sich im Eingangsbereich der Ausstellung „Tilda Swinton – Ongoing“ zunächst einmal die Befürchtung ein, dass diese Schau keine neuen Einsichten oder eben Orientierung bringen wird. Dann erfolgt genau das Gegenteil im ersten Raum: Drei Sequenzen aus Filmen von Derek Jarman präsentieren Swinton hier als intensive und kompromisslose Performerin.

In den ausgewählten Arbeiten von Jarman, darunter zwei Zusammenschnitte von bisher nicht gezeigten Materialien, lassen sich Themen und Motive erkennen, die so etwas wie den Anfang für einen roten Faden spinnen, um das Werk von Swinton zu erfassen. Zunächst ist da eine in Endlosschleife gezeigte Szene, in der Swinton mit blauem Kopftuch und Ruß im Gesicht eine Leiter durchs Bild trägt. Erschöpft schlägt sie dabei einmal ihre Hand vors Gesicht. Dann rauscht sie sofort wieder mit der Leiter durchs Bild. So als hätte diese endlose Stufen. Als ginge es einfach immer weiter. „Ongoing“ ist passend dazu der Titel der Ausstellung zu Swintons Werk im Eye Filmmuseum Amsterdam.

Thematisch fokussiert sich die Schau auf wesentliche Kollaborationen von Swinton und teilt diese in Stationen ein. Zu den ausgewählten Partner:innen zählen neben Jarman die Filme­ macher:innen Joanna Hogg, Apichatpong Weerasethakul, Jim Jarmusch, Luca Guadagnino und Pedro Almodóvar sowie FashionHistoriker und Kurator Olivier Saillard, Maler Sandro Kopp und Fotograf Tim Walker. Der britische Künstler Jarman (1942–94), der vor allem als Filmemacher bekannt ist, aber auch z. B. als Bühnenbilder gearbeitet hat, wird dabei ohne Überraschung als der zentrale künstlerische Kollaborateur Swintons positioniert: Immer wieder wird Jarman, bei dem Swinton in neun Jahren in neun Filmen gespielt hat, an den einzelnen Stationen referenziert und führt die Ausstellung auf ihn als fundamentalen Einfluss zurück.

Auf der Rückseite der Leinwand mit der Leiterszene wälzt sich Swinton in „Timeslip“ (Super 8 aus 1998, transferiert auf Video: 2025) in einer Landschaft aus Steinen. Die Schauspielerin kämpft gegen sich selbst, dann geht sie in die Konfrontation mit etwas Unsichtbaren. Die Steine werden zum Geschoss, das Herumrollen geht in Tanz über, in Angriffslust, Leidenschaft, auch Genuss. Über das Feld dahinter in Brauntönen ziehen Rauchschwaden, die an Gemälde von Anselm Kiefer erinnern. Die Anordnung der Projektionen findet dabei einen nahtlosen Übergang zur dritten Installation: Swinton versucht sich dort wiederum gegen einen unbekannten Widerstand mit einer großen Schere, dann mit den Zähnen von ihrem Kleid zu befreien. Ihre langen Haare fliegen im Wind dazwischen.

Das Porträt ihres Gesichts zeigt sie schließlich in meditativer Pose, in der Reflexion und Erkundung. Jarman hat sie für seinen Film „The Last of England“ (1987) bei dem Versuch festgehalten, einen tiefer­

Foto links oben Still from Apichatpong Weerasethakul’s double-channel video installation Phantoms, 2025. Commissioned by Eye Filmmuseum, co-produced by Onassis Stegi. © Apichatpong Weerasethakul, Kick the Machine, unten Brigitte Lacombe, rechts Cour-

Akteure Kunstinsert

Akteure Kunstinsert gehenden Sinn zu ergründen, etwas herauszuspüren. Dieses Motiv des Erkundens und der tiefen Reflexion stellt sich dann im Verlauf als ein wiederkehrendes Motiv der Ausstellung heraus. Nichts weniger als die großen Fragen um Leben, Liebe, Leidenschaft, Trennung, Identität, Zeit, Spiritualität und Tod werden hier verhandelt. Da macht es Sinn, dass Regisseurin Joanna Hogg auch das Augenmerk auf Räume und Orte, Stationen im Leben, die eine wichtige Rolle für Swinton gespielt haben, und damit auf ihre Herkunft, lenkt. „Flat 19“ (2025) ist Hoggs detailgetreue Rekonstruktion einer Wohnung in der Nähe von Londons King’s Road, in die Swinton 1983 einzog. Wer eintritt und im lang gezogenen Flur den Hörer der Gegensprechanlage abhebt, hat unmittelbar Swinton am Apparat. In einer Aufzeichnung berichtet sie aus dieser Phase ihres Lebens. Sie erinnert sich, wie sie zum ersten Mal hier reingekommen ist, wie sie alle ihre Sachen einfach hat auf den Boden fallen lassen. Wie die Einsamkeit ihr gut getan hat und sie sich in diesen Räumen entfalten konnte. Hogg hat Flat 19 mit so viel Liebe zum Detail nachempfunden, dass dieser Abschnitt spürbar wird und die gemütliche Atmosphäre einer WG in den 1980ern echt wirkt. Das Interieur vom hellbraunen Teppich, der Flecken aufweist, bis hin zu den dreipoligen Steckdosen und dazu die viktorianisch a­ nmutende Fassade – all das wirkt stimmig und versetzt die Besucher:innen für den Moment nicht nur von Amsterdam nach London: Sie erkunden den Wohnraum, der über 15 Jahre Swintons Zuhause bildete.

Auf Tuchfühlung mit ihrer Vergangenheit geht Swinton selbst im Beitrag „Phantoms“ (2025) des Filmemachers Weerasethakul. Er folgt ihr dabei mit der Kamera in das Haus ihrer Familie in Schottland. Swinton ist hier ausschließlich von hinten zu sehen, es geht nicht darum, sie zu sehen, sondern darum, wie sie diese Erkundung angeht und was sie sieht. „Das Haus hat mehr Räume als in meiner Erinnerung“, stellt sie gleich zu Beginn ihrer Spurensuche fest. Mit großer Vorsicht begutachtet sie dann zunächst einmal den Flur. Der Holzboden knarrt in die Stille hinein. Swinton streicht über ein Stuhlkissen im Wohnzimmer. Beim Blick aus dem Fenster sind Kühe zu sehen, eine grasgrüne Landschaft. Weerasethakul setzt immer wieder ein zweites Bild hinzu, so dass ein Splitscreen entsteht. Für einen Moment ist dann nicht mehr sicher, ob hier tatsächlich noch der Blick durchs Fenster mit einem Baum zu sehen ist oder ob es sich dabei um ein Gemälde handelt. Dann fällt Gegenlicht durch einen Vorhang in den Raum. Wenngleich hier eigentlich alles deutlich sichtbar bleibt, verschwimmt dennoch geisterhaft die Wahrnehmung.

In Anlehnung an Jean Cocteaus Theaterstück „The Human Voice“ (1930) entstand Pedro Almodóvars gleichnamiger Beitrag zur Ausstellung im Jahr 2020. Hierbei handelt es sich um einen visuell hoch stilisierten Kurzfilm, der mit seinem symbolhaften Einsatz der Farbe Rot an Jean-Luc Godard erinnert. Swinton spielt darin eine Frau, die nach dem Verlassenwerden durch ihren Partner den Boden unter den Füßen verliert und zu drastischen Mitteln greift. Sie spielt diese Figur und deren Kontrollverlust mit großer Theatralik und hoher Intensität – oftmals so, als würde sie nicht vor der Kamera stehen, sondern als ob sie sich auf einer großen Bühne behaupten müsste. Bei Almodóvar endet die Geschichte dann auch noch drastischer als bei Cocteau. „Ich muss lernen, in Gesprächen mit dir einzuhängen“, spricht Swinton ins Telefon.

Theater der Zeit 12 / 2025

Swinton und dem Eye-Team gelingt im Filmmuseum so etwas wie eine große Retrospektive mit Zugriff auf die Gegenwart.

Derek Jarman, „Timeslip“, 1988/2025. Super8 transferred to video, 4 min., 9.07 min. Filmed in Dungeness, Kent, by Derek Jarman

Zeit wird es. Das Haus hat sie bereits in Flammen gesetzt und die Flammen rücken langsam näher.

Swinton und dem Eye-Team gelingt im Filmmuseum so etwas wie eine große Retrospektive mit Zugriff auf die Gegenwart. „Ongoing“ betrachtet Swintons gesamtes Werk. In der Tat funktioniert sie nicht nur als Rückschau: Die Ausstellung arbeitet Swintons Werk auf Grundlage des fortwährenden Dialogs mit ihren künstlerischen Partner:innen neu heraus. Dabei reibt sie sich mit der Gegenwart und macht Swintons Facettenreichtum deutlicher und greifbarer.

Nach Abschluss der Ausstellung kehrt sie auch wieder auf die Bühne zurück: Das Royal Court Theatre in London nimmt das vormals mit Swinton 1987 englisch erstaufgeführte Stück „Man to Man“ („Jacke wie Hose“) von Manfred Karge am 5. September 2026 neu auf. Swinton spielt darin die Witwe Ella, die in der NSZeit aus der Not heraus die Identität und die Arbeit ihres verstorbenen Mannes Max annimmt. Die Produktion gastiert zu einem späteren Zeitpunkt auch am Berliner Ensemble und in New York. T

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Akteure Porträt

„Weder Sonder- noch Einzelfall“ Das Geschichtstheater der Autorin und Regisseurin Carolin Millner

Foto links Josefine Rauch, rechts Claudia Heysel

Von Lara Wenzel

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Theater der Zeit 12 / 2025

Akteure Porträt Selten werden beim Einlass zu einem Theaterstück Taschen durchsucht. Am 9. Oktober in Halle/Saale empfangen Securitys das Publikum, denn an diesem Tag jährt sich der rechte Anschlag auf die Synagoge im Paulusviertel zum sechsten Mal. 52 Juden und Jüdinnen begingen Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feier­tag, als der Täter vergeblich versuchte, mit Schusswaffen und Sprengsätzen in das Gebäude einzudringen. Daraufhin tötete er die Passantin Jana L. und griff den Kiez-Döner an, wo er Kevin S. erschoss. „Und nächsten Mittwoch?“, eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Tat und ihrer Folgen, lädt ein, von der Straße in das Schaufenster des Neuen Theaters zu treten und mit der Erinnerungsarbeit zu beginnen. Nur von einer Glaswand vom nächtlichen Treiben getrennt verdeutlicht der Spielort die Verletzlichkeit, die viele Menschen im öffentlichen Raum jeden Tag spüren.

Der Anschlag in Halle Regisseurin und Autorin Carolin Millner hat sich in ihrer Laufbahn viele spannungsreiche Stoffe vorgenommen, aber selten liegen sie so nah wie die Tat in Halle. Die drei Schauspielerinnen Aline Bucher, Sybille Kreß und Elke Richter, die Aussagen von Überlebenden, jüdische Geschichte und zukünftiges Zusammenkommen diskutieren, sprechen aus der Position der Dominanzgesellschaft. Diese war nicht mit dem Anschlag gemeint, hat sich aber dennoch getroffen gefühlt. Ein Großteil, aber nicht alle Zuschauenden gehören ebenfalls zu den nicht-betroffenen Hallenser:innen und bringen eigene Erinnerungen und Deutungen des antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Anschlags mit in den Theatersaal, die von der Inszenierung ergänzt und hinterfragt werden. Nach dem Attentat zog sich eine Faszination für den Täter durch die Presse. Er sollte als fauliger Apfel aus der Gemeinschaft der ‚Erinnerungsweltmeister‘ ausgeschieden werden, als schreckliche Ausnahme des reflektierten Regelfalls.

Auch Halle habe sich nach dem Anschlag mehr um das Selbstbild gesorgt als um die Überlebenden, klagt eine Schauspielerin mit den Worten von Betroffenen an. Bei einer Gedenkveranstaltung habe die Stadt „Erinnerungstheater“ (Y. Michael Bodemann) gespielt, das der Dominanzgesellschaft vor allem Entlastung liefern soll – bloß keine Schuldzuweisungen, strukturelle Kritik oder Rachegefühle von Betroffenen. In diese Position lassen sich die Überlebenden jedoch nicht bringen: „Aber eines war ich nicht – überrascht. Ich war keine Sekunde lang überrascht. Für mich war Halle weder ein Sonder- noch ein Einzelfall“, wird auf der Bühne in den Worten einer Synagogenbesucherin klar­gestellt.

Vom gegenwärtigen Anschlag springt die Inszenierung hundert

Millners Inszenierungen laden zur ideologiekritischen Aufarbeitung deutschdeutscher Geschichte ein.

Theater der Zeit 12 / 2025

Szenen aus „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ von Carolin Millner nach biografischen Motiven von Julie von Cohn-Oppenheim. Regie Carolin Millner am Anhaltisches Theater Dessau

Jahre zurück, um die Kontinuität des Antisemitismus zu zeigen.

Ein Kaufhaus wird auf der kleinen Bühne aufgeklappt, die sich wie ein Polly-­Pocket-Koffer immer wieder neu entfaltet, und das ­Publikum erhält einen Einblick in die Geschichte jüdischen Handels in der Stadt. Nur wenige Meter jenseits der Theaterbühne ragt eines der ehemals jüdischen Kaufhäuser in den Himmel, das von zwei Schwestern geführt und ab 1933 arisiert wurde.

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Akteure Porträt Techniken des epischen Theaters Nie geht es in den Arbeiten Carolin Millners darum, ein heiles oder vollständiges Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Im Zusammenwirken von Ausstattung, Text und Spielweisen treten die Lücken hervor. Um genügend Distanz zu schaffen, bedient sie sich an Techniken des Epischen Theaters: „Wir spielen nicht einen Unfall nach, sondern es geht darum, dass die Spielenden die Abläufe zeigen. Dadurch entsteht Distanz“, erläutert sie. So wird das Publikum eingeladen, die eigene Denkweise und Erinnerung abzugleichen, ohne in ihr zu versinken. Einen ähnlichen Prozess durchläuft auch das Team, mit dem sie ihre anspruchsvollen Produktionen erarbeitet. Während der Probenzeit in Halle besuchte sie mit den Schauspielerinnen die angegriffene Synagoge und schaute „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ von Konrad Wolf, um sich Thema und Schauspieltechnik anzunähern. Der DEFA-Film verfolgt in ruhigem Takt die große

„Das blaue Halstuch“, Autofiktionales Musiktheaterstück von Klaus Wirbitzky. Regie und Textbearbeitung Carolin Millner am Theater im Palais, Berlin

Die historischen Schichten aus Enteignung und Gewalt spiegeln sich im Kostüm von Maylin Habig. Ihre Entwürfe schieben Schwarz-Weiß-Fotografien von Plattenbauten, Skulpturen an der Giebichensteinbrücke von Gerhard Marcks, dessen Werke später als ‚entartete Kunst‘ diffamiert wurden, und Touristenattraktionen der sachsen-anhaltinischen Stadt ineinander. Auch in „Was bleibt. Das Leben der Familie Cohn“ arbeiteten Bühnen- und Kostümbildnerin Maylin Habig und Millner gemeinsam an der Aufarbeitung deutscher Geschichte. Der Bauplan der Villa Cohn, die inzwischen nicht mehr existiert, zeichnet sich auch hier als Architektur der Vergangenheit auf den Kostümen ab. Am Theater Dessau machen sie mit Briefen von der Jüdin und Wohltäterin Julie von Cohn-Oppenheim und der Stadtkarte, die das arme jüdische Ghetto und ein bürgerliches Viertel unterschied, eine Topografie der Erinnerung begehbar.

Im Verbund mit Bühnen- und Kostümbildner Nils Wildegans arbeiten die drei als „Eleganz aus Reflex“ die neuere und fernere deutsch-deutsche Geschichte in dichten Textcollagen auf. Dabei halten sich theoretisch angereicherte Analysen die Waage mit Gesten des Alltags. „Wie schaffe ich das, in einer Alltagsszene, beim Kaffeetrinken oder Ankleiden, größere gesellschaftstheoretische Themen einzubinden?“, fragt sich Millner beim Inszenieren historischer Stoffe. In „Das blaue Halstuch“, einem autofiktionalen Musiktheaterstück von Klaus Wirbitzky über das Aufwachsen im geteilten Berlin, sind es die alltäglichen Handlungen – Neptun-Fest feiern, Orient-Zigaretten rauchen und heimlich RIAS hören –, die eine genaue Beobachtung des Vergangenen erlauben. „Ich versuche, die Stoffe in einer Alltagspoesie zu verhandeln, so dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sich vorstellen können, diesen Raum mit uns zu teilen und an dieser Verhandlung teilzunehmen“, erklärt sie.

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Szenen aus „ERINNERN ist Heimat, Kapitel I: Und nächsten Mittwoch?“, Auftakt der Theaterreihe zur jüngeren Zeitgeschichte.

Regie Carolin Millner an den Bühnen Halle

Theater der Zeit 12 / 2025

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Ihre Inszenierungen können der Anstoß sein, sich mit den eigenen Denkmustern, der Familien- und Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen.

Katalog Bühne

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Foto links oben Ildiko Bognar. unten Anna Kolata

NEUHEITEN Frage, welche Rolle Kunst für ihre Umwelt spielen sollte und wie sie an die Shoah erinnern kann. Millners Arbeiten über jüdische Geschichte vor und nach 1933 sind geprägt von dieser Problemstellung.

Je nachdem, wie viel Zeit verstrichen ist, variiert die Herangehensweise der Regisseurin. In Halle schien es ihr unmöglich, eine Erzählung über die vor sechs Jahren Ermordeten zu dichten, die das Stück zusammenhält. Mit 150 Jahren Abstand zur Biografie der Familie Cohn lässt sie sich größere Freiheiten und spinnt Handlungsbögen, die von Einschüben zur Gegenwart des Antisemitismus unterbrochen werden. Als Nicht-Jüdin sucht sie sich Hilfe bei Bildungsvereinen, der jüdischen Gemeinde vor Ort und Sensitivity Readings, um den richtigen Ton zu treffen. Dabei tun sich unerwartete Stolperfallen auf: „Manchmal macht man sich Gedanken um etwas, wo die Betroffenen denken, das ist eigentlich Pillepalle. Dann gibt es Sachen, die ich gar nicht auf dem Schirm habe. Z. B. wollte ich mal eine Sirene einbauen und mir wurde erzählt, dass das viele Israelis triggern würde.“Aus einem Millner-Abend tritt man nicht beschwingt in die Nacht.

Für Unterhaltungstheater gibt es andere Anlaufstellen: „Bettina Wegner wurde mal gefragt, warum sie keine lustigen Lieder schreibt. Sie antwortete: ‚Wir leben im Zeitalter der Arbeitsteilung. Es gibt genug, die das tun.‘ Das denke ich zu meiner Theaterarbeit auch. Es gibt genügend Inszenierungen, die etwas ganz anderes machen. Ich fände es schön, durch die Distanz das Publikum zu berühren und zum Nachdenken zu bringen.“ Anzuerkennen, dass man in einer strukturell antisemitischen und rassistischen Welt lebt und das auch verinnerlicht hat, ist kein angenehmer Prozess. Millners Inszenierungen laden zur ideologiekritischen Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte ein.

Für Ostalgie, Schlussstrichdebatten und Erinnerungstheater bleibt kein Platz auf der Bühne. Kritik versteht sie als Voraussetzung für eine zukünftige Gemeinschaft, die in Liedern und der musikalischen Begleitung von Florian Hein zeitweilig anklingen.

So versammelt sich das Publikum zu Beginn von „Und nächsten Mittwoch?“ im Halbkreis auf der Straße und wird angeleitet, das Lieblingslied von Jana L. anzustimmen. In Halle steckt es schon im Titel, es gilt aber für alle Millner-Produktionen. Weder ihre künstlerische Arbeit noch die, die sie vom Publikum erwartet, ist mit einem Lied oder einer Aufführung abgeschlossen. Ihre Inszenierungen können der Anstoß sein, sich mit den eigenen Denkmustern, der Familien- und Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen, die uns tagtäglich umgibt. Erst wenn die eigene Schuld in die Erinnerung integriert ist, können gemeinsame Zukünfte denkbar werden. T

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Stück Gespräch

„GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen“ von Gerhild Steinbuch. Regie Nina Mattenklotz, Bühne Eva Lillian Wagner, Kostüme Therese Witt. Ein Auftragswerk für das Theater Konstanz

Das Erdrutschgefühl im Text einfangen

Foto Ilja Mess

Gerhild Steinbuch im Gespräch über das Stück „Glaube Liebe Hoffnung. Leistung muss sich leider lohnen“ mit Elisabeth Maier

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Theater der Zeit 12 / 2025

Stück Gespräch Ein rechtsradikaler Kanzler kommt an die Macht. Das Szenario ist in vielen Ländern auf der Welt Wirklichkeit. Die Dramatikerin Gerhild Steinbuch untersucht in ihrem Auftragswerk für das Theater Konstanz, was diese politische Entwicklung mit den Menschen macht. Das Thema ist hoch aktuell. Da wird ein Rechtsextremer Kanzler.

Wie habt Ihr das Thema gefunden und entwickelt?

GERHILD STEINBUCH: Seit Langem beschäftigt mich die Erosion der Demokratie. Als die Anfrage für den Stück­ auftrag kam, war dieses Thema präsenter denn je. Denn damals sah es so aus, als ob die rechtsextreme FPÖ in Österreich die Regierung bilden und den Kanzler stellen könnte. Wir sind dann ziemlich schnell auf „Glaube Liebe Hoffnung“ als Referenz gekommen. Auch das Format eines Roadtrips hat sich angeboten, der Versuch, raus aus allem zu kommen, mit der offenen Frage, ob und wie das gelingen kann.

Die Kunst in deinem Stück ist jedoch gerade, dass die aktuellen Themen zwar mitschwingen. Dennoch weist das Stück über seine Zeit hinaus. War das beabsichtigt?

GS Beim Schreiben wollte ich der Frage nachgehen: Wie drückt sich der Zerfall der Demokratie konkret aus? Das war herausfordernd, weil die Entwicklungen ja über Deutschland und Österreich hinausweisen. Ich wollte, dass man diesen internationalen Referenzraum im Text mitliest, während man gleichzeitig Figuren durch eine ganz konkrete Welt folgt und den Abbau der Demokratie mit ihnen erlebt: im Sozialbereich, im Journalismus, im Bildungssystem. Das beschäftigt mich auch im Rahmen der Vielen und des Kollektivs Nazis & Goldmund, im Austausch mit Kolleg:innen aus Deutschland, Österreich, aber auch der Slowakei und Ungarn.

Die dort teils schleichende, teils radikal stattfindende Aushöhlung der Demokratie und ihren Werten ist ein Problem, vor dem kein Land gefeit ist. Dieses „Erdrutsch­ gefühl“ wollte ich im Text einfangen.

Im Text geht es darum, wie sich die Narrative verändern. Diese Entwicklung ist in den USA unter Donald Trump täglich in

Theater der Zeit 12 / 2025

den Medien zu beobachten. Wie erzählt ihr das Abdriften der Menschen in ein autokratisches System auf der Bühne?

GS Über Figuren und die konkreten Auswirkungen der neuen Realität auf ihre Lebens- und Arbeitswelten. Ich wollte widersprüchliche Figuren zeichnen, keine Held:innen, die souverän und sofort kämpferisch mit der Situation umgehen, sondern Menschen, die sich ganz konkret fragen: Wie sieht mein sogenannter Widerstand aus, und was nehme ich dafür in Kauf? Bruno, der an die Demokratie glauben will, verliert seine Existenzgrundlage. Maria muss sich zwischen kritischer Arbeit und dem Schutz der eigenen Tochter entscheiden. Bei Schupo, Elisabeths Freundin, prallen die Vorstellung und die Praxis von Protest aufeinander.

Du hast bewusst auf Protagonist:innen verzichtet. Dieses Spiel mit der Identifikation ist reizvoll. Die Altenpflegerin Elisabeth ist eine der Figuren im Stück, die unter den neuen Arbeitsbedingungen leidet. Was verkörpert sie?

GS Elisabeth kann man übertragen als Sozialstaat lesen, wenn man möchte.

Sie ist für mich auch die Figur mit dem stärksten Obrigkeitsdenken. Elisabeth ist zu Beginn des Stückes eine, die an eine sichere Zukunft glaubt. Sie glaubt, dass Leistung sich lohnen muss, glaubt an Helmut Kohl und sein Wohlstandsver­ sprechen, glaubt, dass es immer einen Rettungsschirm gibt, der einen auffängt.

Sie glaubt, dass sie zu den Gewinner:innen gehört, obwohl das nicht stimmt. Bis sie nicht mehr „leisten“ kann, erschöpft ist, ausgebrannt.

Apropos Elisabeth. Die Figur kennen wir aus Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“, einem Volksstück aus dem Jahr 1932. Sie ist eine junge Korsagenvertreterin, die unaufhaltsam in der Gesellschaft absteigt. Auch damals drifteten Deutschland und Österreich in den Faschismus ab. Welchen Stellenwert hat dieser Bezug zum historischen Stück für dich?

GS Mich hat die Behörden- und ­Obrigkeitshörigkeit im Stück interessiert – diese wollte ich mit einem eigenständi-

Ich wollte, dass man diesen internationalen Referenzraum im Text mitliest, während man gleichzeitig Figuren durch eine ganz konkrete Welt folgt.

gen Figurenpersonal in den Faschismus einer sehr nahen Zukunft weiterdenken.

Während der Arbeit am Text habe ich mit Blick auf die Entstehungszeit des Horvath-­ Textes zu Faschismus in Österreich damals und jetzt gelesen. Der Schriftsteller Robert Menasse fragte zu Beginn dieses Jahres in einem Kommentar, ob wir es den Faschisten zu leicht gemacht haben. Er schreibt, dass Österreich vor dem sogenannten Anschluss noch den eigenen, den Austrofaschismus, erlebt hat, dessen Vertreter:innen nach ’45 plötzlich als widerständig galten, als gute Patriot:innen, weil sie ja gegen die Nationalsozialist:innen waren. Daraus hat sich eine Art identitätsstiftender Alltagsfaschismus etabliert, der als Patriotismus gilt. Und deswegen weder reflektiert noch aufgearbeitet wird.

Obwohl Sprache, Figuren und Dramaturgie klar im Vordergrund stehen, hast du einige dokumentarische Passagen ins Stück eingeschrieben – etwa, wenn es um den Austausch der Verfassungsrichter geht.

Welchen Stellenwert hat dieses Material?

GS Beim Austausch der Verfassungsrichter denkt man unwillkürlich an Donald Trump. Aber Orbán hat dasselbe schon vor Jahren in Ungarn gemacht, das war gewissermaßen die Blaupause. Mir war es wichtig, dokumentarische Passagen einzubeziehen, um das, was ich als „Erdrutschgefühl“ beschrieben habe, auch außerhalb der Welt des Stückes greifbar zu machen und die Wiederholung von autokratischen Maßnahmen in Stück wie Realität mitzuerzählen.

Trotz des ernsten Themas hat „Glaube Liebe Hoffnung. Leistung muss sich leider lohnen“ einen großartigen Humor. Was bedeutet dir die Komödienkunst?

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Stück Gespräch

Humor als Überlebensstrategie. Wie gehst du um mit einer Welt, die eigentlich nicht zu ertragen ist?

Die Sprache verändert sich im Stück, klingt nach der Machtübernahme gleichgeschaltet, resigniert, amtlich, kalt. Beginnt das Ende der Demokratie mit dem Aushöhlen der Sprache?

GS Beim Schreiben denke ich viel über diese Sprache nach, die Sprache der Gegenwart um mich herum, die normalisiert, was eigentlich nicht zu normalisieren ist. Im Schreiben suche ich

Gerhild Steinbuch, geboren 1983 in Mödling (Niederösterreich), schreibt seit über zwanzig Jahren hauptsächlich Stücke und ist Gründungsmitglied von Nazis & Goldmund, einer Autor:innenallianz gegen die Europäische Rechte.

nach Möglichkeiten, dem etwas entgegenzusetzen, die Ambivalenz vielleicht wieder in die Sprache zu holen, die Vielschichtigkeit. Im Spielerischen etwas Widerständiges zu finden, eine Offenheit.

Haben wir die Möglichkeit, die politische Entwicklung noch aufzuhalten?

GS Im vergangenen Jahr habe ich mit einer Kollegin aus Ungarn gesprochen, die mir im Netzwerk von Nazis & Goldmund begegnet ist. Sie sagte: „We are fucked – aber ihr könnt noch etwas ändern.“ T

Ein Auftragswerk bietet auch die Chance, eng mit dem Theater zu arbeiten. Wie hat diese Zusammenarbeit in Konstanz mit der Dramaturgin Meike Sasse und mit Regisseurin Nina Mattenklotz ausgesehen?

Foto Clara Wildberger

GS Mir schien es richtig, so anzufangen, weil ich wollte, dass das Publikum wie die Figuren ins Ende der Demokratie „hineinrutscht“: Die Mechanik läuft immer weiter, eigentlich Unsagbares wird so dahingesagt, Menschen werden gekündigt, dazwischen Pointen und man lacht, obwohl es nicht mehr lustig ist. Dann gerät die Maschine ins Stocken. Das ist die eine Art des Humors, so eine Verschleierungsmaschine, und dann gibt es für mich noch einen anderen Humor, als etwas Widerständiges, und sei es nur in der Sprache. Vielleicht auch Humor als Überlebensstrategie. Wie gehst du um mit einer Welt, die eigentlich nicht zu ertragen ist?

GS Ich hatte von Anfang an einen sehr engen Austausch mit dem Produktionsteam, vor und während der Proben. Ich mag es, gemeinsam auf den eigenen Text zu schauen, und brauche die Nähe zur Praxis und den gemeinsamen Denkprozess. Ich finde es toll, schon im Schreiben zu wissen, welche Schauspieler:innen in der Produktion sein werden, um die Figuren noch mal anders greifen und schärfen zu können. Ich fand die Gespräche mit allen Beteiligten aber auch wichtig, weil eine zentrale Frage im Text jene danach ist, wann man ändern würde.

Für mich liegt dieses Wann oft in auf den ersten Blick eher kleinen Momenten von gemeinsamem Austausch, die aber in ein anderes Handeln führen können. Auch im Stück sind es eher kleine Momente, in denen Elisabeth die Möglichkeit hätte, sich anders zu verhalten. Hätte sie das getan, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen.

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Theater der Zeit

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Gerhild Steinbuch

ELISABETH SCHUPO – Elisabeths Freundin BRUNO – Kollege PRANTL – Vorgesetzter / JÖRG DRAEGER MARIA – Journalistin Alle als: ELTERN / MUTTER / VATER WG-BEWOHNER:INNEN PASSANT:INNEN KURATORIUM VORGESETZTER

© Gerhild Steinbuch, 2025 Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2025

Theater der Zeit 12 / 2025

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Stück Gerhild Steinbuch

M

MARIA

Wenn du was ändern könntest –

ELISABETH MARIA

Irgendwas

Das ist nicht mein Gesicht sagte mein Vater Meins auch nicht sagte meine Mutter Ich sah meinen Vater an und schrie los

Ja

Wenn du irgendwas ändern könntest in

Es klickte der Kassettenrecorder heimlich

deinem Leben –

Papa Helmut murmelte mich in den Schlaf

ELISABETH MARIA

Keine Ahnung Auch im Kinderwagen trug ich statt eines

–

ELISABETH

Keine Ahnung was ich ändern

Mützchens die Bildung schalldicht auf den

würde

Ohren

MARIA Nicht was

Ich lauschte aufmerksam mangels Alternativen

Wann

aber nicht nur deswegen

Wann würdest du ändern

Ich verstand viel und deswegen war es mir

***

lieber wenn ich ansonsten wenig verstand

ALLE

BALLADE VON ELISABETH

Mir reichten die Sätze die ich bereits kannte

Wir beginnen bei der Geburt

zu fördern

die ich immer mehr verstand Ich verstand, dass es unsere Aufgabe war eine günstige Wirtschaftsentwicklung nach Kräften

Ein Kind erblickt das Licht der Welt

Ich verstand dass Leistung nicht länger

Es schießt mit den Füßen zuerst ins Leben

bestraft werden durfte

Es tritt sich ins Leben

Ich wunderte mich etwas über ein derartiges

Ein Fußbreit in erwartungsvolle Gesichter

Sanktionsreglement aber ich war ja noch ein

In freudige Gesichter

Kind soviel verstand ich

Ab Stunde Null schon einen Auftritt hingelegt

Ich verstand dass in einer freien Gesellschaft

Die Latte hochgehängt ganz von allein

derjenige der aus freien Stücken fleißiger war

Aber das stimmt nicht

als der andere auch Anspruch auf einen

Durch den sanften Fruchtwasserschallschutz

höheren Lohn und höheren Gewinn hatte

murmelt einer was von Leistung und das wird

Ich entwickelte mich prächtig

mein erster Satz sein Ich stelle mir den Satzträger als einen

Wir brauchen einen Babysitter sagte meine

wunderbaren Mann vor der außerdem mein

Mutter

Vater ist

Wir brauchen keinen Babysitter sagte mein

Leistung muss sich endlich wieder lohnen

Vater

sagt er

Scheiße sagte meine Mutter und breitete sich

Ja denke ich Ja

flach auf dem Teppich aus

Ich kanns kaum erwarten Papa denk ich und

Mein Vater und ich beobachteten sie wie der

ich schieb mich weiter Richtung Ausgang

Verhaltensbiologe seine Tierchen

Sehr geehrter Bürgermeister, Exzellenzen,

So wir machen einen Ausflug sagte mein Vater

meine sehr geehrten Damen und Herren

zwei Tage später und wir schoben uns durchs

Es geht jetzt um die Weichenstellungen für die

Einkaufszentrum schleckten Eis und schlepp-

letzten fünfzehn Jahre dieses Jahrhunderts

ten Elektrogeräte Da ein Flachbildfernseher sagte mein Vater

Ich komme

Richtung Teppich

Ja

Aha sagte meine Mutter

Ich komme ja schon

Mit Satellitenprogramm sagte mein Vater Ok sagte meine Mutter

Helmut war mein erster Papa und die erste

Und damit war alles geklärt

Liebe meiner Mutter

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Und als ich das Licht der Welt erblickte und

Mein neuer Babysitter hieß Jörg Draeger

damit meinen Vater

Jörg Draeger liebte Autos er liebte Elektro­

Und meine Mutter

geräte und diverse Kisten und er liebte es zu

Erkannte ich niemanden wieder

gamblen

Die Enttäuschung stand mir ins Gesicht

Unablässig barg er Scheinchen aus den

geschrieben

bodenlosen Sakkotaschen

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Er sagte

Atme jetzt

ELISABETH

Ich biete Ihnen für diesen Umschlag

Ein

BRUNO

2000 Mark

Aus

ELISABETH

Er sagte

Ein

Ballad of Lucy Jordan“

Tor eins Tor zwei oder Tor drei

Meine Playlist heißt Roadtrip 1991

BRUNO

Er sagte

Ich höre sie auf dem Weg zur Arbeit

ELISABETH

Sie werden in den außerirdischen Bund der

Ich höre sie beim Warten auf den Bus der

knew she’d found forever as she rode along

Zonks aufgenommen

nicht kommt

through –

Oder

Ich rauche

BRUNO Find ich gut

Hier ein Monopolyspiel zur Erinnerung

Ich liege an der Haltestelle und rauche

Achtziger ne

Oder

PASSANT:IN

War ja klar

Danke dass Sie mit uns gespielt haben

Sie können hier nicht einfach so rumliegen

ELISABETH

Er lächelte indifferent

ELISABETH

Es ist ein schöner Tag

Menschen kreischten hysterisch

der Bus also rauche ich sicherheitshalber ob er

Vögel ziehen vorbei

Jörg blieb cool

kommt oder nicht

BRUNO

Ich observierte das Geschehen und zwar

Ich höre meine Playlist lungernd im Bus

ELISABETH

liegend

Ich höre meine Playlist schlappend durch die

BRUNO

He Immer wenn ich rauche kommt

Der erste Akkord

Das ist mal ne richtige Geschichte Marianne Faithful singt „The

Mit Haltung At the age of thirty-seven she

Ich schau aus dem Fenster

Die beschissene Taube Würde Bruno sagen

Die füttern schon wieder die

Parkanlage

Tauben ich werd wahnsinnig

Am liebsten lag ich

Ich höre meine Playlist träumend auf dem

ELISABETH

Ich lag nachts und morgens

Rasen zwischen den Wohnblocks

BRUNO

Ich lag nach dem Frühstück und beim

Ich höre sie im Fahrstuhl hängend

wegmachen

Mittagessen

Wenn ich in die Wohngemeinschaft komme

ELISABETH

Ich lag nachmittags wenn meine Mutter sich

mach ich sie kurz aus aber

BRUNO

im Home Office einschloss

Ich hör sie im Dienstzimmer

ELISABETH

Ich lag abends als mein Vater rief Hallo hier

Ich hör sie in der Küche während Bruno das

Meine Theorie ist dass sich Engagement nicht

bin ich

Gemüse schnippelt

an Schrittzahlen bemisst sondern am

Ich lag vor dem Fernseher

Ich höre sie beim kurzen Päuselchen im

­Idealismus

Ich lag im Bett

Abstellraum natürlich liegend

Dass es eine Tugend ist die Dinge ihren Weg

Ich lag in der Küche

BRUNO

gehen zu lassen während man ihnen voll

Ich lag auf neben vor und unter dem Sofa

Elisabeth

Ich lag mit dem Kopf an der Toilette

Muss ich hier alles selber machen

Meine Theorie ist dass Helmut als kleiner

Ich presste meine Wange an die kühlen Fliesen

ELISABETH

runder Gott wachend über uns schwebt

Das Kind hat ein Problem sagte mein Vater

irgendwem die Fingernägel schneidet

Mein empirischer Beweis für meine Theorie

Das Kind erfreut ja seinen Vater ganz und gar

BRUNO

bin ich

nicht sagte meine Mutter

rumliegen

Dieser Mann ist nicht mein Vater sagte ich

ELISABETH

Mann

Würde Bruno sagen

Und ich muss dann die Sauerei Ja

Während du rumliegst Ich hab da eine Theorie

Vertrauen dabei zusieht Ich hör sie während Bruno

Du kannst nicht immer nur

Ich liege und das Leben erstreckt sich vor mir Ich hör sie wenn ich unser

in seiner ganzen Herrlichkeit

Protokoll verfasse während Bruno

Ich liege und ich bin nicht untätig ich bin

Ich blieb gänzlich unbeeindruckt denn ich

BRUNO

Und überhaupt –

entspannt

kannte schließlich meinen echten Vater und

Wie kannst du überhaupt jetzt rumliegen

Ich weiß

ich wusste dass wir einer Meinung waren

grade jetzt

Wenn ein andrer liegt dann ist das für mich

Ich kannte meinen echten Vater und ich

ELISABETH

kannte seine Stimme die klang wie einer klingt

gemeinsam

der liegend spricht

BRUNO

Das ist ein entsetzlicher Stuhl sagte er

ELISABETH

Das ist ein entsetzlicher Stuhl sagte ich

wegen Sonntag

Die gut Gebetteten belohnt das Leben, sagte er

BRUNO

Jawohl, sagte ich

Ich mag keine Neunzigermusik

reingeflogen

Ich hatte verstanden dass die wirklich

Was soll das überhaupt sein

ELISABETH

Fleißigen die Liegenden waren

ELISABETH

Sonnenuntergang

ELISABETH

*** Aber das ist nicht der Anfang

BRUNO

Beim Essen hörn wir sie

Klaro

Ist das deine Copingstrategie Bruno ist im Panikmodus

Ich recke meinen Daumen hoch für alle Liegenden Gleiches Liegerecht für alle

Quatsch

Die anderen sind indifferent

Apolitisches Plastik

ELISABETH

auch in Ordnung

Aber ich weiß dass ich ihn

BRUNO

BRUNO

Jetzt ist die Taube auch noch Schau mal

Wo

ELISABETH

Da drüben

Das ist der Anfang

gleich kriegen werde weil

Schau mal intensiv

Also los

BRUNO Grade jetzt wo politisches Bewusst-

Nicht so

Atme

Ah

Theater der Zeit 12 / 2025

***

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Stück Gerhild Steinbuch Wahlsonntag.

BRUNO Man muss sich die Scheiße so vorstellen Du denkst, du bist ein guter Demokrat Ein guter Mensch nicht, nein, das nicht, aber zumindest ein politischer Mensch, ein politisch sozialer Mensch, einer, der was aus der Geschichte gelernt hat. Aber in letzter Zeit verstehst du nicht, ob du ein stumpfer Streber bist, oder ob alle andren völlig wahnsinnig geworden sind. Du entscheidest dich für Variante zwei, aber das macht das Leben auch nicht besser. Du engagierst dich im Bezirk, du meldest dich als Wahlhelfer, du denkst, wer zählen kann, ist klar im Vorteil, und dass du deinen Beitrag leisten solltest anstatt abzukotzen, also leistest du deinen Beitrag, und auf dem Weg dorthin, zum großen Sonntag, sitzt du in der Bahn, und die Bahn ist voll, und die Menschen schreien, und du machst Platz, und du stehst, und du weißt, dass du schlecht stehen kannst, weil dir alles weh tut, weil der Puls im Hals klopft, weil du alt bist, deine Meinung, obwohl du jung bist, statistisch gesehen, aber du verstehst die sogenannte Jugend überhaupt nicht, die mit ihren steifen Hemden Kanzlerselfies schießen und angeben, dass sie Angst um ihre Arbeitsplätze haben, obwohl sie gar nicht arbeiten, jedenfalls nicht in den Jobs, um die man Angst haben muss, und jedenfalls auch nicht in den Jobs, die niemand machen will, niemand außer dir, zumindest niemand von denen. Deine Expertise war auch schon mal händeringender gesucht, denkst du, und dann denkst du, dass man die eben aufdrängen muss, deine Perspektive, dass man die reindrängen muss, damit die überhaupt vorkommt im allgemeinen Diskurs zwischen Angstprojektion und Klatschen vom Balkon.

Du erinnerst dich, wie du selbst am Balkon gestanden bist und dir applaudiert hast, hast

extra die Arbeit unterbrochen, an den freien Tagen einen Timer gestellt, weil so viel Zeit muss sein, aber du bist dir bis heute nicht sicher ob das bloß Zynismus oder dringendes Eigenlob oder ob du einfach nicht wolltest, dass die was wissen über dich, deine Nachbarn, damit die nicht denken könnten, der passt nicht zu uns, passt nicht hierher, in unser schickes Viertel, dabei passt du so gut in deine Wohnung mit den Dielen und dem Baum vorm Fenster, und die Wohnung passt zu dir, außen so wie alle, innen schwarzes Loch. Einer wie alle, denken die Nachbarn, wenn sie sich bei dir über die Mieten im Kiez beschweren und ihre Secondhand Bikes in den Hof hieven, die teurer sind als dein niegelnagelneues Fahrrad von Lidl, das du dir aus dem Prospekt ausgeschnitten hast und gedacht, scheiße, jetzt bin ich wie meine Alten – aber dann bist du wie deine Alten, und jetzt fährst du Rad, sagst du den Nachbarn, ich fahre Rad, sagst du, gut für die Umwelt, sagst du, die Nachbarn nicken und reden weiter über Geld, das sie haben, als wäre es Geld, das sie nicht haben, und du nickst.

Das muss die Apokalypse sein, denkst du, wenn du mal alles so vor dir zusammenträgst, die Nachbarn, die Stadtteilentwicklung, die Selfies, die Umfragen, den sogenannten Volkskörper, das schwarze Loch, und dass die ganze Scheiße aussichtslos, aber dieses Gedankenspiel Apokalypse, das muss man sich ja auch mal leisten können, denkst du, und du kannst dir das nicht leisten, du brauchst deine Arbeit, deinen Wohnraum, deine Krankenkasse, und du brauchst die Bewohner:innen, die dich in den Wahnsinn treiben, weil was wäre das für eine Welt, in der die nicht, in der man die, und das kannst du nicht denken – Also stehst du jetzt an diesem Sonntagmorgen in der Bahn in Richtung Wahllokal und schwitzt dir ins Hemd, das du heute extra angezogen hast,

damit du was hermachst, damit dich wer ernst nimmt, damit sie Platz machen in der Bahn und das auf der Arbeit klappt mit der Gehaltserhöhung, auf die du seit elf Jahren wartest, dafür übst du schon mal, und vor allem übst du Respekt, Respekt vor demokratischen Vorgängen und Respekt vor der Demokratie als Gesellschaftsform, und du hörst dir aufmerksam die letzte Einweisung an, und dann setzt du dich auf deinen Stuhl, und siehst Menschen kommen und gehen, kommen und gehen, kommen und gehen, kommen und gehen, und dann wird ausgezählt, und dann kommt die erste Hochrechnung, und dann weißt du, dass dieser Sonntag eingehen wird in die Geschichte, aber nicht so, wie du dir das insgeheim gewünscht hast. Du siehst die Kanzlerfratze auf dem Bildschirm, und den jubelnden Patriotismus, siehst die unauffällig grinsende Industriellenvereinigung, einer neben dir sagt, so schlimm wird’s schon nicht kommen. Du weißt, er hat Unrecht, aber das sagst du nicht, du sagst, vielleicht hast du Recht, und er sagt, schönes Hemd. Auf dem Nachhauseweg denkst du, wenn realistisch gar nichts hilft, dann hilft die Kraft der Phantasie, und du stellst dir dich in fünf Jahren vor, aber das Einzige, was du dir grade konkret vorstellen kannst, ist das bescheuerte Hemd, also hältst du dich erst mal daran. *** Montag nach der Wahl. Arbeit. Chefgespräch.

PRANTL Mann Bruno wie oft hab ichs dir schon gesagt Dress down not up Verstehst du was das heißt Du kannst hier nicht im Hemd rumlaufen das ist nicht relatable Oder soll ich dafür jetzt nen Orden vergeben BRUNO Du wolltest mich sprechen PRANTL Wir haben keine Orden zu vergeben

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Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen BRUNO Ja Du wolltest – PRANTL Wir hier haben gar nix zu vergeben capisce Hier müssen jetzt alle den Gürtel enger schnallen so schauts nämlich aus: Kanzler der Herzen umringt von freundlichen Gesichtern Voice Over, wie ein Donnergott: Der Republik die Verfügungsgewalt über Regierung Raum und Volk – jetzt!

BRUNO Also ich glaube nicht dass wir PRANTL Ks ks ks ks BRUNO Und überhaupt Raum und Volk War das nicht irgendwie PRANTL Halt mal kurz die Luft an bitte Danke Also Was ich sagen wollte Wenn der Republik wieder die Verfügungsgewalt über Regierung Raum und Volk verschafft werden soll BRUNO (Will etwas sagen) PRANTL Warte Also Über Regierung BRUNO (Will etwas sagen) PRANTL Ja macht Sinn Raum Volk BRUNO (Will etwas sagen) PRANTL Warte Also Jetzt hab ich mich verheddert BRUNO Volk ohne Raum PRANTL Nee nee Volk und Raum Also Wir müssen da eben unseren Beitrag leisten Und Den

TANZ

Gürtel Enger Schnallen Bru No Schau mal Ich erwarte ja nicht dass du eine geistige Leuchte bist in allen Belangen Aber die grundsätzlichen haptischen Gesetzmäßigkeiten täglicher Ankleide BRUNO Nein also ich verstehe nicht wie wir institutionell PRANTL Was (Ruft) Elisabeth Elisabeth Elisabeth auf.

BRUNO Wieso Elisabeth PRANTL Schreib dir das mal auf bitte Wir müssen jetzt alle den Gürtel enger schnallen – gesunde Ernährung am Arbeitsplatz ELISABETH (Schreibt) Gesunde Moment Was noch mal PRANTL Low Carb Low Fat BRUNO Hast du dein Rückgrat zuhause liegen lassen PRANTL Paleo BRUNO Und was soll das überhaupt sein für eine Verfügungsgewalt PRANTL High Protein ELISABETH Intervallfasten PRANTL Ah Das ist gut Alle guten Dinge beginnen mit F Fasten Freiheit BRUNO Faschismus PRANTL Fasten für die Freiheit

5. – 7.12.

BRUNO Welche Freiheit PRANTL Plural Individuell Souverän Homogen und solidarisch ELISABETH (Schreibt) Homogen und individuell PRANTL Und souverän und solidarisch BRUNO Aha Ich kotz gleich PRANTL Der Freudentaumel einer neuen Zeit BRUNO Weißt du überhaupt was das heißt Verfügungsgewalt über Raum und Volk PRANTL Sicherheit BRUNO Nein PRANTL Ordnung BRUNO Nein PRANTL Moment Ich möchte lösen Mindestens 4 gute Jahre BRUNO Stell dir das doch mal vor Du und ich als homogene Masse PRANTL Du und ich Ne du Kann ich mir nicht vorstellen BRUNO Du und ich und alle anderen PRANTL Ich hab nichts gegen andere He Willst du mir vielleicht was unterstellen du Hemdträger BRUNO Homogen und Individuum da hakts doch argumentativ PRANTL Pah, Feinheiten Sprache Ein Fest fürs Missverständnis Sag ich immer Der Auflösungsprozess des Staates ist jedenfalls aufzuhalten und wir hier werden ebenfalls unseren Teil –

fft-duesseldorf.de

© Oper Graz / Etter

Stück Gerhild Steinbuch BRUNO Während der Auflösungsprozess vom Sozialstaat – PRANTL Man kann sich an allem gewöhnen auch an den Dativ Sag ich immer Und erzähl du mir mal nix von Sozialstaat Freundchen Ihr mit eurem professionellen Betroffenheitsblick und dann schön zurück ins aufgeräumte Leben Länger als Vorschrift mit denen von unten das haltet ihr doch nicht aus ihr feinen Menschen ELISABETH Man sagt das nicht Unten PRANTL Warum nicht ELISABETH Das ist diskreditierend PRANTL Ach ja Und warum ELISABETH Menschen teilen in oben und unten PRANTL Ach Ist es das Na wenn du das sagst Jedenfalls BRUNO (Zu Elisabeth) Warum bist du überhaupt da wenn ich fragen darf PRANTL Wir sind verabredet Elisabeth und ich ELISABETH Gespräch Unter vier Augen BRUNO Ihr auch PRANTL Ja Aber – ELISABETH Und du wolltest mir sagen dass PRANTL Ja gleich aber BRUNO Was ja PRANTL Ja

Ja Also ELISABETH Also du wolltest mir sagen PRANTL Moment (Richtung Bruno) Er zuerst Pause.

PRANTL Ein Wort Pause.

PRANTL Sorry Pause.

PRANTL Du es tut mir wirklich leid aber i BRUNO Du kannst mich nicht rausschmeißen PRANTL Sorry aber Mir sind da die Hände gebunden BRUNO Sagst du jetzt bitte auch mal was ELISABETH Ja also uff Ich bin echt kein Kollegenschwein aber PRANTL Hier Ich habs schwarz auf weiß BRUNO Du hast das aufgeschrieben ELISABETH Hab ich nicht PRANTL Hat sie ELISABETH Ja aber BRUNO Du Kollegenschwein ELISABETH Hab ich nicht ich schreib nur Berichte PRANTL Und da steht alles drin was ich wissen muss Dienstantritt Haushalt machen Gemeinsam Frühstück bereiten Gemeinsam frühstücken Abwasch neue Herausforderungen römisch I – BRUNO Römisch I PRANTL Sie hat da ein System entwickelt zum Fähigkeitenerwerb für Menschen im letzten Lebensabschnitt im Rahmen ihrer

ELISABETH Abschlussarbeit PRANTL Abschlussarbeit Römisch I bis VII Aber davon wissen wir nichts nicht wahr Schließlich haben wir nicht studiert BRUNO Aber gelernt PRANTL Also nicht studiert BRUNO Aber gearbeitet PRANTL Also jedenfalls haben wir hier schwarz auf weiß die täglichen Berichte aus eurer Wohngemeinschaft Darin ist festgehalten äh Wie eine einzige Person hier ein sehr ­ambitioniertes Pscht Programm zu notieren in der Lage ist Tabellarisch wohlgemerkt Die andere Person wohlgemerkt Stille PRANTL Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen Nichts Gut BRUNO Was willst du von mir PRANTL Ist das eine ernst gemeinte Frage BRUNO Ja PRANTL Berichte BRUNO Warum PRANTL Vorschrift BRUNO Warum PRANTL Faulheit darf nicht belohnt werden BRUNO Ich bin nicht faul du Arsch Ich bin der Grund für gute Laune und ein reibungsloses Miteinander Manchmal auch ein reibungsvolles weil wir üben hier nicht nur wir sind hier auch das echte Leben Wir sind nämlich echt mit echten Menschen und echten Marotten und echten Antipathien und echt anstrengenden Tagen so Tage an denen man danach nur noch zwei Dinge will

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Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Keine Menschen sehn weil man das Geseier nicht trägt Nur noch Menschen sehn damit man endlich auch ein Gegenüber hat mit dem man sich auch richtig unterhalten kann PRANTL Obacht Freund Du wanderst einen schmalen Grat und rechts gehts schnurstracks Richtung Altersdiskriminierung BRUNO Richtig unterhalten mit einem richtigen Menschen Über richtige Themen Nicht mit lauter Zombies darüber was sie gern zu Mittag essen möchten PRANTL Jetzt bist du reingefallen BRUNO Was Weil ich Na stimmt doch ELISABETH Also ich würde vorschlagen – BRUNO Ach halts Maul Elisabeth Tu doch nicht so als würden die dich ausfüllen die Gespräche Ich bin zynisch und du schreibst Berichte Jedem die Copingstrategie die sie verdient ELISABETH Wir sind angehalten den Bewohner:innen auf Augenhöhe zu begegnen BRUNO Mach ich doch PRANTL Das steht hier aber nicht BRUNO Weil ich mache, nicht schreibe Ich mach hier doch den ganzen Tag Wenn ich alles aufschreibe dann hab ich doch keine Zeit mehr für die Arbeit Die Arbeit ist doch zwischenmenschlich die kann ich doch nicht einfach hinten anstellen weil ich noch Berichte schreiben muss PRANTL Sie schafft das auch Ist doch so Elisabeth ELISABETH – PRANTL Frauen haben es im Allgemeinen ja schwerer als wir wirst du wissen BRUNO Sie nicht

PRANTL

Allgemein gesprochen

BRUNO Warum glaubst du mir nicht

BRUNO

Aber sie nicht

Ich hab Schmerzen

ELISABETH

Es ist statistisch bewiesen dass

Ich hab gesagt dass es mir leidtut

Das ist mehr als dir zusteht aber ich mach die

BRUNO

Dinge gern auf meine Weise nämlich

Bla bla bla bla

Das kannst du meiner Mutter erzählen

­menschlich

PRANTL

Aber mehr hab ich jetzt auch nicht zu sagen

Und wieder wanderst du auf einem

schmalen Grat

Du kannst noch bis Monatsende bleiben für ein

BRUNO

tadelloses Dienstzeugnis

Ich meins ernst

Erzähl das meiner Mutter

Pause

Die ist so eine Frau aus der Statistik

BRUNO

Ok

Nicht du

PRANTL

Bleiben im Sinne von gehen und

PRANTL

Also ich muss doch sehr bitten –

BRUNO

Schau dich doch mal an

BRUNO

wiederkommen BRUNO

Ok

Wobei er natürlich recht hat

PRANTL

Im Vollzeitsarbeitstakt

Du bist bloß so ein Mittelstands-

BRUNO

Ok

ELISABETH

mensch die sich besser fühlen will

PRANTL

Also jetzt kannst du gehen

PRANTL

BRUNO

Ok

PRANTL

Ok

PRANTL

*** Du Elisabeth

Wobei er natürlich recht hat

ELISABETH PRANTL

ELISABETH PRANTL

Also ich muss doch sehr bitten

Aber das kann ich so nicht sagen Das kannst du so nicht sagen

Werde ich nicht

ELISABETH

Er schaut mich komisch an

Ich bin ja nicht wahnsinnig

Als wäre es ihm unangenehm dass ich dabei war

BRUNO

PRANTL

Schreibs in deinen Scheißbericht

Wegen vorhin

PRANTL Wenigstens sitzt sie nicht die ganze

Du musst dich nicht schlecht fühlen

Zeit bloß rum

Sag mal

BRUNO

Am Wochenende

Ich sitz nicht rum

Ich kann nicht so lang stehen

Du

Ich hab Schmerzen

Hast du schon was vor

PRANTL

ELISABETH

Du sitzt rum

PRANTL

Steht da BRUNO

Das hast du aufgeschrieben

Die denkt bestimmt – ELISABETH

PRANTL

PRANTL

Steht da nicht

ELISABETH PRANTL

Aber anders

Und das steht da nicht

ELISABETH PRANTL

ELISABETH

JaWa 05. & 06.12.

Oder

Igitt

Dienst alleine erledigt da Kollege sitzend

Turkowski & Nowacka

Freunde werden

Soll sie ruhig denken

Da steht

Mothers – A Song for Wartime 05. & 06.12.

Will der mich jetzt trösten

Starrt mich an

Du liegst die ganze Zeit

Marta Górnicka

Highlights Dezember

PRANTL

der Gender Pay Gap –

Hoffe das ist nicht indiskret aber – Keine Ahnung

Dresden Frankfurt Dance Company & Emanuel Gat Abschied 12. – 21.12.

Stück Gerhild Steinbuch PRANTL

Keine Ahnung?

ELISABETH PRANTL

Keine privaten Verpflichtungen

ELISABETH PRANTL

Keine Ahnung was ich vorhab

ELISABETH ELISABETH

–

SCHUPO

Also nein

ELISABETH

ELISABETH

Soll ich antworten

SCHUPO –

Seit ich denken kann sprechen wir über Banken Wir sprechen über Kredite über Raten über

An der Arbeit

Versuchs noch mal An meiner echt system­

Summen die mir als Kind fantastisch und als Erwachsene astronomisch vorkommen Es liegt die Vermutung nahe also meine dass

relevanten Arbeit

das alles hier der Bank –

Ja

SCHUPO

ELTERN

Also nein

Ich sags dir

Or go home

Nein keine Verpflichtungen

Daran dass es nicht für alle den Bach

DRAEGER

PRANTL

­runtergeht

Haus hätten Ihre Nachbarn aber wirklich

Was

Sehr gut

Zonk

Geh aufs Ganze Schade meine Liebe bei diesem

Irgendwer muss ja die freigewordnen Schichten

ELISABETH

übernehmen

Dass wir zu den Gewinnerinnen gehören

ELTERN

Du wirst das sehr gut machen bist schließlich

SCHUPO

diesen Umschlag 2000 Mark

studiert

Dass wir noch was machen können

DRAEGER/ELTERN

Pause

Solange es für uns noch nicht den Bach runter­-

Lust zu spielen

Daran sol­­l ich mich festhalten

Quatsch

Augen gemacht Also mein Lieber ich biete Ihnen für Na

geht können wir noch was dagegen machen

SCHUPO

nehmen wir ihn auf ja

ELISABETH

ELISABETH

Pause

als verzweifelten Aktionismus bezeichnen

SCHUPO

Meine Eltern würden es so nennen wenn ich sie

Deswegen hast du dich in mich verliebt

PRANTL

PRANTL

Wenn er die Kurve nicht kriegt

Du wirst das sehr gut machen

bestimmt *** Bei Schupo.

ELISABETH SCHUPO

ELTERN

ELISABETH

Wie gehts Alfons

ELISABETH ELTERN

For obvious reasons

War doch der Name

SCHUPO

Oder

ELISABETH

ELISABETH

Man könnte ihr Machen also als

Hab ich nicht

Zeig mal Zunge Aaaah

Bist ganz blass

Normalerweise bist du schlagfertiger ELISABETH

SCHUPO Nein

Aktionismus

Gibs zu

Würde ich aber nicht

ELISABETH

Doch

Du liebst meinen Aktivismus

fragen würde

SCHUPO Nein Doch

Man könnte ihr Machen auch

(Nuschelt)

Kompromisse

verzweifelten Aktionismus bezeichnen genauso wie

SCHUPO

Not on my watch

man das Machen meiner Eltern als verzweifelten

der Mittelweg den Tod

Du musst auch an

Aktionismus bezeichnen könnte

ELISABETH

Meine Eltern bauen sich Gartenhäuser in den

SCHUPO

Garten

dass ich immer Recht haben muss

SCHUPO

SCHUPO

Nein nein nein

Geld?

Dich

In Gefahr und großer Not bringt *** Ja ok man könnte mir vorwerfen

Denken

ELTERN

Verstehst du

Ein Rückzugsort

Abteilung Frau Durchlaucht sogar die Profs

ELISABETH

Frau Durchlaucht entschuldigen Sie könnten

ELISABETH

Ich denk an mich

Schau mal Meine Eltern bauen Häuschen

Eine Zeit lang nennen mich alle in der

Warts ab wie ich an mich denke wenn wir schick

an die Gartenhäuser an

Sie mal so und so für mich anrufen

essen gehn meine Überstundenpauschale und ich

ELTERN Schau mal

Frau Durchlaucht Pardon krieg ich nen Kaffee

SCHUPO

Ein Hochbeet

Hallo Frau Durchlaucht wie kopiert man

Mann Elisabeth

Die Neunziger haben angerufen

ELISABETH

Die wollen ihre Systemhörigkeit zurück

chen an die Häuschen an den Gartenhäusern

Als gäbe es so Spielregeln unbeliebte Charak-

ELISABETH

ELTERN Schau mal

tereigenschaft rechtfertigt klassistischen Witz

Ein Buntspecht

Hauptsache die amüsieren sich

ELISABETH Meine Eltern bauen einen Carport

Dabei gehts genau drum

ELTERN Machs gut Herr Buntspecht

Dass das Rechthaben denen gehört denen man

Und überhaupt

ELISABETH

das Rechthaben abnimmt

Irgendwer muss sie ja machen

an Häuschen Häuser Haus

Weil sie das Auftreten haben und die richtige

SCHUPO Also du

Meine Eltern lassen einen Pool in den

Sprache und wer davon nix hat die kann Recht

ELISABETH

Vorgarten graben

haben was sie will das macht dann keinen

Meine Eltern umzäunen ein Stück Rasen

Unterschied

ELTERN

Und ich weigere mich einfach das zu akzeptieren

SCHUPO

Nichts gegen die Neunziger

Der beutet dich doch aus das

Arschloch ELISABETH

SCHUPO

Ich mag meine Arbeit

Fällt dir sonst noch wer ein

Du kannst keine Strukturmängel

kompensieren ELISABETH SCHUPO

Kann ich

Ich glaub das nicht

Meine Eltern bauen Vogelhäus-

Meine Eltern zimmern Balkone

Schau mal

eigentlich A3

Ne Pachtkuh

*** Flashback

Schön

BRUNO Und wie läufts mit Frau Durchlaucht

Alles geht den Bach runter du gehst in die Arbeit

ELISABETH

Woran willst du dich festhalten wenns hart auf

an Haus und Grund gekommen sind ist mir

ELISABETH

hart kommt frag ich dich

schleierhaft oder eher mit welchem Geld

der alles verändert

44

Wie meine Eltern irgendwann

Eine Woche vorm Wahlsonntag

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen BRUNO

Datest du die noch

ELISABETH

Der einzementiert was sich

vorher bereits verändert hat Eine Woche vorher sitzen Bruno und ich in der WG-Küche vor den Nachrichten BRUNO

Ich mag die nicht

Die hat so einen Standesdünkel ELISABETH Man sieht den Kanzlerkandidaten Er fährt auf einem Fahrwerk Richtung Zukunft durch die Nacht Nein Er fährt uns alle in die sogenannte Zukunft die ja leider ziemlich düster aussieht BRUNO

Welche Zukunft

ELISABETH BRUNO

Nicht so optimistisch Bruno

Den Zynismus kannst du dir sparen

Den kannst du dir aufheben für später ELISABETH BRUNO

Ich kann das nicht ernst nehmen

Ich auch nicht

Aber wir werden ihn nicht loswerden also werden wir ihn ernst nehmen müssen ELISABETH

Man sieht den damals

Kanzlerkandidaten er sagt dass wir jetzt zusammenhalten müssen mit aller Kraft – ELTERN

Geh aufs Ganze

ELISABETH BRUNO

Was für ein Arschloch

ELISABETH BRUNO

Und er geht aufs Ganze Was für ein Arschloch

Neoliberale Wirtschaftsfresse

ELISABETH

Nicht liberal

BRUNO Natürlich nicht ELISABETH

Antidemokratisch

ELTERN Also mein Lieber …

BRUNO

Ja vielleicht

ELTERN … Möchtest du Tor eins Tor zwei oder Tor drei BRUNO

Antidemokratisch ja verfassungs-

widrig nein ELTERN

Schade

Bei diesem Putsch hätten Ihre Nachbarn aber wirklich Augen gemacht ELISABETH

Das Fernsehen zeigt also den

Kanzlerkandidaten Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren und das Konterfei auf allen Kanälen in allen Gesprächsrunden – BRUNO

Man muss echt nicht mit allen reden

ELISABETH

Kanzlerkandidat reitet auf

Polizeipferd Kanzlerkandidat hängt kopfüber im Klettersteig Kanzlerkandidat lächelt Kanzlerkandidat beißt ins Käsebrot Kanzlerkandidat kauft keine Butter Kanzlerkandidat sagt:

Theater der Zeit 12 / 2025

Wir müssen alle den Gürtel enger schnallen Für unsere Republik Bundeshymne, aber Uptempo BRUNO Ich meins ernst Elisabeth Komm wir gehn kurz raus sonst implodier ich ELISABETH Ernsthaft Du willst ernsthaft spazieren gehen BRUNO Was hast du gegen Bewegung Was zur Hölle – ELISABETH Wir stehn vor einem Haus Es ist ein neues Haus und Es steht in einer unscheinbaren Straße und Es ist ein unscheinbares Holzdomizil mit unscheinbarem Vorgarten und imposanter Fahnenstange BRUNO Da wohnt der jetzt also unser Volkskanzler in spe Mitten unter uns Und da soll mir noch einer was vom vor­ politischen Raum – ELISABETH Vor dem Haus steht wer Frau Sie schaut finster in die Kamera Die Kamera zeigt sie und das Haus Was sie nicht zeigt ist die Baustelle die linker Hand aus dem Gebäude rauswächst Die sieht aus wie das Gerippe eines Riesentiers Ziemlich beeindruckend und ziemlich mächtig BRUNO Also wenn die das wirklich aus Parteispenden finanziert haben fress ich meine Hand auf ELISABETH Linke BRUNO Rechte ELISABETH War ja klar BRUNO Was für ein beschissenes Bauprojekt ELISABETH Das sogenannte Volksstadion ist das Herzstück seines Wahlkampfs Es soll einen Raum schaffen an dem alle willkommen sind die die richtige Vorstellung von Gemeinschaft haben Fußballspiele Leichtathletikwettbewerbe Jugendsommercamp Kundgebungen Gruppen von mehr als 10 Menschen erhalten jetzt schon kostenlose Führungen durch die Baustelle inklusive Geschichtsstunde die daraus besteht dass wir die größte Nation sind die die Welt je gesehen hat Wirtschaftsstark Sicher Volkskulturell Deswegen Stehen sich interessierte Besucher:innen hier jetzt schon die Beine in den Bauch Die Schüler:innen müssen nicht anstehen Sie benutzen den Sondereingang übrigens wird auch die Anreise übernommen weswegen

mehrmals die Woche Busse mit seinem Konterfei in Halteverboten parken die durch Sondergenehmigungen ebenfalls inkludiert sind ELTERN

Wie früher

Als du Kind warst da seid ihr auch einmal im Jahr mit dem Bus in die Hauptstadt Irgendein Musical Cats oder Phantom der Oper oder diese singenden Fahrräder Weißt du noch War auch alles umsonst War nicht alles schlecht früher ELISABETH

Es riecht nach Popcorn und

altem Fett BRUNO

Ach du Scheiße

Ist heute Richtfest ELISABETH

Menschen schlendern an uns

vorbei Die meisten mit Kindern PASSANT:INNEN Entschuldigung Gehts hier zum – ELISABETH

Bruno nickt langsam

Eine Weile nur zusehen Ruhiges Familienpanorama Freundliche Gesichter Weiter hinten drei Menschen mit Transpi: Als wir mehr Rechte für Frauen wollten meinten wir nicht Nazis Die Frau schaut noch immer finster Jetzt verzieht sie das Gesicht Der Mensch hinter der Kamera schwitzt Er setzt die Kamera ab MARIA

Schau mal

ELISABETH

Es kracht nicht mal

Wie Stummfilm in Zeitlupe BRUNO

Seid ihr ok

Scheiße ELISABETH

Transpimensch drei liegt

Eins und zwei brüllen Der Familienvater schlendert weiter als wär nix BRUNO Der hat einfach mit seiner Bierflasche – ELISABETH

Beim näher ran gehen seh ich

die fette Platzwunde BRUNO

Hilfst du mir jetzt bitte mal

Sag mal spinnst du – ELISABETH

Er stopft mein Handy in seine

Hosentasche BRUNO

Das kannst du dir sparen dein

bescheuertes Bild MARIA

*** Genau genommen war der Bus

zuerst da Den Bus finde ich vor neun Jahren bei

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Stück Gerhild Steinbuch E-Bay-Kleinanzeigen Der Sender sagt Ihr müsst jetzt flexibel werden und sie nehmen uns den Ü-Wagen weg Sie streichen ein paar Stellen die keinem auffallen Sie ändern ein paar Sendeslots wofür sich niemand interessiert Die Änderungen sagen sie trügen der Zeit in der wir leben Rechnung Ich bin schwanger und denke bester Zeitpunkt für so 1 neuer Mensch Ich seufze eher unheimlich ins Kissen als mein Mann sagt dass ich die Arbeit auch lassen – Ich packe alles in den Bus was man braucht um seine Arbeit gut zu machen und zwar beide Meine Tochter schläft bei Kolleg:innen auf dem Schoß während ich uns durch die Stadt manövriere Meine Tochter sitzt im Tragetuch während ich vor der Kamera stehe und berichte Sie verlangen dass ich an den Schultern abgeschnitten werde weil das versteht man unter Professionalität Ich bastle meiner Tochter eine Spielecke hinten in den Bus Ich schenke ihr eine Snoopydose in die wir ihre Ausflugsjause packen Familienalbum eins Mutter und Tochter fahren berichterstattend durch die nationale Politik Familienalbum zwei Vater Mutter Tochter sitzen um den Küchentisch und starren sprachlos an die kalten Wände Ich hab nichts gegen Sesshaftigkeit aber Ich glaub so ein gemeinsamer Ort ist dort wo man tatsächlich auch gemeinsam ist *** Flashback.

SCHUPO Hau mir eine rein ELISABETH Was SCHUPO Du sollst mir eine reinhaun ELISABETH Bist du bescheuert SCHUPO Ich hab fast nichts abbekommen ELISABETH So lernen wir uns kennen Du willst dass ich dich schlage damit dus auf die Bullen schieben kannst SCHUPO Hast du moralische Bedenken Du hast doch gesehen was die gerade – ELISABETH Und du findest das nicht – SCHUPO Zynisch Hast du ne andere Idee Frau Ich observiere aber mach nix ELISABETH Wie wärs mit Anzeige erstatten SCHUPO Bei der Polizei ELISABETH Staatsanwaltschaft Es der Presse melden

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SCHUPO Und die interessiert meine Geschichte weil ELISABETH Weil es wahr ist SCHUPO Wahr sind Dinge die man sehen kann Du schaust rein ins Bild und denkst dir ja genau so isses Egal ob das jetzt stimmt oder nicht Die Rechten wissen das die ham kapiert dass du reden kannst was du willst gegen ein gutes Bild kommst du nicht an Aber wir denken immer noch dass wir den Faschismus kaputt diskutieren können Was ELISABETH Das ist doch nicht die Lösung des Problems Sich dem Problem ästhetisch anzunähern SCHUPO Sondern ELISABETH Keine Ahnung Nicht abstumpfen Sanft bleiben Kleine Dinge SCHUPO Life ist too hard not to be soft Ist das dein Beitrag zur aktuellen Lage ELISABETH – SCHUPO Dein T-Shirt ELISABETH Das ist nicht mein T-Shirt SCHUPO Muss dir nicht peinlich sein ELISABETH Ok ist mein T-Shirt aber war ein Geschenk SCHUPO Papa ELISABETH Kollege BRUNO Also entschuldige mal Das hast du dir doch gekauft Ganz stolz bis du damit in der Küche gestanden Alle mussten was nachfragen keiner hatte ne Nachfrage Also hab ichs einstudiert mit ihnen Was ist das für ein tolles Shirt Elisabeth Jeden Tag ein anderer Bewohner ne andere Bewohner:in Wie du dich gefreut hast ELISABETH Pscht SCHUPO Und was ist das so für einer Dein Kollege BRUNO Sag doch mal Elisabeth Was bin ich für einer ELISABETH Geh sofort raus aus meinem Kopf SCHUPO Oder hast dus auch nicht so mit Worten BRUNO Sag doch mal was über mich Wie du heimlich geheult hast in der Kammer weil Beate sich nicht von dir waschen lassen wollte Als du rausgekommen bist lauter Flecken auf dem beschissenen Shirt Warst du schwimmen hab ich gefragt

ELISABETH Was? BRUNO Warst du schwimmen Dein Shirt ELISABETH Ja Hab uns nen Pool in die Kammer gestellt Bisschen nass jetzt alles sorry SCHUPO Und was macht ihr so beruflich dein Kollege und du BRUNO Life is too hard not to be soft meine Fresse Man kann sich alles schönreden wenn man dafür Zeit hat Pause SCHUPO Also bist du doch eine die was macht *** SCHUPO Nach der Demo fahr ich in die Arbeit Alles grau Im Raucherhof erzählen sie dass man ein Kuratorium anstelle des Rektorats eingesetzt hätte Sie sagen es sei die Revanche dafür gewesen dass der Rektor die Faschisten öffentlich als Faschisten bezeichnet hätte Oder nicht Revanche sondern vorauseilender Gehorsam Sagen das wären die ersten Vorboten für das was kommt Auf dem Weg ins Büro schlurft er an mir vorbei den Gang entlang der Rektor der keiner mehr ist Er sieht ziemlich müde aus Ich grüße freundlich Er starrt Der hat keine Ahnung wer ich bin Ich denk mir Wenn die so sind die da oben brauchen sie sich nicht zu wundern wenn der Faschismus gewinnt *** ELISABETH Nachdem sie Bruno feuern liege ich das erste Mal ohne es zu planen Ich liege mit den Füßen nach oben den Kopf unters Regal geklemmt Ich liege im Abstellraum der Wohngemeinschaft und starre an die Decke In die Decke ragen Pastapackungen und Milchmädchen im Multipack Ich kaue Würfelzucker und liege Ich liege in Solidarität denke ich aber ich kann leider auch nicht anders als liegen ELTERN Liebe Tochter Wir schreiben dir hier einen Brief von dem wir hoffen dass er dich erfolgreich antrifft Dass er dich erfolgreich antrifft

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Liebe Tochter Letztes Wochenende haben wir uns Beete und Betten angelegt Wir haben uns um einiges gekümmert wir haben in einiges investiert damit du uns segnest mit deiner Präsenz Du willst vieles sein aber du bist vor allem eines: unsere Tochter Es gibt Abwege Umwege und dann gibt es vorgezeichnete Wege mit gut lesbarer Ausschilderung Wir wissen dass du dich richtig entscheiden wirst Gezeichnet Eltern ELISABETH Die Handschrift meines Vaters ist kaum lesbar Ich brauche einige Zeit um alles zu entziffern aber ich schaff das Ich stelle mir vor wie er ein gerades Rückgrat kriegt vor Stolz ELTERN Liebe Tochter Wir schreiben dir hier einen Brief als Kommunikationsweg denn wir wollen nicht stören Wir wollen dass du an uns denkst und dass du siehst wie wir an dich denken Es gibt einige Neuerungen zu berichten Wir haben festgestellt dass deine Mutter die Sache mit dem Liegen etwas zu wörtlich nimmt Während andere zur Arbeit geben verwächst sie mit der Inneneinrichtung Willst du nicht aufstehen MUTTER Keine Lust ELISABETH Ich denk an meine Mutter früher auf dem Teppich im Bett aufm Sofa wie so ein sterbendes Tier ELTERN Liebe Tochter ELISABETH Schau mal MUTTER Ist das ne Häkelnadel ELISABETH Crochetset ELTERN Wir möchten gerne feststellen dass wir das Verhalten deiner Mutter inakzeptabel finden und feststellen dass wir es demnächst eingestellt haben werden ELISABETH Ich helf dir MUTTER Schau mal ELISABETH Als „Geh aufs Ganze“ neu aufgelegt wird sind meine Eltern gänzlich aus dem Häuschen Aus den Häusern Zum Hauptabendprogramm versammeln wir uns vor dem Fernseher ELTERN Na da wollen wir uns doch mal ansehen was die sogenannte Gegenwart als Hauptgewinn zu bieten hat ELISABETH Ich komme extra aus der Stadt und es gibt Käsewürfel mit salzigen Crackern und Salz

Theater der Zeit 12 / 2025

MUTTER

MARIA

Wahnsinn

Am letzten Schultag vor den

Ein Minibus

Sommerferien steht sie heulend vor dem Bus

ELTERN

und stampft mit beiden Beinen

Tor eins

Tor zwei

Verreisen haben wir zu ihr gesagt mein Mann

Tor drei

und ich was willst du denn verreisen

Alles geht aber nicht alles gleichzeitig

Der Bus haben wir gesagt ja der ist toll unser

Also

Bus aber Mama muss arbeiten

Wie willst du dich entscheiden *** Flashback.

SCHUPO

Stell dir mal vor

Mama muss arbeiten aber wenn das vorbei ist – Versprochen Versprochen

Wir zwei kaufen uns einen Bus und dann nix

Lügst du

wie raus aus allem

Nie im Leben

Wir fahren und fahren und fahren bis wir

Aber die Snoopydose bleibt im Bus sonst glaub

irgendwann an so nem Abgrund stehen

ich dir nicht

Und ich als alte Ingenieurin hab den heimlich

Ok

hochgetunt den Bus mit Fluxkompensator und

Ok

allem

Ist doch ok ist doch auch hier schön haben wir

Und dann frag ich dich

gesagt hier sind doch deine ganzen Freund:in-

Wenn du was ändern könntest in deinem Leben

nen hier ist doch das Schwimmbad mit den

Wann würdest du ändern

labbrigen Pommes und dem extrascharfen

ELISABETH

Ketchup in dem du sie so gern ertränkst hier ist

SCHUPO

Was redest du

Ich erzähl dir meinen Lieblingsfilm

doch diese große Baustelle wo früher der Park

ELISABETH Roadmovie mit Fluxkompensator

hier sind doch die Kräne die du so magst hier

SCHUPO

Wir haben so viel gesagt dass sie natürlich

Klar

ELISABETH

Sowas gibts nicht

gemerkt hat dass was nicht stimmt aber mit

(Bekommt keine Luft)

acht Jahren kapierst du noch nicht dass die

SCHUPO

Welt um dich rum grade kippt

Hier

Hör mal –

Wir haben gedacht wenn wir jetzt wegfahren

Roadtrip Playlist.

setzt das ein falsches Zeichen

SCHUPO

*** Du musst was machen gegen die

Angst sonst frisst die dich auf ELISABETH

*** Mach die Roadtrip-Playlist aus

Wir haben gedacht besser hier sein und Präsenz zeigen Hier ist meine Arbeit hier ist die Verantwortung hier halten wir zusammen für das was noch kommt

Geh raus

Wir haben außerdem gedacht das gesparte

Ich lauf die alte Route von Bruno und mir ab

Geld können wir später bestimmt noch

bis wieder Beine werden aus den Gummidingern

gebrauchen wenns hart auf hart –

Klappt nur so halb

Der Sommer ist schön

Vor dem Stadiongerippe stehn die Menschen

Der Sommer zieht ruhig vorbei

Schlange

Der September ist milde

Sie stehen einmal um den Block und dann die

Mitten im Wahlkampf sitzen wir beim

große Straße runter

Abendessen als es kracht

Es riecht nach Popcorn und Alltag

Ein Fenster und die Balkontür ham sie

MARIA Ich denke was uns auszeichnet als Demo-

eingeschmissen

kraten ist dass wir an die Verfassung glauben

Du denkst du bist vorbereitet aber wenns

Wir glauben dass die Grundfesten so unum-

passiert bist du nicht vorbereitet

stößlich sind dass da keiner rankommt

Das nächste Mal werden sie schießen sagt mein

Ich denke dass wir dumm sind saudumm

Mann

Und damit zum Wetter –

Solange der Bus nicht brennt bin ich enttäuscht

ELISABETH

sag ich

Vor dem Kanzlerhaus wieder

die Frau

Warts ab bis der Kanzler ist sagt er

Menschen schieben sich ins Bild und winken

Jetzt ist Wahlkampf aber warte bis der Kanzler

***

ist

47

Stück Gerhild Steinbuch Als der Faschist die Wahl gewinnt nimmt mein Mann unsere Tochter aus der Schule vorsichtshalber sagt er Was er nicht sagt ist dass er seinen Job im öffentlichen Dienst liebt und nicht auffallen will aber gut Weißt du eigentlich was sie sich täglich anhören muss Ja weiß ich Ich weiß wer ich bin Aber wenn wir schon einknicken wir mit unserem Privileg was sollen dann die andren machen *** Und dann knallt mir was in die

ELISABETH Knochen Shit Es kippt mich aus den Hausschuhen zwischen Bett und Bad Da liege ich Aber anders als sonst Ich denk So schlimm kanns nicht werden Es zieht in den Beinen Es dröhnt in den Wangen Macht nichts Wettkampfmäßig geht es in die Arbeit Schwanke zum Bus falle aus dem Bus in die Bahn dann wieder in den Bus Uff Brauche doppelt so lang wie mit dem Rad Egal Die kleine Schweißmaschine namens Ich schaufelt an jeder Ecke flink Verpflegung in sich rein Der erste Arbeitstag im Neuzustand kostet mich zwölf Euro achtzig Beim zweiten fahr ich günstiger weil Mealprep in den Jackentaschen aber doppelt so langsam weil beladen Aber wo ein Wille da ein Weg Selbst ist die Leistungsträgerin SCHUPO Sag mal kommst du eigentlich mit zur Demo Gegen Altersarmut und gegen Sozialabbau und – ELISABETH (Bekommt keine Luft) Google Atemnot Finde Psyche Reiß mich zusammen SCHUPO Willst du nicht mal ELISABETH Geht schon SCHUPO Untersuchen lassen ELISABETH Zu teuer SCHUPO Du hast doch Geld ELISABETH –

48

SCHUPO Du hast ein regelmäßiges Einkommen ELISABETH Ich wills für wichtige Dinge ausgeben SCHUPO Wichtiger als deine Gesundheit ELISABETH Erinnerungen machen SCHUPO Im Liegen ELISABETH – SCHUPO Lass mich doch Ich kann dir das auslegen Mir tuts nicht weh ELISABETH Ich krieg das schon hin *** SCHUPO Ich bin spät dran aber das ist Absicht Vor der Hochschule am Seiteneingang wartet schon mein Vorgesetzter Einer von denen die sich mit der Macht drehn wie ein ganz sensibles Pflänzchen Seine Arme hängen schlaff aus dem schwarzen T-Shirt Vor dem Sitzungssaal macht er drei große Schritte an mir vorbei Er hält mir schnaufend die Tür auf Bitte sagt er Seine Brille beschlägt Das Kuratorium hat sich bereits eingerichtet Sie sitzen hinter Laptops und Gesetzestexten Gesetze die eben erst verabschiedet wurden Man sieht die billige Bindung aus dem Copyshop manche sind schlecht geklebt Ich stelle mir vor wie ihnen wer Das Kleine Sabotagehandbuch in den Pseudo-Jurameter schummelt Wie irgendwer in einer Welt nach unserer Zeit das dann findet und denkt Die müssen ja ziemlich verzweifelt gewesen sein Die Vorsitzende die natürlich eine Frau sein muss beschwert sich zuerst wortfüllig über die poröse Bausubstanz der Hochschule wobei unklar bleibt ob sie bröckelnde Fassaden und morsche Tischbeine meint oder ob sie das eher ideologisch verstanden wissen möchte Ihre Mitstreiter kräuseln zustimmend die Nasen denn das ist die Ambivalenz die sie gerne aushalten und auch aushalten können KURATORIUM Sie wissen warum Sie hier sind SCHUPO Nein KURATORIUM Ja also Dann wären wir bereit für Ihre Stellungnahme SCHUPO Mein Vorgesetzter räuspert sich nervös Ich sage dass ich nicht weiß warum ich hier bin aber

KURATORIUM Sie wissen dass der Kinderschutz uns am Herzen liegt SCHUPO Ja sagt mein Vorgesetzter Welche Kinder Sag ich KURATORIUM Sie wissen SCHUPO Jetzt die Frau KURATORIUM Dass auch die Studenten der Abteilung für die Sie arbeiten Arbeiten dürfen Die Studenten Die Studentinnen SCHUPO Jetzt muss sie sogar gendern Ein kleiner Sieg für mich denk ich KURATORIUM Sie wissen dass auch diese Studentinnen sich noch in einer sensiblen Lebensphase befinden die durch unangemessene Näheverhältnisse – SCHUPO Was für Verhältnisse VORGESETZTER Du weißt doch wie du bist SCHUPO Wollen Sie mir unterstellen dass ich – VORGESETZTER Sch sch sch SCHUPO Er schiebt seine Brille zurecht Wie Sags mir Wie bin ich denn Kein patriarchales Arschloch das auf kleiner Junge macht und alle die nicht wolln wie er perfide unter Druck setzt Ich sage nichts Meine Hände zittern Scheiße KURATORIUM Haben Sie dem etwas hinzuzufügen SCHUPO Er räuspert sich schon wieder KURATORIUM Haben Sie dem etwas hinzuzufügen SCHUPO Die Chefperson scharrt in den Startlöchern Der weiß jetzt ist seine Zeit gekommen VORGESETZTER Also SCHUPO Endlich Redeanteil VORGESETZTER Schau dich doch mal an Ich mein Ich mein das nicht so Aber schau dich doch mal an wie du aussiehst Wie du auftrittst Hochschule die muss von allem eines Die muss neutral sein Müsstest du doch wissen SCHUPO Uff

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Gleich kommt das Arschloch mit – VORGESETZTER Der Beutelsbacher Konsens SCHUPO Um die Ecke und VORGESETZTER Der besagt dass wir in unserer Funktion als Bildungsträger dem Neutralitätsgebot zu folgen haben SCHUPO Er schaut erwartungsvoll Wars das Gut Hole Luft Grundlage für unseren Bildungsauftrag ist das Grundgesetz Denke Du dummes Arschloch Sage Die Garantie der Menschenwürde Das Rechtsstaatsprinzip Das Demokratieprinzip Die aktive Mitgestaltung ebendieser – KURATORIUM Sie haben junge Menschen dazu angestiftet zu demonstrieren SCHUPO Ich habe einen Aufruf weitergeleitet KURATORIUM Sie sind mit ihnen gemeinsam dorthin gegangen SCHUPO Ja na und Na und KURATORIUM Es liegen mehrere Beschwerden gegen Sie bei der Meldestelle vor Sie haben sensible Menschen ideologisch beeinflusst Sie haben sie für Ihre Zwecke manipuliert Sie haben die Student- die Menschen dieser Hochschule SCHUPO Das hab alles ich allein gemacht?

Wahnsinn KURATORIUM Sie und ihre Freunde Ihre Freundinnen SCHUPO Da ist der wieder Der Etappensieg der kleine Sie rufen mir noch irgendwas hinterher Aber ich muss mir das nicht anhören Ich weiß dass sie unsere sogenannten Vergehen als Vorwand nutzen um uns alle rauszuschmeißen Die wollen dass ich geh ich geh aber nicht *** ELISABETH Ich stehe vor dem Ärztehaus Ich sage Hallo, hier bin ich Ein paar müde Köpfe heben sich in zu vernachlässigenden Winkeln Hallo, hier bin ich, sage ich Mir gehts nicht so gut Ich hör mich selbst kaum Was ist das für eine beschissene Müdigkeit

Theater der Zeit 12 / 2025

Was ist das für ein beschissen flaues Gefühl im Magen Ich sage Liebe Arztperson Ich bin hier um vorstellig zu werden Ich bin hier zur Leistungsoptimierung Ich bin Leistungsträgerin, sage ich Ich bin Leistungsträgerin und stolz drauf Ich weiß dass ich nicht so aussehe dass ich momentan nicht so aussehe aber Ich schreie über die Köpfe und die Körper weg Mein Schrei verhallt irgendwo und kehrt als Gelächter zu mir zurück Ha ha ha Macht der Gehweg In der WG klappt das nicht mehr so gut mit meinen ambitionierten Beschäftigungsprojekten Nicht mal mit den normalen Wo ist Bruno wenn man ihn braucht Ach ja Manchmal hab ich das Gefühl die Tage rutschen in eins dass ich nicht mehr weiß ob BEWOHNER:INNEN Busfahren üben?

ELISABETH nö tut mir leid heute nicht BEWOHNER:INNEN Bahnfahren lernen?

ELISABETH ja du heute schwierig schwierig BEWOHNER:INNEN Spaziergang in Fußgängerzone?

ELISABETH bist du dir sicher BEWOHNER:INNEN In den Park vorm Haus?

ELISABETH Ach du da sticht dich eine Biene und du schwillst an und platzt und ich muss dann die Sauerei wegmachen ELTERN Wenn du denkst du kannst als enttäuschendes Subjekt exzellieren hast du wohl vergessen wo du herkommst wie enttäuschend ELISABETH Hallo Kreislauf altes Haus Ich fresse Glückszucker direkt aus der Packung Ich lutsche alle Karosteine weg Ich beobachte mich wie ein eigentümliches Wesen unterm Mikroskop MUTTER Das Bärtierchen ist beinahe unzerstörbar Austrocknung arktische Temperaturen und Sauerstoffmangel können ihm nichts anhaben Der Grund dafür liegt in einem Schutzzustand in den das Bärtierchen im Angesicht solcher extremen Lebenslagen eintreten kann BEWOHNER:INNEN So und was machen wir jetzt Ja Elisabeth was machen wir jetzt Schau mal Elisabeth

ELISABETH

Nicht jetzt

BEWOHNER:INNEN Schau doch mal Elisabeth ELISABETH

Ich hab gesagt nicht jetzt

BEWOHNER:INNEN Was machst du denn da Elisabeth du Du Elisabeth du du Was machst du denn da Was machst du denn da du kannst nicht Das kannst du doch nicht Elisabeth also Du kannst doch nicht einfach immer nur rumliegen wirklich Du musst doch alles Mögliche machen also wirklich Du musst doch alles möglich machen Schau mal Die Regale schau mal Die sind ja völlig leer schau mal Die Fenster schau mal die Sind ja völlig vollgeschmiert und voller Federn ELISABETH

Verdammte Tauben

BEWOHNER:INNEN Schau mal Elisabeth Die brüten Ja schon schön Schau mal die brüten Schön Schau mal jetzt sind sie geschlüpft Schau mal Elisabeth Können wir die vielleicht behalten Elisabeth Wir Können die vielleicht bestimmt behalten oder oder nicht Warum liegst du denn die ganze Zeit da in der dunklen Ecke Warum liegst du denn die ganze Zeit da unterm Regal Soll ich das mal wegmachen Auf dem Balkon Soll ich die mal wegmachen Elisabeth Hallo Hallo ELISABETH

Was denn verdammt

Was wollt ihr wegmachen Die Balkontür steht offen Draußen ham sie sich versammelt mit den Rücken zu mir Schulter an Schulter Sie treten auf dem Stand und schmeißen Erde in die Luft Ich dräng mich zwischen sie Im Blumenkasten am Geländer haben sie etwas errichtet das halb nach Schrein aussieht und

49

Stück Gerhild Steinbuch halb nach desolatem Vogelhaus

*** Nach dem Aufwachen erst mal

mehrere der Politik der neuen Regierungs­

Beate segnet die Toten mit ernster Miene

SCHUPO

Die Taube hat schon eine zweite Haut angesetzt

überprüfen ob das alles echt ist

gericht berufen wurden.

Darauf tummeln sich munter Würmchen

Ich hab einen steifen Nacken von der dünnen

Oppositionsparteien werfen der Regierung die

Die Taubenbabies sehen aus wie Trockenobst

Isomatte und wir alle stinken

Aushöhlung der Demokratie vor. Durch die

*** Bruno schleppt Umzugskisten aus seiner

Stinkend kochen wir Kaffee in der Küche im

Besetzung des Verfassungsgerichtshofs durch

Halbstock

parteinahe Personen würde fortan kein von

Wohnung.

Als ich gesagt hab ich geh hier nicht weg hab

der Regierung erlassenes Gesetz einer weiteren

ich das eher metaphorisch gemeint

Prüfung unterzogen werden, so die Opposi-

noch mal blicken lässt

Aber am nächsten Tag haben die Studierenden

tion. Dies betreffe auch die in den letzten

ELISABETH

die Eingänge verbarrikadiert als ich gekommen

Wochen erlassenen Gesetze zu Gendern,

bin

Bildung, Überstunden sowie ein Gesetz für

Sie haben gesagt

mehr Transparenz im öffentlichen Leben,

Wir gehn hier nicht weg

welches vorsieht, dass unabhängige, also

Also bin ich auch nicht weggegangen

staatlich nicht geförderte Medien fortan nur

Jeden Tag kommen ein paar aber ein paar

mit Genehmigung des Finanzministeriums

spazieren gehen wollen

gehen auch wieder

finanzielle Unterstützung aus dem Ausland

BRUNO

Wir sind vielleicht ein Viertel aller Mitarbei-

erhalten dürfen – also gar nicht.

ter:innen wenns hochkommt

Mehrere Nichtregierungsorganisationen sowie

Gegen Sozialabbau und Altersarmut und

Es gilt den Betrieb neu zu organisieren auch

die ebenfalls von Repressalien betroffenen

BRUNO

ohne finanzielle Mittel

Universitäten des Landes haben für dem

Das ist wichtig

Es gilt alles Mögliche zu organisieren aber

morgigen Parteitag der Regierungspartei

In einer Demokratie haben alle eine Chance

gerade heißt das erst mal weitermachen

weitreichende Proteste angekündigt.

verdient –

Was kannst du denn so fragt mich irgendwer

BRUNO

BRUNO

Hab nicht gedacht dass du dich Ziehst du um

Wie gehts dir

Pause.

ELISABETH

Ausgezeichnet

Pause.

ELISABETH

Du hasst spazieren

ELISABETH

Kollektiv spazieren

Für eine bessere Welt

ELISABETH

BRUNO

Wollte fragen ob wir vielleicht

partei nahestehende Richter ins Verfassungs-

mich tausendmal gesehen aber keine Ahnung

Wenn Sie mich fragen, sollten wir nun damit

Ist das so

wer ich –

aufhören, das noch Demokratie zu nennen.

Und woran dachtest du bei Chancen genau

Was kannst du denn so

Guten Abend

wenn ich fragen darf

Als würde es noch eine Rolle spielen was man

Dornige Chancen oder Herausforderungen oder

kann und nicht was man machen kann

*** Cut. Dauerwerbesendung.

einfach nur richtig beschissene Möglichkeiten

Später als der Kaffee längst alle ist gibt die

JÖRG DRAEGER

Pause.

Regierung bekannt dass aufgrund des

dieser Gegenwart die nie zu Ende geht

Ach ja

Herzlich willkommen in

Budgetlochs Kürzungen vorgenommen werden

ELTERN

Pause

müssen. Sie beträfen sagen sie vor allem die in

JÖRG DRAEGER

BRUNO Oder willst du mir vorher was sagen

öffentlicher Hand befindliche Infrastruktur

So und jetzt stellen wir uns alle bitte mal vor

BRUNO

Hilfst du mir mal

Servus Servus

Tut es dir leid

und ich nehme an die meinen auch uns.

Jetzt stellen wir uns alle mal bitte hinter diese

Bist du deswegen da

Abends drehn sie uns den Strom ab. Strom

Kisten

Pause.

und Internet als wären wir dann abgeschnitten

So und jetzt sagen Sie mir bitte wer welche

von der Außenwelt.

Kiste bekommt

Ich laufe durch die grauen Gänge ich trag

ELTERN

mein Stirnlicht voller Stolz mein Magen knurrt

Postkiste

Ich hab manchmal das Gefühl dass das gar

Wäre gut wenn wer was zu essen vorbeibringen

Geschenkekiste

nicht mein Leben

könnte aber ich weiß nicht wen ich fragen soll

Autoritarismuskiste

ELISABETH BRUNO

Du Bruno

Ja

ELISABETH

Ich

Dass mein Leben ein ganz andres – BRUNO

Ich würd dich nicht fragen ob du

MARIA

*** Und damit zu den Meldungen des

Bücherkiste

Schwierig Schwierig Elisabeth

mir hilfst wenn ichs allein könnte

Tages:

Welch Kiste soll dein Herzblatt sein

Du bist die letzte Person die ich fragen würde

Mit der Bestimmung, dass nur die Regierungs-

ELISABETH

Pause. Elisabeth kann nicht.

fraktion und nicht mehr ein paritätisch

JÖRG DRAEGER

BRUNO

besetzter Parlamentsausschuss Verfassungs-

Die Gaben sind verteilt

Du musst dich hinlegen

richter:innen vorschlagen kann, konnte

Na dann machen wir mal auf was Sie sich

Ein Timer geht ab.

angesichts der Mehrheit im Parlament die

eingebrockt haben

Konservenapplaus.

Kontrolle über die Ernennung der Verfas-

ELTERN

JÖRG DRAEGER Henlo du prekäres Verhältnis

sungsrichter:innen, pardon, der Verfassungs-

Reaktionäre Umbildung

Ich biete dir 2000 Mark für deine –

richter, gewonnen werden. Zugleich wurde die

Schau mal

BRUNO

Anzahl der Richter erhöht, wodurch gleich

Ein neues Arbeitszeitgesetz

50

Lass mich raten

Verpiss dich

– So

Schau mal

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Schau mal

Und wenn irgendwo ein Strick an der Wand

Der öffentlich rechtliche Rundfunk ist ein

Ein Ticket für die gute deutsche Edelstein­börse

hängt kann man davon ausgehen dass –

vollverglaster Kubus mitten in der Stadt

im Wert von eintausend Mark

ELISABETH

Am Anfang hab ichs gehasst die Auslage aber

JÖRG DRAEGER

sich außerdem bereit zur Übernahme der mit

man gewöhnt sich an alles

Und jetzt müssen sie sich einig werden

der Liegenschaft verbundenen Belastungen in

Auf dem großen Screen über dem Eingang

ELTERN

monatlicher Höhe von siebentausend –

sieht man Nachrichten aus aller Welt

VATER

Heute seh ich gar nichts außer Köpfe

So

Nein

JÖRG DRAEGER ELTERN

Doch

Peanuts

ELISABETH

Oh

JÖRG DRAEGER

Also

VATER

Die Vertragspartnerin erklärt

Ich kann mir das nicht leisten

Ich sag Hallo Kollegen

Wirst du –

Ich gebe Ihnen diesen Tresor gegen alles was

ELISABETH

Sie haben

ELTERN Das geht doch alles an die Bank sonst

Hallo

Die ganze schöne Arbeit

Ich dräng mich durch die Körper die dazu­

JÖRG DRAEGER

gehörn die Stufen hoch zum Eingang

ELTERN

Ok

JÖRG DRAEGER

Also

Ich schaff das nicht

Einfach hier an der

Kolleg:innen

Ich gebe Ihnen 100 Mark für Ihren Tresor

gestrichelten Linie

Der Sensor sirrt nicht als ich meine Zutritts-

ELTERN

Vielen Dank

karte leicht genervt dagegenknalle

OK

JÖRG DRAEGER

Also

ELISABETH

Du kannst meinen Arm wieder

loslassen

dafür Ihr Haus

ELTERN

Also

JÖRG DRAEGER

Welches Hütchen wollen Sie

Für dich

Welches Häuschen

ELISABETH

ELTERN

ELTERN

Schau mal

JÖRG DRAEGER

Probiers mit Freundlichkeit mit Zartheit dann mit Wut

Ich gebe Ihnen 50 Mark wenn Sie Ihr mir

Tja

Schön Da

Sagt die Kollegin neben mir Schönen guten Morgen auch dir

Ne Häkelnadel?

Nicht schlecht

Bei dir auch nicht Nein

Mit mercerisiertem Baumwollfaden

Bei mir auch nicht

Wenn Sie hier Ihre Ringe auf diese Häuschen –

JÖRG DRAGER

Bei mir auch

ELTERN

Erhalten Sie dieses dreiteilige Crochetset als

Nicht

JÖRG DRAEGER Auf diese Häuschen werfen

Treueprämie im Wert von dreizehn Mark fuffzig

Ja

die Sie abwechselnd also erringen könnten

ELTERN

Bei mir auch nicht

ELTERN

JÖRG DRAEGER

Also

Jawohl

Hiermit

Wow So

Lass mich –

Elisabeth sag doch mal was wir machen sollen das

Und jetzt kannst du auch mal aufhören so

Der hinter mir

Soll schließlich alles einmal dir gehören

suizidal vor dich hin zu flennen

Lass mich

ELISABETH

Mit Häkelnadeln kannst du dir ohnehin keine

Lass mich doch mal

Pulsadern aufschlitzen

Rempelt

Da kann man auch gleich lächeln

Packt die Karte aus

Jetzt sag doch mal

ELTERN

Soll es nicht

Doch

ELISABETH ELTERN

Nein

Doch

ELISABETH

Nein

SCHUPO

Elisabeth

***

Tja Schönen guten Morgen auch dir und

ELTERN Doch doch doch natürlich soll es das

Kommst du heute

Wir wiederholen uns

ELISABETH

Du kommst doch

Wir wiederholen uns

Das ist wichtig

Wir wiederholen uns

Du kannst nicht immer nur rumliegen

Wir wiederholen uns

ELTERN

Muss es nicht

Selbstverständlich

Eine andere Möglichkeit gibts ja auch gar nicht VATER

Hier

*** Es ist noch dunkel als ich das Haus

Wir wiederholen uns und

Könntest du hier bitte mal unterschreiben

MARIA

ELISABETH

verlasse

sicher ist sicher

Vorher das Kind auf die Stirn geküsst

SCHUPO

Sie schläft jetzt wieder bei mir jede Nacht

aus der Hochschule darauf mein lächelndes

VATER

Übergaberegelung

ELISABETH VATER

Wofür

Gesicht

Mein Morgen ist 50 Quadratmeter Stille

Ich schreibe: Wir gehen nicht

Potentieller Todesfall

Der Erzeuger hockt schon in der sicheren

Ich fühle mich nur so halb heroisch

Arbeit oder ist bereits ausgezogen was weiß ich

Punkt 17 Uhr soll man sich vor dem Stadion

Wer braucht schon Kernfamilie wenn man

einfinden um ein Zeichen zu setzen haben sie

Nachbarn hat

gesagt

Ich packe ihnen einen Kuchen auf den Tisch

Das Stadion hockt da wie ein träges Tier

Ich schreibe Danke fürs Aufpassen

Als wäre es immer schon dagewesen

Ich mal ein Herz ich schreib Ich hol sie nach

Drinnen tagt der Parteitag

der Arbeit

Wir müssen laut sein

ELISABETH

Jetzt schon

Live fast die an Schlaflosigkeit sag

ich immer ELISABETH VATER

Ich poste ein paar Bilder von innen

Wann fahrn wir endlich weg Mama

Also meiner VATER

Dann wiederhole ich mich auch noch mal weil

Warum

Liegenschaft

ELISABETH VATER

Was ist das

Kann das nicht warten

Das Leben operiert mit Wahrschein-

lichkeiten

Theater der Zeit 12 / 2025

51

Stück Gerhild Steinbuch Schreit wer

*** ELISABETH Neunzehn dreißig ist alles vorbei

Sie spielen Konservenklatschen unter den

Wir müssen laut sein Ja

An den Rändern stehen noch welche mit ihrem

ELISABETH

Ok

bescheuerten Papplicht wie wir

(Bekommt keine Luft)

Ja ja ok

Ansonsten Alltag wie immer

Warte doch mal

Ich bin immer laut aber

Menschen gehen vorbei

(Bekommt keine Luft)

Wir müssen laut sein

Ein paar sehen uns und schütteln den Kopf

Wir müssen immer laut sein

Ein paar murmeln was

PRANTL

Gibt nur das oder nicht sichtbar

Wenige haben Fahnen dabei

Du bist zu spät

Gibt nur reinknalln oder untergehn

Die meisten sehen ganz normal aus

ELISABETH

Gibt nur auffalln oder jemand fasst in dich rein

Eine Frau im Kostümchen spuckt vor uns auf

PRANTL Dachte du fährst alles mit dem Rad

Ja ich bin laut

den Boden

ELISABETH

Ich bin gerne laut

SCHUPO

Aber

Du siehst scheiße aus

Ich sage

ELISABETH

PRANTL

MARIA

Wir stehen stehen vor dem Kubus

Wie gehts dir Du siehst müde aus

echten Applaus (Bekommt keine Luft) Warte

*** Was grinst du dumm Hab die Bahnfahrt unterschätzt Nicht mehr

Aber das sag ich nicht Hast du nen Platten

der mal unser Arbeitsort war und starren auf

SCHUPO

den Screen der nichts zeigt

ELISABETH

Die haben uns ausgesperrt

SCHUPO

Sagt irgendwer

müde bin

PRANTL

Wegen staatsfeindlicher Berichterstattung

Aber wie sagst du das wem die immer anders

ELISABETH

Sagt irgendwer

müde ist

PRANTL

Wie soll das gehen

ELISABETH

Sag ich

SCHUPO

Haben die über Nacht einfach alle Schlosssysteme

Bitte

ELISABETH

Und dann denk ich

Stille.

Finde Psyche

Scheiße

JÖRG DRAEGER

Google Psyche

Und dann

Nichts als Symbolpolitik

Finde Heilkristalle

Die haben sich mit den falschen angelegt

Wenn du mich fragst

Schlag mir das Pendel innerlich drei mal gegen

SCHUPO

ELISABETH

den Kopf

Ich denk dass ich mich geirrt hab

ELISABETH

– Du siehst nie müde aus

Will ihr sagen dass ich anders

Alles ok?

Nimm mal meine Hand bitte

Geh aus meinem Kopf raus

PRANTL

ELISABETH

Das hatten wir bereits Was keuchst du so

anderes

was bringt und man muss wissen wo man

ELISABETH

hingehört

projekt

Menschen

Alles geht Elisabeth aber nicht alles gleichzeitig

PRANTL

Andere schieben sich an mir vorbei

Stille.

ELISABETH

Die wollen da rein mit den Faschisten kuscheln

ELISABETH

Es schieben mehr als bleiben

Ich hab mir gedacht

genommen

Es zieht mir die Beine weg

Jetzt musst du ihre Hand nehmen sonst –

ELISABETH

Ich leg mich an den Straßenrand

Stille.

PRANTL

Vor dem Stadion drängen sich

Alle ham gestarrt

Ich hab Schmerzen

Pandemie Schmandemie

JÖRG DRAEGER

ELISABETH

Mir gehts nicht so gut

Merklich

Dass es keine Bilder braucht sondern was

Man muss wissen was

Ja

Du schwitzt unappetitlich

PRANTL

PRANTL

Google Atemnot

Hast du dich verschluckt Wir haben ein neues Gruppen-

Davon steht hier nichts –

Da steht gar nichts mehr genau Tut mir leid

Elisabeth Königin der Berichte

Ein paar Gesichter schauen besorgt aber ich

SCHUPO

will eure Sorge nicht

dagestanden hab und gewartet

PRANTL Du akademische Ein-Frau-Maschine

Sie hat mich gefragt ob ich auch wirklich komme

Irgendwann bin ich gegangen

ELISABETH

SCHUPO

Menschen laufen vorbei und ins Stadion rein

für eine –

Das ist wichtig

Ich weiß nicht wie lange ich

ELISABETH

Es war so viel los und Es ist sowieso ziemlich viel los

raus rein raus

PRANTL

Sie fressen Popcorn und Zuckerwatte als wär

ELISABETH

Klar

nichts

PRANTL

Klar ist das wichtig

Auf den Screens an den Außenwänden wird

ELISABETH

Ich hab mich umgesehen

seine Rede übertragen

also wann ich einen neuen Kollegen –

Ich hab mir kein Wort geglaubt

Er sagt er wolle dem Land mit seiner

Pause.

SCHUPO

Bewegung neue Energie verleihen

PRANTL

Wenn Menschen so zusammenhalten können

Er sagt jeder Arbeiter jeder Mensch wäre

ELISABETH

wie wir hier

willkommen jeder

PRANTL

Denk ich

Sagt er

Aber da kann man nix machen

Wenn die das noch können

Der seinen Lebensunterhalt ehrlich verdient

ELISABETH

MARIA

und für seine Kinder und sein Land kämpft

freien Stelle wollte ich noch mal nachfragen –

Verstehst du ELISABETH

52

Ich hab gesagt

Und ich denk

Dann gibts noch Hoffnung

Oder Für eine Person und

Oder nicht Und da hab ich mich gefragt

Fehlt er dir –

Mir auch Also wegen der potentiell jetzt

Theater der Zeit 12 / 2025

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen PRANTL

Ks ks ks

PRANTL

Willst du mich verarschen

Jetzt rede ich

ELISABETH

Weißt du was das ist

Stille.

Pause.

PRANTL

ELISABETH PRANTL

Glückszucker

Ohne Karosteine

ELISABETH

ELISABETH MARIA

–

ELISABETH Tut mir leid

ELISABETH PRANTL

Deine Hände zittern

Ich muss das nicht sagen und das

MARIA

ELISABETH Egal

ELISABETH

MARIA

ELISABETH

PRANTL …ich mach die Dinge gern auf

sein muss

Ich hab Kreislaufprobleme ich –

meine Weise

ELISABETH

PRANTL

ELISABETH

Ich hatte

Das ist Trägereigentum

ELISABETH

Was willst du von mir

PRANTL

ELISABETH

Stille.

Ja

Dienst nach Vorschrift

ELISABETH

MARIA

Ich kann dich wohin bringen wenns

Das bildest du dir ein

–

Und wo soll die Reise hingehn

ELISABETH

Pause.

PRANTL Ist das eine ernstgemeinte Frage PRANTL

Schon wieder

Tut mir leid

Ich hab gedacht

PRANTL Du kannst das nicht einfach aufessen

Da

Bist du Ingenieurin –

–

weißt du aber…

Aus der WG

Ist das dein Bus

Brauchst du ne Mitfahrgelegenheit?

Nachhause

(Bekommt keine Luft) Meine Arme kribbeln

ELISABETH

Du kannst mich nicht feuern

Meine Hände sind blau

Grade hast du noch gesagt Ein-Frau-Maschine

Ich versteck sie in den Ärmeln damit sie nicht

Du brauchst mich doch

auffalln

Bitte

Ich denk dran wie wir früher rausgefahren

PRANTL Diebstahl darf nicht belohnt werden

Du brauchst mich

sind Schupo und ich

ELISABETH

Bitte

Haben uns Räder geliehen und dann sind wir

Bitte nicht

übers Feld wie zwei High-Speed-Sportlerinnen

PRANTL

Warum

Vorschrift

ELISABETH

Warum Du kannst mich jetzt nicht

rausschmeißen In sechs Wochen ist Tag der offenen Tür für

*** Als ich nachhause komme ist es

Wir haben uns an den See gelegt unter die

die Angehörigen

MARIA

Und ja den Familien ist das egal was wir da

dunkel

Bahn verschwitzt zurück eingepfercht

auffahren an Programm die kommen für die

Bei den Nachbarn brennt noch Licht

zwischen lauter andren Naturfreundepärchen

Bowle und fürs schlechte Gewissen aber für

Ich sehe meine Tochter wie sie mit den beiden

mit unseren Rädern –

die Bewohner:innen für die ist das wichtig

um den Küchentisch sitzt

Ich bin so müde

Wir können die doch nicht hängen lassen

Das Licht ist ziemlich warm und weich so von

Scheiße

Die Organisation hätte sonst Bruno übernom-

außen betrachtet

Zerrt an mir liegt auf mir wie so eine

men aber

Sie ist hat so ganz leichte Bewegungen die sind

fehljustierte Gewichtsdecke

Ich hab das alles im Griff

viel kleiner als bei anderen

Ich denk an meine Eltern

Paar Grillwürstchen Fanta Erdbeerbowle

Du siehst es erst nicht aber irgendwas zuckt

Keine Ahnung warum

bisschen Musik eine der Bewohner:innen

immer irgendwie

Meine Mutter auf dem Teppich

macht die Playlist und als Höhepunkt unser

Sie

VATER

Gemeinschaftsprojekt

Sie hat mich im Sommer gefragt ob es uns

ELISABETH

Pause.

schlecht geht

VATER

Ein Kind in der Nachbarschaft hätte sowas

vor dem Kind

erzählt

ELISABETH

Hätte gesagt dass unsere Familie ja bestimmt

nicht mein Vater ist

Dass wir die ersten wären die sich Sorgen

Er beugt sich über ihren kleinen Körper

machen müssten

Dahinter liege ich

Sorgen machen

Ich schau über beide weg

Ich hab ihr gesagt es geht uns gut das siehst du

VATER

doch schau mal

Ich biete dir 2000 Mark

PRANTL

Und was soll das sein euer

Höhepunkt Pause.

ELISABETH

Wir häkeln eine Taube

Pause.

PRANTL

Ne Taube

ELISABETH PRANTL

Überlebensgroß

Wie überlebensgroß

riesigen Bäume und später sind wir mit der

Willst du nicht mal aufstehen Sie bewegt sich nicht

Du kannst dich nicht so gehen lassen Ich denk an meinen Vater der

Schau

Ich weiß nicht ob das pädagogisch richtig war

ELISABETH

Maßstab stimmt wie wir ihn abgenommen haben.

mit dem Anlügen aber ich weiß auch nicht wie

Kastanientier

PRANTL

ich ihr das alles sagen soll

Nein

Wie erklärt man sowas seiner Tochter

Ich bin ein Bärtierchen und der Fernseher ist

als wir angefangen haben da haben wir gemerkt

Wie erklärt man eine Welt so dass sie nicht

eine Streichholzschachtel

PRANTL

glaubt die ist in Stein gemeißelt

Mein Vater das lächerliche Männlein wackelt

Hinterm Familienpanorama bläulich Fernseh-

mit Zahnstocher-Armen und -Beinen

Genau genommen

licht

Ich erkenn sein Gesicht nicht mehr so winzig

Taubenmutter Kind Kind Kind

Ich weiß was sie sich ansehn

wie der ist

ELISABETH

Wir dachten zuerst dass der

Größer als ich

ELISABETH

…also von dem toten Tier aber

Was fürn totes Tier

ELISABETH

Tiere

Auf dem Balkon

Theater der Zeit 12 / 2025

***

Ich bin so groß wie ein

Meine Mutter kleckst in den Teppich

53

Stück Gerhild Steinbuch Ich seh sie nicht mehr

mein Vater gegen die Klingel an und führte

Bäh Lohnnebenkosten bäh bäh bäh nuschelte

Wahrscheinlich ist sie aufgesprungen

mich in die Gerätegalerie die früher unser

Helmut

Egal

Wohnzimmer gewesen war

Er schwebte wie ein kleiner Gott direkt unter

Von oben hat man die beste Aussicht

Du kannst was in die Stadt mitnehmen

dem Plafond

Tor eins

Hä sagte ich

Tor zwei

Tja sagte Bruno und zerbrach versehentlich

BALLADE VON ELISABETH II

Oder Tor –

ein Ei

Zurück in der Stadt beschloss ich mich als

Arthritis sagte er

Leistungsträgerin zu definieren

ELISABETH

Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk

Mein Kopf rasselt

Helmut war die erste Liebe meiner

***

ALLE

(Bekommt keine Luft)

sagte Bruno und seufzte

Möchtest du ein Stück Zucker zum Kaffee

Mutter und der erste Albtraum meines Lebens

Wir saßen in der Wohnzimmerküche und

schrie meine Mutter gegen das Rasseln an und

Als ich mit dem Abschlusszeugnis die Schule

betrachteten die Bewohner:innen beim

mein Vater rührte verträumt und mehrhändig

verließ hing er schief im Himmel ein senffarbenes

Ostereierbemalen

im neuen Tassenset sechsteilig

Gespenst das mit Stühlen nach mir schmiss

Lies das mal sagte Bruno

Danke

Das ist ein entsetzlicher Stuhl sagte ich

Ich las dass Leistung etwas mit Vermögen zu

Nein danke sagte ich

Das ist ein entsetzlicher Stuhl sagte er

tun hätte und dass Vermögen also belohnt

Wollt ihr nicht mal nachsehen wer die ganze

Dann können wir uns ja einigen sagte ich

werden müsse

Zeit an der Tür klingelt

Mal sehen sagte er

Las dass Unternehmen entlastet werden müssten

Ich saß bei ihnen in der Küche

Möchtest du ein Eis sagten meine Eltern als

Las dass Sozialabgaben jetzt Lohnnebenkosten

Meine Eltern hatten graue Gesichter

ich sie später besuchte

hießen

Die Gegenwart zog vorbei und verhakte sich

Die Klingel rasselte

Las dass mehr Netto vom Brutto eigentlich

am Horizont

Schau mal unsre neue Eismaschine brüllte

bedeutete dass –

Jetzt sind wir also hier

Anzeigen

proberaum in schöneweide und mitte infos & miete

Stück GLAUBE LIEBE HOFFNUNG oder Leistung muss sich leider lohnen Wir sind die ganze Nacht gefahren

Deine Mutter liegt auf dem Teppich und

JÖRG DRAEGER

Die Landschaft hat zuerst geblüht dann nicht

weigert sich sich zu erheben

Ich biete dir 1000 Mark wenn du dich

mehr

Ihr Scheißkapitalistenschweine brüllt meine

umbringst

Mein Magen hat geknurrt

Mutter als sie sie mitsamt dem Teppich aus

ELTERN

Mein Handy schrillt

dem Haus tragen

Ein Messerset

Ich geh nicht ran

Tut mir leid sagt mein Vater

Schau mal

Mein Bankberater hinterlässt eine Nachricht

Ich wünschte alles hätte dir gehören können

Eine Familienpackung Einwegrasierer

Ich bin nicht Ihr Berater sagt er

Er weint

Schau mal

Aber Sie müssen sich jetzt mal zusammenrei-

Ich hab ihn noch nie weinen sehen

Überdosis Schmerzmittel

ßen

Ich seh zum ersten Mal wie alt er ist

JÖRG DRAGER

Ich krieg keine Luft

Kannst du mich kurz festhalten bitte

Nicht so schnell

Das tut mir leid

Geh aufs Ganze.

Bitte drücken Sie A für

Sagt mein Vater

JÖRG DRAEGER

Wir stehen vor unserem alten Haus das

Hier in meinen Händen halte ich nämlich drei

JÖRG DRAEGER

abgetragen wird

exakt gleich große Tore

Diesen Zeitpunkt haben wir leider verpasst

Menschen schleppen Fernseher und Tiefkühl-

ELISABETH

Alles geht Elisabeth aber nicht alles gleich­

truhen aus dem Inneren ins Freie

JÖRG DRAEGER

Sie schleppen Stühle und Tische

Mark wenn du –

ELISABETH

Sie schleppen unsere Couch

ELISABETH

sam gemacht dass man hier seinen Körper

Für dich

Ok ich machs

verkaufen kann

Mein Vater reicht mir die Eismaschine

Ich mach was du willst

JÖRG DRAEGER

Erdbeer oder Banane

Ich brauch das Geld

brauchen deinen Körper

Wo ist Mama

Ich steh im Jobcenter und sage

Schau dir mal an wie du dahängst

Gleich

Die sind aber ziemlich klein Ich biete dir fünfhundert

(Bekommt keine Luft)

Ham wir abgeschafft

Schau mal

Na na na na na

Pause.

Tja

zeitig Man hat mich darauf aufmerk-

Den kann doch keiner

NATIONALES PERFORMANCE NETZ A N T R A G S F R I S T E N

GASTSPIELE THEATER

KOPRODUKTIONEN & GASTSPIELE TANZ

N AT I O N A L

N AT I O N A L & I N T E R N AT I O N A L

15/01/2026

02/02/2026

31/03/2026

15/04/2026

1 .

2 .

V E R G A B E

V E R G A B E

1 .

2 .

V E R G A B E

V E R G A B E

Das NPN wird von dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Stück Gerhild Steinbuch Er streichelt eine überlebensgroße Häkeltaube.

Hallo Helmut altes Haus

MARIA

ELISABETH

Zieh mal den Mantel der Geschichte aus bevor

haben warst du schon bewusstlos haben sie

Kann ich die mal kurz halten bitte

du einen Brandfleck reinmachst

gesagt

JÖRG DRAEGER

Du Hoffnungsträger für Millionen

BRUNO

soft meine Fresse

Was machst du noch mal beruflich Helmut

hab ich gedacht

Man kann sich alles schön reden wenn man

Was mit Menschen ah schon schön

SCHUPO Dass ich was sagen müsste was für

dafür Zeit hat

Also ja

dich Ehre zurechtrücken sowas

Ich weiß was du sagen willst

BRUNO

Wissen Sie eigentlich wer ich bin willst du

gemacht

sagen

MARIA

ELISABETH

Ist das deine

Die bewegt sich gar nicht

JÖRG DRAEGER ELISABETH

Life is too hard not to be

Schläft

Ich will sie noch kurz halten

Als sie dich aus dem Wagen gezogen

Dass du sogar am Ende Opfer bist

Ich hab zurückgestarrt und nichts Ich hab gesagt: Danke

Ich weiß schon wer ich bin

bitte JÖRG DRAEGER

***

Das bin ich

Prantl allein.

Alles durchgespielt

(Bekommt keine Luft)

PRANTL

Herzlichen Glückwunsch

Man muss wissen wo man hinpasst und wenn

über Menschen im Hausflur, die dich nicht

ELTERN

Tut mir leid keine Zeit

Du kommst nachhause, du steigst

man wo nicht hinpasst muss man wissen ob

interessieren, du schlappst die Treppen hoch,

Ein Minibus

man dann die Kraft aufbringt fürs Aushalten

legst die Füße hoch und dann knallst du dich

Das ist schön dass du dich freust

und wenn man sie dann aufbringt muss man

weg. Du hörst den Lärm von unten, manchmal

wissen obs das wirklich wirklich wert ist

das Geschrei, du stellst alle Geräte auf stumm,

(Bekommt keine Luft)

dann hörst du nichts mehr, Bilder von früher

gen hat

Scheiße

ziehen vorbei, du wirst sentimental und du

Den Moment finden

(Bekommt keine Luft)

schickst eine Nachricht an Menschen aus dem

Du kannst nicht immer so rumliegen hab ich

Manchmal hab ich so eine Vorstellung dass

sogenannten Früher, die keine Ahnung mehr

gesagt

was anders

haben, wer du bist, du löscht die Nachricht,

Vielleicht war es das

So eine Vorstellung von einem irgendwie

legst nach, du packst dich ein in Watte bist der

Dass dir wer sagt dass du genau so nutzlos bist

anderen Leben das sich rausfaltet aus einer

Morgen kommt.

wie du dich fühlst

andren Elisabeth bla bla bla

Funktional ist man solange andre denken dass

Am Ende bist du nur noch rumgelegen

(Bekommt keine Luft)

man funktional ist.

Du hast gestunken

Was nuschelst du da Helmut

Morgens putzt du dir die Zähne, übergibst

Hast gesagt dir tut alles weh

Schau nach oben?

dich, frühstückst, du schaust aus dem Fenster

Ich hab dir nicht geglaubt

Alles blau

auf die feine Linie und denkst

Jeder Mensch kann in die Dusche wenn er will

So ein schönes starkes Blau für sorgenfreie

Sicher hier auf der anderen Seite

Es gibt Menschen die für andre da sind und

Menschen

Schön

dann gibt es Machermenschen und man kann

So ein Blau dass es ordentlich scheppert hinter

nicht beides sein das geht nicht

der Hinrinde wie Schlumpfeis wenn man als

Nach zwei Monaten Besetzung sind die

Kind im Sommer hastig dass es einem nicht

meisten weg von den Kolleg:innen

gleich übers Kinn –

Wir bleiben erst zu siebt dann zu fünft dann

Heute ist kein hastiger Tag

zu dritt

(Bekommt keine Luft)

Wir warten auf ein Zeichen von außen

Ach komm schon

Ich muss nirgendwohin

Komm schon

Ok?

(Bekommt keine Luft)

Also

Marianne Faithful singt

Schau mal

SCHUPO

*** Ich weiß nicht wann es angefan-

Die letzte Nachricht von ihr ist

She knew she’d found forever

ein Bild von sich

As she rode along through Deutschland

Caption Ich bin hier

With the warm wind in her hair

Die letzte Nachricht ging nicht an mich aber

Fuß eins wippt im Takt

ich weiß dass sie nur für mich ist

Fuß zwei drückt das Gaspedal durch

Steig in den Bus

Jetzt gehts vorwärts

Fahr los

Irgendwer schreit aber ich hör nichts ich hör

Menschen gehen vorüber

ja nichts

Menschen ziehen vorbei

Immer nach vorne

Ein Gespenst geht vorbei

Auf den Rand zu hinter dem nichts mehr

Ein Gespenst zieht den Hut

kommt –

56

– ENDE –

At the age of thirty-seven

Ich bin hier ELISABETH

***

Theater der Zeit 12 / 2025

Theater der Zeit

Foto Maik Gräf

Diskurs & Analyse

„Fake Diamonds“, Künstlerische Leitung, Choreografie, Performance René*e Reith

Gastbeitrag m2act x Helvetiarockt: Schweizer Netzwerktreffen zu sexualisierter Gewalt in der Kulturszene Serie So You Think You Can Turniertanz? – Peter Sampel

Theater der Zeit 12 / 2025

57

Diskurs & Analyse m2act x Helvetiarockt

Prävention als Kultur Migros-Kulturprozent m2act und Helvetiarockt luden am 16. und 17. Oktober 2025 nach Basel zu einem Schweizer Netzwerktreffen zu sexualisierter Gewalt in der Kulturszene ein Von Annette Hoffmann

Das Ziel: Systematischer Wandel

Empowerment Space beim Netzwerktreffen

58

Während Helvetiarockt als Verein organisiert ist – er setzt sich in der Schweiz seit 2009 für die Gleichstellung aller Geschlechter in der aktuellen Musik ein –, gehört m2act zum Migros-Kulturprozent, der Förderinstitution der Migros-Gruppe. Mit einem Fördervolumen von 370.000 Franken fördert m2act in den Darstellenden Künsten Prozesse, Tools, Veranstaltungen und Initiativen, die einen systemischen Wandel hin zu mehr Gleichberechtigung, Diversität, Inklusion und faireren Arbeitsbedingungen verfolgen.

Jährlich stattfindende Netzwerktreffen sind Teil des Engagements.

Nachdem sich m2act fünf Jahre mit den Lebens- und Arbeits-

Theater der Zeit 12 / 2025

Fotos links Nadine Nützi, Grafik rechts Sonja Studer

Lesung von Sonja Eismann (Missy Magazine) „Candy Girls. Sexismus in der Musikindustrie“

„Das ist wirklich ein Hammerprojekt. Vielleicht ein bisschen abseitig, doch wenn sich der Richtige mit diesem nur Experten bekannten Alpinisten der Pyrenäen befasst, wird es schon ein Erfolg werden.“ Breitbeinig und ausschweifend erzählt die Darstellerin mit dem Schnurrbart im Gesicht von dem nächsten künstlerischen Projekt. Die Frauen in der Runde sind derweil zum Schweigen verdammt. Gleich zu Beginn von Emilienne Flagothiers Stück „Rage“ hatte das vierköpfige Frauenensemble angekündigt: „Wir spielen Szenen aus dem Alltag. Am Ende bekommen die Typen auf die Fresse.“ Und genau das passiert auf der Bühne in der Reithalle der Kaserne Basel. Der Schnauz wandert von Darstellerin zu Darstellerin und Frauen rächen sich an Männern, die nicht zuhören, den öffentlichen Raum für sich beanspruchen und beim abendlichen Kochen demonstrativ scheitern. Dabei wäre es so einfach. Mal zugeben, dass eine Frau sich auf einem Gebiet besser auskennt, dass kritisches Denken und Radikalität nicht nur vorbildlich, sondern auch attraktiv sein können und dass feministische Podcasts ihre Berechtigung haben.

Die Nummernrevue des alltäglichen Sexismus der 1993 geborenen Belgierin und ihr grotesker Humor standen jeweils am Ende der beiden Tage des Schweizer Netzwerktreffens m2act x Helvetiarockt: Awareness, Agency and Accountability in Music and Performing Arts in der Kaserne Basel. Nicht das schlechteste Ventil angesichts der Verhältnisse und Arbeitsbedingungen einer Branche, die oft nicht hält, was sie auf den verschiedenen Bühnen verspricht. Migros-Kulturprozent m2act und Helvetiarockt hatten gemeinsam zu einem Netzwerktreffen am 16. und 17. Oktober nach Basel eingeladen. Doch kann die Schweizer Kulturszene ­Radikalismus? Ist doch das politische System auf Ausgleich angelegt. Mehr als zweihundert Teilnehmer:innen besuchten die Vorträge, Workshops, Keynote und die Abschlussveranstaltungen.

Einschlägige Initiativen, Fachstellen und Projekte veranstalteten im Rossstall einen Marktplatz, wer wollte, konnte Achtsamkeitsübungen im Empowerment Space machen. Es waren Akteur:innen der Freien Kulturszene sowie der institutionell geförderten Häuser anwesend. Die Konzepte Awareness, Agency und Accountability beschreiben einen Kulturwandel in der Szene hin zu mehr Aufmerksamkeit für Diskriminierungen und sexualisierte Gewalt, zu mehr individueller Selbstbestimmung sowie zu einer kollektiven Übernahme von Verantwortung für die Bekämpfung von struktureller und sexualisierter Gewalt.

Diskurs & Analyse m2act x Helvetiarockt bedingungen in den Darstellenden Künsten befasste, findet man nun, dass die Zeit reif ist, sich zu öffnen. m2act wird nicht mehr wie bisher ausschließlich Projekte von Theatergruppen, Stadt­ theatern bis hin zu Zirkuskünstler:innen fördern, sondern sich allen Sparten widmen. Die Kooperation mit Helvetiarockt und die Zusammenarbeit mit der Kaserne Basel als Mehrspartenhaus ermöglichte, das Thema der sexualisierten Gewalt sowohl auf die Darstellenden Künste als auch auf die Musik bezogen zu betrachten. Helvetiarockt bringt breite Erfahrung in Gleichstellungsfragen und im Umgang mit genderspezifischer und sexualisierter Gewalt in der Musik ein. Durch Schulungen, Sensibilisierungskampagnen und das Diversity Roadmap Tool stärkt das Team Gleichstellung in der Branche. Eine nationale Plattform mit vergleichbarer Wirkung fehlt in den Darstellenden Künsten bisher.

Teils sind die Strukturen und Organisationsformen sowie die Lebenssituationen der Künstler:innen beider Sparten sehr ähnlich, teils doch unterschiedlich. Das Netzwerktreffen erlaubt, voneinander zu lernen, sich zu inspirieren und gestärkt dranzubleiben, um gemeinsam Veränderung zu bewirken. Die Gemengelage ist komplex. Die finanziellen Ressourcen sind in der Kulturszene begrenzt. Konservative Kräfte propagieren „woke war gestern“ – gleichzeitig registrieren Organisationen wie die Opferhilfe beider Basel einen Zuwachs an Beratungen. Sei es, dass sexualisierte ­Gewalt zunimmt, sei es, dass sich Opfer bestärkt fühlen, sie zunehmend zu melden.

Schneeballeffekte und Solidarität Kunst schützt nicht vor Diskriminierung und sexualisierter Gewalt. Vielmehr scheinen die Bedingungen, unter denen sie ­ ­entsteht, wie etwa die fließenden Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben sowie die prekären Beschäftigungsverhältnisse, sie mitunter zu begünstigen. Nicht grundlos wurde #MeToo zu einer Bewegung, nachdem Übergriffe und Machtmissbrauch in der Filmindustrie von Schauspielerinnen angeprangert wurden. Agota Lavoyer, Schweizer Aktivistin und Expertin für Prävention gegen sexualisierte Gewalt, nannte in ihrer Keynote mit Gérard Depardieu,

Theater der Zeit 12 / 2025

Neben der Forderung, strukturelle Probleme strukturell zu lösen, boten die zwei Tage einen Überblick über das, was bereits besteht und möglich ist.

Till Lindemann, Johnny Depp und Placido Domingo eine Reihe von prominenten Beispielen, gegen die Vorwürfe wegen sexualisierter Gewalt erhoben beziehungsweise die angeklagt und verurteilt wurden. Doch diese bekannten Fälle sind nur die Spitze des Eisbergs. Strukturen im Kulturbereich schaffen Abhängig­keiten und auch künstlerische Narrative tragen ihren Teil bei, führte ­Lavoyer aus. Prävention tut not.

Während in Deutschland als Reaktion auf die #MeToo-­ Bewegung 2018 der Verein Themis als Vertrauensstelle gegen ­sexualisierte Belästigung und Gewalt gegründet wurde, fehlt eine vergleichbare zentrale Organisation bislang in der Schweiz. Für Themis arbeiten Juristinnen und Psychologinnen, die unabhängig und ergebnisoffen beraten. Hinter Themis stehen die wichtigsten Branchenverbände, Arbeitgebende- und Arbeitnehmende-Vertre­ tungen aus der Kultur- und Medienbrache sowie die Sende­ anstalten. Über dreißig Organisationen unterstützen die Arbeit von Themis. Die besonderen föderalen Strukturen der Schweiz sowie die Unterschiede zwischen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz machen es nicht einfach, eine derart zentrale Stelle zu gründen. Neben der Forderung, strukturelle Probleme strukturell zu lösen, boten die zwei Tage einen Überblick über das, was bereits besteht und möglich ist: Praktiken für ein konsensorientiertes Proben, die Begleitung nach dem Clubbesuch zu Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs und das „Rosa Heft für Gleichstellung in der Kultur“ des Genfer Vereins Les Créatives.

Viele dieser Projekte setzen bereits Schneeballeffekte frei und wirken in die Gesellschaft hinein. Denn Zivilcourage und Solidarität sind nur zusammen möglich.

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Diskurs & Analyse m2act x Helvetiarockt

Sexualisierte Gewalt ist ein Merkmal des Patriarchats Agota Lavoyer – die Expertin, wenn es in der Schweiz um sexualisierte Gewalt geht – engagiert sich für Opferhilfe und Prävention. Im Gespräch mit Annette Hoffmann über ihre Arbeit und die Besonderheiten der Schweiz.

Keynote von Agota Lavoyer zu „Rape Culture: Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert“

lungen? Wenn die Teilnahme freiwillig ist, sind das meist Mitarbeitende, die schon sensibilisiert sind, und eher nicht Menschen in Leitungspositionen. Die Kultur einer Institution wird jedoch von oben verändert. Sexualisierte Gewalt ist ein strukturelles Problem, das strukturell angegangen werden muss. Diversität im Team ist eine wichtige Form von Prävention von sexualisierter Gewalt.

Wir erreichen heute mehr Leute als vor zehn Jahren, doch wie bei jeder Form von gesellschaftlichem Anliegen braucht es einen langen Atem. Aktuell erleben wir auch wieder einen Backlash bei feministischen Anliegen.

Was begünstigt sexuelle Übergriffe?

AL: Wir leben in einer sexistischen, frauenfeindlichen Gesellschaft, die immer noch auf patriarchalen Strukturen aufbaut. Sexualisierte Gewalt ist kein Fehler im System, sondern ein Merkmal des Patriarchats. Sie ist ein nützliches Instrument, um die bestehenden Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten. Als Frau oder queere Person wird man sich von Räumen eher fernhalten, die sehr männerdominiert sind. Das wiederum zementiert die Macht in solchen Räumen.

Frauenfeindliche Haltungen wie das Victim Blaming beruhen auf einem historischen misogynen Verständnis von Frauen als hysterisch, kompliziert und überempfindlich. Es gibt so viele Narrative in unserer Gesellschaft, die Frauen abwerten. Man muss verstehen, dass Prävention heißt, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verändern und sexistische, frauenfeindliche und queerfeindliche Haltungen zu entlernen. Ansonsten ändert sich nichts.

Was ist Ihr Eindruck, wenn Sie Kulturinstitutionen beraten oder mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt sprechen?

AL: Die Strukturen sind sehr starr. Hierarchien, Geniekult und die Vorstellung, dass man für die Kunst leiden muss, sind sehr präsent. Ich habe mit vielen Betroffenen aus der Branche gesprochen, die sagen, dass man beispielsweise auf der Schauspielschule so sozialisiert wird, dass man zu allem Ja sagt. Erst recht am Anfang einer Karriere. Denn wenn du Nein sagst, wirst du nicht erfolgreich – was eine fatale Botschaft ist.

Förderinstitutionen könnten hier auch viel bewirken, indem sie die Projekte auch bezüglich sexistischer Stereotype und Verharmlosung sexualisierter Gewalt begutachten und problematische Darstellungen kritisch thematisieren. Man muss keine Stoffe fördern, die misogyne Narrative auf die Bühne bringen und diese damit reproduzieren. Kunst ist wichtig für die Gesellschaft, aber Kunst ist nichts wert, wenn sie auf dem Leiden Einzelner aufgebaut ist.

Sie machen auch Schulungen. Wen erreichen Sie da?

AL: Institutionen und Unternehmen, die mich für Schulungen buchen, haben meist schon eine gewisse Sensibilität für das Thema. Zumindest sind sie am Punkt, an dem sie merken, dass sie Handlungsbedarf haben. Die Frage ist, wer kommt zu den Schu-

Agota Lavoyer (*1981) hat Soziale Arbeit studiert. Sie arbeitete bei verschiedenen Opferhilfe-Beratungsstellen in der Schweiz. Seit 2022 ist sie selbstständige Beraterin, Referentin und Autorin. 2024 erschienen „Jede_ Frau. Über eine Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und normalisiert“ und „Ermutigt. Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt“.

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Theater der Zeit 12 / 2025

Fotos links Nadine Nützi, rechts Jasmin Frei

Sie haben an der Reform des schweizerischen Sexualstrafrechts mitgewirkt. Frau Lavoyer, seit 2024 heißt ein Nein beim Sex auch in der Schweiz Nein, warum hat das so lange gedauert?

AGOTA LAVOYER: Nachdem die Debatte 2018 ins Rollen kam, ist die Reform für Schweizer Verhältnisse in einem Rekordtempo zustande gekommen. Die Schweiz ist viel konservativer, als viele denken. Historisch gesehen hängt die Schweiz mit gleichstellungspolitischen Fragen sehr hinterher, das beste Beispiel ist das Frauenstimmrecht, das erst 1971 eingeführt wurde, Vergewaltigung in der Ehe wird erst seit 1992 als Straftat anerkannt und galt bis 2004 als Bagatelldelikt! Wir waren sehr nervös, ob die Reform durchkommt. Wir konnten nicht die beste Version, das Zustimmungsprinzip „Erst Ja heißt Ja“ durchsetzen. Aber es war ein wichtiger Paradigmenwechsel. Allerdings zementiert das „Nein heißt Nein“, das wir nun seit Juli 2024 haben, das Bild, dass ein Körper für sexuelle Handlungen zur Verfügung steht, wenn die Person nicht explizit bekundet, dass sie das nicht will.

Diskurs & Analyse m2act x Helvetiarockt

Themen aus der Szene mit der Szene Zusammen mit Helvetiarockt hat Migros-Kulturprozent m2act zum Schweizer Netzwerktreffen Awareness, Agency & Accountability in die Basler Kaserne eingeladen. Neben dem Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich und dem Tanzfestival Steps gehört u. a. auch m2act zum Migros-Kulturprozent. Saima Linnea Sägesser sprach mit Annette Hoffmann über einen Wandel in der Kulturszene.

Frau Sägesser, Sie leiten m2act, der Name klingt nach einer Anweisung zum Handeln. Was macht m2act?

SAIMA LINNEA SÄGESSER: Das Schweizer Förder- und Netzwerkprojekt m2act wurde vor fünf Jahren vom Migros-Kulturprozent initiiert als Reaktion auf die Bedürfnisse der Darstellenden Künste, es fehlte ein Förderinstrument für systemischen Wandel und Transformationsprozesse. Wir fördern Projekte, die sich mit einer fairen ­Praxis und nachhaltigen Strukturen im Kulturbereich auseinander­ setzen, wie z. B. Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Theater, Care in einem weiteren Sinn, ökologische Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusion. Nicht zuletzt geht es um Fairpay, u. a. haben wir die Arbeit von t. Theaterschaffen Schweiz in der Weiterentwicklung der Richtlöhne und Richthonorare für die Freie Szene finanziell unterstützt. Es sind Themen aus der Szene, für die Szene und mit der Szene.

Unser zweites Ziel ist zu vernetzen. Nur wenn vorhandenes Wissen allen zur Verfügung steht, kann sich etwas ändern. Seit 2020 veranstalten wir große Netzwerktreffen. Das Besondere ist, dass unsere Förderung auf ko-kreative Projekte fokussiert, das bedeutet, dass Kulturschaffende mit Akteur:innen aus anderen Bereichen wie Wissenschaft, Politik und Wirtschaft oder auch mit Organisationsent­ wickler:innen und Diversitätsexpert:innen zusammenkommen und voneinander lernen.

unserer Zielgruppe, wir müssen wissen, was diese braucht, um die entsprechenden Förderangebote zu kreieren. Dadurch dass wir Projekte nicht nur finanzieren, sondern in ihren Prozessen mit Standortgesprächen und Netzwerkveranstaltungen begleiten, entwickeln sich vertrauensvolle Verhältnisse. Letztlich wollen wir gemeinsam Veränderung bewirken.

Mir kommt das Treffen sehr familiär vor, aber wie erreichen Sie Menschen außerhalb der eigenen Blase?

SLS: Kultur ist gesellschaftsrelevant und Kunstschaffende sind Teil dieser Gesellschaft. Wir haben eine gesellschaftliche Vision. Wenn wir etwas ändern wollen, geht das nur mit dem Fokus auf und zusammen mit unserer Zielgruppe.

Ein Großteil der Teilnehmer:innen am Netzwerktreffen arbeitet in der Freien Szene, wie sieht es mit den Stadttheatern aus?

SLS: Das ist nicht ganz einfach. Wir haben sie eingeladen, aber oft die Antwort erhalten: „Wir proben.“ Wir würden uns freuen, wenn auch Stadttheater solche Netzwerktreffen als Möglichkeit zur Weiterbildung nutzen würden. Außerdem sind sie ja Anlässe, welche die Verbundenheit unter den Theaterschaffenden fördern. Und ganz besonders an diesem Netzwerktreffen können die Darstellenden Künste von der Musik etwas lernen und umgekehrt.

Ist das auch eine Generationenfrage?

SLS: Es gibt festgefahrene Strukturen, veraltete Rollenbilder und die Vorstellung vom „Künstler als Genie“. Das steckt immer noch in den Köpfen. Umso wichtiger ist es, dass eine neue Generation in leitende Positionen kommt und Teams diversifiziert werden. Häuser mit den größten Budgets sollten vermehrt von FINTA-Personen geleitet werden, denn aktuell ist es so, je kleiner das Budget, desto mehr ­FINTAs sind involviert. Die Frage ist auch: Was müssen die Häuser für sich lösen, wo können diejenigen, die Subventionen vergeben, Unterstützung leisten, dass sich etwas ändert?

Sie haben das Netzwerktreffen zusammen mit Helvetiarockt organisiert, einem Verein, der sich für die Gleichstellung aller Geschlechter in der Musik engagiert. Ist das zukunftsweisend?

SLS: Nächstes Jahr werden wir unsere Förderung für alle Sparten öffnen. In den Darstellenden Künsten sind sehr viele Impulse gesetzt worden und es ist viel Wissen vorhanden. Jetzt wollen wir das übersetzen, weiterreichen.

Beeinflussen Sie mit Ihrer Förderung nicht die ästhetische Handschrift?

SLS: Wir fördern nicht das, was auf der Bühne geschieht. Dafür gibt es beim Migros-Kulturprozent andere Fördergefäße. m2act fördert diskursive, sich vernetzende Projekte, Toolentwicklungen und Publikationen von Vereinen, Plattformen und Institutionen. Im besten Fall hat das Einfluss auf die Kunst, weil die Arbeitsbedingungen verbessert wurden. m2act versteht sich als lernendes Projekt, was bedeutet das?

SLS: Wir überdenken unsere Fördergefäße andauernd und entwickeln sie weiter, mit dem Ziel, möglichst gleichberechtigt und transparent zu fördern. Wir stehen dafür in engem Austausch mit

Theater der Zeit 12 / 2025

Saima Linnea Sägesser (*1993) hat Theaterwissenschaft, Geschlechterforschung und Kunstgeschichte studiert, sie hat als Schauspielerin, Regisseurin und Kulturvermittlerin gearbeitet. Seit 2019 ist sie Stadträtin für die SP in Langenthal (CH). Für das Förderprojekt Migros-Kulturprozent m2act arbeitet sie seit 2021, seit 2024 als Leiterin.

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Diskurs & Analyse Serie: Theater und Sport #2 Nicht erst seit Einar Schleefs extrem sportiver Uraufführung von Elfriede Jelineks „Ein Sportstück“ (1998) ist die Verbindung zwischen Körperertüchtigung, Politik und Theater ein interessantes Feld geworden. Fortsetzung der neuen Serie.

So You Think You Can Turniertanz?

Zur Performativität im kompetitiven Standard- und Lateintanz Von Peter Sampel

„Fake Diamonds“, Künstlerische Leitung, Choreografie, Performance René*e Reith

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Theater der Zeit 12 / 2025

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Wir kennen sie nicht durch Besuche im Theater. Wir kennen sie aus Unterhaltungssendungen im Fernsehen. Wir kennen sie, weil wir uns selbst zu Schulzeiten oder als Paar im Erwachsenenalter an ihnen ausprobiert haben. Und wir kennen sie, weil ihre Grundprinzipien das westliche Kulturverständnis maßgeblich geprägt haben: Turniertänze.

Angesichts dessen, dass der zeitgenössische Tanz seine Genregrenzen zunehmend verschiebt und Bewegungsrepertoires anderer Tanzstile aufnimmt, könnte man meinen, dass zwischen Bühnen- und Turniertanz ein reger personeller und ästhetischer Austausch bestehen müsste. Und doch existieren beide Welten weitgehend getrennt voneinander. Nur langsam hält der Turniertanz Einzug in tanzwissenschaftliche Untersuchungen und in zeitgenössische choreografische Praxis. Das liegt v. a. an der immensen Beliebtheit von TV-Sendungen wie „Let’s Dance“, wie Dominika Byczkowska-Owzarek in „Performing on the Boundary of Art and Sport. The Case of Competitive Ballroom Dancers“ (2019) ausführt. In Abgrenzung zum breiteren Begriff des Gesellschaftstanzes bezieht sich Turniertanz im Übrigen auf die fünf als Standard kategorisierten Stile Langsamer Walzer, Tango, Wiener Walzer, Slowfox und Quickstep sowie die den Lateinstilen zugeordneten Samba, Cha Cha, Rumba, Paso Doble und Jive, die nicht nur auf Breitensportebene, sondern auch auf kompetitivem Leistungsniveau in Wettbewerben getanzt werden.

Td 82

PS

October

Thorsten Lensing Tanzende Idioten 15.–18.1.2026

berlinerfestspiele.de

Ungefilterte Feedbackschleife René*e Reith, Choreograf:in, Performer:in und Tanzwissenschaftler:in aus Hamburg, setzt sich explizit mit Turniertanz im Kontext des Bühnentanzes auseinander. 2023 brachte René*e „Fake Diamonds“ auf die Kampnagel-Bühne, eine Mischung aus autobiografischer Erinnerung und subversiver Soloperformance, die in Lateintänzen verfestigte heteronormative Ideale ad absurdum führt. René*e trainierte die Lateintänze zu Jugendzeiten als Leistungssport und geht im Gespräch für diesen Text auf den erhöhten Performancedruck während eines Turniers ein. Anders als zumindest in konventionellen Bühnensettings herrscht eine immense Gleichzeitigkeit der Dinge. Figuren müssen im 360-GradWinkel ihre Wirkung entfalten, in Finalrunden gilt es, die Aufmerksamkeit der Zuschauenden gegen fünf andere Paare auf sich zu lenken, ohne im Regelwerk verbotene Mittel wie akrobatische Figuren anzuwenden oder sich von technischen Vorgaben zu ­lösen.

Stellen wir uns das doch mal aufs Theater übertragen vor – mehrere Tanzstücke feiern gleichzeitig am selben Ort Premiere und im Publikum sitzen die Jurymitglieder einer Förderinstitution und entscheiden in Echtzeit über die Vergabe oder Ablehnung von Folgeförderungen …

January

PAS25_Anz_Theater_der_Zeit__82,5x125,5mm__psoCoatedV3__RZ.indd 1

SHT–Highlights im Dezember

10.11.2025 10:07:29

Mülheim Absturz Ruhr (UA) thecodes – theatercompany dennis schwabenland 04.– 06.12.25

valse, valse, valse Johanna Heusser 12. & 13.12.25

Comeback Eugénie Rebetez 18. – 31.12.25

Foto Maik Gräf

Performte Codes Perfekte Überleitung zur nächsten Frage: Für wen wird eigentlich performt? Für das Publikum oder die Jury? Natürlich entscheidet die Jury letztlich über Erfolg und Aufstieg in höhere Klassen, www.schlachthaus.ch Theater der Zeit 12 / 2025

Schlachthaus Theater Rathausgasse 20/22 3011 Bern

(<

Diskurs & Analyse Serie: Theater und Sport #2 niertanz. Der künstlerischen Freiheit sind engere Grenzen gesetzt: Detailgenau ist festgeschrieben, welcher Stil welche Geschichte erzählt, wer welche Bewegung ausführen, wer welche Kleidung tragen darf. Wer sich dem widersetzt, wird umgehend mit Punkteabzug sanktioniert.

Restriktive Struktur

Szenen aus „Fake Diamonds“, Künstlerische Leitung, Choreografie, Performance René*e Reith

Und woher kommt nun die Begeisterung für Turniertanz auf popkultureller und Breitensportebene, während doch diejenigen, die ihn auf Leistungsniveau betreiben, zumindest in Deutschland kaum mediale Aufmerksamkeit erhalten? Karen Schupp begründet dies in „Dance Competition Culture and Commercial Dance.

Intertwined Aethetics, Values, and Practices“ (2019) in der Wieder­erkennbarkeit und somit Zugänglichkeit der Tanzschritte. ­René*e Reith wiederum fügt hinzu, dass die Beliebtheit an der romantischen Idee der Tänze liegen könnte, die in unterschiedlichen Ausführungen Geschichten von Liebe, Anziehung und sexueller Spannung erzählen. Doch genau hier zeigt sich auch das strukturelle Problem der Turniertänze. Ausgehend von den restriktiven Regelwerken, die beispielsweise gleichgeschlechtliche Tanzpaare immer noch nicht innerhalb konventioneller Turniere erlauben, fungieren die Tänze als beinahe karikatureske Performance heteronormativer Geschlechternormen. Und gleichzeitig fußt die Einordnung und Adaption der Tanzstile auf Aneignungsmechanismen, Exotismus und reproduziert Stereotype – strukturelle Probleme, die der Bühnentanz z. B. aus dem klassischen Ballett kennt, und die dem Tanz dabei ein so großes kritisches Abarbeitungspotenzial bieten.

Virtuose Verbindung von Körpern

Stellen wir uns das doch mal aufs Theater übertragen vor – mehrere Tanzstücke feiern gleichzeitig am selben Ort Premiere und im Publikum sitzen die Jurymitglieder einer Förderinstitution.

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Anstatt eine Untersuchung der Stile aus zeitgenössischer Tanzperspektive daher komplett abzulehnen, schlägt René*e vielmehr einen differenzierten Blick auf deren immenses tänzerisches ­Potenzial vor. Jenseits von Romantisierung und Sexualisierung habe der Turniertanz Bewegungen kreiert, die aus Balance- und Dynamikgründen nur als Paar getanzt werden können. Das sogenannte Partnering, das in vielen zeitgenössischen Tanzpraktiken eine große Rolle spielt, wurde hier in Virtuosität und Komplexität perfektioniert. Und auch die Fähigkeit zu improvisieren – sei es in Bezug auf Musikauswahl, Beschaffenheit des Tanzbodens, Aktionen der Konkurrent:innen oder Live-Feedback des Publikums –, spielt im Turniertanz eine ebenso große Rolle wie im zeitgenössischen Tanz. Ein kritisch-reflektierter Blick auf die Turniertänze – so wie im kritisch-rührenden „Fake Diamonds“ – kann sich also durchaus lohnen und wer weiß: Vielleicht sehen wir auf den Tanz­bühnen in wenigen Jahren vermehrt Elemente aus Tango, Jive und Co.? T Foto Maik Gräf

so René*e Reith, gleichzeitig gebe erst das ungefilterte Klatschen und Jubeln des Publikums den Tanzenden oftmals den Ansporn und die Kraft, über die körperliche Erschöpfung hinauszugehen.

Alle drei Instanzen sind folglich unverzichtbar miteinander verknüpft, so auch Jonathan S. Marion in „Ballroom: Culture and Costume in Competitive Dance” (2008): „If ballroom competitions are a spectacle of sights, sounds and movement, they are also performances by dancers, officials and audience members alike.“ Basis für diese gemeinsamen Performances sind in Regelwerken festgeschriebene Codes, derer sich alle Beteiligten eines Turniers verpflichten und sie mit jeder Performance wieder und wieder als naturalisiertes Konstrukt herstellen. Und genau hier liegt vielleicht der größte Unterschied zwischen Bühnen- und Tur-

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Theater der Zeit

Foto Philip Frowein

Report

„Wasserwelt. Das Musical“ von Jan Eichberg und Felix Rothenhäusler. Regie Felix Rothenhäusler am Theater Freiburg

Neustarts Das Hamburger Thalia und Schauspiel Hannover im Vergleich. Felix ­Rothenhäusler am Theater Freiburg Leipzig Das Festival Politik im Freien Theater Erfurt Schauspielsparte kehrt ins Theater der thüringischen Landeshauptstadt zurück Wuzhen Wie China in seiner perfekt inszenierten Wasserstadt Wuzhen Kultur, Technologie und Macht choreografiert Polen Lublins Festival Konfrontacje bietet einen Ausblick auf die Kulturhauptstadt 2029 Ungarn Das ungarische Theaterkollektiv Kerekasztal Theater der Zeit 12 / 2025

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Report Hamburg/Hannover

Im Wettlauf um Gegenwarten Die Neustarts am Hamburger Thalia und Schauspiel Hannover im prüfenden Vergleich Von Jens Fischer

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­ aher setzt Sonja Anders am Hamburger Thalia Theater ihr D sechs Jahre am Schauspiel Hannover erfolgreich verfolgtes Konzept fort, kunterbunt vitale Wohlfühlabende für möglichst viele gesellschaftliche Milieus der Stadtgesellschaft zu ermöglichen.

Wie funktioniert das an einem Haus, das bisher bundesweit be-

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rechts Katrin Ribbe

Aller Anfang ist Aufbruch und wird zum Start einer Intendanz als Versprechen annonciert, das bei den ersten Premieren bereits als Behauptung zu funktionieren hat. Diese magische Zuneigung auf den ersten Blick will geweckt werden, damit der zweite folgen wird als wundersamer Beginn einer langjährigen Beziehung.

Fotos links Kerstin Schomburg,

Links: „Die Wut, die bleibt“ nach Mareike Fallwickl, Regie Jorinde Dröse am Thalia Theater Hamburg Rechts: „Was ihr wollt“ nach William Shakespeare, Regie Anne Lenk am Thalia Theater Hamburg

Report Hamburg/Hannover achtet wurde als Schauspieler:innentheater (Jürgen Flimm), Dramaturg:innentheater zur Durchsetzung neuer Inszenierungshandschriften (Ulrich Khuon) und ein auf Moden und Prominenz fixiertes, politisch virulentes Regietheater (Joachim Lux)? Freut sich das eher etwas ältere Thalia-Publikum, nun etwas beherzter und entkopfter angesprochen zu werden, oder fühlt es sich unterfordert? Und wie reagiert das Hannoveraner Publikum auf den Anders-Nachfolger Vasco Boenisch? Als bisheriger Dramaturg für Johan Simons’ Ruhrtriennalen und dessen Intendanz am Bochumer Schauspielhaus müsste er für ein künstlerisch deutlich herauforderndes Programm stehen.

Boenisch möchte aber erst mal ein Wohnzimmer- als neues Theatergefühl evozieren. Im Erdgeschoss des Schauspielhauses funktioniert das prima, die gelben Garderobenschränke verlieren die Anmutung einer Schwimmbadumkleide, da sie nun mit Bühnenfotos überklebt sind. Um das sachlich weiße, kühn um einen verschlungenen Leuchter in die Höhe schwingende Foyer wärmer erscheinen zu lassen, ließ es der neue Intendant in „Eating Room Red“ ausmalen und mit Teppichboden grundieren. Bilder füllen die Wände, Objekte aus dem Fundus und altmodisch wirkende Möbel den Raum, der nun zusammengeschrumpft wirkt. Seine kunstkirchenhaft-elegante Offenheit ist zu bedrückend biederer Gemütlichkeit entstellt. Im denkmalgeschützten Thalia Theater wäre das unmöglich. Anders durfte immerhin die Lichtstimmungen etwas runterdimmen und pinke Glühbirnen in den Kronleuchter drehen lassen. Vielleicht um den feministischen Furor ihres Programms zu illuminieren.

Zur ersten großen Publikumsumarmung zieht das Thalia mit Shakespeares „Was ihr wollt“ die Nummer-sicher-Karte. Damit es irgendwie originell wird, hat die Intendantin das Treppenhausorchester aus Hannover mitgebracht. Wie Stummfilmmusiker bringt es Bewegungen des Ensembles zum Klingen, das Geschehen zum Tanzen, spielt auch Geräusche zu, treibt die Figuren an, kommentiert sie. Schön zu erleben, wie das Ensemble dazu mit Jux und Dollerei ins sinnlich direkte Spiel miteinander kommt. „Spaß macht sich auf Dauer immer bezahlt“, wird das Theatererfolgsrezept im Stück benannt. Allerdings betont Anders, stets nur eine Komödie pro Spielzeit einzuplanen. Anne Lenk nutzt die Vorlage wie üblich, sich durch Überzeichnungen über Geschlechter­ klischees lustig zu machen. Auch dem Leiden und Vergnügen am Begehren sowie den schauspielerischen Anteilen am Verführen weiß sie reichlich Humor abzugewinnen. Alles wird mit Genderdebatten der Gegenwart locker verknotet. Nur nimmt die Regie dem Vexierspiel der Identitäten den Antrieb, da niemand über queere Neigungen verwirrt sein und sich entwurzelt fühlen muss.

Schon bevor sich der Vorhang hebt, sind alle Figuren bereits ­offensiv im Reinen mit ihrer sexuellen Orientierung jenseits der Heteronormativität. Als politisches Statement muss dann genügen, den exzessiv selbstverliebten Oberspießer Malvolio mit der Frisur von Friedrich Merz auftreten zu lassen, der bekanntlich keine Regenbogenflagge am Bundestag sehen möchte. Zum ­Happy End knutscht jede:r mit jedem und jeder, alle können mit allen draufloslieben. Sogar der Hass des verhöhnten Malvolios wird per Kuss geheilt. Im freudvollen Anders-Theater gilt es immer,

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Zur ersten großen Publikumsumarmung mit Shakespeares „Was ihr wollt“ die Nummer-sicher-Karte.

die Schönheit jeglicher Diversität zu preisen. Herzlich schlicht, nun ja: gefällig.

Empowerment-Strategien Etwas weniger harmlos gerät der thematisch ähnliche Auftakt in Hannover – eine opulente Feier der queeren Community. Sieben Performer:innen müssen in Falk Richters „Pride“ das Klischee ausleben, alle LGBTQIA+-Menschen seien schrill, laut, bunt glitzernd, woke reflektiert und sympathisch. Abwechselnd erklären sie ihre Coming-outs und Dating-Erfahrungen, auch persönliche Erlebnisse mit Homophobie. Es geht um wachsende Diskriminierungen, Stigmatisierungen, Hass, Gewalt und entsprechende politische Entwicklungen, etwa in Ungarn, Rumänien, Bulgarien und den USA. Dabei nicht zuzuschauen, sondern helfend einzugreifen, wird von der Bühne herab gebeten. Statt Handlungsstränge zu entwickeln, verlautbart das Ensemble nur Positionen. „Pride“ ist eine Selbsterklärungsrevue von verloren wirkenden, immer wieder in die Partyekstase drängenden Figuren, die erst nach der Pause in Paarszenen die üblichen Beziehungsprobleme dialogisieren. Die Inszenierung reißt offene Türen auf mit ihren Beispielen, wie unsere Gesellschaft mit Minderheiten umgeht und welche Empowerment-Strategien daraus folgen können. Boenisch macht also genau dort weiter, wo Anders in Hannover aufgehört hat. Die wiederum holt die Referenzproduktion ihres Theaterverständnisses nach Hamburg: Jorinde Dröses Inszenierung von Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“. Nach rund fünfzig fast immer ausverkauften Vorstellungen in Hannover sind auch jene am Thalia bis auf den letzten Platz gefüllt. Warum?

Reichlich sogenannte Frauenthemen blitzen auf, von Bulimie über Schönheitsideale, Rollenprägung, Männergewalt, Fremdbestimmung, Teilzeitfalle … bei dem Wort brandet erstmals Applaus auf. Vor allem aber geht es um pausenlos überfordernde CareArbeit, der sich eine Frau durch Suizid entzieht. Der selbstmitleidige Witwer ist unfähig, die Verantwortungsleerstelle zu füllen.

Eine Freundin, eigentlich emanzipierte Schriftstellerin, springt aus Mitleid ein. Hin und her torkelt sie nun opferbereit zwischen Kindern, Küche, Job und ihren privaten Bedürfnissen – wieder Szenenapplaus. Die Männer sind Witzfiguren wie in einer TVSoap. Aufbegehren gegen sie sorgt für Bravo-Rufe. Jubel gibt es für die Tochter, die ihre Trauer in einer radikalisierten Frauenpower-Gang als Wut entlädt. „Verspätete Notwehr“ nennen sie ihre Aktionen, Patriarchen des Alltags zusammenzuschlagen, die als sexuelle Belästiger oder Vergewaltiger eingeschätzt werden.

Wieder großer Applaus. Selbstjustiz? Egal, es trifft ja – klammheimliche Freude – die Richtigen in dieser wirkungsvoll die Faust ballenden Agitprop-Comedy. Bei der Hamburger Premiere sprang

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das überwiegend weiblich gelesene Publikum dankbar auf, die leidvolle Lebensrealität von Frauen mal schonungslos gespiegelt bekommen zu haben. Das dahinterstehende Programm beschrieb Anders bereits in Hannover so: „Ja, das ist niedrigschwellig und nicht wahnsinnig um acht Ecken gedacht, aber das hat doch eine Power, die die Zuschauer:innen mitnimmt, sich mit den Figuren zu identifizieren, mitzufiebern und sich dabei vielleicht ein kleines Stück weit zu verändern!“ Dieses Mutmacher-, Selbstermächtigungs-, Mobilisierungstheater ist derart nahbar, dass es keiner Programmhefte mehr bedarf. Jedenfalls gibt es analog nur noch schlabberige Programmzettel im Thalia. „Wenn wir abends tausend Leute im Haus haben, kaufen sechzig ein Programmheft, das lohnt sich nicht mehr“, erklärt Anders. In Hannover sind die kleinen Heftchen weiterhin zur Nachbearbeitung zu erwerben.

Schauspielhaus mit Philippe Quesne Und weiter in Sachen Emanzipation. Jorinde Dröse darf auch mit Jarka Kubsovas Roman „Marschlande“ plakativ auftrumpfen.

Dieser Thalia-Abend handelt von einer promovierten Geologin, die sich vom jobfixierten Gatten überreden lässt, ihr Berufsleben aufzugeben und raus aus Hamburg aufs Land zu ziehen. Überraschenderweise ist sie dann aber überrascht, nunmehr als reine Care-Arbeiterin für Kind und Mann die urban verankerte Identität einer modernen Akademikerin zu verlieren. Für den sozialgeschichtlichen Überbau wird die historische Biografie von Abelke Bleken aufgeblättert. Die Bäuerin bewirtschaftete im 16. Jahrhundert mit ihrem Gesinde höchst erfolgreich einen großen Hof, wo heute die neureichen Hansestädter wohnen. Auf der Bühne wird Abelke von der neidvoll böswilligen Männerwelt erst in den Ruin getrieben, dann als Hexe verbrannt, so dass die monetäre Macht des aufstrebenden Hamburger Pfeffersacktums günstig an ihren Besitz kommt. Aus dem Feudalismus erblüht der Kapitalismus, so die lehrstückhafte Behauptung des Abends, mit den Hexenprozessen sei die „Wertanhäufung auf der einen Seite und Zurückdrängung von vormals unabhängigen Frauen in die häusliche Sphäre auf der anderen Seite“ gestartet. Dagegen verschwestern sich am Ende die Frauen zu einem naturmystischen Kollektiv. Unverzügliche Begeisterung. Das Anders-Theater mit den in kraftvoller Deutlichkeit behaupteten Sichtweisen passt zum Bedürfnis nach unmittelbarer Rezeption, entlastet so das Publikum, eigene Perspektiven auf einen Theaterabend entwickeln, also mühsame Distanzierungsarbeit leisten zu müssen. Jedenfalls etabliert sich das Thalia erst mal nicht als Konkurrenz zum Deutschen Schauspielhaus, das zur Saisoneröffnung mit Philippe Quesne, Christoph Marthaler und Frank Castorf kunstwillige Meister des ästhetischen Eigensinns in Form von vieldeutiger Bilderrätselei,

Über Gefühle und Beziehungen von Hannah Arendt das Publikumsinteresse auf zentrale Motive ihrer Theorie zu lenken versuchen.

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versponnener Räsonnements und verschwenderischer Assoziationsfülle präsentierte. Die Zeichensprache ist dort nicht vor allem leicht nachvollziehbar, die Botschaften erstrahlen nicht vor allem in mutmachender Klarheit – und fordern vom Publikum deutlich mehr als begeistertes Abnicken.

Da Bühnenkunst nicht dem angstvollen Zeitgeist in die ratlose Erstarrung folgen, sondern aktivieren soll, so Anders, setzen Thalia-Regisseur:innen das positiv konnotierte Stückpersonal ­ meist optimistisch strahlend ins Scheinwerferlicht. Allen Widerständen zum Trotz schloss „Was ihr wollt“ versöhnlich, Dröses Arbeiten endeten in Frauensolidarität. Und wenn ein „Frommer Tanz“ des verzweifelten Vertreters der Zwischenkriegsjugend, dem 19-jährigen Klaus Mann, auf die Bühne kommen soll, reift ebenfalls Hoffnung. Regisseur/Bühnenbildner Ran Chai Bar-zvi lässt das Alter Ego des Autors ins flirrend elende Berlin der 1920er Jahre fliehen. Im zeitlosen Zeitgeist allgemeiner Verunsicherung absolviert der Protagonist den schmerzhaften Parforceritt einer ins Leere laufenden homosexuellen Leidenschaft und den hedonistischen Exzess des metropolitanen Nachtlebens. Allein bleibt er zurück, rechnet mit sich und der verstörenden Weltlage ab, darf aber eben nicht Stimmungskiller sein. So lauten seine Abschiedssätze: „Ich liebe des Menschen Leib. Ich glaube an diese Welt.“ Auch so geht Em­powerment und kann zumindest erst mal das richtige Leben im falschen ermöglichen.

Bei Boenisch darf Verzweiflung auch mal unwidersprochen am Ende stehen. Wie in Sibylle Bergs Monolog „Ein wenig Licht.

Und diese Ruhe.“ Auf die Diskussion um Wehrpflicht folge ­Mobilmachung, folge Krieg, so denkt die Autorin unsere aktuell angespannte Situation bis zur Eskalation. Aber eben satirisch. Artikuliert von Katja Riemann als namenlosem Ingenieur. Der Abend ist ein schwarzmalerischer Gedankenstrom voller erfrischender Hasssätze – vor allem gegen die Folgen wachsender Militarisierung: „Die Welt wird nicht verschwinden, nur wir. Der Krieg ist hier angekommen, auf der Welt, und wird erst enden, wenn wir verschwunden sind. Unter der Erde.“ Sich so untergangsselig aufs Stückende zuzubewegen, wäre am Thalia nicht passiert.

Aber mit einem Star der Schauspielerinnenzunft das Eröffnungsprogramm zu glamourisieren, darauf setzt auch Sonja ­Anders. Corinna Harfouch gibt Hannah Arendt in Rhea Lemans Drama „Arendt – Denken in finsteren Zeiten“. Da für die Intendantin das Theater eine Anleitung sein kann, handlungsmächtig zu werden, könnte Arendt zur Hausphilosophin des Thalia avancieren. Bedeutet für sie Denken doch Dialog, basierend auf moralischer Urteilskraft, und politisches Handeln. Im Stück jedoch bedeutet Denken zumeist Monologisieren. Rhea Leman versucht, über Gefühle und Beziehungen der Protagonistin das Publikumsinteresse auf zentrale Motive ihrer Theorie zu lenken. Nach und nach werden ihre Lebensstationen an- und abgerissen, dabei längere Originalzitate artikuliert, aber nie theatral durchdacht.

Regisseur Tom Kühnel gelingt lediglich die finale Szene über die schon zur Phrase banalisierte Formulierung, Adolf Eichmann repräsentiere als Architekt des Holocaust die Banalität des Bösen.

Er sei kein Monster, sondern nur ein unreflektierter Bürokrat des Zivilisationsbruchs der Nazis. Diese vermeintlich unschuldige

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FotosJörg Brüggemann, Ostkreuz

Report Hamburg/Hannover

Links: „Ein wenig Licht. Und diese Ruhe.“ von Sibylle Berg, Regie Lena Brasch am Staatstheater Hannover Oben rechts: „Heimsuchung” von Jenny Erpenbeck, Regie Adrian Figueroa am Staatstheater Hannover Unten rechts: „Pride“ von Falk Richter in eigener Regie am Staatstheater Hannover

Rolle des Biedermanns gibt er gern. Sein Chefankläger empört sich über diese Verniedlichung der Shoah und macht Arendt selbst zur Angeklagten. Rede und Gegenrede bringen den Diskurs emotional unterfüttert bestens auf den Punkt – in einem ansonsten eher trivialen Biopic-Versuch.

Wer gewinnt den Vergleich?

Von den ersten zehn gesichteten Premieren in Hamburg und ­Hannover vollends überzeugen konnte nur Christopher Rüpings vier Jahre alte, neu besetzte Referenzinszenierung für Boenischs Theaterverständnis, weil es in „Das neue Leben“ so leicht, so tief, so zärtlich intensiv und bildkünstlerisch um alles geht: Liebe und Tod. Es ist ein Statement kunstvoller Natürlichkeit, wie das Ensemble von heute den Erzählungen und Sonetten Dantes über eine gewisse Beatrice begegnet, der er nie seine Liebe offenbarte.

Anrührend gerät eine verbale Abrechnung mit dem Tod, betörend die von einer rotierenden Lichtinstallation beschworene Reise durch die Hölle ins Paradies, wo Dante endlich Beatrice trifft.

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Sie entsentimentalisiert ihn, damit er reif für die Endlichkeit des Lebens wird. Die Balance zwischen authentischer Performance der Schauspielpersönlichkeiten und dem verwandlungskünstlerischen Rollenspiel ist das, was schon „Pride“ andeutete, hier aber zum Ereignis wird und, so Boenisch, konstitutiv fürs Schauspiel Hannover werden soll. Während am Thalia vor allem Identifikationsfiguren auf der Bühne stehen.

Den Neustart-Vergleich gewinnt Hannover, wenn man noch zwei Produktionen berücksichtigt: das Spektakel der Bühnen-, Licht- und Videotechnik für Jenny Erpenbecks „Heimsuchung“ und den unprätentiösen Ton, mit dem Jakob Noltes HannoverKrimi „Die Frau mit den vier Armen“ einen lockeren Reigen skurril-­komischer Momente ermöglicht, der Einsamkeit und heillose Sinnsuche in der Landeshauptstadt enttarnt. Alles in allem war Boenischs Eröffnungsprogramm ästhetisch und inhaltlich vielfältiger aufgestellt als das am Thalia und funkelte verheißungsvoller bei den ersten Dates mit dem Publikum. Aber die Ent­decker:innenfreude scheint angesichts guter Besucher:innenzahlen beiderorts geweckt. T

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Report Freiburg

Ein Romantiker im Süden der Republik Felix Rothenhäusler startet seine Intendanz am Theater Freiburg Von Bodo Blitz

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Dieser Auftakt ist ein Versprechen: Victor Calero in der Rolle des George aus der Eröffnungsinszenierung „La Cage aux Folles“ tritt vor den roten Vorhang des Großen Hauses, ein Strahlen im Gesicht, und lädt die versammelten 857 Zuschauer:innen zum Sehen und Staunen ein. Die Exposition des über vierzig Jahre alten Musicals gerät zur indirekten Beschreibung des Neuanfangs in Freiburg: „Alles ganz neu!“, verkündet Victor Calero frech und übertrieben, was sich einerseits auf die Revue im Stück beziehen lässt, aber andererseits auf viele Elemente der neuen Intendanz von Felix Rothenhäusler in Freiburg. Und da ist die Entscheidung für dieses Musical von Jerry Herman und Harvey Fierstein natürlich eine Setzung. Sie lässt sich leicht verstehen, wenn man Rothenhäuslers Faible für die „Idee eines modernes Volkstheater“ ernst nimmt. Er versteht darunter ein Theater der Ermutigung und Hoffnung, aber eben anhand von schwierigen Themen.

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Foto links Alexandra Polina, rechts oben Philip Frowein, unten Samdra Then

Felix Rothenhäusler, Intendant vom Theater Freiburg

Report Freiburg Rothenhäusler will gesellschaftliche Abgründe ausloten, aber nicht bei der Kritik verbleiben, sondern auf positive Weise „Zukunft gestalten“. Und das gelingt in der präzisen Inszenierung von Maurice Lenhard. Spätestens seit Trump hat es Queerness in der Welt erneut schwer, die Aktualität dieses Klassikers ergibt sich leider wie von selbst. Vincent Glander, Gast vom Münchner ­Residenztheater, gibt Georges schwulen Partner mit einer selbstverständlichen Weiblichkeit jenseits althergebrachter Stereotypen. Seine Verletzung darüber, dass er von einem Moment auf den anderen innerhalb seiner Familie unerwünscht zu werden scheint, gerinnt vor der Pause zu einem Moment der völligen Nacktheit.

Ein künstlerischer Bruch, der über das konventionelle Herunterspielen der Story weit hinausgeht. Und ermutigend ist insgesamt die Stärke der Liebe zwischen George und Albin nie von innen heraus gefährdet, sondern allein von außen kurzzeitig bedroht.

Selten habe er eine so bejahende Partnerschaft in seiner Theaterkarriere spielen dürfen, so Victor Calero zu seiner Rolle. Die Ermutigung innerhalb der Inszenierung ist mit Händen zu greifen und sorgt für ein riesiges Glücksgefühl im Zuschauerraum.

löst vom Blick des Planeten auf uns Menschen. Erzählt wird eine Apokalypse, welche uns Menschen bevorsteht, von der die Natur aber so nüchtern berichten kann, dass jegliches Mitleid fehlt. Jedes eindeutige Konzept hat allerdings häufig seinen Preis. Innerhalb von Rothenhäuslers „Wasserwelt“ wird der Kontrast zwischen der Tierwelt auf dem Meeresboden und den Zweibeinern auf der Meeresoberfläche recht schablonenhaft als ein Gegensatz von tierischer Symbiose und menschlicher Analyse gestaltet. Das passt insgesamt zum vorherrschenden Ton der formalen Setzungen, wirkt dann jedoch auch etwas schematisch. Schließlich ist der radikale Perspektivwechsel zum Schluss der Inszenierung, während dem

Meeresboden-Musical Felix Rothenhäusler tritt an mit klaren Konzepten. Er überschreibt seine Spielzeit mit vier Punkten: Queerness als Einladung (thematisch umgesetzt in „La Cage aux Folles“, aber auch bezogen auf ein diverses Ensemble), Natur als Ereignis, die kommunikativen Grundlagen unseres menschlichen Miteinanders und schließlich Erinnerungspolitik. Dieser konzeptionelle Zugriff erklärt die vier Inszenierungen zum Auftakt: „La Cage aux Folles“, „Wasserwelt.

Ein Musical“, „Verdammt verwandt“ sowie „Der zerbrochne Krug“. Rothenhäuslers ungewöhnliches Musical „Wasserwelt“ konturiert den zweiten hier genannten Schwerpunkt, Natur als Ereignis. Konzeptionell ist aber auch der Zugriff von Rothenhäuslers Regie. Diese Übernahme des Musicals vom Theater Bremen nach Freiburg gestaltet den künstlerischen Blick auf die Lebenswelt von Meerestieren auf dem Meeresboden und die konträre Welt der Zweibeiner auf der Wasseroberfläche. Das alles in einer Poesie nahe an Disneyfilmen: Gleich zwei Komponisten, nämlich Jo Flüeler und Moritz Widrig, sind für die dominante musikalische Ebene verantwortlich. Die Gesangsaufnahmen der beteiligten Schauspieler:innen wurden für die Produktion musikalisch so perfektioniert, dass ein filmischer Sound entstanden ist, der enorme Sogkraft entfaltet. Man fühlt sich im Publikum an Filme wie „Arielle“ oder „Die Eiskönigin“ erinnert. Der artifizielle Charakter der Inszenierung wird aber auch dadurch noch gesteigert, dass die Stimmen der Schauspieler:innen vorab aufgenommen und innerhalb des Abends Playback eingespielt werden. Es ist ein Theater jenseits der vertrauten Kategorien von Identität und Figurenpsychologie. Dadurch entsteht Fremdheit, eine Kategorie, welche das Verhältnis von Mensch und Natur auf künstlerische Weise beschreibt. Zu dieser Fremdheit passt das Ende der Inszenierung: Die über Audio eingespielte Off-Stimme der Erzählfigur des Ozeans sorgt am Ende für einen radikalen Perspektivwechsel.

Der übliche Blick von uns Menschen auf die Natur wird abge-

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Oben: „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist. Regie Yana Eva Thönnes am Theater Freiburg Unten: „La Cage aux Folles“ von Jerry Herman und Harvey Fierstein. Musikalische Leitung Johannes Knapp, Hiroki Ojika, Regie Maurice Lenhard am Theater Freiburg

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Report Freiburg Rothenhäuslers Theater hat keine Scheu vor großen Emotionen, und das kommt in allen bisher beschriebenen Inszenierungen über die Musik zum Ausdruck.

die Schauspieler:innen schweigen, nicht frei von einer recht starren auktorialen Welterklärung. Ermutigung ist dennoch innerhalb der Inszenierung vorhanden. Sie findet sich in der Geschichte des Krebses, der sich seinen Weg vom Meeresboden bis zu den Zweibeinern frei kämpft und dort eine zauberhafte Freundschaft mit dem Sohn der Wissenschaftlerin beginnt. Jorid Lukaczik und Matthieu Svetchine geben Krebs und die Figur des Zweibeinerkindes Lio in einer sehr anrührenden Art und Weise. Wenn Lio den von ihm geliebten Krebs der Wasserwelt übergibt, feiert die Textfassung von Felix Rothenhäusler und Jan Eichberg Liebe als Verzicht. So bleibt die abschließend erzählte Apokalypse nicht isoliert stehen.

Besonders gespannt sein durfte man auf die Inszenierung der Hausregisseurin Lena Reißner. Sie verschränkt dem von ihr selbst verfassten Stück „Verdammt verwandt“ die Familiensitcoms aus der Fernsehwelt der 1990er Jahre mit dem Tantalidenfluch. Es handelt sich um eine Stückentwicklung mit dem gesamten Ensemble. Auch hier dominiert ein klares Konzept: Die Fassade einer verrückten, aber letztlich liebevollen Fernsehfamilie auf der einen Seite wird durch die Erzählung des gesamten Tantalidenfluchs auf der anderen Seite permanent durchbrochen. Der runde Tisch im Zentrum des Bühnenbilds von Nathalie Schatz vereint die Mitglieder der Familiensitcom und auch die zornigen Götter, welche Tantalus für seine Provokation bestraft, ihnen den eigenen Sohn Pelops zum Mahl aufgetischt zu haben. Es ist eine enorm starke Ensembleleistung, immer wieder die Rollen zwischen Göttern und Menschen zu tauschen, damit auch die klassische Antithese von Täter und Opfer zu durchbrechen. Eingespielte Lacher wie in den Fernsehsoaps verleihen den Erzählpassagen der Sitcom eine eindringliche Absurdität. Und erneut ist es die Ebene der Musik, welche auf grandiose Weise berührt: über die Live-Musik von Helena Niederstraßer und über den eindringlichen Gesang von Brandy Butler. Rothenhäuslers Theater hat keine Scheu vor großen Emotionen, und das kommt in allen bisher beschriebenen Inszenierungen über die Musik zum Ausdruck. Der Zwang zur Vollständigkeit bezüglich der Erzählung des Tantalidenfluchs ergibt zwar Sinn, wenn es um den Grundgedanken der generationsübergreifenden Weitergabe eines Familienfluches geht. Aber er überfordert auch immer wieder das Publikum. Die prinzipielle Verschränkung von Abgrund und Familie wird dennoch deutlich.

Und der Trost in dieser Inszenierung? Er liegt vielleicht darin, dass die Theaterfamilie immer wieder am Tisch der Inszenierung zusammenkommt, egal, was auch passiert ist.

Bleibt noch die erste Premiere der Schauspielsparte im Großen Haus, mit Kleists „Der zerbrochne Krug“ ein Schauspiel voller Abgründe. Der Blick auf diese nur scheinbare Komödie hat sich seit #MeToo und Gisèle Pelicot enorm gewandelt. Dem trägt

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das klare Inszenierungskonzept der Regisseurin Yana Eva Thönnes und ihrer Teams von Anfang an Rechnung. Im Zentrum der Inszenierung steht Eves Kammer – und nicht die Amtsstube des Dorfrichters Adam. Diese Kammer ist Ort der sexuellen Nötigung, welche in Kleists Drama vor Handlungsbeginn geschah. In Thönnes’ Konzept wird das Trauma Eves im Nachhinein erzählt, Eve verteilt in ihrem Zimmer die Rollen Kleists an ihre Freundinnen. Das Gerichtsdrama als nachträgliches Rollenspiel. Allein die rein weibliche Besetzung dieser Rollen bleibt lesbar ein Abgesang auf das Patriarchat. Und doch bleibt die Gefährdung Eves durch männliche Gewalt innerhalb der Inszenierung auf vielfältige Weise greifbar – im Bühnenvordergrund reduziert sich das Zimmer auf das Bett Eves, es dominiert die Unschuldsfarbe Weiß, übergroße Teddy­bären symbolisieren sexuelle Gewalt auf metaphorische Weise, im Bühnenhintergrund erlaubt der durchgängig fallende Schnee Assoziationen von Kälte und Vergänglichkeit, schließlich sorgen bedrohliche musikalische Töne und radikale Lichtwechsel dafür, dass Kleists Atmosphäre der Bedrängung als Subtext durchgängig präsent bleibt. Und doch wohnt dieser Inszenierung nicht nur durch den Erzählerinnenwechsel tröstende Kraft inne: Innerhalb der gespielten Gerichtsverhandlung kehren die Figuren wiederholt in ihre Ursprungsrollen der Freundinnen zurück. Eve wirkt solchermaßen aufgehoben. Auch dieses klare Konzept hat, wie schon bei den vorigen Inszenierungen, eine Kehrseite: Die Isolation Eves, welche Kleists Drama beherrscht, scheint in Freiburg aufgehoben. Tatsächlich hat hier die Scham die Seite gewechselt, und Jorid Lukaciks starke Eve kann am Ende selbstbewusst ihren Freundinnen bezüglich des Täters Adam zurufen: „Auf! Fasst ihn!“

Motivationsschub Allen Inszenierungen ist Mut anzumerken, auch bezüglich spartenübergreifenden Arbeitens, zudem die Freude an konzeptionellen Ansätzen, die manchmal zu ausschließlich sind. Es wird viel gewagt in Freiburg, noch nicht alles ist perfekt. Aber ein übergroßes flammendes Herz aus LEDs auf der Stirnseite des Theaters leuchtet. Barbara Mundel hatte dort „heart of the city“ prangen, Symbol ihrer Öffnung des Theaters. Ihr Nachfolger Peter Carp konzentrierte sich auf das Wesentliche mit den Lettern „Theater Freiburg“. Nun also das Herz als romantisches Symbol, stell­vertretend für ein Theater, das die Probleme der Gesellschaft aufgreift, aber mit einer Hoffnungsperspektive versehen möchte.

Und mit einer vierten Idee für die gesamte Spielzeit, der Kommunikation. Davon zeugen viele neue, öffnende Formate für das Publikum. Diese lebt Felix Rothenhäusler auch persönlich: Seine Premierenansprache bei Kleists „Der zerbrochne Krug“ ist von extremer Wertschätzung gegenüber den Künstler:innen geprägt, jede Vorstellung einer Schauspielerin gerät zu einer kurzen ­begeisternden Theaterkritik. Rothenhäusler würdigt darin alle Beteiligten bis hin zu den Hospitantinnen und bezieht den gesamten Betrieb des Theaters bewusst mit ein. Der Funke der Motivation, er scheint innerhalb des Hauses und bezüglich des Publikums ­tatsächlich überzuspringen. T

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Report Leipzig

Warum sollen Israelis nicht über Fußball sprechen?

Das Festival Politik im Freien Theater trumpft in Leipzig mit starken Beiträgen

Foto Alexandra Polina

Von Lara Wenzel

„Land aller Kinder“ nach Irmgard Keun von andcompany&Co.

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Report Leipzig als behindert oder queer zu bezeichnen denn als Kommunist, fragt er weiter und entlässt uns mit einer Theatererfahrung, die nachwirkt.

Fanclub Freie Szene Die zwölfte Ausgabe des Festivals Politik im Freien Theater widmet sich dem Thema „Grenzen“, das man wohl in allen Lebens- und Weltlagen entdecken kann, wenn man möchte (siehe TdZ 10/2025). Viel stärker ist es das Spiel mit Zeitlichkeiten, dass die überquellenden Tage in Leipzig voller Gastspiele, Workshops und Ausstellungen zusammenhält. Auf der Bühne und darüber hinaus wird Zeit verdichtet, ausgedehnt, wiederholt, unterbrochen und zusammengewürfelt. Als Ruhepol zwischen der Festival-FOMO („Fear of missing out“) lockt der Backstage, ein Ort, den die lokale Freie Szene gestaltet. Mit der kollektiven Tanzperformance, angeleitet von der Choreografin und Tänzerin Mandy Unger, tanzt die Szene und ihre Fans in einen leerstehenden Laden im Hauptbahnhof. Alle Gäste, die nach dem Auftakt zum gemeinsamen Essen und Kennenlernen in das Szene-Hauptquartier kommen, können mit einem bunten Schal Farbe bekennen. „Fanclub Freie Szene Leipzig“ schlingt sich als Erkennungszeichen um die Hälse und markiert die verstreuten Festivalbesucher:innen im Stadtbild.

Eine Freie Theatergruppe aus Leipzig hat es nicht in die Gastspielauswahl des Festivals der Bundeszentrale für politische Bildung geschafft, ihre Spielstätten lernt man vom 16. bis 25. Oktober dennoch kennen. Für „The Director’s Guide for Theater

„Ich nehm dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana Tischkau

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Foto links Lennart Brede, oben rechts Julia Kampichler

Kaum hat das Publikum Platz genommen, scheucht Michael ­Turinsky es wieder auf. Der Performer und Choreograf zieht mit einem Wagen durch den unbestuhlten Saal und sammelt seine Bühnenteile ein. Er kippt und knallt sie auf den Boden und nimmt sich Zeit, seine Arbeit zu verrichten. Die Plattform am einen Ende des Raumes zusammenzufügen und dabei die Zuschauer:innenmasse umzuwälzen, dauert. Um diese Zeiterfahrung geht es Turinsky, der in „Workbody“ entlang der Grenze arbeitender und behinderter Körper performt. Ohne Worte bricht er mit der normativen Zeit, an die gesellschaftliche Erwartungen an Leistungen und Meilensteine im Lebenslauf geknüpft sind. Dafür etabliert er crip time. Hinter dem Begriff aus den Disability Studies verbirgt sich die Forderung, die Zeitbedürfnisse von Menschen mit Behinderung, chronischer Krankheit oder Neurodivergenz anzuerkennen. Sie können und wollen ihr Leben nicht nach der engen Taktung des Kapitalismus richten und brauchen andere Strukturen, die ihrem Bedarf nach Erholung und Extra-Zeit entsprechen.

In seiner Crip Choreography gelingt Turinsky ein großes Stück politischen Theaters. Mit Latzhose und Schlagbohrer erkundet er Bilder des starken, gesunden Proleten und fragt, ob auch ein behinderter Körper ein ‚erfolgreicher‘ Arbeiter im Kapitalismus sein kann – und ob das überhaupt erstrebenswert ist. Zu dieser Frage serviert der Performer eiskaltes, alkoholfreies Dosenbier aus der Schubkarre, das für alle reicht – ein Vorschein auf die befreite Gesellschaft. Die intensive Performance durchzieht eine Meditation über „Gramscis Asche“, ein Gedicht von Pier Paolo Pasolini über den italienischen Kommunisten. Nur wenige wissen von Antonio Gramscis Behinderung, erzählt Turinsky. Ist es heute leichter, sich

Report Leipzig

Die intensive Performance durchzieht eine Meditation über „Gramscis Asche“, ein Gedicht von Pier Paolo Pasolini über den italienischen Kommunisten.

Rechts oben: „The Director’s Guide for Theater During Wartime“ von Hannan Ishay und Ido Shaked/ Théâtre Majâz

During Wartime“ öffnet der Westflügel seine Tore. Normalerweise beherbergt das Produktionszentrum internationales und lokales Figurentheater, an diesem Abend drehen zwei israelische Regisseure die Zeit zurück. Leider wird es keine Aufführung geben, erklären Hannan Ishay und Ido Shaked, die sich als Regisseure selbst auf der Bühne spielen. Ein französisches Theaterfestival hatte sie eingeladen, aber nach langem Ringen, ob sie ein Stück zum ‚KONFLIKT‘ oder doch einfach Fußball machen wollen, scheint der Angriff der Hamas und die militärische Reaktion der Netanjahu-Regierung Kunst unmöglich gemacht zu haben.

Auf der kargen Bühne mit offener Garderobe nehmen sie das Publikum mit auf eine Zeitreise. Am 7. Oktober 2022, ein Jahr vor dem Überfall auf Israel, erhalten sie den Anruf der Kuratorin.

Unausgesprochen schwingt darin die Erwartung mit, dass sie als Israelis den Konflikt zwischen Israel und Palästina für das europäische Publikum in mundgerechte Happen zerkleinern. Sie gehören der radikalen Linken an und wollen weder zur Siedlerpolitik im Westjordanland noch zur Justizreform schweigen, gegen die Ishay in diesen Tagen auf die Straße geht. Gleichzeitig fragen sie sich: Warum immer wir? Können sie als Israelis nicht auch mal andere Themen behandeln? Fußball z. B. Wer will, könne das ja als Metapher verstehen. Sie überlegen, ob sie noch einen palästinensischen Schauspieler auf der Bühne brauchen und falls ja, wen. Aus Jordanien, Gaza oder der Westbank? Und kann das das europäische Publikum überhaupt unterscheiden oder sieht es nur zwei homogene Teams wie beim Fußball?

Während die Regisseure über die perfekte Inszenierung diskutieren, rücken sie langsam an das Datum heran, dass zur

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Zäsur in Israel wurde. Shaked beobachtet die Ereignisse aus Paris, wo er mit seiner Familie lebt, während Ishay Freiwilligenarbeit in Israel leistet. Was sie durch die Medien und vor Ort wahrnehmen, spaltet ihre Erfahrungen und an eine Theaterproduktion ist nicht mehr zu denken. Bis zur Waffenruhe in der Gegenwart führen die Theaterkünstler das Publikum, die Premiere rückt näher und Ausflüchte werden gesponnen, warum es kein Stück gibt. Doch dann klingelt das Telefon. Am Apparat ist die Festivalleiterin, die sich erst windet und dann den beiden absagt, weil es ein unpassender Zeitpunkt für ein israelisches Stück sei. Nicht wegen ihrer politischen Haltung, sondern wegen ihrer Herkunft werden sie ausgeladen. Auf dieser Zeitreise begleitet das Publikum die linken Regisseure bei ihren Positionierungen im komplexen israelischen Diskurs. Für die europäischen Zuschauer:innen fehlt jedoch der lokale Kontext, der bei diesem zynischen Ritt durch das Zeitgeschehen und die Debatten kaum einzuholen wäre.

Ob mit Zeitreisen vor den 7. Oktober, ins Jahr 1938, in das die Produktion „Land aller Kinder“ nach Irmgard Keun von andcompany&Co. einlädt, oder der Wiederholung von exotisierenden Schlager- und Tanzszenen in „Ich nehm dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana Tischkau, Politik im Freien Theater verbindet intensive Zeiterfahrungen mit politischen Konflikten.

So jagen Momente der Wiederholung, Langsamkeit und des Rückblicks einander in rasenden Festivaltagen. Mit etwas Glück und günstigen Förderzusagen kehrt das Festival und die FOMO in drei Jahren wieder. T

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Report Erfurt

Ein Schauspiel, ach, ein kleines Schauspiel nur Eine einst unter Schmerzen und falschen Vorzeichen geschlossene Sparte kehrt mittelfristig ins Theater der Landeshauptstadt Erfurt zurück Von Michael Helbing

Eine Wunde soll geheilt werden. Das ist die kulturhistorische Dimension einer kulturpolitischen Entscheidung, die jahrelang ­ ­diskutiert und vorbereitet worden war. Denn Erfurt in Thüringen ist seit nunmehr 22 Jahren die einzige deutsche Landeshauptstadt, ­deren Theater kein Schauspielensemble unterhält. Es war Mitte 2003 geschlossen worden, bevor Wochen später ein neues Theatergebäude eröffnet wurde. Dort bietet das Haus, ebenso wie die Stadtwerke oder der Zoo als ein städtischer Eigenbetrieb organisiert, seitdem aus eigener Kraft hauptsächlich Musiktheater und Konzerte an.

Schwerpunktmäßig hält die Stadt an diesen beiden Sparten auch perspektivisch fest. „Darüber hinaus“, heißt es nun aber, „stärkt das Theater Erfurt seine künstlerische Vielfalt durch einen schrittweisen Aufbau einer eigenen Schauspielsparte, die spartenverbindend mobile und In-House-Produktionen umsetzt“. So steht es in einem von fünf Eigentümerzielen, die man sich als orts-

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spezifisches Instrument der Theaterentwicklung ausgedacht hatte und die im September den Stadtrat passierten. Und so steht es in der veränderten Betriebssatzung, die man daraufhin mehrheitlich im November beschloss. In beiden Fällen gegen den Willen der Rathausspitze. Die wollte sich alle Türen offenhalten, indem sie es der künftigen Theaterleitung überlassen hätte, darzustellen, ob und wie die Sparte unter neuen Bedingungen wieder eingeführt werden könnte.

Diese Leitungsposition sollte im November (nach Redaktions­ schluss) endlich ausgeschrieben werden, um sie im ersten oder zweiten Quartal 2026 zu besetzen. Dienstbeginn zur Spielzeit 2027/28. Ihm, ihr oder auch ihnen obliegt es dann noch zu entscheiden, wie groß das Schauspielensemble zunächst sein wird.

Es würde, schätzt der zuständige Dezernent, nicht vor 2030 zu arbeiten beginnen.

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Fotos Lutz Edelhoff

Ansichten von der Spielstätte des Theaters Erfurt

Report Erfurt Geschlossen worden war das Ensemble einst, und mit ihm das alte Schauspielhaus, im vorauseilenden Gehorsam der Stadträte. Sie glaubten, es würde zur Fusion mit dem 25 Kilometer entfernten Nationaltheater Weimar kommen, das seine Oper hätte aufgeben sollen. Bühnenmaße und -verhältnisse des Erfurter ­Neubaus sind deshalb mit jenen in Weimar nahezu identisch. Eine Thüringer CDU-Regierung hatte die Fusion forciert, mal wieder.

Grundlage dafür war ein schon einmal gescheitertes Papier einer Strukturkommission, die der Bühnenverein unter dem damaligen Präsidenten August Everding Mitte der Neunziger gebildet hatte.

Sie arbeitete für die Schublade.

Transformationsprozess Und Weimars Stadtgesellschaft wehrte sich auch jetzt wieder erfolgreich. Das Theater wurde in eine GmbH überführt, erfand unter dem Intendanten Stephan Märki einen „Weimarer Modell“ genannten Haustarifvertrag (siehe TdZ 04/2002) und trat dafür sogar aus dem Bühnenverein aus. Sechs Jahre später trat man wieder ein, nun als ein unter einer CDU-SPD-Regierung gebildetes Staatstheater. Den vorerst letzten Fusionsversuch unternahm vor zehn Jahren Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke).

Seine Reformidee „Perspektive 2025“ sah zwischen Erfurt und Weimar ein Staatstheater Thüringen vor. Nach massivem öffentlichem Widerstand aus Weimar gab auch er solche Pläne auf.

Erfurt ließ alle gen Weimar gerichteten Hoffnungen fahren und begann, über eine Theaterzukunft aus eigener Kraft nachzudenken. Anfang 2022 startete die Stadt einen „Transformationsprozess“ als öffentliches Debatten- und Beteiligungsverfahren.

Den Blick richtete man dabei Richtung 2027, wenn der seit 2002 amtierende Intendant Guy Montavon auf jeden Fall abgetreten wäre. Der Kulturberater Marc Grandmontagne aus Wien und der Dramaturgieprofessor Hanns-Dietrich Schmidt aus Essen begleiteten den Prozess als externe Berater und erarbeiteten dabei auf Wunsch auch Pläne für ein neues, anderes Sprechtheater: eines mit acht Schauspielern bei insgesamt 14 Mitarbeitern.

Bald war klar: Es würde dafür nicht mehr Geld von Stadt und Land geben. Eine dritte Sparte nur mit gleichem Etat, so lautet bis heute die Ansage. Was grundsätzlich gehen kann. In Thüringen kriegen das Staatstheater Meiningen und das Theater AltenburgGera mit in Summe vergleichbaren Zuschüssen (aktuell rund 25 Millionen Euro) und Mitarbeiterzahlen (jeweils über 300) viel mehr hin als Erfurt. Beide Häuser unterhalten sogar ein Puppentheater, während jenes in Erfurt schon längst ein eigenständiger, vereinsgetragener Privatbetrieb ist, der öffentlich gefördert wird (siehe TdZ 06/2024).

Bluten fürs Schauspiel muss demnach also das Musiktheater: weniger Produktionen auf jeden Fall, weniger Personal etwa im Chor gewiss auch. Deshalb, so hört man immer wieder, gibt es Ängste bei den Beschäftigten des Theaters. Die müsse man ernst nehmen und Vorbehalte sukzessive abbauen.

Die Unruhe im Haus war auch so schon groß genug. Anfang 2024 waren Intendant Montavon und seine Verwaltungschefin freigestellt worden. Erst hatte die städtische Gleichstellungs­

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Geschlossen worden war das Ensemble einst, und mit ihm das alte Schauspielhaus, im ­vorauseilenden Gehorsam der Stadträte.

beauftragte Missbrauchsvorwürfe am Haus öffentlich gemacht, die bis heute ungeklärt sind. Bald kamen Vorwürfe des Miss­ managements mit Millionendefizit hinzu. Inzwischen hat die Stadt Montavon mehrfach fristlos gekündigt; man sieht sich demnächst vor einem Arbeitsgericht noch mal wieder.

Diese „Causa Montavon“, die u. a. eine externe Wirtschaftsprüfung nach sich zog, zögerte den Theatertransformationsprozess sehr hinaus. Zugleich aber bestärkte sie diesen darin, dass man sich ohnehin vom Intendantenmodell verabschieden wollte.

Eine Kollektivleitung stand im Raum.

Nachdem ein neuer Oberbürgermeister gewählt worden war und dieser die Zuständigkeit fürs Theater bald neu organisierte (weg vom Kultur-, hin zum Finanzdezernenten), lautete die Devise im Rathaus: Ein künstlerischer und ein kaufmännischer Direktor sollen das Theater künftig auf Augenhöhe leiten, so, wie es kommissarisch bereits seit der Freistellung Montavons der Fall ist. Laut einem der fünf sogenannten Eigentümerziele der Stadt steht diese Doppelspitze künftig einem Theaterrat genannten künstlerischen Leitungsgremium vor, dessen Struktur sie selbst bestimmt.

Perspektive Start 2030 Dass die künstlerische Theaterleitung selbst auch aus einem Team bestehen kann, hat nun aber ein interfraktioneller Änderungs­ antrag von CDU, Linken, Grünen und dem Bündnis Mehrwertstadt erfolgreich in die neue Theaterbetriebssatzung hinein formuliert. Die lokalen Sozialdemokraten wehrten sich hartleibig, aber vergeblich gegen diese Möglichkeit einer solchen Teamintendanz mit Primus inter pares, wie sie seit dieser Saison bei den Nachbarn in Weimar praktiziert wird (siehe TdZ 11/2025).

Unterdessen waren sie aber mit von der Partie, dort gegen den Satzungsentwurf des Rathauses anzustinken, wo dieser wieder hinter den zuvor beschlossenen Zielen zurückbleiben wollte: Aus der Soll-Bestimmung, ein „Phasenmodell zur Etablierung einer eigenen Schauspielsparte“ zu entwickeln, wäre hier eine KannBestimmung geworden. Das wurde mehrheitlich verhindert.

Dass erst die neue Leitung dafür sorgen soll, ein Schauspiel einzurichten, ist insofern ein bisschen fahrlässig, als zum geplanten Startzeitpunkt 2030 die Theaterverträge mit dem Land auslaufen und erneut Wahlen zum Landtag wie auch zum Stadtrat stattgefunden haben werden. Veränderte Strukturen könnten auch jetzt schon zumindest vorbereitet werden. Andernfalls könnte eine alte Wunde wieder aufreißen, bevor sie überhaupt zu heilen begonnen hat. T

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Report China

„Fox Tales“ von Yang Qian und Okron-Kuo Jing Hong im East Warehouse Theatre, Wuzhen

Wie China in seiner perfekt inszenierten Wasserstadt Wuzhen Kultur, Technologie und Macht choreografiert Von Paul Tischler

Schon beim Landeanflug auf Shanghai wird die Dimension des chinesischen Aufbruchs greifbar. Unter dem Flugzeugfenster entfaltet sich ein Panorama menschengemachter Superlative: die schier endlos wirkende Donghai-Brücke, die sich über 32,5 Kilometer durch das Ostchinesische Meer spannt, um den Tiefseehafen Yangshan zu erreichen. Als ein Wunderwerk der Ingenieurskunst gehört er zu den wenigen Häfen weltweit, die Supercontainerschiffe mit über 20 000 Containern abfertigen können: Für ihn wurde eine künstliche Insel errichtet, um den 16 Meter tiefen Schiffen das Ankern zu ermöglichen. Daneben, wie stählerne Wächter in der Hangzhou-Bucht, die Rotoren eines gigantischen Offshore-Windparks. Diese Bauwerke sind mehr als nur Infrastruktur; sie sind das visuelle Leitmotiv für Chinas unbedingten Willen, in großen Dimensionen zu denken, zu bauen und zu inszenieren.

Die visumfreie Einreise nach China gestaltet sich verblüffend unkompliziert. Kein quälender Fragebogen, kein Verhör vor Grenzbeamten, lediglich zwei Fragen – Aufenthaltsgrund und -dauer – und der Stempel sitzt im Pass. Noch in diesem Sommer

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wurde mir drei Tage vor meinem Flug nach New York die Einreise in die USA verweigert – ohne Begründung. Eigene Recherchen ergaben, dass wohl eine 14 Jahre zurückliegende Reise in den Iran der Grund war. Dass es dabei um einen Kulturaustausch mit ­Theaterleuten und dem Goethe-Institut ging, interessierte niemanden. Der Kontrast ist frappierend: hier die offene chinesische Einladung, dort die hermetische Abschottung der USA in Zeiten von America First. Was sagt diese Asymmetrie der Gastfreundschaft über das kulturelle und politische Selbstverständnis Chinas aus?

Von Shanghai nach Wuzhen Weg von der globalen Megacity reise ich hinein in eine kuratierte Welt, die als Modellort für eine chinesische Zukunftsvision dient.

Schon die vierspurige Fernstraße auf der zweistündigen Autofahrt von Shanghai nach Wuzhen wird zur Bühne für eine scharfe sozioökonomische Kommentierung. Ein Rechtsfahrgebot scheint de facto nicht zu existieren; Überholmanöver finden mit hoher Geschwindigkeit auf allen Spuren statt. Dann, fast surreal, ein Unfall wie aus einem Actionfilm: Ein Auto macht mitten auf der Autobahn einen U-Turn und kommt, vom seitlichen Aufprall eines Lkw gedreht, in entgegengesetzter Fahrtrichtung zum Stehen.

Ein Stunt, der glücklicherweise ohne Verletzte ausgeht und als Metapher für ein Entwicklungsmodell gelten kann, das auf Hochgeschwindigkeit setzt. Die Autos meist elektrisch und oft von ­chinesischen Smartphone-Herstellern.

Die Ankunft in Wuzhen selbst ist ein nahtloser Übergang in eine perfekt organisierte Parallelwelt. Emily, eine Englischstudentin und ein „Little Angel“ des Festivals, hat mich bereits am Flughafen abgeholt und lotst mich jetzt zum Ziel.

Das etwa 1300 Jahre alte Wuzhen befindet sich in der Provinz Zhejiang, etwa 120 Kilometer südwestlich von Shanghai. Sie ist

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Fotos Theater der Zeit

Von Kunqu-Oper bis Drohnenfeuerwerk

Report China eine der berühmtesten Wasserstädte Chinas und gilt als „Venedig des Ostens“. Mit kleinen Kanälen, über siebzig Brücken, überdachten Arkadenhäusern und pavillonartigen Gebäuden direkt am Wasser bewahrt sie den ursprünglichen Stil und die Struktur der alten Wasserstädte Chinas.

Als Gast des Festivals passiere ich die Eintrittsschleuse und ­gleite wenige Augenblicke später in einem der vielen kleinen, offenen ­Elektrobussen zum Hotel. Das Gebäude ist modern und geschmackvoll, mit einer zwanzig Meter hohen Eingangshalle aus Glas und Stein, die den Blick auf malerische Felder und eine alte Steinbrücke freigibt. Die marmornen Mülleimer an den Fahrstühlen sind mit ­kleinen Kunstbeeten und niedlichen Spielzeugenten geschmückt.

Im Innenhof des Hotels werden blaue Pfaue auf engem Raum gehalten – eine für westliche Augen befremdliche Form der Dekoration, die mir wie Tierquälerei vorkommt. Beim späten Abendessen muss ich als scheinbar einziger vegetarischer Hotelgast die angebotenen Delikatessen wie Hummer und Flusskrebse ablehnen, was zur sichtlichen Enttäuschung bei den vielen freundlichen Kellnerinnen führt.

Nach einer knapp 24-stündigen Anreise aus Berlin endet der erste Abend mit einem kurzen Abstecher zu einem Nachtmarkt, wo sich während des Theaterfestivals Essensstände entlang des Kaiserkanals reihen. Mit einer Länge von 1800 Kilometern ist der Kaiserkanal die längste von Menschen geschaffene Wasserstraße.

Nichts anderes hätte ich erwartet. Eine große Menschenmenge versammelt sich staunend um ein Riesenmarionettentheater, das sich nur durch übergroße Selfie-Sticks einfangen lässt. Die Luft ist erfüllt von Gerüchen und Gelächter. Ein erster Vorgeschmack auf die allumfassende Theatralität dieses Ortes.

Wuzhen, eine perfekte Rekonstruktion

in Europa nicht.“ Schütz verknüpft seine Beobachtungen am Theater mit der technologischen Realität Chinas. Das Drohnenfeuerwerk zur Eröffnungsfeier sei ein gutes Beispiel dafür, wie das Land seine eigene Geschichte technologisch fortschreibt: „Man ersetzt das traditionelle Feuerwerk nicht, man übermalt es mit neuer Technologie.“ Diese Metapher des Übermalens sieht er auch in der Arbeits­weise des Autors von „Anthropolis“, Roland Schimmelpfennig, der mit seinen Texten die antiken Stoffe „Dionysos“, „Laios“, „Ödipus“, „Iokaste“ und „Antigone“ für die Gegenwart überschrieben hat. Diese Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart erzeugt eine „thermische Unruhe“, so Schütz, die perfekt zum Festivalmotto „Fú Yáo“, dem Emporwirbeln, passt.

Die Rekonstruktion der historischen Wasserstadt ist eine durchkomponierte Meisterleistung. Klimaanlagen sind hinter Holzornamenten versteckt, es gibt fast keine Leuchtreklame, keine oberirdischen Leitungen. Die öffentlichen Toiletten sind kostenlose, tempelartig gestaltete Oasen der Ruhe mit loungeartigen Warteräumen. Jedes Detail dient dem Zweck, Bruchstellen in der Illusion zu eliminieren. Die Kanäle, Lebensadern der Wasserstadt, sind mittlerweile makellos sauber – das Ergebnis immensen technologischen Aufwands, bei dem auch der prominente Mitbegründer der Onlineplattform Alibaba Jack Ma unterstützt haben soll.

Einen atmosphärischen Höhepunkt bildet die erste Begegnung mit Stan Lai, einem der Mitgründer des Festivals, bei einem Künstlerempfang. Seine Erscheinung – eine Synthese aus der stillen Autorität eines Zen-Meisters, der mystischen Aura eines Magiers und der präzisen Haltung eines Samurais – besetzt den Raum, bevor er ein Wort spricht. Als er sich unserem Tisch im Garten nähert, gelten seine ersten Worte nicht den Gästen, sondern einem Baum: „Schaut

Wuzhen ist weit mehr als eine Touristenattraktion für täglich 20 bis 30 000 Besucher:innen aus ganz China. Es ist ein strategisches Vorzeigeprojekt, das Kultur, Tourismus und Technologie zu einer einzigartigen urbanen Konzeption verschmilzt. Der Bühnenbildner Johannes Schütz nennt es treffend eine „rekonstruierte Urbanität“ und ein „kulturelles Museum chinesischer Lebensweisen“. Schütz hat die Bühne für die Eröffnungsproduktion „Anthropolis“ entworfen. „Bei der Premierenfeier am Fluss passierten in zehn Minuten mehr Lastkähne als am Rhein. Sie wirkten wie aus den 1950er Jahren. Darüber ein Feuerwerk aus vierhundert Drohnen, darunter das Bankett vor einem Hotel innerhalb eines kleinen Jahrmarkts – alles zugleich. Diese Gleichzeitigkeit von Technik und Tradition, Simulation und Realität ist verblüffend. Der Fluss selbst ist kein Fluss, sondern ein Transportkanal – ein synthetisches Gebilde. Das alles ergibt ein synkretistisches Bild der Zeit, das uns als Besucher:innen staunen lässt, aber für die Menschen hier selbstverständlich scheint. Wenn man an Carcassonne, Rothenburg ob der Tauber, Venedig oder Amsterdam denkt – das sind erhaltene Realitäten. Wuzhen dagegen ist eine Rekonstruktion, eine Installation, und der Zutritt kostet, zu Recht, Eintritt.“ Dahinter steht ein anderes Bewusstsein von Geschichte: eine Kopie, ein bewusstes Zurückholen einer verlorenen Lebensform. Zugleich entsteht ringsum eine hypermoderne Gesellschaft mit Hochhauslandschaften, die das Land neu definiert. „Diese Gleichzeitigkeit gibt es

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Report China

euch diese wundervollen Blätter an. Der Baum steht kurz vor der Blüte“, sagt er mit sanfter Stimme und verweist auf den betörenden Duft des Osmanthus – ein ostasiatischer Ölbaum, der seit Jahrtausenden in China eine wichtige Rolle spielt und häufig in klassischen Texten auftaucht. In Wuzhen ist selbst die Natur Teil der Dramaturgie.

Ein Festival im Rausch der Superlative Gegründet im Jahr 2013, hat sich das Wuzhen Theaterfestival 2025 in seiner zwölften Ausgabe zu einer Institution von internationalem Rang entwickelt. Der ehemalige chinesische Kulturbotschafter Chen Ping bestätigt, was alle Besucher:innen spüren: In seiner Bedeutung ist Wuzhen heute „das zentrale Theaterfestival Chinas – mit einer Ausstrahlung weit über das Land hinaus“. Es ist für elf Tage der Nabel der kulturellen Welt des Landes, ein Treffpunkt für die Elite aus Kunst und Gesellschaft, von Rockstars wie Cui Jian bis hin zu einflussreichen Produzenten wie Gao Xiasong.

Die Philosophie hinter diesem rasanten Aufstieg verkörpert der künstlerische Leiter Meng Jinghui, eine der prägendsten Figuren des zeitgenössischen chinesischen Theaters, der bei seinen Festival­ auftritten wie ein Popstar gefeiert wird. In unserem Gespräch ent-

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„Anthropolis“ in China Der fünfteilige Antikenzyklus „Anthropolis“ als Eröffnung des Festivals bildete ein beispielloses Gastspiel in der Geschichte des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Fünf Inszenierungen, eine Spieldauer von fast zehn Stunden, rund achtzig Mitwirkende aus Hamburg wurden eingeladen. Diese Eröffnungsinszenierung allein entspricht dem Aufwand eines halben Berliner Theatertreffens. Ein Mammutprojekt, dessen Dimension selbst erfahrene chinesische Kulturvermittler wie Chen Ping verblüfft: „Kein anderes Festival – weder in Europa noch in Amerika – hätte derzeit die Kapazität, eine Produktion dieses Umfangs einzuladen.“ China demonstriert hier die Fähigkeit und den Willen zu einem kulturellen Dialog, vor dem andere zurückzuschrecken scheinen.

Die Kooperation ging weit über ein gewöhnliches Gastspiel hinaus, wie der Bühnenbildner Johannes Schütz betont. Fast alle Dekorationen wurden in China neu gebaut. Chinesische TaikoTrommler und ein Großteil des Chores wurden in die Inszenierung integriert und studierten dafür sogar die deutsche Aussprache ein. Schütz resümiert: „Man spürte, dass das Festival solche aufwendigen Kooperationen strukturell wirklich tragen kann.“

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Fotos Theater der Zeit

Das 1300 Jahre alte Wuzhen: Viele Gebäude wurden seit 1999 im Jiangnan-Stil rekonstruiert, andere stammen aus der Ming- und Qing-Dynastie.

faltet er seine Vision einer Kunst der ausbalancierten Gegensätze.

Für Meng bedeutet Erfolg nicht primär ausverkaufte Häuser – das sei seit zwölf Jahren die Norm. Wahrer Erfolg manifestiere sich in zwei Aspekten: der gesellschaftlichen Relevanz, die dafür sorge, dass „Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten“ dem Festival ­Aufmerksamkeit schenken. Und ebenso entscheidend sei die massive Präsenz der jungen Generation. „Im Festival die Gesichter und die Energie der Jugend zu sehen“, sei der wichtigste Gradmesser.

Im Interview identifiziert er drei Kernelemente, die Wuzhen unverwechselbar machen. Zuerst die Spannung zwischen dem „besonderen chinesischen Flair“ des Ortes und den „zeitgenössischen internationalen Produktionen“. Dann der kuratorische Imperativ der Zeitgenossenschaft: Die gezeigten Stücke müssen das „gegenwärtige Leben und unsere aktuellen Probleme“ reflektieren. Und dann, drittens, die sorgfältig austarierte Balance zwischen provokanten, experimentellen Werken und den Gegebenheiten des chinesischen Kontexts. Meng ist sich des chinesischen Kontexts bewusst: „Man kann nicht besonders extrem sein.“ Dennoch integriert das Programm bewusst „experimentelle, provokante und anregende Werke“, die das Publikum herausfordern und neue Sehgewohnheiten etablieren.

Das diesjährige Festivalmotto „Fú Yáo“ dient als philosophischer Schlüssel zu Mengs Vision. Er interpretiert es als eine langsame, mitreißende Aufwärtsbewegung, die andere erfasst und einen Dialog der Kulturen anstößt. In unserer chaotischen Zeit gehe es nicht um Erleuchtung. Das „Aufsteigen“ symbolisiere vielmehr „den menschlichen Prozess des unermüdlichen Weiterforschens und Vorwärtsstrebens, trotz aller Ungewissheit“. Genau darin liege, so Meng, die Aufgabe von Theater.

Trotz des enormen Zuspruchs – allein 3000 Mitarbeiter:innen sorgen für die Organisation – lehnt Meng eine weitere Vergrößerung des elftägigen Festivals ab. Die natürlichen Grenzen für die Organisation eines Festivals scheinen hier erreicht.

Report China Die Reaktion des chinesischen Publikums war bemerkenswert.

Schütz beschreibt eine „erstaunliche Geduld und Konzentration“, mit der die Zuschauer:innen der deutschsprachigen Aufführung mit chinesischen Übertiteln folgten. Ein französischer Festivalbesucher merkte an, der lange Applaus sei für chinesische Verhältnisse „euphorisch“ gewesen; normalerweise verlasse das Publikum nach kurzem Applaus direkt nach Ende der Vorstellung den Saal. Eine australische Besucherin empfand das Stück als „sehr deutsch“, aber im positiven Sinne, während eine chinesische Zuschauerin von der Energie der Trommler belebt wurde und sagte, sie sei müde ins Stück gegangen und wach wieder herausgekommen.

Chinesische Erzählungen in neuem Gewand Das Programm des Wuzhen Theatre Festivals lässt sich deutlich anhand einer kuratorischen Linie erkennen, die auf dem Dialog zwischen unterschiedlichen kulturellen Traditionen, insbesondere europäischen antiken Stoffen, französischer Kultur des 20. Jahrhunderts und neu interpretierten klassischen chinesischen Werken, basiert.

Die Festivalauswahl integriert Schlüsselwerke der französischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die den Fokus auf experimentelle und provokante Werke unterstreichen, wie „La Chaise“, das auf ­Werken von Eugène Ionesco und Jean-Luc Godard basiert, in der Regie von Han Xu und Wang Ying. Der Künstlerische Leiter des Festivals, Meng Jinghui, inszenierte für die größte Festivalbühne, das Grand Theatre, „Les Mariés de la tour Eiffel“ von Jean Cocteau, einem Meister des französischen Surrealismus. Die Inszenierung ­verwendet Popelemente, arbeitet mit allen Medien, Musik, Sound, Live-Kamera, Fernseheinspieler:innen und aufwendigen Kostümen.

Bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Erbe stechen zwei Produktionen besonders hervor: Basierend auf klassischen chinesischen Geistergeschichten adaptiert das humorvolle Stück „Fox Tales“ von Yang Qian und Okron-Kuo Jing Hong die Qi-Philosophie für die Gegenwart. Qi ist ein zentraler Begriff der chinesischen Philosophie, Religion und Medizin. Er bedeutet wörtlich „Atem“, „Dampf“ oder „Energie“ und steht für die Kraft, die Leben ermöglicht und Wandel im Kosmos hervorruft. In der Inszenierung von Okron-Kuo Jing Hong erklärt ein Zen-Meister die universelle Lebenskraft mit einem Augenzwinkern und dem Wortspiel „IQ“, der benötigt werde, um sie zu verstehen.

Auch „Echoes in the Peony Pavilion“ adaptiert einen klassischen chinesischen Stoff. Der Päonien-Pavillon (Mudan Ting) ist eine bedeutende Kunqu-Oper aus dem Jahr 1598, die von der Regisseurin Xiao Jing radikal modernisiert wird. In ihrer Inszenierung steht die Dialektik des zentralen Konflikts der modernen Jugend in China im Mittelpunkt. Die Hauptfiguren finden sich in der heutigen Lebenswelt wieder: Du Liniang ist eine Live-Streamerin, die unter Cybermobbing leidet – ein Symbol für den radikalen Individualismus der digitalen Creator-Ökonomie. Ihr Geliebter Liu Mengmei lernt für die zermürbende Beamtenprüfung („Kao Gong“), die für die kollektivistische, stabilitätsorientierte Tradition steht.

Das chinesische Interesse an Stoffen aus der Antike zeigte sich neben den fünf „Anthropolis“-Produktionen auch in der CocteauInszenierung von Meng Jinghui, in der der Regisseur bewusst den

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Orpheus-Mythos integrierte und damit auf Cocteau verwies, der dieses Motiv in eigenen späteren Werken, insbesondere in dem ­Drama „Orphée“ und dem Film „Orpheus“ von 1950, verwendete.

Die Ernst-Busch-Schauspielschule wurde mit einer „Penthesilea“Inszenierung von Alexander Simon eingeladen, in der Pia Dem­ binski als Penthesilea und Carl Geißler als Achilles brillierten.

Neben der Kooperation mit Schauspielschulen aus dem Ausland sind zwei weitere Positionen im Nebenprogramm des Festivals positiv hervorzuheben: Die „Emerging Theatre Artists’ Competition“ zeigt als Wettbewerb für Nachwuchskünstler:innen Arbeiten aus ganz China. Und unter dem Motto „Women and me“ präsentierten sechs Regisseurinnen und drei Videokünstlerinnen ihre Arbeiten.

Wuzhen als Chiffre für Kultur und Wirtschaftsmacht Wuzhen ist kein zufälliger Ort. Seine Bedeutung reicht weit über die Kultur hinaus und macht es zu einer bewusst gewählten Bühne für Chinas globale Ambitionen. Das zeigt sich in seiner Doppelfunktion als Gastgeber des Theaterfestivals und der World Internet Conference (WIC), die hier seit 2014 ihren permanenten Sitz hat und traditionell zahlreiche prominente CEOs globaler Technologieunternehmen sowie führende politische Vertreter:innen zu Gast hat. Die WIC ist eine strategische Plattform, um Chinas Vision einer technologisch eigenständigen Zukunft zu präsentieren, die eng mit den Zielen des gerade vorgestellten 15. Fünfjahresplans (2026–30) verknüpft ist.

Wuzhen wird so zum geopolitischen Instrument. Mit der WIC propagiert China die Schaffung einer „Gemeinschaft mit einer geteilten Zukunft im Cyberspace“ und positioniert sich als Architekt einer alternativen digitalen Weltordnung. Dies ist eine direkte Antwort auf westliche Technologiebeschränkungen und die geopolitische Extension derselben Dynamik, die am Anfang dieser Reise stand: Wo eine Macht den Zugang beschränkt, baut die andere ihr eigenes, inklusives – wenngleich streng kontrolliertes – System. Das Theaterfestival und die Internetkonferenz sind somit Teil einer umfassenden Inszenierung, die Chinas Anspruch demonstriert, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell eine führende Rolle in der Welt zu spielen.

Was lässt sich aus der Vision lernen, die mit einem unerschütterlichen Fortschrittsglauben und einem enormen Selbstbewusstsein auftritt, während Europa und Amerika selbst mit sich ringen?

Die Reise endet, wie sie begonnen hat: mit einer Fülle von Eindrücken, die sich zu einem komplexen Bild fügen. Der Duft des Osmanthus liegt noch in der Luft, die Erinnerung an eine Teezeremonie am Kanal, bei der Longjing mehrfach aufgegossen wird. Im Gedächtnis bleiben die Gesichter im Publikum, die mit westlichen Klischees aufräumen: junge Menschen mit bunt gefärbten Haaren, Queer Visibility, Unisextoiletten, ein selbstverständlicher Umgang mit individuellem Ausdruck, der mit den informationellen Asymmetrien und Stereotypen bricht, die noch immer bestehen. Mein „Little Angel“ Emily, eine hochintelligente und selbstbewusste Studentin aus der Provinz Zhejiang, kennt wenig von Deutschland, nicht einmal München oder das Oktoberfest. Wir wissen wenig voneinander. Wuzhen lädt ein, dies zu ändern. T

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Report Polen

Start des Vorprogramms Lublins Festival Konfrontacje bietet einen Ausblick auf die Kulturhauptstadt 2029 Von Thomas Irmer

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Am Rande der Altstadt wartet Paweł Potoroczyn vor einem Restaurant auf seine Gäste, von denen er schon einige aus seiner Zeit als Direktor des Polnischen Kulturinstituts in New York kennt: Theaterleitende, die dort internationale Programme kuratieren und nun nach Lublin gekommen sind, um sich mit dem Besuch des Konfrontacje-Theaterfestivals auch über die ersten Vorbereitungen für die Kulturhauptstadt im Osten Polens zu informieren.

Potoroczyn, der in Los Angeles den Lebenswerk-Oscar für seinen Landsmann Andrzej Wajda einfädelte und bis zu seiner Absetzung durch die PiS-Regierung 2016 in Polen das Adam-Mickiewicz-Institut leitete, muss man sich als einen elegant gekleideten Bohemian aus solchen Salons vorstellen, in denen Kultur in eine noch höhere Sphäre geleitet wird. Seit Mai ist er Direktor des Programms der Kulturhauptstadt und zog dafür aus dem nicht allzu weit entfernten Warschau nach Lublin. „Für eine andere polnische Stadt hätte ich das nicht mit Überzeugung machen können“, sagt er – und legt gleich seinen ersten Trumpf auf den Tisch.

Barrie Kosky wird hier „Yentl“ inszenieren, das dem legendären Barbra-Streisand-Filmmusical aus dem Jahr 1983 folgt und auf einer Geschichte des jiddisch-amerikanischen Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer basiert.

Singer, der in seinem Werk die Welt der polnisch-belarus-­ ukrainischen Shtetl erzählte und mit dem Roman „Der Zauberer von Lublin“ den Namen der Stadt in der Literatur verewigte, ist ein Anlass für heutige Besucher:innen Lublins. Sein Name wird bislang allerdings nur in einem verwilderten Teil eines riesigen Kreisverkehrs erinnert, wo dem ersten kommunistischen polnischen Diktator Bierut seine Gefolgschaft mit brutalistischer Beton­macht ihr Andenken setzte, das längst zertrümmert jetzt frei

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Fotos Paweł Świć, Centrum Kultury w Lublinie

„If I had a gun, I’d take them all down“ (Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich sie alle ausschalten) von Piotr Armianovski. ­Konzept und Dramaturgie Paul Bargetto und Michael Rubenfeld. Regie Paul Bargetto

Report Polen Barrie Kosky wird hier „Yentl“ inszenieren, das dem legendären Barbra-Streisand-Filmmusical aus dem Jahr 1983 folgt und auf einer Geschichte von Isaac Bashevis Singer basiert.

für anderes wäre. Man kann von hier aus zum jüdischen Friedhof mit jahrhundertealten Grabsteinen abbiegen oder zum Schloss und in die Altstadt zurück, es ist eine Frage von Schichten und Interessen – und Gegenwart.

Ungewöhnliches Doku-Theater Janusz Opryński ist Regisseur und Direktor des Teatr Provisorium, seit fünfzig Jahren der große Mann in der Theaterszene Lublins, so dass es nicht verwundert, ihn auch noch als Leiter des Konfrontacje-Festivals kennenzulernen. Als Regisseur ist er zugleich sein eigener tiefschürfender Dramaturg der Quellen- und Materialerkundung. Seiner Tschechow-Adaption von „Krankenstation Nr. 6“ sieht man das sofort an, sie ist zwischen zahllosen Bücherstapeln und mit Schriftzeichen versehenen Papierwänden um ein Loch in der Mitte angelegt, auf das sich die Erzählung von einem Irrenhaus als Gefängnis zubewegt. Die andere Produktion, die in dem entzückenden historischen Bau des Teatr Stary in der Altstadt gezeigt wird, ist Opryńskis erstaunliche Bearbeitung von Shakespeares Riesentragödie „König Lear“ als Monolog. Andrzej Seweryn, der in Andrzej Wajdas großen Filmen auftrat und Schauspieler bei Peter Brook war, füllt die Bühne mühelos aus für seine retrospektive Erzählung vom Scheitern des einsamen Königs, die verstoßene Cordelia ist als zweite Figur in dem Spiel eine Puppe – und fast nichts scheint an dem großen Stück zu fehlen.

Eine ganz andere Art von Monolog ist „If I had a gun I’d take them all down“ des ukrainischen Filmemachers Piotr Armianovski, den der New Yorker Regisseur Paul Bargetto zusammen mit dem Schauspieler Michael Rubenfeld entwickelte und der als Vor­

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aufführung im Festival präsentiert wurde. Stück und Inszenierung speisen sich aus zwei Quellen, die in die Gegenwart des Krieges führen. Zum einen gibt es eine Art Video-Walk durch das heu­ tige Kiew – Straßenszenen, Passant:innen, bekannte Gebäude –, dessen ursprüngliche Funktion der Einsatz in der Rekonvaleszenz von kriegsverwundeten Soldaten war. Mit der scheinbaren Spazierbewegung durch das Leben in der Hauptstadt sollte physische wie mentale Heilung stimuliert werden. Doch Armianovskis Stück mit dem „Ich knall euch alle ab“-Titel nutzt den Therapiefilm für etwas ganz anderes. Rubenfeld steht vor dem im Hintergrund laufenden Film, und seine Erzählung geht immer wieder auf merkwürdige Weise mit den Bildern zusammen – oder eben weit davon weg. Über große Strecken wird das Attentat erzählt, bei dem der Sozialrevolutionär Dimitri Bogrov den russischen Premierminister Piotr Stolypin 1911 in der Kiewer Oper erschoss, was in der Inszenierung ohne Weiteres wie eine historische Rachefantasie wirkt. Bargetto zog aus der New Yorker Theaterszene, wo er Stücke von Slawomir Mrozek auf Off-off-Bühnen brachte, vor Jahren schon nach Warschau. Mit dieser so verstörenden wie überraschenden Inszenierung wird der Krieg in der Ukraine und seine Folgen aus einer besonderen Perspektive im Theater gezeigt und wirft dabei moralische und existenzielle Fragen zu der beklemmenden historischen Information auf.

Dagegen wirkte die neue Inszenierung von Polens ältester freier Theatergruppe Teatr Ósmego Dnia wie eine Feier der schönsten Seiten des Theaters mit einer selbstbewussten Retrohaltung voller Selbstzitate und Erinnerungen an Reisen und Aufbegehren für Freiheit in einer seinerzeit freilich völlig anderen Welt.

Das Theater des 8. Tages entstand 1964 als Studententheater und gehörte bis über die Zeit des Kriegsrechts in den 1980er Jahren zur oppositionellen Kultur in Polen. In der Regie von Renata Stolarska spielen die Veteranen ihr Stück „We don’t know anything for sure“ ohne technischen Zauber als rührende Momente ihrer eigenen Geschichte.

Kein polnisches Theaterfestival möchte sich ohne eine Inszenierung von Krzysztof Warlikowski präsentieren, der neben Krystian Lupa nun schon seit Jahrzehnten in Sachen Regie und Ästhetik Maßstäbe setzt. „Elizabeth Costello“ nach Texten von J. M. Coetzee hatte im April 2024 am Warschauer Nowy Teatr Premiere und war nach den großen europäischen Festivals auch schon in Stuttgart zu sehen. In Lublin wurde die vierstündige Zelebrierung von Warlikowskis akustischem und visuellem Hightech-Breitwandtheater in einer ausverkauften Messehalle gezeigt.

Durchaus mit der Ansage, wir können hier auch ganz Besonderes im Theater. Und Paweł Potoroczyn wird in den nächsten Jahren gewiss noch ganz andere Trümpfe auf den Tisch legen. T

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Das ungarische Theaterkollektiv Kerekasztal

Wir sind Punks Wie das ungarische Theaterkollektiv Kerekasztal mit Repression und Kürzungen zurechtkommt Von Janka Visky

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Im Oktober erinnerten zwei gleichzeitig stattfindende Massenveranstaltungen an den ungarischen Volksaufstand von 1956: Viktor Orbáns „Friedensmarsch“ und der „Nationalmarsch“, organisiert von seinem politischen Gegner Péter Magyar. Beide Kundgebungen zogen ähnlich große Menschenmengen an – ein sichtbares Zeichen für die wachsende Unterstützung Magyars mit Blick auf die ungarischen Parlamentswahlen im April 2026. Ein möglicher Regierungswechsel könnte auch für die ungarische Theaterszene neue Perspektiven eröffnen. Denn in den vergangenen Jahren hat das Orbán-Regime mit politischen und finanziellen Eingriffen viele Freie Theater zerstört und damit eine der reichsten und vielfältigsten Theaterlandschaften Ostmitteleuropas stark geschwächt.

Doch wie konnten sich die wenigen noch verbliebenen ­Akteur:innen der Freien Theaterszene gegen diese Repressionen behaupten? Während meiner dreimonatigen Feldforschung im Jahr 2023 habe ich beobachtet, wie das Theaterkollektiv Kere­ kasztal (Round Table Company) mit politischem Druck, finanzieller Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit umgeht – und dabei jene radikaldemokratischen Praktiken bewahrt, die diese Gruppe, gemeinsam mit anderen, am Leben gehalten haben.

Meine erste Begegnung mit der Theatergruppe habe ich an einem warmen Frühlingstag im März 2023. Vom Széll-Kálmán-Platz in Buda führt mich der Weg den Hügel hinauf – vorbei an einem Einkaufszentrum, Cafés, Schulen, einem Krankenhaus und einem Tennisplatz –, bis ich schließlich das Kulturzentrum Marczi erreiche, in dem Kerekasztal beheimatet ist. Der brutalistische Bau wirkt trotz der holzverkleideten Innenräume eher drückend als einladend. Unsicher, wohin ich gehen soll, wartete ich in der Halle, während sich der Raum mit einer erwartungsvollen Gruppe von Achtklässler:innen und ihren Lehrer:innen füllt. Als ich gerade die Flyer betrachte, kommt Ági, die ich am Vortag kennengelernt habe, schnell auf mich zu: „Steh nicht so rum – komm rein, fühl dich wie zu Hause!“ Das Büro ist kaum größer als 15 Quadratmeter, vollgestopft mit Büchern, Preisen und – vor allem – Requisiten. Auf der Fensterbank liegt eine alte Kartoffel – ebenfalls ein Requisit. „Wir sind hier auch die, die sauber machen“, sagte Ildi mit einem Lächeln und deutete auf das kreative Chaos um uns herum. Durch die Fenster kann man den kleinen Platz vor dem Gebäude sehen – praktisch, um zu sehen, wann das Publikum kommt. Der Raum ist voller Menschen: Fünf Praktikantinnen und ihre Betreuerin bereiteten sich auf den Beginn der Vorstellung vor. Im Laufe meiner weiteren Besuche werde ich diesen engen Raum – ohne Umkleide oder Rückzugsort – als einen Ort ständiger Begegnung kennenlernen: Erwartungen, Enttäuschungen, Lachen und Sorgen prallen hier aufeinander. Jeder, der diesen Raum betritt, muss sich darauf einlassen.

Kerekasztal war Wegbereiter der Theatre-in-Education-­Methode in Ungarn. Ihre Arbeit inspirierte bis 2013 fast zweihundert Gruppen im ganzen Land – darunter bekannte Ensembles wie Krétakör oder Káva – und schuf eine Dichte freier Theaterarbeit, die in Osteuropa einzigartig ist. Eine so lebendige unabhängige Szene war den staatlichen Entscheidungsträger:innen jedoch zunehmend ein Dorn im Auge. Sie verfolgten daher das Ziel, die Zahl unabhängiger Gruppen zu reduzieren und gleichzeitig deren erprobte Methoden für eigene Zwecke zu vereinnahmen. Während unabhängige Insti-

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Foto Horváth G. Ambrus

Report Ungarn

Report Ungarn tutionen zerstört wurden, erhielten andere – teils Staatstheater, teils Einrichtungen mit enger Verbindung zur Regierung – großzügige finanzielle Unterstützung, um Programme der Freien Szene durch eigene, ideologisch konforme Nachahmungen zu ersetzen.

Arnold, ein ehemaliges Mitglied von Kerekasztal, beschreibt diese Situation mit einer eindrücklichen Metapher: „Ich denke, es ist wie eine Milchkuh, die nicht gefüttert wird. Sie befindet sich im Zustand kurz vor der Schlachtung. Bisher haben sie ihr das Blut entzogen, und jetzt verwenden sie vielleicht auch noch ihr Fleisch.

Und wenn wir bei diesem Bild bleiben, dann nehmen sie vielleicht auch noch das Fell, spannen es irgendwo auf und stellen es aus.“ Doch in diesem Klima politischer und finanzieller Repression hat Kerekasztal – wie viele andere Freie Theater in Ungarn – eigene Formen des Widerstands gefunden. Der Widerstand gegen finanzielle Unsicherheit wurde zu einem der prägendsten Merkmale der Gruppe. Ich hielt es für naheliegend, dass finanzielle Unsicherheit ihre Arbeit stark beeinträchtigen würde, und war überrascht festzustellen, dass die Gruppe das anders sah. In einer Fokusgruppen-­ Diskussion erwähnte keine:r meiner sieben Gesprächspartner:innen finanzielle Sicherheit als wichtigen Faktor für die Durchführung eines erfolgreichen TIE-Programms. Und meine Nachfrage, ob das denn nicht wichtig sei, wurde im Wesentlichen verneint. „Ich glaube, in dieser Hinsicht sind wir drei, ich denke, wir sind Punks. Ich glaube, wir funktionieren besser, wenn die Bedingungen beschissen sind. Und das mag dumm klingen, doch ich glaube das wirklich“, sagt Zsuzsa, und meinte damit sich selbst, Ildi und Arnold – die drei „Alten“ der Gruppe.

Ildi knüpfte daran an und verbindet ideologische mit finanzieller Repression: „Es gab ein paar Jahre nach dem Regimewechsel [1989], in denen in der Gesellschaft – zumindest für jene von uns, die etwas offener im Denken waren – die Illusion entstand, dass Theater vorbei sei, weil es nichts mehr zu verhandeln gab. Es gab keine Obrigkeit mehr, mit der man streiten konnte.“ „Es gibt Freiheit“, warf Zsuzsa ein. „Ja, und was ist dann der Sinn von Theater? Ich finde, das jetzige Umfeld ist viel inspirierender.“ „Wir sind dankbar“, schloss Zsuzsa und und löste damit ein bittersüßes Lachen in der ganzen Gruppe aus.

Zu diesem Zeitpunkt – es ist Mai 2023 – hat die Gruppe noch keine Zusage ihrer einzigen größeren Finanzierungsquelle, die jährliche staatliche Förderung, erhalten – die Zukunft ist ungewiss. Sie stehen am Rande des Verschwindens – und halten dies für den idealen Ausgangspunkt für gute Kunst.

Die Programme von Kerekasztal basieren auf der Überzeugung, dass verkörperte Kunst eine eigene Handlungsmacht besitzt. Politische Einschränkungen und die Verweigerung von Fördermitteln können die Möglichkeit zur Begegnung begrenzen, den inhaltlichen Kern der Erfahrung jedoch nicht aufheben.

Auf die Aussage des Gründers der Gruppe aus einem Interview von 1994, dass Kunst Wichtigeres zu tun habe, als sich zu politisieren, antwortet Ildi: „Ich glaube, das ist strikt verboten, weil wir ­mit Kindern arbeiten, und wir haben kein Recht, ihnen ideologische Fragen direkt zu vermitteln. Dafür sind ihre Eltern zuständig, die Schule, die Kirche – oder wer auch immer. Aber uns hat niemand dazu autorisiert, und wir würden das auch gar nicht wollen.

Wir haben keine Botschaften, die wir unbedingt vermitteln müssten.

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Kerekasztal war Wegbereiter der Theatre-in-Education-Methode in Ungarn.

Ihre Arbeit inspirierte bis 2013 fast zweihundert Gruppen im ganzen Land.

Ich habe viel mehr Fragen als Antworten zu sozialen Themen.“Gábor Takács von der Theatergruppe Káva, die aus Kerekasztal hervorgegangen ist, formuliert es ähnlich: „Es gibt keine Nachricht zu übermitteln.“ Káva und Kerekasztal schaffen Räume, in denen Fragen gestellt und gesellschaftliche Konflikte gemeinsam reflektiert werden können, ohne eine Agenda gegen das ihnen feindlich gesinnte Orbán-Regime zu vertreten.

Im Kooperationsprogramm „Nem Lehetetlen Lenni“ („Es ist nicht unmöglich zu sein“), einer Adaption von Shakespeares „Hamlet“, entwerfen Káva und Kerekasztal das Bild einer Freien Theatergruppe, der sämtliche Fördermittel gestrichen wurden.

Bevor sie erklären können, dass ein Weiterarbeiten unter diesen Bedingungen unmöglich sei, tritt Hamlet auf und macht ein Angebot: Die Gruppe solle während der Krönungszeremonie die Monarchie stürzen. Doch die Schauspieler:innen lehnen ab – und das teilnehmende Publikum wird gefragt, ob das feige sei. Wie moralisch muss ein König sein? Kann ein Mörder ein guter König sein?

Im weiteren Verlauf spiegelt sich der gesellschaftliche Konflikt auf persönlicher Ebene: Innerhalb der Gruppe wird ein Fall von Diskriminierung aufgedeckt. Das Programm öffnet damit einen Raum, um über unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie und Macht zu sprechen – im Staat ebenso wie in kleineren Gemeinschaften. Demokratische Bildung wird hier als Lernen von Verantwortung verstanden, jenseits parteipolitischer Grenzen. Angesichts einer repressiven Regierung wird sie aber gleichzeitig zu einer Form des Widerstands.

Die Resilienz der Gruppe zeigt sich nicht nur in der kontinuierlichen Planung von Programmen, Festivals und Initiativen, sondern auch in ihrer Experimentierfreude. So nahmen sie etwa am Edison100-Programm teil und entwickelten eine Inszenierung zum Thema Essstörungen, für die sie sogar versuchten, Fördermittel von Proteinshake-Herstellern zu akquirieren.

Während Arnold die Gruppe als ausgehungerte Milchkuh beschreibt, die vom System ausgesaugt und ausgespuckt wurde, entwirft Kata ein anderes Bild: eine langsame, aber strapazierfähige und anpassungsfähige Schildkröte mit acht Beinen – flexibel genug, um unterschiedliche Formen des Lebens und Arbeitens auszuprobieren. „Kerekasztal ist eine achtbeinige Schildkröte! Das Coole an der Schildkröte ist: Sie wird alt. Ihr Panzer – verdammt cool! Und sie ist amphibisch. Sie braucht acht Beine, weil wir auf vielen Beinen leben müssen. Im Moment bewegen wir uns langsam und stetig in unserem eigenen Terrain – das sowohl Wasser als auch Land sein kann.“ Trotz fünf Jahren ohne Förderung arbeitet Kerekasztal 2025 unermüdlich weiter – mit neuer Aufstellung, neuen Programmen, Kooperationen und Festivals. Ihre Beharrlichkeit ist selbst ein Akt des Widerstands, getragen von dem Glauben an die transformative Kraft demokratischen Denkens und Handelns. T

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Ute Nyssen und Jürgen Bansemer

Etwas Neues, total Ungewohntes Die Theaterverlegerin Ute Nyssen erinnert sich an die Anfänge mit Elfriede Jelinek

Zu der Frage Pia Jankes nach der Zusammenarbeit mit Elfriede Jelinek und unseren verlegerischen Verdiensten für ihre Etablierung als Bühnenautorin platze ich mit einem kleinen Beispiel unserer, seinerzeit hätte man gesagt, antiautoritären Wühlarbeit ins Haus: wie wir es anstellten, ihr 1986 den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln zu verpassen, ihren ersten großen deutschen Literaturpreis. Sie weiß bis heute nichts davon. Wir sprachen einfach zwei uns nah bekannte von den drei JuryMitgliedern direkt an. Reinhard Baumgart, höchst angesehener Literaturkritiker, befand sehr liebenswürdig, dass ein solcher Vorschlag von einem Verlag doch etwas ungehörig sei − aber er werde es sich überlegen. Bei Heinrich Vormweg, dem zwei-

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ten Adressaten des Ansinnens, ging aus seinen Buch-Rezensionen hervor, dass er sie schätzte, und er meinte, der Tipp sei doch richtig gut. Die beiden, inzwischen verstorben, werden verzeihen, dass ich hier von Preisanregungen hinter den Kulissen etwas ausplaudere. Man traut sich dergleichen ja auch nur einmal … Für das Theater brachte uns im engeren Sinne der ProsaPreis nichts, viel aber brachte er für ihre deutsche Publizität im Allgemeinen, und die erreichte dann doch manche Bühne.

Persönlich haben wir Elfriede Jelinek um 1976 kennengelernt (zu dem „um“ komme ich noch), mit einem Besuch in ihrer und Gottfried Hüngsbergs Wohnung in München. Ich erinnere mich, dass wir Kirschen mitbrachten. Vorausgegangen war eine

Anfrage des Wiener Komponisten Wilhelm Zobl, der für uns Henrik Ibsen übersetzte, ob uns vielleicht ein Musical auf der Basis von Ibsens Nora interessieren könnte.

Ihn, und eine befreundete Schriftstellerin namens Elfriede Jelinek, reize so ein Projekt. Zu dem Musical kam es nicht, aber an den ersten Worten des Bühnentextes, den sie schickte, „Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen“, ließ sich ein strahlend selbstbewusster Ton, ein entschlossenes Talent erkennen, und wir nahmen das Stück unter Vertrag. (Die geschäftliche Beziehung zwischen AutorInnen und Bühnenverlag baut sich übrigens immer stückweise auf.) Von heute aus betrachte ich schon das Erkennen der potenziellen Bühnenautorin in ihr als verlegerisches Verdienst; denn trotz sprachlich zündender Momente war der Text, angesichts einer Etablierung bei den Theatern, nur eine Klassikerbearbeitung, inhaltlich vielleicht originell, aber ziemlich wildwüchsig. Meine Lektoratsarbeit mit ihr war dann meistens ganz „einfach“. Sie bestand vornehmlich aus Strichen, im kleinteiligen, kürzenden Verdichten des Textes auf eine zumutbare Spieldauer. Wenn Sie den Kommentar der Regisseurin Claudia Müller zu dem wunderbaren Film „Die Sprache von der Leine“ lassen von 2022 kennen, dann wissen Sie, dass das Textkürzen bei Elfriede Jelinek nicht „einfach“ ist, sondern anstrengend, mühsam, nicht endend und unerlässlich auch für unser Stückanbieten; denn, ganz platt gesprochen, überlange Werke wurden in den 70er und 80er Jahren von den Theatern erst gar nicht gelesen, da sie der Ausdauer von Abonnenten nicht Rechnung getragen hätten. Es klingt vielleicht etwas unbescheiden, aber ich habe mit der kleinteiligen Strichfassung, die auch Umstellungen und Text-Klarstellungen beinhaltete, ihr zugearbeitet wie das heute, wenn auch mit gänzlich anderen Texten, die Fassungen der Regisseure tun. Sie vertraute unserer Kenntnis der Theaterpraxis.

Und die unermüdliche Kleinarbeit, deren es zur Durchsetzung von etwas Neuem, total Ungewohntem in den Theaterapparaten bedurfte, ist ebenso anstrengend gewesen.

Doch uns haben viele unkonventionelle Theatertexte begleitet, und ich darf hier in Wien erwähnen, dass wir als Bühnenverleger

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Foto privat

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck

Verlag Theater der Zeit Vorabdruck von den sechs herausragenden österreichi­ schen DramatikerInnen immerhin drei erstmalig erkannten und dann zum Theatererfolg brachten: Wolfgang Bauer, Elfriede Jelinek, Ernst Jandl. Die drei anderen Autoren: Thomas Bernhard, Peter Handke, Werner Schwab. * Neben dem Streichen gab es gelegentlich grundlegende Gespräche über den Aufbau eines Textes. Bei „Clara S.“, ihrem zweiten Stück, waren wir zunächst ratlos.

Die seinerzeitigen Bühnen (80er Jahre) erwarteten von einem mit der Figur Clara Schumann scheinbar biografisch angelegtem Werk eine Art Historiendrama, chronologisch, auf realen Fakten fußend. Und es gab ja dann bei der Uraufführung in Bonn 1982 einen Publikumsaufruhr, und der beruhte nicht nur, aber auch, auf ihren seinerzeit ungewohnten dramaturgischen Mitteln, knapp mit „Montage“ benennbar.

Sie erfand eine achronistische Konstellation, Clara Schumann trifft Gabriele D’Annunzio (italienischer Autor und Faschist).

Ob meiner Ratlosigkeit erstaunt, schrieb Elfriede als Antwort ein, vereinfacht gesagt, historisierendes Hörspiel. Beim Vergleich Hörspiel – Theaterstück fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen. Ich lernte, dass ihre Collage ein Licht auf die Situation der Missachtung von Künstlerinnen schlechthin warf, auf die Abhängigkeit als Ehefrau, auf die vom Geld. Belehrt begab ich mich ans Kürzen, glaube aber, dass auch sie etwas fürs Stücke schreiben gelernt hatte, nämlich dass es mit radikaler Kritik nicht getan ist, wenn ein Text aufgeführt sein will.

Ihr nächstes Stück, Burgtheater, erfüllte denn auch alle traditionellen, klassischen und realistischen und was noch für Forderungen an ein gelungenes Theaterstück − und führt sie zugleich unbarmherzig ad absurdum. Das meta im physisch, das formale und inhaltliche Einssein, macht das Wunder dieses Stücks aus. Historisch ist es faktentreu, chronologisch der Ablauf der Story, es sprechen Figuren, und alle diese viel gescholtenen Dramenfaktoren sprengen sich selbst in die Luft, um sich doch wieder aufzubauen, als „Theaterstück“. Über Burgtheater kann man nicht aufhören zu reden – und über die Auf-

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führung, für die Zukunft zu spekulieren.

Als bühnenverlegerisches Verdienst in der Zusammenarbeit habe ich weiter zu melden, dass wir Elfriede Jelinek angesichts der Durststrecke für die frühen Stücke mit einer Übersetzung des von uns verehrten und viel gespielten Klassikers Georges Feydeau beauftragt und bevorschusst haben.

Wir meinten, sie könne etwas Geld damit verdienen und auf diesem Weg bei den Theatern bekannt werden. Jürgen Bansemer, selbst ein hervorragender Übersetzer, hat sie mit allen Kräften als Lektor unterstützt. Die Rechnung ging auf, denn es erfolgte danach ein Übersetzungsauftrag der prominenten Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer, für ein französisches Lustspiel, das zum Renner wurde, „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugène Labiche.

Jürgen Bansemer hat seine übersetzende Mitwirkung mit dem schönsten Satz des Stücks markiert: „Ist’s vorüber, lacht man drüber. Lachen ist gesund.“ Die finanziel-

Ute Nyssen

Ist’s vorüber, lacht man drüber

Eine Bühnenverlegergeschichte von Ute Nyssen und Jürgen Bansemer Verlag Theater der Zeit, 268 S., € 22,–

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Obwohl Elfriede Jelinek schon gefragte Romanautorin war, hatte kein Verlag Interesse.

len Engpässe waren erst mal vorbei. Ein weiterer Beitrag: die Buchausgabe. Obwohl Elfriede Jelinek schon gefragte Romanautorin war, hatte nie ein Verlag Interesse angemeldet. Wir fanden den Kölner Prometh Verlag, und ich gab drei Stücke mit einem Nachwort heraus. Die weitere Entwicklung der Buchausgabe, später mit vier Stücken, lasse ich beiseite, von 1984 bis 2018 sind es (laut WorldCatIdentities) 50 Auflagen in deutscher Sprache (!) und weitere in unzähligen Übersetzungen. Die Auffindung eines Buchverlags war für einen Bühnenvertrieb, sagen wir mal, eine glückliche Idee. Aber bei dem Thema Verlage möchte ich nun auf das oben genannte „um 1976“ kommen und die Geschichte der Verlagszugehörigkeit von Elfriede Jelinek nachzeichnen. Sie spielt eine gewisse Rolle bei der Erforschung ihrer Theaterkarriere. Als wir sie kennenlernten, waren wir Angestellte – später Geschäftsführer – des Theaterverlags Kiepenheuer & Witsch in Köln.

1981 gründeten wir unseren eigenen Verlag, den Ute Nyssen & J. Bansemer Theaterverlag in Köln, für den wir aus privaten Gründen im Jahr 2000 das sogenannte operative Geschäft abgaben. (Am Rande gesagt, dieser Verlag existiert noch, verfügt jedoch nur noch über die Rechte des Mitspiels „Scherenschnitt“ von Paul Pörtner, immerhin das zweitmeist gespielte Theaterstück der Welt.) Mit den meisten Kiepenheuer-&-Witsch-Theaterverlags­ autoren wechselte auch Elfriede Jelinek mit all ihren Stücken zu uns hinüber, rechtlich gesehen ein Eklat. Unter „uns“ sind Jürgen Bansemer, später mein Ehemann, und ich zu verstehen. Elfriede sprach von Jürgen Bansemer, der 2006 verstarb, mit besonderer Hochachtung. Nach der fast vollständigen Aufgabe unseres Verlags gingen die Rechte ihrer Bühnenstücke an den Hamburger Rowohlt Verlag, ihren Buchverlag.

Unsere Aktivitäten für sie umfassten den Zeitraum von 1976 bis 2000, von „Nora“, über „er nicht als er“ bis „Sportstück“. T

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„Travelers“ von Árpád Schilling beim Voices Festival in Berlin

Archipel der Kunst Das Festival Voices für Performing Arts und Musik in Berlin Von Sophie-Margarete Schuster

Den Auftakt des Voices Festival 2025 macht die musikalische Zusammenarbeit „No Sound is Innocent XIII“ von Blixa Bargeld und Dror Feiler. Beim Einlass steht es den Zuschauer:innen zunächst frei, ein kleines Päckchen mit Ohrstöpseln mit in den Saal zu nehmen; dazu der Hinweis: Es wird laut. Doch in Verbindung mit dem, was Dror Feiler vor dem Beginn des Konzerts zum Publikum sagt, erscheinen die Ohrstöpsel plötzlich wie eine künstlerische Setzung.

Feiler berichtet davon, dass er im Laufe des Arbeitsprozesses vor der Frage stand, wie sich überhaupt Musik machen lässt, während die Welt mit dem Schrecken des GazaKrieges konfrontiert ist. Und so lauscht der Saal in den ersten Minuten den Geräuschen

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einer militärischen Drohne, die nach einer Weile in ein schrilles Dröhnen aus Flöten, Klarinetten, Schlagwerk, Klavier, Violine, Viola und Cello übergehen.

Im Sinne dieses akustischen Auftakts hat es sich das Festival zur Aufgabe gemacht, die Perspektive all jener Künstler:innen ins Auge zu fassen, die ihre Herkunftsländer aus verschiedenen Gründen verlassen haben und in neuen kulturellen Landschaften nach Ausdrucksformen suchen. Dabei soll in einer Zusammenstellung von Produktionen mit Künstler:innen aus über zwanzig Ländern das Exil von Menschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen thematischen Schwer­punkt bilden. Als 2023 gegründete internationale Plattform für zeitgenössische Darstellende Künste und Musik hat sich das Festival somit einem Dialog verschrieben, der den „Archipel der Zerstreuung“ in seinen künstlerischen Potenzialen untersucht. Ein interessantes Beispiel für diese Absicht ist die eingeladene Produktion „Travellers“ des ungarischen Regisseurs Árpád Schilling. Bei dem Versuch, das ästhetische Konzept dieses für das Litauische Jugendtheater produzierten Abends in wenigen Worten zu beschreiben, fällt eines ganz unmittelbar auf: Das, was Schilling hier zu erzählen versucht, breitet sich hauptsächlich in Bildern und einem szenischen Spiel aus – nicht in deutschen Untertiteln oder einer wegweisenden textlichen Ebene.

Die Bilder dieser Arbeit suchen gezielt nach einer Sprache, die keine geografischen Grenzen kennt. Als der Vorhang sich hebt, blickt der Saal zunächst auf einen Gerümpelhaufen aus Schauspieler:innen, ein paar Koffern und Holzstühlen – dem Geröll der Geschichte, aus dem das Theater sich formiert. Als eine Art Karawane setzt sich die Gruppe, getragen vom eigenen Gesang, in eine wuselnde Bewegung. Simultane Spielsituationen verbinden sich zu einer Reise, in der die Figuren generationelle Transformationen, Geburten, Schmerzen und Einsamkeiten durchschreiten. Als dann eine Schauspieler:in im Verklingen des ­Applauses mit einem Mikrofon an die Rampe tritt, wird klar, inwiefern das Schlussbild auch ein Mahnmal ist. Ein Mahnmal dafür, dass „das Theater, das noch vor uns liegt“ keine Selbstverständlichkeit ist, die sich einfach aus der zyklischen Natur des Theaters ergibt. Die Schauspieler:in berichtet davon, wie rechte und prorussische Kräfte in Litauen an Einfluss gewinnen und dass die Kulturlandschaft sowie wichtige künstlerische Diskursräume des Landes gefährdet seien.

Kurze Interventionen wie diese schaffen eine Gelegenheit, um sich die eigentliche Kraft des Voices Festivals 2025 vor Augen zu führen: die Erkenntnis, dass der „Archipel der Zerstreuung“ ein gemeinsamer Raum ist – für den wir eine gemeinsame Verantwortung tragen. Und dass wenn ein kultureller Diskursraum gestört ist, alle anderen aufgerufen sind, den gemeinsamen Archipel zu stärken. Als Bedingung dafür, dass Menschen der Welt freiheitlich und künstlerisch begegnen können.

Wie so eine Begegnung aussehen kann, das zeigt beispielsweise die ebenfalls eingeladene Arbeit „Run Time Anomaly“: Die Choreograf:innen László Sandig und Wibke Storkan erschaffen zusammen mit dem Regisseur und Komponisten Simon Steen-­ Andersen einen Raum, in dem die Tänzer:innen der Jugendtanzcompany S ­ asha Waltz & Guests der Akademie der Künste im Berliner Hanseatenweg akustisch, visuell und körperlich begegnen können. In Interaktion mit einer Videoprojektion schweben und kriechen die jungen Menschen als Bergsteiger:innen durch das auf einmal außerirdisch erscheinende Gebäude. Die Kategorien „oben“ und „unten“ lösen sich auf, Bild und Realität fallen ineinander, verschwimmen mit den Klängen elektronischer Musik. T

Theater der Zeit 12 / 2025

Foto Laura Vanseviciene

Magazin Bericht

Magazin Bücher

Brecht in Anekdoten André Port le roi hat ein unterhaltsames und manchmal erhellendes Büchlein über eine schillernde Persönlichkeit geschrieben Von Stefan Keim

Theater der Zeit 12 / 2025

Bertolt Brecht war sehr flexibel. Er revolutionierte mit dem epischen Theater die Darstellenden Künste und trieb seinen Schauspieler:innen Emotion und Psychologie aus.

Soweit die Papierform. Doch als der große Charles Laughton – Oscarpreisträger und einer der prominentesten Mimen seiner Zeit – mit Brecht am Galilei arbeitete, zeigte sich der Dramatiker kompromissbereit. Brecht liebte und wollte den Erfolg, brauchte ihn auch um zu überleben. Und als er sah, dass Laughton die Massen berühren und elektrisieren würde, ließ er ihn gewähren. So wie später Helene Weigel mit ihrer ikonischen Darstellung der Mutter Courage natürlich auch Mitleid im Publikum auslöste. Wie sollte es auch anders sein bei der Geschichte einer Mutter, die im Krieg drei Kinder verliert? Bertolt Brecht – das zeigt auch das neue Buch des Bonner Germanisten André Port le roi – war kein Säulenheiliger der Konsequenz. Port le roi macht sich eine große Freude daraus, Anekdoten zu erzählen, die immer wieder die Widersprüche in Brechts Charakter illustrieren. Und in seiner Kunst. „Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ heißt das Buch im Untertitel. Den sollte man allerdings nicht zu ernst nehmen. Wirklich neue Enthüllungen bietet der schmale Band von 120 Seiten nicht. Mit ­exakt diesem Untertitel hat André Port le roi auch schon Bücher über Brechts Zeit- und Exilgenossen Thomas Mann und den deutschen Schlager geschrieben. Da handelt es sich weniger um ein Konzept als um einen Marketinggag, der aber klarmacht, was die Lesenden erwartet – fröhlich unterhaltende Populärwissenschaft.

Darin ist André Port le roi richtig gut.

Die kurzen, drei- bis vierseitigen Kapitel entfalten zum Teil in assoziativen Zeitsprüngen das Bild einer komplexen Persönlichkeit. Bertolt Brecht liebt die Frauen und den ­Luxus, folgt meist einem Sozialismus jenseits starrer ideologischer Vorgaben, fährt Sportwagen (auch mal vor einen Baum), schreibt derbe erotische Lyrik und später – in den „Buckower Elegien“ – nachdenkliche, vielschichtige Verse. Die einzelnen Anekdoten werden kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft, wobei André Port le roi den aktuellen Stand der Forschung genau im Blick hat. Er gibt sogar am Ende einen kurzen Überblick über die zentralen Bücher zu Brecht (es fehlt allerdings die zuletzt erschienene Interviewsammlung „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“) und er wen-

det sich durchaus meinungsfreudig gegen das Entlarvungsbuch des US-Amerikaners John Fuegi, der den Schriftsteller einseitig als Frauenausbeuter und Charakterschwein darstellt.

Besonders interessant sind über die biografischen Schlaglichter hinaus Kapitel über die Nachwirkung Brechts. André Port le roi findet klare Spuren im Film „Dogville“ Lars von Triers, aber auch etwas weniger deutliche Bezüge in den Werken Quentin Tarantinos. Bob Dylan zeigte sich Anfang der sechziger Jahre schwer beeindruckt vom Lied der „Seeräuber-Jenny“ aus der „Dreigroschenoper“. Er hörte es in einer Revue, die George Tabori zusammengestellt hatte. Spannend ist der Bezug, den der Autor vom „Lied der Moldau“ mit der Zeile „Es wechseln die Zeiten“ zu Dylans „The Times They Are A-Changin“ herstellt. Einige amerikanische Intellektuelle dieser Zeit haben den Einfluss Brechts auf Bob Dylan thematisiert.

Auch hier handelt es sich nicht wirklich um einen „populären Irrtum“, stattdessen um ein Detail, das nicht jeder gleich parat hat. Der Band ist eine anregende und witzige Lektüre, durch das Softcover perfekt geeignet für eine Bahnfahrt, bei der man zwischendurch aus dem Fenster schauen kann, um sich dann von der nächsten Facette von Brechts schillerndem Charakter begeistern zu lassen. Das Büchlein macht richtig Lust auf Brecht. T André Port le roi: Bertolt Brecht. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. Klartext Verlag, Essen 2025, 120 Seiten, € 16,95

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Magazin Kolumne

Von Lina Wölfel

Adidas-Jogginghose und Cowboystiefeln statt Frack und Zwirn?

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Na ja, erst im Juli hat die Mailänder Scala einen offiziellen Dresscode für Theaterbesuche gefordert: „Die Direktion bittet das Publikum, eine angemessene Kleidung zu wählen, die dem Anstand des Theaters entspricht“, heißt es da. Boom, da ist sie wieder: die Elfenbeinturm-Peitsche. Aber macht „La Traviata“ im Frack wirklich mehr Spaß? Und ist es eine Beleidigung für die Künstler:innen, wenn in Reihe zwei ein Jugendlicher im Hoodie sitzt?

Wenn ich für meine Masterarbeit Gespräche mit jungen Menschen über ihr Kulturverständnis führe, wird mir klar, dass Kultur von vielen Befragten immer noch mit dem geschlossenen und verstaubten Habitus von Hochkultur assoziiert wird. Theater sind eben kein Ort für alle. Sie produzieren weiterhin Ausschlüsse. Und langsam habe ich die Vermutung, dass wir Jogginghosen-Träger:innen Teil genau dieses Problems sind. Denn dass wir nicht so viel verdienen wie Investmentbanker:innen heißt nicht, dass wir wissen, was es bedeutet, auf niedrigschwellige Formate angewiesen zu sein. Wir haben Zugriff auf andere Parameter, wie Bildung, Diskurshoheit (wenn auch nur geglaubt), Seherfahrung und einen urbanen kulturaffinen Lifestyle. Die produzieren andere Codes. Deshalb nehmen wir das Theater als unseren Ort war.

Wir müssen uns keinen Anzug anziehen und gerade hinsetzen, weil uns klar ist, dass wir dazugehören. Fehlt einem dieses kulturelle Kapital und vielleicht auch das Wissen darum, dass Theater keine Orte für Zwirn und Frack sein müssen, liegt der Versuch, sich dem angenommenen Habitus anzupassen, um sich zugehörig zu fühlen, erstaunlich nah.

Also, liebe älteren Damen und Herren, die in den kommenden Wochen „Die Zauberflöte“ schauen: Wenn ein Kind vor Ihnen eine Frage stellt, auf seinem Stuhl hin- und herrutscht, vielleicht sogar aufsteht. Denken Sie daran, wer auch zukünftig noch ins Theater gehen soll. Liebe Regie-, Dramaturgie-, Kulturwissenschafts- und Literatur­ student:innen in Cowboyboots: Wenn euch das nächste Mal jemand ermahnt, doch bitte still zu sein: Seid nachsichtig. Und­ liebe Theaterleitungen: Wenn jemand in Jogginghose kommt, bedeutet das vor allem eines: Diese Person ist da. Was wäre wohl die Alternative? T „Wir gehen rein“ – An dieser Stelle greift ­dZ-Redakteurin Lina Wölfel Phänomene der T Theaterwelt auf.

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Foto privat

Wir gehen rein Pausenbrezeln & Jogginghosen

Es ist Dezember und das bedeutet für die Theater vor allem eines: Weihnachtsmärchen in Form von Schulvorstellungen, Familienvorstellungen, Kindergartenvorstel­ lun­gen oder auch: Eine Menge kleine Menschen werden in den kommenden Wochen ihren ersten Kontakt mit der Form und der ­Institution Theater haben. Uff. Ganz schön viel Verantwortung. Und gleichzeitig der beste Anlass, sich Gedanken darüber zu ­machen, wie zugänglich das Theater und der mit ihm einhergehende Habitus wirklich sind.

Als ich noch klein war – vermutlich sechs Jahre alt –, besuche ich mit meiner Mutter eine Nachmittags- und Kindervorstellung von Mozarts „Die Zauberflöte“ am DNT Weimar.

Weil man in Weimar Fan von modernen Interpretationen ist, tritt Sarastro als NS-Offizier auf. Das habe ich natürlich nicht verstanden.

Als Sechsjährige. Also frage ich: „Mama, warum sieht der Mann so komisch aus?“ Noch bevor meine Mutter mir antworten kann, werde ich von einem Ehepaar aus der Reihe vor mir darauf hingewiesen, still zu sein. Meine Mutter entgegnete darauf: „Tschuldigung, aber das ist das Publikum von morgen.“ Danke Mama, das hätte sonst vielleicht mein letzter Besuch im Theater sein können.

Heute sind Theaterbesuche für mich Alltag. Ich nehme mir inzwischen den Raum, mich auch während der Vorstellung zu bewegen – Beine überschlagen, kurz mal strecken, nach vorne lehnen, im Sitz versinken –, meinen Sitznachbar:innen Satzfetzen zuzuflüstern und hinterher laut meine Meinung in Gesprächen mit Freund:innen kundzutun.

Theater sind für mich zu meinem zweiten Wohnzimmer geworden. Ich würde sogar behaupten, dass ich viele deutschsprachige Theater anhand ihrer Pausenbrezeln erkenne. „Zum Glück“ würde ich meinen Kleidungsstil als casual chic bezeichnen, weshalb die Klamotten, die ich tagsüber trage, allgemein als theatertauglich durchgehen dürften. In meiner Bubble wird aber auch völlig selbstverständlich in trendy Adidas-Jogginghose und Cowboystiefeln ­ ins Theater gegangen. Anzugträger:innen werden gerne mal belächelt. Wir regen uns darüber auf, wenn in der Reihe vor uns „pscht“ gemacht wird – das ist schließlich genau der Grund, warum so viele nicht ins Theater gehen, sagen wir dann. Es ist doch völlig klar, dass man heute nicht mehr in Frack und Zwirn kommen muss und sich in Zeiten von relaxed performances auch mal strecken darf, oder?

Impressum

Autorinnen / Autoren 12 / 2025

Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Anna Bertram, Dramaturgin, Zürich Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Elisabeth Feller, Kulturredakteurin, Wettingen Jens Fischer, Kritiker, Bremen Volker Gebhart, Autor, Düsseldorf Annette Hoffmann, Kulturjournalistin, Freiburg Sabine Leucht, Kritikerin, München Peter Sampel, Tanzkritiker, Hamburg Kristin Schulz, Autorin und Literaturwissenschaftlerin, Berlin Sophie-Margarete Schuster, Kulturwissenschaftlerin und Autorin, Berlin Shirin Sojitrawalla, Theater- und Literaturkritikerin, Wiesbaden Wolfgang Storch, Autor und Dramaturg, Berlin/Volterra Janka Visky, Kulturmanagerin, Frankfurt am Main Hans-Jochen Vogel (†), Pfarrer, Chemnitz

Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Michael Helbing, Stefan Keim, Elisabeth Maier, Lara Wenzel, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Nathalie Eckstein (Online), Lina Wölfel (Online) Elisabeth Schodlok (Hospitanz) Mitarbeit Iris Weißenböck (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand.

Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 80. Jahrgang. Heft Nr. 12, Dezember 2026. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 5.11.2025

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Foto Armin Smailovic

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau 1 / 2026

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Januar 2026 Beim Thema Humor verstehen manche keinen Spaß. Dabei ist das Thema im Theater entscheidend für die Wahrnehmung einer Aufführung. Doch diskutiert wird darüber wenig – im Januar­ Schwerpunkt äußert sich der Regisseur Antú Romero Nunes dazu.

Der amerikanische Lichtkünstler James Turrell hat mit seinen Arbei-

Theater der Zeit 12 / 2025

ten auch die Theaterlichträume beeinflusst. Jetzt gibt es im Rahmen der Kunsthauptstadt Chemnitz im erzgebirgischen Oelsnitz eine Ausstellung – das Kunstinsert. Und in der Serie Theater und Sport geht es mit dem Thema Fußball weiter.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Elisabeth Feller

Thom Luz hat als Regisseur, Musiker und Bühnenbildner zahlreiche Produktionen im Grenzbereich von Schauspiel, Musiktheater und Performance realisiert. Mit Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ inszeniert er am Opernhaus Zürich erstmals eine Repertoire-Oper.

Nach vielen musikalischen Theaterkreationen inszenieren Sie am Opernhaus Zürich mit Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ erstmals eine Oper. Sie gibt alles vor: Musik und Libretto. Fühlen Sie sich nicht eingeschränkt?

THOM LUZ: In meinen Musiktheaterprojekten hatte ich immer die Freiheit, das Repertoire und das Timing der Musik selber festzulegen, das war mir auch wichtig. Jetzt, während der Arbeit an „Hänsel und Gretel“ erlebe ich überraschenderweise das festgelegte Libretto und die durchkomponierte Musik als eine Quelle der Inspiration.

Weshalb?

TL: Weil sich die Musik klar und unveränderbar im Zentrum befindet. Als Regisseur steht man im Dienst der Musik. Die musikalische, visuelle und narrative Interpretation der Komposition ist die Aufgabe –

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das eröffnet große Möglichkeitsräume. Man ist nicht Autor der Sache …

Sondern?

TL: Ich bin da, um Sänger:innen zu unterstützen und eine Bühnenwelt zu erfinden, in der die Musik sowie die Akteure vielschichtig und stark agieren können. Es ist schön, beides tun zu dürfen – sowohl Musiktheaterabende selber zu erfinden als auch auf dem fliegenden Teppich dieser Kompositionen des Opernrepertoires mitfliegen zu dürfen.

Lässt sich Humperdincks Musik leicht aufschlüsseln?

TL: Die Musik hat einen starken, eigenen Willen und erzählt eine klare Geschichte, weshalb es überhaupt nicht produktiv ist, sich dagegen zu wehren. Man kann aber durchaus Kontrapunkte und Vieldeutig­ keiten setzen; etwa dann, wenn die Mutter die Arie „Müde bin ich, müde bin ich“ – entgegen der Erwartung – gerade nicht mit ­müdem, traurigem Ausdruck singt, sondern lächelnd und voller Freude über die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums.

Flüchtige Materialien, zu denen auch die Nebelmaschine zählt, haben für Sie stets eine Rolle gespielt. Auch in Zürich?

TL: Ja. Gerade bei einer so klar erzählten Geschichte wie „Hänsel und Gretel“ ­eröffnen flüchtige und vieldeutige Bühnenelemente wie Nebel, Schleier, Papier und Licht viele Spielmöglichkeiten.

Als dann Matthias Schulz, Intendant des Opernhauses Zürich, zu mir kam mit der Idee, „Hänsel und Gretel“ zu machen, habe ich gedacht: Das ist eine gute Gelegenheit, Humperdincks Oper entlang dieser Kindheitserinnerung zu inszenieren.

Der Theaterapparat kann bezaubern – kann er auch unheimlich werden?

TL: Natürlich. In „Hänsel und Gretel“ geht es auch um die Erzeugung von Furcht; das ist ein wichtiges Element.

Sie haben einmal gesagt, dass wir heute in einer Zeit leben, in der das Erfinden von Geschichten zu einem Wettkampf geworden ist. Was meinten Sie damit?

TL: Es werden sehr viele Narrative erzeugt, wie die Welt sei oder zu sein habe – und dies oft mit einem starken Eigeninteresse der Erzählenden. Diese Narrative führen schnell ein Eigenleben. Wir beginnen dann wie Kinder, an diese Geschichte zu glauben und irgendwann werden sie Wirklichkeit. David Lynch hat den Vorgang einmal so beschrieben: Wir träumen, dann beginnen wir in diesen Träumen zu wohnen – aber wer sind dann die Träumenden?

Also verselbstständigen sich die Geschichten?

TL: Genau. Dieser Vorgang soll als eine mögliche Bedeutungsebene in meiner Inszenierung zu erleben sein. Die Theatermaschinerie beginnt zu leben und schluckt die Menschen, welche die Maschinen eingeschaltet haben.

Somit darf es bei Ihnen einen Wald und ein Knusperhäuschen geben?

TL: Ja, aber ich will nicht nur die glänzende Märchenoberfläche zeigen, sondern auch, was hinter und darunter abgeht – so wie beim Mann hinter dem Vorhang im „Zauberer von Oz“. Es ist wichtig zu wissen, wer die Knöpfe drückt …

Erzählen Sie. TL: Da muss ich von meiner Kindheit und einem Besuch im Opernhaus Zürich erzählen, als ich noch ein kleiner Bub war.

Wir hatten mit der Schule eine Führung, wobei uns Werkstätten gezeigt wurden: die Schneiderei, die Requisite, der Maler-, aber auch der große Zuschauersaal. Und überall habe ich lauter erwachsene Menschen gesehen, die ganz ernsthaft mit der Herstellung von Traumwelten beschäftig waren.

… um damit eine Traumwelt herzustellen.

TL: Genau – und ob diesen Traumwelten auch zu misstrauen ist.

Was haben diese Menschen konkret gemacht?

TL: Sie haben beispielsweise lange geprobt, wie man einen Feuerschein an einer Wand herstellen kann. Mich hat damals wahnsinnig fasziniert, dass dies Berufe sind. Das wirkte auf mich wie ein Lockruf.

Was kann die Oper in der heutigen Zeit, vielmehr: Muss sie überhaupt etwas „können“?

TL: Was auf der Bühne passiert, kann als lustvolles Rätsel empfunden werden, das einem ungewohnte Aspekte einer vermeintlich bekannten Geschichte aufzeigt. T

Theater der Zeit 12 / 2025

Foto BAK Gneborg

Was macht das Theater, Thom Luz?

Vor Ort: Über 5.000 sorgfältig ausgewählte Titel in Deutsch und anderen Sprachen – darunter Klassiker, aktuelle Dramatik, Bühnenbildkunst, Musik, Literatur für Kinder, Künstler*innen-Monografien und bibliophile Geschenkartikel.

Online-Shop: Wählen Sie aus über 10 Millionen Produkten – wir liefern deutschlandweit und ins Ausland!

Dank Buchpreisbindung unterstützen Sie mit Ihrer Bestellung den lokalen Buchhandel. www.einar-und-bert.de

Eine Buchhandlung für Theater!

Süddeutsche Zeitung

Ein Ort, um sich zu vertiefen, wunderbar kuratiert.

Nina Hoss

Ein stilvoller Ort. taz. die tageszeitung

Meine Lieblingsbuchhandlung in Berlin.

Vladimir Malakhov

Foto Viviane Wild

Die Buchhandlung ist sehr inspirierend, vor allem die Bücher zur Theaterpraxis und zur Bühnengestaltung.

Katrin Brack

Einar & Bert Theaterbuchhandlung, Winsstraße 72, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg.

Geöffnet Dienstag bis Samstag von 12.00 Uhr bis 18.00 Uhr. Tel. (030) 4435 285-11, info@einar-und-bert.de, einar-und-bert.de

ON AiR ON FiRE (14+)

MANNOHMANN (12+)

R: Alexander Riemenschneider Neu im Spielplan

Premiere 12. April

EiNE DOKUFiKTiONALE ZEiTREiSE VON MARiON BRASCH

POP-MUSiKTHEATER VON KiM, SEiTZ & FRiENDS MiT JUNGEN BERLiNER*iNNEN

REGiERT EUCH! (12+)

LOVE LAB

Neu im Spielplan

21. – 24. April

INTERAKTiVE PERFORMANCE VON TURBO PASCAL

WOLF (10+)

KÜNSTLERiSCHE RECHERCHEN ÜBER LiEBE, KÖRPER UND SEXUALiTÄT Gefördert im Programm Zero – Klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte der Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

VON SAŠA STANiŠiĆ

R + C: Raphael Moussa Hillebrand Premiere 24. Februar

→ WWW.PARKAUE.DE