EINFÜHRUNG
Im heutigen Konzert rücken wir mit Kurt Weill einen Komponisten in den Fokus, der zu den faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gehört und dessen Bedeutung und Vielseitigkeit es rechtfertigen, ihm einen ganzen Konzertabend zu widmen. Seine Vita und sein Schaffen spiegeln ein halbes Jahrhundert deutscher und amerikanischer Musik- und Zeitgeschichte wider, wobei der zweite Konzertteil so angelegt ist, dass Weills Umgang mit den Herausforderungen seiner Zeit chronologisch veranschaulicht wird.
Kurt Weill wurde 1900 in Dessau als Sohn des Kantors der dortigen Synagoge geboren. Die Musik war ihm damit gleichsam in die Wiege gelegt, und der Zugang zum Dessauer Hoftheater bereits als Teenager tat ein Übriges, um den musikalisch hochbegabten Weill eine Musikerlaufbahn einschlagen zu lassen. 1918 begann er ein Kompositionsstudium in Berlin bei Engelbert Humperdinck, dessen Klasse Weill aber nach nur einem Jahr wieder verließ. Zu unabhängig und unangepasst war Weill schon als Achtzehnjähriger, um von dem
konservativen, in der Tradition des 19. Jahrhunderts verwurzelten Humperdinck nennenswerte Impulse erhalten zu können.
Erst ein zweiter Anlauf war erfolgreich: 1921 wurde Weill in Berlin in die neu gegründete Meisterklasse von Ferruccio Busoni aufgenommen und gehörte damit zu den letzten Schülern des 1924 verstorbenen italienischen Multitalents. Als Komponist, Pianist, Dirigent, Pädagoge und Essayist prägte Busoni stärker als heute bekannt das Musikleben seiner Zeit und war für Weills Entwicklung von großer Bedeutung. Offenbar handelte es sich bei Busonis Klasse nicht so sehr um technischen Kompositionsunterricht; vielmehr besprach man insbesondere musikästhetische Fragen. Weill bezieht sich in seinen eigenen Schriften jedenfalls explizit auf Busonis bahnbrechende Studie Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/16), in der die Abkehr von der musikalischen Spätromantik vorgezeichnet ist, die sich dann auch in Weills eigenem Schaffen findet. Busonis Operneinakter Arlecchino und Turandot (beide 1917) waren, gemeinsam mit Igor Stra-
winskys Die Geschichte vom Soldaten (1918), in ihrer Abkehr vom Musikdrama in der Tradition Richard Wagners wichtige Vorbilder für Weills eigenen Zugang zu Fragen des Musiktheaters, das er dezidiert für seine Zeit neu erfinden wollte.
Weills Karriere begann gleich ganz oben: Seine erste Oper, Der Protagonist (1926), war eine Auftragsarbeit der Dresdner Staatsoper und ihres Chefdirigenten Fritz Busch. Insbesondere mit der Dreigroschenoper (1928) avancierte Weill zu einem weit über Deutschland hinaus bekannten Komponisten, dessen Werke jedoch das Publikum spalteten: Durch die Wahl der Sujets seiner Bühnenwerke und eine Musik, die gekonnt einen kantigen, dissonanten Tonsatz mit Einflüssen zeitgenössischer Unterhaltungsmusik kombiniert, wurde er zum Bürgerschreck und „enfant terrible“, fing damit aber auch sensibel die Atmosphäre und das Lebensgefühl der „Goldenen Zwanziger“ ein und prägte entscheidend das musikalische Bild der Weimarer Republik.
Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus wurde Weills künstlerische Orientierung zunehmend skandalisiert, Aufführungen seiner Werke wurden durch organisierte Störtrupps boykottiert und schließlich als „jüdischer
Kulturbolschewismus“ und „Entartete Musik“ verboten. Nach Warnungen, dass er in Lebensgefahr sei, gehörte Weill nach Adolf Hitlers Machtergreifung 1933 zu den ersten Künstlern, die Deutschland verließen. Erste Station für ihn war, wie für viele Emigranten, Paris. Hier begann die erste Verwandlung des Komponisten: Er lernte über Nacht fließend Französisch sprechen – und komponieren. Als hätte er nie etwas anderes getan, schrieb er statt schnoddriger Berliner Balladen nun französische Chansons, die jedem Pariser Kellerlokal Ehre machen.
Ähnlich wie Erich Wolfgang Korngold, der über den Regisseur Max Reinhardt zunächst als Gast nach Hollywood kam, um sich dort dauerhaft als Filmmusik-Komponist niederzulassen, reiste auch Weill 1935 ursprünglich für einen einzelnen Auftrag nach New York, um ebenfalls mit Max Reinhardt (als Regisseur) und Franz Werfel (als Librettist) das Projekt eines szenischen Oratoriums in die Tat umzusetzen. Die Entstehung von The Eternal Road sollte sich wegen der gigantischen Dimensionen der Produktion bis 1937 hinziehen – bis dahin war Weill bereits in New York beheimatet wie zuvor in Paris. Anders als manche Emigranten, die unter der Sprachbarriere litten oder Schwierigkeiten hatten, sich an die amerikanische Mu-
sikkultur zu gewöhnen (prominentes Beispiel: Béla Bartók), hatte Weill sich ein zweites Mal in Rekordzeit assimiliert. Fasziniert von den Möglichkeiten des amerikanischen Theaters, das –verglichen mit der jahrhundertealten europäischen Operntradition – noch in den Kinderschuhen steckte, sah Weill ein Potential für seine eigene künstlerische Tätigkeit. Sowohl mit seinen Broadway-Musicals als auch mit der von ihm maßgeblich weiterentwickelten Gattung der amerikanischen Oper, für die es mit George Gershwins Porgy and Bess (1935) erst einen nennenswerten Beitrag gab, avancierte Weill zu einem der erfolgreichsten amerikanischen Komponisten seiner Zeit.
Weills eigener Blick auf seine persönliche Situation scheint sich im Laufe der Zeit gewandelt zu haben. Sein Exil in Paris hat er als wichtigen künstlerischen Impuls sogar begrüßt und als nötige „Luftveränderung“ bezeichnet, bekannte aber auch, er habe Deutschland „im innersten Herzen […] niemals verlassen“. In seinen amerikanischen Jahren jedoch scheint er sich von seinen deutschen Wurzeln gelöst zu haben: Weill und seine Ehefrau, die Schauspielerin Lotte Lenya, nahmen die amerikanische Staatsbürgerschaft an und sprachen auch zu Hause fortan Englisch. Weill
hielt sich nunmehr „nicht für einen deutschen Komponisten“, sondern sah sich „vollkommen als Amerikaner“. Nach dem Untergang des Nazi-Regimes reiste er zwar 1947 noch einmal nach Europa, betrat aber nie wieder deutschen Boden. Kurt Weill starb 1950, kurz nach seinem 50. Geburtstag, in New York an den Folgen eines Herzinfarkts.
SINFONIE NR. 2
Kurt Weills umfangreiches Schaffen besteht im Wesentlichen aus Arbeiten für das Theater, das er als „meine eigentliche Domäne“ ansah. Er hat dabei mit insgesamt 24 Bühnenwerken sämtliche Formen des Musiktheaters bedient: Oper, Operette, Songspiel, Musical und Ballett. Reine Instrumentalmusik spielt im Schaffen Weills eine deutlich untergeordnete Rolle, und mit der (heute so genannten) 2. Sinfonie kommt sein einziges von ihm autorisiertes sinfonisches und sein letztes Instrumentalwerk überhaupt zur Aufführung. (Eine 1. Sinfonie hatte Weill 1921 als Studienarbeit komponiert und nach Kritik seines Lehrers Busoni verworfen.)
Die 2. Sinfonie entstand 1933/34 in Paris als Auftragswerk der Mäzenin Winnaretta Singer, Prinzessin de Polignac, die den Exilanten Weill damit finanziell unterstützte. Die Uraufführung unter der Leitung von Bruno Walter in Amsterdam am 11. Oktober 1934 war die letzte Weill-Uraufführung in der Alten Welt, sodass die Sinfonie damit die Schwelle markiert zwischen dem „europäischen“ und dem „amerikanischen“ Weill. Sie gilt heute als eine der bedeutendsten Sinfonien des 20. Jahrhunderts und ist – nach Jah-
ren der Vernachlässigung – mittlerweile auf dem Weg, ein Standardwerk des Konzertrepertoires zu werden.
Stilistisch reflektiert sie die Errungenschaften des Berliner Weill, mit einer durch Dissonanzen angereicherten Tonsprache, gleichzeitig aber auch mit einer Melodik, die den Theaterkomponisten nicht verleugnet: Manches Thema würde in textierter Form einen gelungenen Song abgeben, und musikalische Querbeziehungen zu dem parallel entstandenen Ballett Die sieben Todsünden zeigt eine musikdramatische Herangehensweise an die Sinfonik, die Weill mit Mozart verbindet, in dessen Instrumentalmusik er den „heißen Atem der Bühne“ spürte. Ähnlich wie in Weills Bühnenwerken findet sich auch hier die Abkehr von der Spätromantik exemplifiziert. Dies zeigt sich bereits an der geringen Spieldauer von einer knappen halben Stunde sowie an der Orchesterbesetzung, die auf ein klassisches Maß zurückgeht und – in Weills eigenen Worten – „bewußt einfach und sparsam“ gehalten ist. Der auf Wunsch von Bruno Walter kurz vor der Uraufführung hinzugefügte Part für Schlagwerk wirkt merkwürdig unorganisch und wird von der Weill-For-

schung als optional angesehen; er bleibt in unserer heutigen Aufführung unberücksichtigt.
Weill selbst hat den Einführungstext im Programmheft der Uraufführung geschrieben, in dem er sich aber vornehmlich technisch über die Sinfonie äußerte: „Über den ‚Inhalt‘ des Werkes etwas zu sagen, ist mir nicht möglich, da es als reine musikalische Form konzipiert wurde.“ Interessant ist jedoch, dass Weill eine Freundin zitiert, „die meinte, wenn es ein Wort gäbe, das das Gegenteil von ‚Pastorale‘ ausdrückt, so wäre das der Titel dieser Musik.“ Dies ist eine gelungene Einschätzung, denn Weills Musik scheint tatsächlich die Atmosphäre und das Lebensgefühl der modernen Großstadt einzufangen, die auch ein immer wiederkehrendes Thema seiner Bühnenwerke ist. Dass die Nazis seinen Stil „Asphaltmusik“ nannten, sah Weill selbst als großes Kompliment an.
Unklar muss bleiben, warum er das Werk unter dem Haupttitel „Symphonische Phantasie“ in die Welt schickte – später nannte er es auch „Nocturne Symphonique“ – und die Bezeichnung „Symphonie“ in Klammern dahinter setzte. Denn strukturell orientiert sich Weill deutlich an Modellen der klassischen Sinfonik, mit einem
ersten Satz in Sonatenform (inklusive der seit Haydn beliebten langsamen Einleitung) und einem Rondo-Finale, das sich deutlich vom metaphysischen Konzept des romantischen Sinfonie-Finales abhebt und einen virtuosen Kehraus im Sinne Haydns und Mozarts darstellt.
In der musikalischen Ausgestaltung steht Weill jedoch nicht so sehr in der Tradition des Neoklassizismus, der Musik der Vergangenheit imitiert, parodiert oder karikiert, sondern schreibt seine individuelle Stilistik fort, die er in den 1920er Jahren entwickelt hatte. Das Ausdrucksspektrum schließt dabei in der Einleitung zum ersten und insbesondere im zweiten Satz auch tragische und düstere Elemente mit ein, die gelegentlich als Reaktion auf die Zeitereignisse gedeutet wurden. Bemerkenswert sind marschähnliche Abschnitte im Finale, die parodistische Nuancen anklingen lassen, die an ähnliche Momente in den Sinfonien von Gustav Mahler erinnern, ehe der Satz mit einer virtuosen Tarantella ausklingt.
SONGS UND AUSSCHNITTE AUS DEN BÜHNENWERKEN
Als Ouvertüre zu unserer Weill-Retrospektive dient der Song „Berlin im Licht“ (1928), den Weill für eine Veranstaltung der Berliner Stadtwerke schrieb und der auf engstem Raum alle Charakteristika des Berliner Weill zeigt: eine eingängige Melodik (den Refrain kann man nach dem ersten Anhören mitsingen), die Rhythmik zeitgenössischer Tanzmusik (Foxtrott), aber auch eine dissonanzreiche Harmonik, die das Stück komplexer macht, als es auf den ersten Blick scheint. Wir spielen den Song in einer eigens für dieses Konzert erstellten Orchesterfassung.
Mit dem überwältigenden Erfolg der Dreigroschenoper (1928) wurde der 28-jährige Weill in kurzer Zeit weltberühmt. In Deutschland geriet das Stück zum größten Theatererfolg der Weimarer Republik: Allein in der Uraufführungs-Saison sind 4.000 Aufführungen in 200 verschiedenen Inszenierungen zu verzeichnen. Dabei waren die Vorzeichen hierfür alles andere als günstig gewesen: Die Proben verlie-
fen reichlich chaotisch, und das Stück wurde buchstäblich in letzter Minute fertig – eines der berühmtesten Stücke, „Die Ballade von Mackie Messer“, komponierte Weill in der Nacht vor der Uraufführung. 200 Jahre nach Johann Christoph Pepuschs The Beggar’s Opera (Die Bettleroper) hatte sich mit Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann und Kurt Weill ein deutsches Autorenteam zusammengefunden, das das Konzept dieser satirischen Oper ins 20. Jahrhundert bringen wollte, wobei sich Weills Musik nicht auf Pepusch bezieht, sondern eine Neukomposition darstellt. Was 1728 eine Parodie der barocken Opera seria à la Georg Friedrich Händel gewesen war, wurde nun zu einer solchen des romantischen Musikdramas à la Richard Wagner: Statt von Götter- und Heldengestalten war die Bühne bevölkert von Huren, Zuhältern, Bettlern und Verbrechern – gemäß Weills Maxime, „daß die Opernfiguren wieder lebendige Menschen werden, die eine allen verständliche Sprache sprechen“ sollen, damit ein Hörerkreis angesprochen
wird, „der weit über den Rahmen des Musik- und Opernpublikums hinausgeht.“ Weill ging es dabei aber niemals um bloße Unterhaltung. Im Gegenteil: Oper als „museale Angelegenheit“ – für ihn verkörpert durch die Berliner Staatsoper oder die New Yorker Metropolitan Opera – war ihm ein Greul. Stattdessen war ihm gelegen an einem „Theater der lebendigen Gegenwart“, das einen „neuen, dem Empfinden heutiger Menschen entsprechenden Opernstil“ präsentieren sollte, mit dem das Publikum „zum Mitdenken und zum Weiterdenken gebracht wird“.
Mit Happy End (1929) wollte dasselbe Autorentrio an den Erfolg der Dreigroschenoper anknüpfen, scheiterte damit jedoch. Trotz des Misserfolgs (das Stück verschwand nach nur sieben Aufführungen vom Spielplan) haben aufgrund ihrer überragenden Qualität die Songs von Weill überlebt – darunter mit „Surabaya Johnny“ eines der berühmtesten Stücke aus Weills Feder überhaupt. Thema ist der untreue Seemann Johnny, der zahlreiche Frauen verführt und ihnen das Herz bricht, indem er wieder zur See fährt und sie zurücklässt – erzählt aus der Perspektive einer Betrogenen. Stilistisch nähert der Song sich dem Cabaret-Chanson an und bildet damit eine Überleitung zum Pariser Weill.
Das Chanson „Je ne t’aime pas“ („Ich liebe dich nicht“) wurde 1934 für die französische Diseuse Lys Gauty komponiert. Weill rekreiert hier perfekt die Atmosphäre des französischen Chansons, mit seiner melancholischen Grundstimmung, Tragik und pathetischen Gefühlsausbrüchen. Im selben Jahr erlebte mit Marie Galante Weills erste im Exil geschriebene Oper ihre Uraufführung. Aufgrund des geringen Erfolgs zog der Komponist das Werk zurück, veröffentlichte aber glücklicherweise einige Chansons. Ein Instrumentalzwischenspiel der Oper wurde 1935 in textierter Form unter dem Titel „Youkali“ zu einem Welterfolg und gilt heute nicht nur als eines der berühmtesten, sondern vor allem auch berührendsten Chansons Weills. Komponiert als melancholische Tango-Habanera (George Bizets Carmen schaut Weill hier über die Schulter), handelt das Stück von der Sehnsucht nach der imaginären Insel Youkali, auf der Glück, Sorglosigkeit und Hoffnung herrschen. Die letzte Zeile des Refrains entlarvt Youkali als Traum und Truggebilde – Youkali gibt es nicht. Man kann nur mutmaßen, was dieses Stück für Weill und für viele andere Menschen im Jahr 1935 bedeutet haben mag.

Einmal in Amerika angekommen, begann die stilistisch erstaunlichste Wandlung Weills: Als hätte er nie etwas anderes gemacht, schrieb er für den Broadway in einem Stil, der nicht nur vom Jazz inspiriert ist (dergleichen findet sich bereits beim Berliner Weill), sondern der sich mit frappierender handwerklicher Perfektion dem „echten“ Jazz annähert, ohne ihn jedoch zu kopieren. In Verbindung mit Weills unerschöpflicher melodischer Erfindungsgabe entstanden zahlreiche Werke, deren Bedeutung für die amerikanische Musikgeschichte nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Mit Lady in the Dark (1941) und One Touch
of Venus (1943) feierte Weill nicht nur zwei seiner größten Erfolge am Broadway, sondern mit einer Laufzeit von jeweils 16 Monaten und 467 bzw. 567 Aufführungen waren dies die erfolgreichsten Broadway-Produktionen der 1940er Jahre. Zu den Erfolgen beigetragen hat sicher auch die Tatsache, dass Weill mit George Gershwins Bruder Ira (Lady) und Ogden Nash (Venus) zwei der bedeutendsten Songwriter der damaligen Zeit zur Verfügung gestanden haben. Aus beiden Musicals erklingen Titel, die die Vielseitigkeit von Weills amerikanischer Tonsprache zeigen: darunter die Swing-Nummer „One Life to Live“, der Boogie-Woogie „Way Out
West in Jersey“ (ein sogenannter Showstopper, dessen zu erwartender Beifall die Aufführung für mehrere Minuten unterbricht), aber auch die intime Ballade „My Ship“.
Mit Street Scene (1947) verwirklichte
Weill seine Vorstellungen von einer amerikanischen Oper in der Nachfolge Gershwins. Das gleichnamige, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Theaterstück von Elmer Rice bot ihm eine literarisch attraktive Vorlage, die es ihm erlaubte, als „Kulminationspunkt meiner Bestrebungen“ eine musikalische Synthese aus großer Oper und Broadway-Musical zu schaffen.
Die beiden von uns gewählten Ausschnitte demonstrieren dies eindrücklich: Die Arie „Somehow I Never Could Believe“ ist Weills stilistische Neuinterpretation der dramatischen Opernarie à la Giacomo Puccini, in der großen Gefühlen freien Lauf gelassen wird. Anna Maurrant fühlt sich von ihrem Ehemann vernachlässigt und hat eine Affäre mit einem Nachbarn, deren Entdeckung am Ende der Oper zur Katastrophe führen wird. Hier, im 1. Akt, versucht Mrs Maurrant, die Zukunft positiv zu sehen – wobei die Musik ihre emotionale Situation berührend nachzeichnet. „Moon-Faced, Starry-Eyed“ hingegen ist eine temporeiche Swing-
Nummer, die dem Big-Band-Jazz nahesteht und einen erotischen Blues einschließt. Ursprünglich ein Duett, hat Weill die Aufführung als Orchesterstück ausdrücklich sanktioniert.
Mit „Lost in the Stars“ erklingt ein Song aus der gleichnamigen Oper von 1949 – Weills letztem vollendetem Bühnenwerk. Eine echte Rarität präsentieren wir mit „There’s Nothing Left for Daddy“: Geschrieben für das Musical Love Life (1948), strich Weill diese Rumba aus dramaturgischen Gründen noch vor der Uraufführung. Der Song wurde erst vor wenigen Jahren aus Weills Nachlass herausgegeben; er kann trotz seiner Unbekanntheit zu Weills besten amerikanischen Songs zählen, nicht zuletzt, weil der pointierte Text von Alan Jay Lerner (dem Librettisten von My Fair Lady) an Komik schwer zu übertreffen ist: Er beschreibt, wie wohlhabende Herren mit Midlife-Crisis zur Zeit der Prohibition für einen „Alcoholiday“ nach Kuba reisen und dort das Rumba-Tanzen lernen, dabei aber ein denkbar peinliches Bild abgeben.
Abschließend sei ein Wort gesagt zu den Fassungen, in denen wir Weills Songs aufführen. Weill hatte die große Gabe, für die sich ihm jeweils bietende Orchesterbesetzung zu instrumentieren und selbst mit kleinen Besetzungen ein Maximum an Klangfarben-Vielfalt zu
erzielen. Ob er in der Dreigroschenoper für eine höchst individuelle Kombination schreibt (sieben Spieler, die auf 25 Instrumenten alternieren) oder für die unterschiedlichsten Broadway-Theaterorchester – er verstand es, mit jeder Orchesterbesetzung virtuos umzugehen. Im Kontext des heutigen Programms stellt uns dies vor logistische Herausforderungen: Fast jeder Song erfordert eine andere Besetzung, oft unter Verwendung von Instrumenten, die im klassischen Sinfonieorchester nicht vorkommen. Dies hätte das Engagement zahlreicher Aushilfen erfordert, und manche Musiker*innen hätten nur ein oder zwei Nummern zu spielen gehabt. Wir führen deshalb einige Songs in eigens angefertigten neuen Orchestrierungen auf oder retuschieren Weills Originale geringfügig. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, Stilistik und Charakter der jeweiligen Songs zu wahren. Berücksichtigt wurde zudem Weills Vorliebe für kleinere Orchesterbesetzungen, die zu einem transparenten, fast kammermusikalischen Klang führen. Einige Stücke präsentieren wir – auch darin Weills eigener Praxis folgend – mit Klavierbegleitung, um die Intimität der Vertonung zu unterstreichen, deren Wort-Ton-Verhältnis nicht weniger kunstvoll ist als in einem Schubertoder Brahms-Lied.
Retire ta main, je ne t’aime pas,
Car tu l’as voulu, tu n’ es qu ’une amie.
Pour d’autres sont faits le creux de tes bras
Et ton cher baiser, ta tête endormie.
Ne me parle pas, lorsque c’est le soir,
Trop intimement, à voix basse même.
Ne me donne pas surtout ton mouchoir:
Il renferme trop le parfum que j’aime.
Dis-moi tes amours, je ne t’aime pas,
Quelle heure te fut la plus enivrante,
Je ne t’aime pas ... Et s’il t’aimait bien,
Ou s’il fut ingrat ... En me le disant,
Ne sois pas charmante, Je ne t’aime pas ...
Je n’ai pas pleuré, je n’ai pas souffert,
Ce n’était qu’un rêve et qu’une folie.
Il me suffira que tes yeux soient clairs,
Sans regret du soir, ni mélancolie,
Il me suffira de voir ton bonheur.
Il me suffira de voir ton sourire.
Conte-moi comment il a pris ton cœur
Et même dis-moi ce qu’on ne peut dire ...
Non, tais-toi plutôt ... Je suis à genoux ...
Le feu s’est éteint, la porte est fermée ...
Je ne t’aime pas, ne demande rien,
Je pleure ... C’est tout ... Je ne t’aime pas,
Je ne t’aime pas, ô ma bien-aimée! ...
Retire ta main. Je ne t’aime pas.
Zieh deine Hand zurück, ich liebe dich nicht,
Denn du wolltest es so, du bist nur eine Freundin. Die Beuge deiner Arme ist für andere gemacht,
Und dein lieber Kuss, dein eingeschlafener Kopf. Sprich nicht mit mir, wenn es Abend ist, Zu vertraulich, selbst nicht mit leiser Stimme.
Gib mir vor allem nicht dein Taschentuch: Es ist getränkt mit dem Duft, den ich liebe. Erzähle mir von deinen Lieben, ich liebe dich nicht, Welche Stunde war für dich die berauschendste, Ich liebe dich nicht ... Und ob er dich sehr liebte, Oder ob er undankbar war ... Wenn du mir das sagst, Sei nicht reizend, Ich liebe dich nicht ...
Ich habe nicht geweint, ich habe nicht gelitten, Es war nur ein Traum und eine Torheit. Es wird mir genügen, dass deine Augen klar sind, Ohne Bedauern um jenen Abend, ohne Melancholie. Es wird mir genügen, dein Glück zu sehen. Es wird mir genügen, dein Lächeln zu sehen. Erzähle mir, wie er dein Herz gewann, Und sag mir sogar das, was man nicht sagen kann ...
Nein, schweige lieber ... Ich bin auf den Knien ... Das Feuer ist erloschen, die Tür ist geschlossen ... Ich liebe dich nicht, frag nichts, Ich weine ... Das ist alles ... Ich liebe dich nicht, Ich liebe dich nicht, o meine Geliebte!
Zieh deine Hand zurück. Ich liebe dich nicht.
C’est presque au bout du monde
Ma barque vagabonde
Errant au gré de l’onde,
M’y conduisit un jour.
L’ île est toute petite,
Mais la fée qui l’habite
Gentiment nous invite
A en faire le tour.
Youkali, c’est le pays de nos désirs,
Youkali, c’est le bonheur, c’est le plaisir,
Youkali, c’est la terre où l’on quitte tous les soucis,
C’est dans notre nuit
Comme une eclaircie
L’etoile qu’on suit,
C’est Youkali.
Youkali, c’est le respect de tous les vœux échangés,
Youkali, c’est le pays des beaux amours partagés,
C’est l’éspérance qui est au cœur de tous les humains,
La délivrance que nous attendons tous pour demain,
Youkali, c’est le pays de nos désirs,
Youkali, c’est le bonheur, c’est le plaisir.
Mais c’est un rêve, une folie,
Il n’y a pas de Youkali.
Et la vie nous entraîne,
Lassante, quotidienne,
Mais la pauvre âme humaine,
Cherchant partout l’oubli,
A pour quitter la terre,
Su trouver le mystère
Où nos rêves se terrent
En quelque Youkali.
Youkali …
Fast am Ende der Welt
Führte mein wanderndes Boot, Vom Strom dahingetragen, Mich eines Tages dorthin.
Die Insel ist winzig klein, Doch die Fee, die dort wohnt, Lädt uns freundlich ein, Sie ganz zu umrunden.
Youkali, das ist das Land unserer Sehnsüchte, Youkali, das ist das Glück, das ist das Vergnügen, Youkali, das ist das Land, wo man alle Sorgen vergisst. Es ist in unserer Nacht Wie ein Lichtschein, Der Stern, dem man folgt, Das ist Youkali.
Youkali, das ist die Erfüllung aller getauschten Gelübde, Youkali, das ist das Land der schönen, geteilten Liebe, Es ist die Hoffnung, die in allen Menschenherzen wohnt, Die Erlösung, auf die wir alle für morgen warten.
Youkali, das ist das Land unserer Sehnsüchte, Youkali, das ist das Glück, das ist das Vergnügen. Doch es ist ein Traum, eine Torheit, Youkali gibt es nicht.
Und das Leben reißt uns mit, Ermüdend, alltäglich, Doch die arme menschliche Seele, Überall das Vergessen suchend, Hat, um die Erde zu verlassen, Das Geheimnis gefunden, Wohin sich unsere Träume flüchten. In irgendein Youkali.
Youkali …
VORSCHAU
4. PHILHARMONISCHES KONZERT
Arvo Pärt: Cantus in Memory of Benjamin Britten für Streicher und Glocke
Dmitri Schostakowitsch: Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77
Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70
Solistin: Lea Birringer, Violine
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: Daniel Spaw
Konzerte
Di 13.01.2026 / 19.30 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 14. & Do 15.01.2026 / 19.30 Uhr Stralsund: Großes Haus
Impressum
Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH
Stralsund – Greifswald – Putbus
Spielzeit 2025/26
Geschäftsführung: André Kretzschmar
Künstlerische Leitung: Rolf C. Hemke
Textnachweise:
www.theater-vorpommern.de
Redaktion: Stephanie Langenberg
Gestaltung: Öffentlichkeitsarbeit TVP / Marie-Louise Bartels
1. Auflage: 500 Druck: Flyeralarm
Die Text ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft von Dr. Florian Csizmadia unter der Verwendung u. a. folgender Quellen: Stephen Hinton / Jürgen Schebera (Hrsg.), Kurt Weill. Musik und musikalisches Theater. Gesammelte Schriften, Mainz 2000; Jürgen Schebera, Kurt Weill, Mainz 2016.
Bildnachweise:
S. 4: Antje Bornemeier ©Peter van Heesen
S. 5: Brigitte Oelke ©Dania Frönd
S. 9: Kurt Weill und Lotte Lenya in ihrem Haus in New City (1942), Wikipedia
S. 15: Und der Haifisch der hat Zähne, aus dem Künstlergästebuch von Alfred und Thekla Hess.
Piper-Bücherei, München 1957, Wikipedia
S. 24: Lea Birringer ©FANDEL Foto & Design
Alle weiteren Bilder sind mithilfe von ChatGPT in persönlicher Kommunikation KI-generiert.
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.