Strassenmagazin Nr. 599 2. bis 15. Mai 2025

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Wer arm ist, wird von den Behörden bestraft. In der Schweiz hat das Tradition.
Seite 8
«Für mich gibt es nur eine
Kathy Messerli wird auf ihrem Sozialen Stadtrundgang durch Bern von ihrem Therapiehund Miley begleitet. Sie spricht über psychische Erkrankungen, erlebte Traumata und macht den Weg in die Armut sichtbar.
Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich.
Die Schweiz hat einen ausgebauten Sozialstaat. Aber auch eine Tradition im Bestrafen, Wegweisen und Wegsperren von Menschen, die den Normen und Standards einer Leistungsgesellschaft nicht genügen. Dazu gehören auch die Armen.
Man möchte fragen: Hat ein Wohlstandsland wie die Schweiz das nötig? Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn man immerzu wegschiebt, was einem nicht passt, was stört und unbequem ist? Für die, die es angeht, ist das eine Zurückweisung auf der ganzen Linie. Wer stigmatisiert wird, dem wird (wenn auch oft hinter vorgehaltener Hand) gesagt: Geh weg, du bist hier nicht willkommen.
Und wir, was machen wir? Wenn wir damit einverstanden sind, dass den Armen das Betteln verboten wird, dass man sie wegscheucht aus dem öffentlichen Raum oder
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! Grosse Ehre
5 Vor Gericht In Richtung Faschismus
6 Verkäufer*innenkolumne Ein Abschied
7 Moumouni antwortet Warum ist Scheitern so schwierig?
8 Armut Ausgegrenzt und kriminalisiert
14 Digitalisierung Ohne Bargeld auf der Strasse
20 Orte der Begegnung Beim Entsorgen
dass sie wegen Fahrens ohne Ticket mit Gefängnis bestraft werden: Tragen wir dann nicht zu einer Gesellschaft bei, die partout von allem angeblich Abseitigen bereinigt werden muss? Im Minimum gewöhnen wir uns daran, dass alles um uns herum im Rahmen des Normalen ist. Indem wir eine Stigmatisierung der anderen dulden, vergrössern wir Stück für Stück den Raum, wo sie sich nicht mehr sicher fühlen können, wo sie unsichtbar gemacht und irgendwann übersehen werden. Dabei ist gerade dies eine der schlimmsten Formen der Missachtung: nicht mehr gesehen zu werden.
Sie denken, ich übertreibe? Lesen Sie ab Seite 8 unseren Essay über die Kriminalisierung der Armen in der Schweiz –und was wir anders machen könnten.
KLAUS PETRUS Redaktor
22 Literatur «Schaut mal aus dem Fenster raus!»
24 Festival In Beziehung treten
25 Bühne Stumme Sprache
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner in Aarburg
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt «Ich bin reich, wenn es um Liebe geht»
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Allein 2024 starben auf den Strassen Brüssels 82 Obdachlose. Die Armut ist in der Stadt allgegenwärtig, politische Massnahmen hingegen sind bisher rar. Nun versucht eine Gruppe von Obdachlosen zusam men mit Freiwilligen unter dem Namen «Die Toten der Strasse (Les Morts de la Rue)» öffentliches Be wusstsein für die prekäre Lage der Menschen auf der Strasse zu schaffen – indem sie mit kleinen bema lten Steinen den Verstorbenen gedenkt und die Politik dazu auffordert, sich endlich dem Problem anzunehmen.
Die Tendenz nimmt in vielen Ländern zu, auch in Österreich: Immer mehr ältere Menschen leben äusserst prekär. Dies gilt besonders für Frauen. So ist in Österreich inzwischen jede fünfte Frau ab 65 armutsbetroffen. Die Gründe sind vielfältig; dazu gehört die Tatsache, dass Frauen (zudem oft in Teilzeit) weniger verdienen als Männer und somit auch weniger Pension erhalten – im Schnitt 40,5 Prozent. Zu den existenziellen Belastungen kommen Themen wie Scham sowie die offenbar fest verankerte Vorstellung, man sei selber schuld an der Situation, wie das Tiroler Armutsforschungsforum herausgefunden hat.
Männer haben mehr Macht und Status in der Arbeitswelt – dazu gehört auch die Wissenschaft, die bis heute männlich dominiert ist. In Graz gibt es nun ein Coaching speziell für Frauen, die in der Wissenschaft und Forschung tätig sind. Ziel ist es, mit Rollenspielen die Machtstrukturen offenzulegen, sich die Spielregeln anzueignen, die in diesem Bereich gelten, sowie das Selbstbewusstsein der Frauen zu stärken.
531 600 Personen waren Anfang Jahr in Deutschland wohnungslos, und die Zahlen steigen an – hauptsächlich wegen Inflation und steigenden Mieten. Obschon Frauen nicht so oft von Wohnungslosigkeit betroffen sind, werden es immer mehr; gegenwärtig machen sie einen Drittel aller Wohnungslosen aus. Ein grosses Problem liegt darin, dass es in vielen deutschen Städten keine oder nur sehr wenige spezifische Angebote für wohnungslose Frauen gibt. In Hannover zum Beispiel existieren gerade mal zwei solcher Unterkünfte.
Die Anwältin der Schweizer Klimaseniorinnen, Cordelia Bähr, wurde vom US-amerikanischen Magazin «Time» zu einer der 100 einflussreichsten Personen der Welt 2025 gewählt. Die 44-Jährige arbeitete neun Jahre lang an der Klage der Klimaseniorinnen - die Schweiz tue zu wenig gegen den Klimawandel und komme dem Pariser Klimaabkommen nicht nach. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg stimmte der Klage im April 2024 in einem historischen Urteil zu.
Bähr arbeitete vorgängig bei der Jugendanwaltschaft Wil, am Bezirksgericht des Kantons Zürich und bei einer Zürcher Wirtschaftskanzlei und machte ihren MLaw an der renommierten London School of Economics and Political Science. Die Inputs und Diskussionen dort hätten ihr «den Ärmel reingezogen», gerade für das Klimarecht. Gegenüber dem UZH-Magazin sagt Cordelia Bähr: «Angesichts der naturwissenschaftlichen Fakten ist es notwendig, dass man Klimaschutz betreibt.»
Die erfolgreiche Klage der Klimaseniorinnen zeigt, wie rechtliche Mittel genutzt werden können, um sich gegen Verfehlungen in der Klimapolitik zu wehren.
Die Auszeichnung in «Time» ist nicht die erste: Die Wissenschaftszeitschrift «Nature» setzte Bähr auf eine Liste von zehn Personen, die die Wissenschaft im Jahr 2024 geprägt haben. Helen Keller, Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und einst Richterin am EGMR, sagt im «Nature»Artikel, Cordelia Bähr habe den Fall derart perfekt vorbereitet, dass es für das Gericht schwierig gewesen wäre, gegen die Klimaseniorinnen zu entscheiden. LEA
Stimmt, die Zeitungen sind schon übervoll mit dem ganzen USA-Gschtürm – aber auch Ihrer werten Gerichtsreporterin gelingt es nicht, wegzuschauen. Es passiert nicht jeden Tag, dass ein bis vor kurzem stabiler westlicher Rechtsstaat vor aller Augen zerfällt und ganz ungeniert zur Autokratie mutiert. Wie eine Demokratie in den Faschismus kippt, live, das kannten wir vor allem aus Geschichtsbüchern.
Und so also läuft die Demontage des Rechtsstaats: Der Präsident redet eine Ausnahmesituation nach der andern herbei und weitet seine Macht mit uralten Notrechtsklauseln aus – das erlaubt ihm die Umgehung des Parlaments. Damit provoziert er eine Flut von Gerichtsprozessen. Denn Zivilgesellschaft und Justiz stellen sich der Regierung entschieden entgegen. Stand 14. April sind nach Zählung der juristischen Fachzeitschrift «Just Security» 192 Fälle gegen Entscheidungen der Trump-Administration an den US-Gerichten hängig. Die katholische Kirche klagt wegen der Beendigung von Förderprogrammen für Eingewanderte, und NGOs wehren sich gegen die Streichung von Mitteln für die juristische Unterstützung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden oder gegen die Aufhebung des Status «vorläufig aufgenommen».
zesse» gegen die Regierung anstrengen, sollen künftig bestraft werden. Mit solch pauschalen Ansagen wird die Justiz eingeschüchtert, es entsteht ein Chill-Effekt, ein Klima, in dem die Durchsetzung von Grundrechten von vornherein schwieriger wird. Unter Druck sind vor allem Migrationsrechte. Die meisten der laufenden 192 Verfahren betreffen Menschen, die ohne rechtsgenügliche Prüfung ihrer Asylanträge entweder in Guantánamo interniert oder direkt in ihre Herkunftsländer ausgeschafft werden sollen – oder schon abgeschoben sind. Mehrere hundert angebliche Mitglieder südamerikanischer Verbrecherkartelle wurden unter Berufung auf ein Gesetz von 1798 gar in ein Hochsicherheitsgefängnis in El Salvador überstellt. Im Fall Ábrego García kam es dabei zu einem breit publizierten und von der Administration eingeräumten «administrativen Fehler». Oops! Umgekehrt wird die Aufarbeitung der Fälle von der Regierung systematisch behindert und jede noch so unbedeutende prozessuale Zwischenentscheidung angefochten – womit der Aufwand der juristischen Gegenwehr enorm steigt.
An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen.
Gleichzeitig drangsaliert der Präsident Anwaltskanzleien, indem er ihnen die Sicherheitsanerkennung entzieht und mit dem Ende aller Bundesaufträge droht. Anwält*innen, die «schikanöse Gerichtspro-
Das sind Vorgänge, die uns alle angehen. Es ist kein Zufall, dass der Präsident eine besonders harte Gangart gegenüber Gerichten einschlägt, die Verfahrensrechte von Migrant*innen schützen – und ihre Entscheide demonstrativ ignoriert. Denn bei diesem Thema kann er auf einigen Rückhalt aus der Bevölkerung zählen. Das ist bei uns nicht wesentlich anders. Sicherlich hätte Trumps «Gold Card», mit der sich Wohlhabende für fünf Millionen Dollar ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht erkaufen können, auch hierzulande gute Chancen.
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.
… von meinem geliebten, regelmässig schwarz-weiss gemusterten Kater Anubis.
Achtzehn Jahre lang hat er mich durch mein nicht immer einfaches Leben begleitet. Ich weiss noch, wie er zu mir kam. Er war meiner Tochter zugelaufen, und da sie schon eine Katze hatte, die den neuen, damals noch kleinen Kater angriff, rief sie mich an und sagte: «Mami, nun musst auch du wieder für eine Katze sorgen.» So kam Anubis, kurz nachdem mein Mann verstorben war, zu mir.
Wir waren sofort unzertrennlich. Der Zufall wollte es, dass wir kurz danach fünf Mal umziehen mussten innerhalb von Zürich. Und nirgends war es gemütlich. Die strassennahe Lage von zwei Wohnungen war sogar sehr gefährlich für Katzen, die nach draussen gehen, und das Rausgehen konnte Anubis niemand nehmen. Im Jahr 2015 fand ich eine Wohnung ausserhalb von Zürich mit Gartensitzplatz. Einen schöneren Ort für mich und auch für ihn hätte ich nicht finden können. Unsere Welt wurde ruhiger, blumiger und bunter. Oft sagte ich zu ihm: «Hier sind wir nun, und da bleiben wir auch.»
Nach zwölf Jahren am neuen Ort wurde Anubis leider ernsthaft krank. Zuerst konnten ihm die Tabletten gegen die Pankreatitis, die er hatte, noch helfen. Doch nach und nach versagten auch die anderen inneren Organe. Als er dann gar nichts mehr essen wollte und es klar war, dass er litt, liess ich ihn zu Ostern vor drei Jahren schweren Herzens gehen. Zum Glück konnte die Tierärztin zu uns nach Hause kommen.
Dies nun ist ein später Nachruf für meinen treuen, zuverlässigen, lieben und wertvollen Freund, der er war Tag für Tag. Noch heute bin ich traurig, doch in Gedanken wird er immer bei mir sein. Was mir hilft, sind zwei Zeilen von Goethe:
Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.
KARIN PACOZZI, 58, verkauft Surprise in Zug. Abschiede bedeuten für sie eine Unsicherheit, wie es weitergeht. Sicher ist sie sich aber: Es braucht Zeit, bis Neues entsteht.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Moumouni antwortet
Als ich die SRF-Doku über die junge Tat gesehen habe, habe ich geschrien. Über das Scheitern von SRF, das Scheitern des Journalismus im Umgang mit Rechtsextremen, das klassisch Schweizerische Scheitern, rechts überhaupt noch von einer Mitte unterscheiden zu können.
Zufällig hatte ich mich zu dem Zeitpunkt gerade mit Essays und Debatten von vor zehn Jahren auseinandergesetzt, in denen die Frage, wie und ob mit Rechten reden, hin und her, auf und ab, vorwärts, im Kreis und auf der Stelle debattiert wurde. Vor zehn Jahren war das die grosse Frage, da hatte sich die deutsche AfD gerade frisch Richtung extrem rechts radikalisiert und es zeichnete sich langsam ab, wie anfällig die deutsche Gesellschaft für sie war. Fast verwunderlich also, dass die Schweiz ein Ort ist, wo man 2025 noch Dokus macht, in denen Rechtsextreme in aus der Zeit gefallenem Gonzo-Journalismusstyle wie
ein exotisches, neues Phänomen besucht werden – in dem Jahr, in dem bei der Amtseinführung des mächtigsten Mannes der Welt von einem der reichsten Männer der Welt der Hitlergruss gezeigt wurde (und viele Medien daran scheiterten, diesen als solchen zu erkennen …).
Gleichzeitig ist es natürlich total schweizerisch, wie Journalist Samuel Konrad da höflich mit den jungen Tätern redet und ihnen ja nicht auf den Schlips treten möchte. Er ist auch nicht eloquent genug, ihnen zu widersprechen oder sie zumindest kompetent einzuordnen, und philosophiert dann in einer Sequenz im Auto auf süss-naive Art inklusive Hundeblick angestrengt über Meinungsfreiheit, als wäre das eine neue Frage und er der Erste, der sich damit auseinandersetzt.
Nach lauter Kritik (über 200 Kunst-, Kultur- und Medienschaffende haben einen offenen Brief an die Redaktion,
den SRF-Publikumsservice und die Ombudsstelle der SRG unterzeichnet) scheitern das SRF sowie Konrad an einer Stellungnahme. Stattdessen wird ein Q&A-Video veröffentlicht, in dem sich der Konrad von einem Journalismusdozenten und von Daniel Glaus, «SRF Fachredaktor Extremismus» (sic), bekunden lässt, dass er eigentlich alles richtig gemacht habe.
Beide sind jedoch offensichtlich keine Experten für Rechtsextremismus, Letzterer interessiert sich, wenn man seinem Twitteraccount folgt, eigentlich nur für islamistischen Terror und geht in einigen Statements rechten Normalisierungen auf den Leim. Die Doku und die darauffolgende Q&A-Session bleiben also bequeme Gespräche unter weissen Männern, die auf Basis ihrer Erfahrung und Meinung entscheiden, wie dramatisch das mit den Nazis nun ist oder nicht.
Konrad meint auf den Einwand, er hätte als Journalist bestimmte hetzerische Falschaussagen als solche einordnen können: «Das ist für mich etwas, was so klar extremistisch und transfeindlich ist, dass ich einem Publikum das vielleicht gar nicht immer sagen muss, sondern einfach stehen und wirken lassen darf und ein Publikum kann das dann nehmen und schockiert sein.»
Spannend, wie da Wahrnehmungen auseinandergehen. Die einen machen schon Fluchtpläne, weil sie nicht wissen, wie lange die Rechten noch brauchen, bis sie ihre Remigrationspläne und faschistoiden Gewaltfantasien weiter wahr machen – die anderen wollen das noch ein bisschen wirken lassen.
Am traurigsten und irgendwie am witzigsten ist, dass Konrad allen Ernstes in die Kamera sagt, seine Doku wäre wohl im Sinne von Hannah Arendt.
FATIMA MOUMOUNI
fragt sich, wie lange man noch Dokus über Rechte machen will, in denen zu Meinungsfreiheit philosophiert wird, Betroffene und Menschen anderer Meinung aber gar nicht zu Wort kommen.
Armut Wer sich in der Schweiz als arm zu erkennen gibt, riskiert, gebüsst zu werden, in Haft zu kommen, und vielen droht die Abschiebung.
TEXT
CHRISTOPH KELLER ILLUSTRATION ELENA KNECHT
Er sass immer vor der Migros, ein paar Meter vom Eingang entfernt, in der Hand ein Foto, dazu das Schild «Für meine Kinder». Sass da, bei Kälte, bei Regen, er winkte mir schon von Weitem zu.
Manchmal wechselten wir ein paar Worte, viel war nicht möglich. Aber ich verstand bald, dass diese kurzen Gespräche für ihn fast so wichtig waren wie die Münzen, die ich in seinen Kartonbecher warf.
Vielleicht, weil er sich gesehen fühlte, anerkannt.
Dann, eines Tages, war er weg. Sichtbare Armut sei in der protestantisch geprägten, erfolgsfokussierten Schweiz etwas zum «Wegschauen», zum «Verdrängen», sagt der Basler Anwalt Christian von Wartburg. Er hat sich als langjähriger Grossrat für die Basler SP, aber auch beruflich dafür eingesetzt, dass Betteln, wie er sagt, «als eine Form der Existenz respektiert, gesehen und nicht verurteilt wird».
Ein längerer Kampf.
Betteln, als die augenfälligste Form von Armut, war im Kanton Basel-Stadt, wie in der Mehrheit der Kantone, verboten. Wer bettelte, riskierte eine Busse, wer die Busse
nicht bezahlen konnte, musste eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen – wer bettelte, wurde straffällig. Dann, bei einer Revision des Übertretungsstrafrechts, beschloss der Basler Grosse Rat, das generelle Bettelverbot aufzuheben. Bestraft sollte nur noch werden, «wer andere Personen zum Betteln schickt oder als Mitglied einer Bande bettelt»; die Bestimmung trat im Juli 2020 in Kraft.
Mit unerwarteten Folgen. Kurz darauf waren sie an vielen Orten in der Stadt zu sehen: bettelnde Menschen, mehrheitlich Rom*nja, auf Brücken, vor Grossverteilern, sie standen vor Restaurants und schliefen nachts unter freiem Himmel, in Parks und auf Plätzen; mit einem Mal sichtbare Armut in der reichen Stadt. Das verunsicherte und verärgerte selbst gestandene Linke. Für die Basler SVP aber war die «Bettlerflut» ein gefundenes Fressen, um im Wahlkampf Stimmung zu machen und die Wiedereinführung des Bettelverbots zu fordern.
Doch mitten in diese Debatten hinein erging ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; es stellte klar, sagt Christian von
Wartburg, dass es menschenrechtswidrig ist, «eine Person zu büssen dafür, dass sie gar nichts hat».
Dina Bazarbachi, eine streitbare, engagierte Genfer Anwältin, setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass Rom*nja in der Rhonestadt nicht regelmässig aufgegriffen, gebüsst, eingesperrt werden. Sie übernahm die Verteidigung einer Romni, die arbeitslos war, Analphabetin, die mehrmals gebüsst wurde, verhaftet, wegen Nichtbezahlung der Bussen verurteilt; und einmal hatte ihr die Polizei das erbettelte Geld, exakt 16 Franken und 75 Rappen, abgenommen, weil «illegal erworben».
Weder das kantonale Gericht noch das Bundesgericht gaben ihr Recht.
Ein Recht auf Armut
Anders hingegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der entschied, dass das Genfer Polizeigesetz mit seinem strikten Bettelverbot und dem ebenso strengen Bussenregime die Menschenrechte, insbesondere auch die Menschenwürde der betroffenen Romni verletze; die Klägerin, so das Gericht, habe «keine andere Wahl gehabt als zu betteln»,
Jede sechste Person in der Schweiz ist von Armut betroffen, die vierthöchste
es bedeute eine «Herabsetzung ihrer Menschenwürde», das zu verbieten und sie dafür auch noch zu büssen.
Das Urteil setzte europaweit den Massstab, dass Menschen ein Recht haben auf Bedürftigkeit und darauf, diese Bedürftigkeit auch sichtbar zu machen.
Aber das Urteil, sagt Christian von Wartburg, «war von beschränkter Wirkung».
Der Grosse Rat des Kantons BaselStadt beschloss bei den weiteren Beratungen zwar, sich an den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu halten und erliess eine strenge Bettelordnung, mit Rayonverboten, Distanzpflichten; sie kommt damit aber einem Verbot ziemlich nahe, einige Bestimmungen hob das Bundesgericht wieder auf, weil unverhältnismässig. Was noch übrig blieb vom erlaubten Betteln, schränkte der Basler Regierungsrat nochmals ein mit einem Entscheid vom Juli 2023, wonach «mittellose Personen aus EU- oder EFTA-Staaten, die einzig zum Betteln in
die Schweiz einreisen», sofort und «per Verfügung vom Migrationsamt weggewiesen» werden können; das Betteln wird nicht als «Erwerb» anerkannt, weshalb «ausländische», bettelnde Personen, nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, auch die «Einreisevoraussetzungen» nicht erfüllten.
Keine Zahlen, keine Ahnung
Das Urteil aus Strassburg hat bisher nicht zu einer schweizweiten Aufhebung des Bettelverbots geführt. St. Gallen hat das bestehende Verbot gelockert, die neue Regelung in Genf kommt (wie auch das Basler Reglement) einem Verbot sehr nahe, ebenso ein Gesetzesentwurf in der Waadt; der Schutz der «öffentlichen Ordnung» wird überall höher gewichtet als das Recht auf Betteln.
Wir wissen, dass jede sechste Person in der Schweiz von Armut betroffen ist, die vierthöchste Quote in Europa. Darüber hinaus gibt es keine Zahlen, schon gar keine wissenschaftliche Erhebung über Her-
kunft, Motivation, Bedürfnisse von Menschen, die in der Schweiz in der Öffentlichkeit um eine Unterstützung bitten.
Kurt Rentsch, der in Zürich das «Café Yucca» leitet, eine Anlaufstelle für Menschen ohne Obdach, für gestrandete Tourist*innen, aber auch für Bettler*innen, spricht lieber von «Menschen, die auf der Suche nach Ressourcen sind». Die einen, sagt er, arbeiten temporär, bitten dann wieder um Almosen, reisen weiter, leben von der Hand in den Mund, dann finden sie wieder Arbeit – Kurt Rentsch nennt sie «Europawander*innen». Und auch sonst, sagt er, sind die Grenzen fliessend und Menschen landen aus sehr unterschiedlichen Gründen in der Armut.
Und es steht, um sie loszuwerden, eine ganze Palette von Sanktionen bereit.
Für Marianne Aeberhard, Geschäftsleiterin der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch, hat das Wegsperren von Menschen in der Schweiz «Tradition». Die Tradition gründe darauf, argumentiert sie, dass in der Schweiz «soziale Probleme gelöst werden, indem man sie aus dem öffentlichen Raum verschwinden lässt», und dass «Scheitern nicht zu einer akzeptierten Lebensform gehört». Marianne Aeberhard erinnert daran, dass Zwangsarbeit, Kindeswegnahmen, Sterilisationen, vor allem aber die sogenannte «administrative Versorgung» viele Jahre lang probate Mittel waren, um Armutsbetroffene, Personen ohne Schweizer Pass und gesundheitlich beeinträchtigte, angeblich «arbeitsscheue», «asoziale» oder «liederliche» Menschen auszugrenzen.
Heute, sagt Aeberhard, seien die Mittel andere, aber der Zweck bleibe derselbe.
Die Schweiz ist europäische Spitzenreiterin bei der Anordnung der Untersuchungshaft, und 54 Prozent aller Menschen in U-Haft sind entweder Asylsuchende oder haben einen ausländischen oder unbekannten Wohnsitz. Hoch sind auch die Zahlen im sogenannten Massnahmenvollzug, hier können Straftäter*innen sehr lange und über das Strafmass hinaus in Gewahrsam gehalten werden, um «die Gesellschaft vor weiteren möglichen Straftaten zu schützen». Zum Sanktionenregime gegen bedürftige, wenig privilegierte Menschen gehört auch die «fürsorgerische Unterbringung» in eine Anstalt. Jede fünfte Person, die sich in der stationären Psychiatrie in der Schweiz befindet, wird gegen ihren Willen eingewiesen, ein Rekordwert im europäischen Vergleich. Hinzu kommen
rund dreitausend Personen, die in sogenannte Administrativhaft genommen wurden, um zu verhindern, dass diese Menschen – die oft mit nichts als mit dem eigenen Leben in die Schweiz gekommen sind – untertauchen.
Und äusserst wirksam ist ein Strafregime, das armutsbetroffene Menschen ganz besonders trifft: die Ersatzfreiheitsstrafe. Sie kommt dann zur Anwendung, wenn Personen ihre Busse nicht bezahlen können, was häufig vorkommt; und es trifft vor allem Menschen, die wegen Bagatelldelikten gebüsst werden, hauptsächlich wegen Fahren ohne Ticket im öffentlichen Verkehr. Wer sich ein Trambillett für drei Franken, ein Zugticket für zwanzig Franken nicht leisten kann, wird auch eine Busse von hundert Franken oder noch mehr nicht begleichen können; also ersatzweise ab in den Knast, für 100 Franken ein Tag Gefängnis, so lautet der Tarif.
Auch hier steht die Schweiz europaweit an der Spitze, 2023 verbüssten 53 Prozent aller Menschen im Strafvollzug eine Er-
satzfreiheitsstrafe. Gemäss einer Studie im Auftrag des Zürcher Amts für Justizvollzug aus dem Jahr 2019 gaben über 80 Prozent der Betroffenen an, sie hätten die verhängte Busse nicht selbst bezahlen können. Wer eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzt hat, so die Studie, ein rund zehn- bis zwanzigmal tieferes Vermögen als Personen, die ihre Busse bezahlen konnten. Die Ersatzfreiheitsstrafe betrifft also klar Menschen mit tiefen oder keinen finanziellen Ressourcen; die Kosten dafür gehen in die Milliarden, die Zürcher Studie hat errechnet, dass jeder Hafttag pro Person mit 216 Franken zu Buche schlägt. Die Strafanstalten platzen aus allen Nähten, Champ Dollon bei Genf ist mehrfach belegt, in den Berner Regionalgefängnissen ist der Platz so knapp geworden, dass statt drei Personen vier bis fünf pro Zelle untergebracht werden, inhaftierte Menschen schlafen in umgebauten Arbeitsräumen, in Massenzellen. Michael Burkard, Stadtrat des Grünen Bündnis in der Stadt Bern, richtete gemeinsam mit anderen die Anfrage an die Berner
Wer sich ein Trambillett von drei Franken nicht leisten kann, wird auch eine Busse von hundert Franken nicht begleichen können.
Stadtregierung, ob der Gemeinderat bereit sei, beim Verwaltungsrat der öffentlichen Verkehrsbetriebe «Bernmobil» darauf hinzuwirken, dass «in Zukunft keine armutsbetroffenen Personen, welche sich ohne gültigen Fahrschein haben befördern lassen», ins Gefängnis kommen. Worauf die Stadtberner Regierung antwortete, Bussen könnten auch in Raten abbezahlt werden oder man könne ein Gesuch zur Leistung gemeinnütziger Arbeit stellen; im Übrigen sei Bernmobil «an die gesetzlichen Rahmenbedingungen» gebunden.
Muster der Ausgrenzung
Die Kriminalisierung von Armut sei eine folgerichtige Konsequenz des neoliberalen Staates, der seinen Bürger*innen «keine Sicherheit mehr verspricht», sagt der Soziologe Loïc Wacquant, der an der University of California lehrt; aber der neoliberale Staat verspricht, die Bürger*innen «vor den Armen zu schützen», sagte er in einem Vortrag an der Universität von Santiago de Chile. Und damit der Staat diesem Credo nachkommen könne, also arme Personen von den gut Situierten fernzuhalten, entwickle er, so Loïc Wacquant, immer ausgefeiltere Muster zur Ausgrenzung, der Staat werde zu einer «klassifizierenden und stratifizierenden Maschine»; die «Hyperincarceration», also der total übersteigerte Wille zur Inhaftierung, sei das deutlichste Ergebnis dieser Strategie.
Besonders kritisch bei alledem: niedriger sozialer Status plus ungesicherter Aufenthalt.
Der Zürcher Rechtsanwalt Babak Fargahi erzählt von unzähligen Fällen, bei denen Armutsbetroffenheit und Migrationserfahrung mit fatalem Ergebnis zusammenkommen : der Ausschaffung. Besonders krass der Fall einer Frau, Mutter von vier minderjährigen Kindern, verheiratet, die wegen Sozialhilfebezug aus der Schweiz weggewiesen wurde. Das Bundesgericht hat diesen Entscheid des Zürcher Migrationsamts bestätigt.
Grundlage dieser Sanktionspraxis sind zwei Bestimmungen im Ausländer- und Integrationsgesetz, wonach Personen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, ihre Niederlassungsbewilligung oder sonstige Bewilligungen verlieren; allerdings nur, so die Praxis, wenn sie dies selber verschulden. Der Begriff des «Selbstverschuldens» wird aber, sagt Babak Fargahi, sehr breit interpretiert. Der Nachweis, dass die Sozialhilfeabhängigkeit «nicht selbst ver-
schuldet» ist, gelingt oft allein durch einen Erwerbsunfähigkeitsnachweis der Invalidenversicherung IV; die IV wiederum ist in ihrer Praxis so streng, dass der Beweis kaum je gelingt, und wenn, dann nur nach einem langwierigen Verfahren.
Vom Opfer zum Opfer
Die Bestrafung von Sozialhilfeabhängigkeit mit einer Ausweisung hat Familien auseinandergerissen, sie hat dazu geführt, dass Menschen, die in der Schweiz aufgewachsen sind, in ein «Ursprungsland» deportiert wurden, in dem sie noch nie gelebt haben. Diese Praxis ist ein Exempel für das, was Loïc Wacquant als «Strafapparat des Staates» bezeichnet, der nicht nur übers Strafrecht wirkt, sondern auch über das Sozialrecht. Gemäss Marc Spescha, Rechtsanwalt und emeritierter Professor für Migrationsrecht an der Universität Freiburg, ist die Schweiz mit dieser Praxis «unrühmliche Spitzenreiterin». Viele Menschen ohne Schweizer Pass, ergänzt der Rechtsanwalt Babak Fargahi, verzichten auf den Gang zur Sozialbehörde und ziehen die «absolute Bedürftigkeit dem Risiko einer Ausweisung vor». Samira Marti, Nationalrätin der SP, reichte im Juni 2020 die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» ein und postulierte, dass es «Ausländer*innen» nach über zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz möglich sein soll, «unverschuldet» Sozialhilfe zu beziehen, «ohne direkt mit einer Wegweisung konfrontiert zu sein»; nur wer «mutwillig» von der Sozialhilfe profitiert oder abhängig bleibt, soll mit einer Sanktion rechnen müssen. Beide Räte gaben der Initiative Folge, allerdings hat die staatspolitische Kommission, die über die Neufassung der Artikel im Ausländer- und Integrationsgesetz beriet, die Initiative mehr als nur abgeschwächt. Sie kippte in ihrem Entwurf nicht nur die zehnjährige Frist, sie ersetzte auch den Begriff «mutwillig» durch «eigenes Verschulden», womit die bisherige Praxis zementiert würde.
Armut soll, so die Haltung der Kommission, weiterhin bestraft werden können. Nicht nur bettelnde Menschen oder Menschen mit niedrigem sozialem Status und einer psychischen Erkrankung oder Menschen ohne Schweizer Pass, die in die Armut abrutschen, erfahren die Strafkeule; die Keule trifft auch Opfer von Missbrauch und Menschenhandel, vor allem Sexarbeiterinnen.
Géraldine Merz, Fachmitarbeiterin bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ in Zürich, weiss von vielen Fällen, bei denen Sexarbeiterinnen in einen Teufelskreis von Zwang, Bussen, Ausweisung und Existenzverlust geraten. Sie erzählt von einer Sexarbeiterin, die von ihrem Zuhälter zum Anschaffen ausserhalb des städtischen «Strichperimeters» gezwungen wurde, dafür mehrfach Bussen aufgebrummt bekam, sich am Ende mit der Wegweisung aus der Schweiz konfrontiert sah. Zwar wurde sie im Strafverfahren gegen den Zuhälter als Opfer von Menschenhandel anerkannt, dann aber verurteilt, weil sie sich illegal in der Schweiz aufgehalten habe.
Auch dies ein klassischer Fall von «Crim migration», dem Zusammenspiel von strafrechtlichen und migrationsrechtlichen Sanktionen, die betroffene Personen direkt in die Existenzlosigkeit katapultiert.
Géraldine Merz findet es stossend, dass in diesem und in anderen Fällen «Betroffene als Opfer von Menschenhandel aner-
kannt, dann aber doch sanktioniert werden». Sie plädiert dafür, dass die Schweizer Behörden endlich das Prinzip des «NonPunishment» der Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel ernst nehmen und anwenden. «Non-Punishment» bedeutet, dass Opfer für ihre rechtswidrigen Handlungen generell nicht bestraft werden dürfen, wenn sie dazu gezwungen wurden. Im Übrigen fordert das FIZ, dass dieser Grundsatz nicht nur für Opfer von Menschenhandel gelten solle, sondern auch für «besonders verletzliche Personen oder in grosser Prekarität lebende Menschen». Es brauche eine «explizite Verankerung des Non-PunishmentPrinzips» im Schweizer Recht. Angenommen, das Prinzip käme wirklich zur Anwendung: Auch der junge Mann vor der Migros, der seine Armut durch Betteln kundtat, er sässe vielleicht noch da; wäre nicht bestraft worden für sein Dasein, nicht ausgewiesen, nicht ausgegrenzt, sondern anerkannt. Als einer von vielen, die auch nicht anders können.
Nicht nur Menschen mit niedrigem sozialem Status oder ohne Schweizer Pass erfahren die Strafkeule, sie trifft auch Opfer von Missbrauch.
Digitalisierung Nirgendwo wird so wenig mit Bargeld bezahlt wie in Schweden. Was bedeutet das für Menschen, die prekär leben und darauf angewiesen sind?
TEXT LUCA WIGGERS FOTOS EMELIE ASPLUND
Vasile ist müde. Auf eine Krücke gestützt, humpelt der 60-Jährige durch den Göteborger Hauptbahnhof. Ab und an kann er aus einem Mülleimer eine Pfanddose herausfischen. Für jede Dose bekommt er eine schwedische Krone – das sind acht Rappen. Der Rumäne geht auf eine Gruppe Reisender zu und bittet sie um Kleingeld. Sie hätten nichts Bares, sagt einer von ihnen. Vasile nickt, als habe er die Antwort erwartet, und zeigt auf ein Schild mit der Aufschrift «Bankomat» ein paar Meter hinter ihm. Er weiss genau, wo die letzten elf Geldautomaten im Göteborger Zentrum stehen. Die Gruppe hat jedoch wenig Lust, extra für Vasile Geld abzuheben.
Vasile tritt aus dem Bahnhof und humpelt in die gegenüberliegende Unterführung. Hier lässt er sich auf seinen Schlafplatz sinken: zwei Kissen, eine dünne Stoffdecke. Er beginnt, die Münzen in seinem Becher zu zählen. Acht Kronen – umgerechnet knapp 70 Rappen. «Es wird immer weniger», sagt Vasile. Schweden gilt als Vorreiter der bargeldlosen Gesellschaft – auch wenn die Zentralbank in ihrem aktuellen Zahlungsbericht 2024 betont, dass Bargeld unverzichtbar sei. Stromausfälle und Cyberangriffe würden digitales Bezahlen verwundbar machen. Laut dem Bericht erfolgen mittlerweile mehr als 80 Prozent aller Transaktionen digital – per Karte oder mit der App «Swish». Mit der lässt sich in Echtzeit Geld überweisen und, anders als bei Pay-
pal, direkt aufs Konto. Mehr als acht Millionen Schwed*innen nutzen Swish. 2012 wurde die App von Banken entwickelt. Doch nicht alle können sie verwenden – nur wer ein schwedisches Konto und eine Telefonnummer besitzt.
Für Menschen wie Vasile ist das eine unüberwindbare Hürde. Um ein Konto zu eröffnen, braucht er eine Koordinierungsnummer von der Steuer- und Meldebehörde. Die bekommt Vasile jedoch nur, wenn er einen Arbeitsvertrag und eine Meldeadresse vorweisen kann. Doch wegen fehlender Sprachkenntnisse und seines schlechten Gesundheitszustands fand er keinen Job. Seine Hoffnung auf ein besseres Leben in Schweden ist zerplatzt.
«Es wäre leichter für mich, wenn ich Swish hätte», sagt Vasile. Er steht auf und greift nach der Tüte mit den Getränkedosen. Wenigstens im Supermarkt bekommt er noch Geld bar auf die Hand, wenn er das Pfand abgibt. Das nützt ihm aber nicht überall etwas. Schilder mit der Aufschrift «Vi tar ej emot kontanter» (auf Deutsch: «Wir akzeptieren kein Bargeld») gehören zum Stadtbild. Die meisten Cafés, Bäckereien, Restaurants und Kleiderläden nehmen ausschliesslich Karte, Apple- und Google Pay oder Swish an. Tickets für Busse und Strassenbahnen bekommt man bei Barzahlung nur noch in ein paar Läden. Zu den wenigen, die noch Bargeld akzeptieren, gehören grosse Supermarktketten und die Busunternehmen, die Fahrten ins EU-Ausland wie Rumänien anbieten.
«Sorry, kein Bargeld», hört Lilica immer wieder von den Passant*innen an ihrem Platz in der Innenstadt von Göteborg.
Lakos verkauft das Strassenmagazin Faktum, über den QR-Code können die Kund*innen es via Swish bezahlen.
Die Stadt erfasst nicht alle Menschen, die auf Göteborgs Strassen leben müssen. Laut Stadtverwaltung lebten vergangenes Jahr 276 Erwachsene und 130 Kinder mit Sozialleistungsansprüchen in Notunterkünften oder obdachlos in Göteborg. Ausländer*innen etwa aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien, die nicht dauerhaft in Schweden sind und keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, werden nicht gezählt. Was nicht heisst, dass es sie nicht gibt. Vor vielen Supermärkten oder an Strassenbahnhaltestellen sitzen Menschen, die Passant*innen um Geld fragen –die meisten stammen aus Osteuropa.
Ohne Bargeld kein Grund zu bleiben
So auch Lilica. Sie steht meist vor einem Alkoholgeschäft an einer belebten Hauptstrasse. Die 45-Jährige ist in Göteborg, um Geld für ihre drei Töchter zu verdienen. Ihr geht es ähnlich wie Vasile am Hauptbahnhof. «Die Menschen sagen immer das Gleiche: ‹Sorry, kein Bargeld›», sagt sie. Und auch Lilica weiss, wo der nächste Geldautomat steht. «Aber da geht niemand extra hin.» Wenn ihr doch jemand Bargeld in ihren Becher werfe, seien das ältere Menschen. Die hätten manchmal noch etwas dabei. Lilica schläft in einer Notunterkunft der Räddningsmissionen, einer Göteborger Hilfseinrichtung, die von der Stadt bezuschusst wird. Die Unterkunft bietet im Winter siebzig Betten für Menschen, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das restliche Jahr über sind es fünfzig Betten, meist in Viererzimmer unterteilt. Das Prinzip ist ähnlich wie im Hamburger Winternotprogramm: Tagsüber müssen die Menschen die Unterkunft verlassen. Am Morgen trifft sich Lilica mit Bekannten bei einer Frühstücksausgabe, zehn Gehminuten von dem Alkoholgeschäft entfernt, vor dem sie tagsüber bettelt. In der Sozialeinrichtung kennt man sich. Dreissig Menschen sitzen an diesem Morgen Anfang Februar auf Sofas und um die kleinen Tische herum. Sie essen, unterhalten sich. Manche kommen, um Wäsche zu waschen, zu duschen oder um nach warmer Kleidung zu fragen. An einigen Tischen sitzen Sozialarbeiter*innen. Sie helfen bei Problemen mit Handys oder Fragen zu Papieren. Einer von ihnen ist Cristian Timiras. Der 45-jährige Sozialarbeiter beobachtet schon länger, dass es Menschen auf der Strasse schwer haben und kaum ein Bankkonto eröffnen können. Er ist sich sicher: «Dass hier das Bargeld immer weiter abgeschafft wird, ist der Hauptgrund dafür, dass bettelnde Menschen Schweden verlassen müssen.»
Das schwedische Institut für Menschenrechte betont in seinem Jahresbericht 2024, dass Migrant*innen und Obdachlose dadurch ausgegrenzt werden, dass sie häufig kein Bankkonto eröffnen können. Sozialarbeiter Timiras vermisst eine politische Debatte: «Es müsste jetzt darüber diskutiert werden, ob Schweden bettelnde Menschen überhaupt hier haben will.» Die schwedische Minderheitsregierung schlägt nämlich, unterstützt von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, einen noch härteren Kurs ein: Sie hat einen Sonderermittler damit beauftragt, ein landesweites Bettelverbot zu prüfen. Immer wieder hätten Lilica und andere danach gefragt, ob es nicht irgendeine Möglichkeit für sie gebe, einen «Swish»-Account zu bekommen, sagt Timiras. Doch ohne Bankkonto lässt sich diese App nicht einrichten; und um ein Bankkonto zu eröffnen, braucht man in Schweden eine Arbeitsstelle. Stattdessen würden sich die Betroffenen gegenseitig helfen. Timiras nennt als Beispiel eine Rumänin, die einen Job als Reinigungskraft bekommen hat. Es hat mehrere Wochen gedauert, bis sie eine Koordinierungsnummer erhalten hat und ein Bankkonto eröffnen konnte. Jetzt hat sie auch die Bezahlapp und verleiht die Swish-Nummer an ihre Schwester, die immer noch betteln geht. So kann sie Passant*innen die Nummer zeigen, damit diese ihr Geld «swishen» können. Sie selbst hat keinen eigenen Zugang und bleibt auf die berufstätige Schwester angewiesen, die ihr dann das Geld in bar ausbezahlt. So wie diese Geschwister würden einige vorgehen, sagt Timiras. Doch sie seien die Ausnahme, da die meisten Osteuropäer*innen keinen Job finden und entsprechend keinen Swish-Account bekommen.
Zehn Strassenbahnminuten von der Räddningsmissionen entfernt hat das Göteborger Strassenmagazin Faktum seinen Sitz. An diesem Montagmittag ist es ruhig in den hellen Geschäftsräumen. Menschen wie Vasile und Lilica trifft man hier nicht an; ihr Englisch oder Schwedisch reicht zum Verkauf des Magazins nicht aus. Dafür kommt Lakos die Treppe des Eingangsbereichs hoch. Der Magazinverkäufer reibt seine Hände aneinander, um sie zu wärmen. Sie sind blau vor Kälte. Vertriebsleiter Christian Jansson, der hinter dem Verkaufstresen steht, begrüsst ihn. Um den Hals trägt Lakos zwei laminierte Karten: seinen Verkaufsausweis und einen QR-Code. «Der ist für Swish», erklärt er in gebrochenem Englisch. Seit acht Jahren hat das Strassenmagazin eine Swish-Nummer für die Verkaufenden. Die Kund*innen geben beim Magazin-
kauf die Verkäufer*innennummer in einem Textfeld in der App an. So weiss Faktum, wessen Geld auf seinem Konto eingeht. Das Strassenmagazin zahlt den Verkaufenden das Geld in bar aus.
Der Faktum-Vertriebsleiter ist zufrieden mit dem Magazinverkauf über Swish. Bereits vor vierzehn Jahren hatte das Strassenmagazin damit begonnen, an einem bargeldlosen System zu tüfteln: 2011 führte es eine erste App ein, einige Verkäufer*innen waren auch mit Kartenlesegeräten unterwegs. Doch nichts habe gut funktioniert, sagt Jansson. «Swish dagegen ist einfach, das nutzt inzwischen jeder hier. Alle wissen, wie es läuft.» Er ist sich sicher: «Hätten wir kein Swish, gäbe es uns nicht mehr.»
Für jede Transaktion eine Gebühr
Doch die digitale Bezahlmethode hat auch ihre Tücken. Anders als bei Privatnutzer*innen nimmt die Bank auch von Sozialunternehmen wie Faktum für jede Swish-Transaktion eine Gebühr. Faktum hat eine spezielle Vereinbarung mit der Bank und zahlt bislang nur ein Drittel der üblichen 2,50 Kronen, um die 21 Rappen. Jansson hat jedoch Angst, dass diese Kosten steigen könnten. Zudem werde es für Faktum immer schwieriger und teurer, an das Bargeld zu kommen, das sie den Verkäufer*innen auszahlen. Denn in Schweden gibt es nur noch eine einzige Transportfirma, die Geschäfte und Unternehmen mit Bargeld beliefert. Für viele Schwed*innen ist es ganz normal, kein Bargeld mehr zu besitzen. «Manchmal fühle ich mich richtig mies, wenn ich Bettelnden nichts geben kann», sagt Faktum-Vertriebsleiter Jansson. «Unsere bargeldlose Gesellschaft schliesst auf jeden Fall Menschen aus.»
Das findet auch Johanna Bergmann. Die 58-Jährige Schwedin verleiht deshalb seit sechs Jahren ihre Swish-Nummer an die Rumänin Maria, die auf der Strasse um Geld bittet. Durch ihre Swish-Nummer sei es für sie viel leichter, Geld für ihre Kinder und Enkelkinder in Rumänien zu verdienen, sagt Bergmann. Auf ihrem Heimweg kommt sie fast täglich am Supermarkt in der Innenstadt vorbei, vor dem Maria sitzt. Die beiden können sich auf Schwedisch unterhalten, weil die Rumänin die Landessprache inzwischen beherrscht. «Sie ist wie eine Freundin für mich geworden», sagt Johanna Bergmann. Die Idee, Maria ihre Swish-Nummer benutzen zu lassen, kam ihr, als sie das bei einer anderen Person sah. Die habe neben ihrem Becher für Münzspenden auch ein Schild
mit einer Swish-Nummer aufgestellt. «Eine simple, aber grossartige Idee», findet sie. Sie kenne aber niemanden, der wie sie die Swish-Nummer verleiht.
Bergmann hat noch nie Probleme mit ihrer Bank bekommen. Doch sie kann sich vorstellen, dass viele Angst davor haben und ihre Swish-Nummer deshalb nicht weitergeben. Ihre Freundin Maria wisse, dass sie weiterhin nach Bargeld fragen muss und nicht zu viel Geld via Swish verdienen darf, damit das Geldinstitut keine Geldwäsche vermutet. Allerdings verdiene Maria meist nur um die 500 Kronen (rund 42 Franken) im Monat, sagt Bergmann. Sie weiss, dass Maria und deren Familie auf ihre Unterstützung angewiesen sind. Bergmann muss sie regelmässig treffen, um ihr die Einnahmen in Form von Bargeld zu geben. «Aber es tut mir doch nicht weh», sagt sie und zuckt mit den Schultern. «Es ist leicht für mich, ihr meine Swish-Nummer zu leihen.» Johanna Bergmann ist überzeugt: «Viel mehr Menschen sollten das tun.»
Mit freundlicher Genehmigung von HINZ&KUNZT / INSP.NGO
Und bei uns?
Die Schweiz liebt das Bargeld. Das jedenfalls zeigt eine Umfrage von 2024: 85 Prozent der Befragten finden Zahlen mit Bargeld grundsätzlich eine gute Sache. In der Realität werden allerdings bereits jetzt über 60 Prozent der Zahlungen bargeldlos getätigt, Tendenz steigend. Das betrifft offenbar auch kleinere Beiträge und bekommen somit auch Surprise-Verkaufende zu spüren. Immer mehr Menschen fragen bei ihnen nach einer bargeldlosen Variante, um das Strassenmagazin zu erwerben. Tatsächlich ist es inzwischen bei etwa 60 Prozent der Verkaufenden möglich, per Twint zu bezahlen. Das Angebot ist allerdings freiwillig, die Verkaufenden entscheiden selber, ob sie das möchten. Zumal für einen Twint-Account ein Bankkonto benötigt wird sowie ein Smartphone oder eine Email-Adresse, was nicht alle Verkaufenden haben. Zudem kann dieses Zahlsystem oder allgemein der Umgang mit Digitalem Nutzer*innen überfordern. Surprise entwickelt derzeit ein bargeldloses System, das die genannten Schwierigkeiten ausräumt und es somit allen Verkaufenden ermöglichen soll, das Strassenmagazin bargeldlos anzubieten. KP
Sozialarbeiter Cristian Timiras (unten) beobachtet schon länger, dass Menschen auf der Strasse kaum ein Bankkonto eröffnen können. Johanna Bergmann (rechts) leiht ihre Swish-Nummer einer Rumänin.
TEXT DIANA FREI ILLUSTRATION PIRMIN BEELER
CARGO-TRAM Ich steige mit fünf Duschvorhangstangen unter dem Arm ins Tram, dazu ein Plastikbaldachin für ein Ikea-Kinderbett und eine Chicco-Kinderwippe, deren Flecken auf dem Bezug ich nicht mehr interpretieren kann. Ich habe die Wippe vor fünfzehn Jahren zuletzt benutzt. Karotten- oder Broccolibrei. Es ist Dienstag, 18. März, zwischen 15 und 19 Uhr, das Cargo-Tram steht jetzt gemäss der App «Entsorgung + Recycling» der Stadt Zürich beim Letzigrund.
Die Entsorgung ist ein Akt der Befreiung. Aber in diesem Fall auch ein Outing: Seht her, ich gehöre zu denen, die ihren Mist zu Fuss entsorgen. Es gäbe die Recyclinghöfe, bei denen man elegant mit dem Auto vorfahren und gegen eine Recyclinggebühr alles aufs Mal loswerden könnte. Ich gebe zu, oft fühle ich mich nicht ganz erwachsen, weil ich nicht Auto fahren kann. Ein Glück, dass das Cargo-Tram eh ausschliesslich autofrei funktioniert.
Auf der Tramfahrt zum Letzigrund weicht mir schon zu Beginn eine Frau erschreckt aus. Es gäbe genügend Platz zum Ausweichen, der strafende Blick wäre nicht nötig. Aber ich ahne: Es ist ein soziales Urteil, das sie da innerlich fällt. Menschen, die Dinge mit sich herumschleppen, wecken Misstrauen, Gefühle der Abgrenzung. Wer hat denn schon seinen halben Hausrat dabei? Hässliche, kaputte Sachen.
Ich meine, es gäbe Orte auf dieser Welt, in denen es solche Szenen im öffentlichen Verkehr öfter zu sehen gibt, jedenfalls bin ich andernorts schon eingequetscht zwischen Taschen, Hühnern und Menschen
man seine persönliche Lebenssituation nicht mit sich herum. Vier Stationen, das ist machbar. Mit jeder einzelnen, die mich dem Letzigrund näherbringt, fühle ich mich innerlich bereits ein bisschen normaler; noch eine Minute, dann werde ich zu einer Gruppe überzeugter ÖV-Benutzer*innen gehören, die alle ohne Auto entsorgen. Mir fällt die Wippe runter, ich schiebe sie mit dem Fuss von der Eingangstür weg. Zypressenstrasse, kurz vor dem Letzigrund. Leichte Sorge, dass ich mich im Datum getäuscht habe. Klappt alles, werde ich schon bald wieder zu einem Teil der unauffälligen Mehrheit. Nun darf ich aussteigen.
Ein Mann mit einer riesigen Holzplatte in den Händen kommt mir entgegen. Seine Platte misst etwa 2 × 2 Meter, er kämpft gegen ihr Gewicht und gegen die Physik, Kippwinkel, Erdanziehung, Dichte und Widerstand. Er sieht seltsam aus mit seiner Holzplatte, bewegt sich seltsam, wird seltsam angeguckt. Und er sagt zu mir: «Schön zu sehen, dass es noch andere gibt ausser mir.» Ich sage: «Genau dasselbe denke ich auch jedes Mal.»
Diesmal steht kein Tram da, dafür ein Abfuhrwagen, das kommt vor, wenn Trams in Reparatur sind. Man wird liebevoll hingelotst, ein Absperrband gibt einen kleinen Parcours vor, fast wie in einer Kunstinstallation, ich denke kurz an Thomas Hirschhorn, gehe vorbei an einer Auslage mit Gläsern und Statuetten – dem Tauschplatz, den Entsorgung + Recycling Zürich (ERZ) eingerichtet hat. Ein paar Leute sehen sich die Sachen sorgfältig an, plaudern miteinander. Irgendwie kann ich mir nicht vor-
Aber ich will ERZ nichts Falsches unterstellen und frage später bei der Medienstelle nach. Ich lag falsch. «Am Tauschplatz unserer Entsorgungstrams wechselten im Jahr 2024 pro Durchführung knapp 80 Objekte den*die Besitzer*in, im Jahr 2025 (Januar bis März) waren es durchschnittlich 115 Gegenstände. Gegenstände, die am Schluss noch übrig sind, nimmt Entsorgung + Recycling Zürich zum nächsten Standort mit. Erst wenn die Objekte mehrfach keine*n Abnehmer*in gefunden haben, entsorgt ERZ sie fachgerecht.» Und weiter: «Der Tauschplatz dient dazu, Gegenstände vor der Entsorgung zu retten und die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass nicht alles, was selbst nicht mehr gebraucht wird, Abfall ist.» Den letzten Halbsatz muss ich mir merken.
Ich folge nun dem Mann mit der grossen Holzplatte, vorne stehen zwei Mitarbeiter der Entsorgung, sie nehmen beflissen und stillschweigend das Material entgegen. Auch das ist eine schöne Begegnung, die Rollen sind klar, die Situation hat eine wohltuende Klarheit und der Akt der stillschweigenden Annahme vermittelt das Gefühl: Ich bin hier richtig. Angekommen bei den anderen Menschen, die kurzfristig aus dem Rahmen gefallen sind und auf dem Weg hierher sicher auch ein bisschen schräg angeguckt wurden.
In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder
«Schaut
Literatur Der Schweizer Autor Sunil Mann, bekannt für seine Krimis, beschreitet mit einem Erzählband neue Wege.
Ein Gespräch über Tabus – und das kritischste Publikum der Welt.
INTERVIEW MONIKA BETTSCHEN
Sunil Mann, Sie sind bekannt geworden mit Ihren Krimis, zuerst jene mit dem Privatdetektiv Vijay Kumar, danach folgte die Greco/Berisha-Reihe. In Ihrem Erzählband «Bleiben tun sie nie» gibt es keine Fälle aufzuklären, dafür aber verpasste Chancen und verdrängte Gefühle, die das Leben der Figuren auf den Kopf stellen. Wieso suchten Sie den Wandel in der Erzählweise?
Sunil Mann: Mit dem Erzählband schliesst sich für mich ein Kreis, denn ich brachte mir das literarische Schreiben mit Kurzgeschichten und Erzählungen bei. Doch neben dem Anstoss für einen Wandel muss man auch die Zeit dafür haben. Bisher erschien jedes Jahr ein neuer Krimi. Das bedeutete viel Arbeit, aber auch Planbarkeit. Ab Mitte 40 spürte ich, dass ich die nächsten zwanzig Jahre so weitermachen könnte – aber nicht mehr wollte. Kommt hinzu: Beim Schreiben eines Krimis steht der Plot im Zentrum, also was zu welchem Zeitpunkt geschieht. Davon wollte ich mich lösen. Auch die Figuren in «Bleiben tun sie nie» bemühen sich, sich weiterzubewegen. Manchmal mit Erfolg und manchmal nicht.
Es scheint auch inhaltlich ein Zurückkommen zu sein: Die Erzählungen spielen auf dem Land. Sie selbst sind in Spiez aufgewachsen. Ja, als Junge fand ich das schön, und es gefällt mir auch jetzt noch. Doch oft heisst es dort: Darüber spricht man nicht. In den Erzählungen geht es um die Last von Ungesagtem, bis Dinge geschehen, die ein weiteres Aufschieben einer Aussprache infrage stellen. Erst als ich mit 19 Jahren nach Zürich zog, erlebte ich, dass man offen über Probleme reden kann. In Bezug auf das Schreiben war schnell
klar, dass sich für Erzählungen ein kleiner Kosmos anbietet, da Kleinräumigkeit eine gute Leitplanke ist, innerhalb der sich die Handlung natürlich aus den gegebenen Umständen heraus entwickeln kann. Auf dem Land ist die soziale Kontrolle grösser, während man sich dieser in der Stadt ab einem bestimmten Alter entziehen kann. Doch abgesehen davon wollte ich Geschichten schreiben, die nichts mit mir zu tun haben. Ich wollte als Autor zurückstehen. Im Gegensatz etwa zu den Krimis mit Vijay Kumar, der wie ich indische Wurzeln hat.
In der Erzählung «April» versetzen Sie sich in ein 14-jähriges Mädchen, das die neue Freundin ihres Vaters ablehnt und zu spät merkt, dass diese Frau gar nicht so übel gewesen wäre.
In allen Erzählungen findet sich diese Art von Tragik wieder. In diesem Beispiel fand ich den Versuch spannend, mich in eine solche Perspektive hineinzuversetzen: auf der einen Seite noch ein trotziges Kind, auf der anderen Seite aber schon sehr abgeklärt. In dieser Erzählung zeigt sich, dass junge Menschen generell mehr mitbekommen, als es vielen Erwachsenen bewusst ist.
Etwas, das Sie sicherlich oft erleben, wenn Sie in einer Schule eine Lesung halten?
Genau. Ich habe neben den Krimis auch Kinder- und Jugendbücher geschrieben. In «Totsch» etwa geht es um einen Jungen, der sich in einen anderen Jungen verliebt. Als schwuler Mann erlebte ich selbst, dass es hierzu kaum Geschichten gab. Das Thema ist auf dem Schulhof immer noch ein Tabu. Im anderen Jugendbuch, «Ganz sicher
nicht», geht es um Rassismus und Identitätsfindung. Auch dies ist eine Perspektive, die ich kenne. Diese Themen zeigen sich nicht bereits ab der ersten Seite. Die Jugendlichen sollen unvoreingenommen zu lesen beginnen und allmählich damit in Berührung kommen. Manche kommen nach einer Lesung zu mir und sagen, dass sie es gut finden, dass es diese Bücher gibt. Solche Reaktionen berühren mich.
Sind Jugendliche ein kritisches Publikum?
Oh ja, das kritischste, das es gibt! Junge Menschen merken sofort, wenn du nicht hundert Prozent präsent bist. Dann fangen sie an zu gähnen, blöd zu tun, mit den Füssen zu scharren. Das ist eine gute Lebensschule. Vor ihnen muss man absolut ehrlich und authentisch sein, denn sie sind unbestechlich.
Mit Ihrer Lebensgeschichte strahlen Sie aber schon eine hohe Glaubwürdigkeit aus. Ich bin eine neutrale Person von ausserhalb der Schule und gehe nach einer Lesung auch wieder. Ich bin dunkelhäutig, schwul und bei Pflegeeltern aufgewachsen, das gibt mir eine gewisse Street Credibility. Etwa, wenn ich erzähle, wie ich früher am Zoll oder im Ausgang von der Polizei herausgefischt wurde, noch bevor man von Racial Profiling sprach. Betroffene sollen hören, dass sie mit solchen Erfahrungen nicht alleine sind. Denn Diskriminierung ist mit Scham behaftet. Und weisse Kids erfahren so, dass es nicht okay ist, bestimmte Dinge zu sagen. Oft werde ich von Schulen gebucht, die eine grosse Diversität in ihren Klassen haben. Und auch viele Schüler*innen, die aus eigenem Antrieb kaum ein Buch in die Hand nehmen würden. Die sind aber keineswegs dumm, sondern haben selber viel zu erzählen.
Ein Buch, das selbst manchen erwachsenen
Leser*innen zu drastisch war, wie etwa einige Online-Kommentare zeigen.
Ja, aber viele Schüler*innen in der Stadt haben schon einmal Prostituierte gesehen, und es interessiert sie, warum sie dieser Arbeit nachgehen. Es ist wichtig, ihnen zu sagen, dass die allermeisten nicht freiwillig hier sind.
Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn wir auf solche Stoffe derart heftig reagieren?
«Der Schwur» ist eine Geschichte, die in der Realität hier, bei uns, verankert ist. Solche Dinge geschehen jeden Tag, das ruft mehr Unbehagen hervor als eine rein fiktive Geschichte. Es gibt heute ein verbreitetes Bedürfnis nach Eskapismus und Wohlgefühl –und damit auch nach Krimis, die sich heimelig anfühlen. Das weckt den Rebellen in mir, der ruft: Schaut mal aus dem Fenster raus!
«Ich bin dunkelhäutig und schwul, das gibt mir eine gewisse Street Credibility.»
FOTO: EKE MIEDANER
SUNIL MANN, 52, wuchs als Sohn indischer Einwanderer*innen im Berner Oberland auf. Der Autor erhielt u.a. den Zürcher Krimipreis und den Friedrich-Glauser-Preis.
Krimis und Jugendbücher werden im Literaturbetrieb oft weniger ernstgenommen als Romane, Novellen, Lyrik. Welche Gründe sehen Sie dafür?
Erleben Sie das auch als brachliegendes Potenzial in diesen Klassen? Es ist manchmal so, als würde ich einen talentierten Handwerker vor mir haben, dem aber die Werkzeugbox fehlt, um loslegen zu können. Wegen eines fremd klingenden Namens oder auch wegen ungenügender Deutschkenntnisse. Der Lebensweg scheint vorgespurt zu sein, das ist eine tragische Realität.
In Ihren Büchern werden die Jugendlichen auch mit relativ viel ungeschminkter Realität konfrontiert. Ist das zumutbar?
Mein Eindruck ist, dass Jugendliche vieles verarbeiten können. Vorausgesetzt, komplexe Themen werden gut erklärt und in den Kontext eingebettet. Manchmal lese ich vor über 14-Jährigen aus meinem Krimi «Der Schwur», in dem es um Menschenhandel geht.
Es gibt eine Tendenz, diese Genres kategorisch abzulehnen, denn es haftet ihnen der Stempel der Bahnhofsliteratur an, obwohl Krimis viele gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen. Mich haben die Krimis von Raymond Chandler und Jakob Arjouni geprägt, die problembeladenen Ermittler und die Lebensnähe darin. Ich habe Hoffnung, weil bei Literaturveranstaltungen und in der Förderung eine neue Generation von Entscheidungsträger*innen nachrückt. Und es gibt Schulen, die Krimis auf die Liste der Schullektüre setzen. Da findet ein Wandel statt. Was den Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur betrifft: Jugendliche, auch aus bildungsfernen Schichten, sind die Leser*innen von morgen. Vorausgesetzt, man zeigt ihnen, dass Lesen cool sein kann und nicht nur etwas für privilegierte Kids.
FOTO: ZVG
Sunil Mann: «Bleiben tun sie nie», Erzählungen, Geparden Verlag Zürich, 2025.
Festival Beim «Tanzfest» wird der öffentliche Raum zur Bühne, so soll das breite Publikum mitgerissen werden.
TEXT GIULIA BERNARDI
Für viele Basler*innen mag der Weg von der Markthalle zum De-Wette-Park ein gewohnter Spaziergang sein; die Hauseingänge, Balkone und Fassaden hat man vermutlich schon oft an sich vorbeiziehen lassen – mit jemandem plaudernd oder alleine nachdenkend.
Mit dem Stadtspaziergang «À l’échelle», einem Stück, das auf Einladung von Station Circus gezeigt wird, nehmen acht Zirkuskünstler*innen den urbanen Raum als Ausgangslage, um neue Perspektiven auf die gewohnte Umgebung zu eröffnen. Das Stück wurde 2022 von der Cie Moost entwickelt und wird nun von den Zirkuskünstler*innen neu adaptiert. «Es bietet die Möglichkeit, anders in der Stadt zu verweilen», sagt Mirjam Hildbrand, eine der Leiter*innen von Station Circus. «Das Zusammenspiel von Architektur und Körper hat auch etwas Sinnliches an sich – und einen gewissen Schalk. Es gibt keine Bühnenmaschinerie, für das Publikum wird jeder Schritt, jeder Vorgang sichtbar.»
«À l’échelle» trägt Tanz und Zirkuskultur in den öffentlichen Raum und verbindet damit unterschiedliche Sparten miteinander, an denen bis heute klischierte Vorstellungen haften: Alternativ- oder Hochkultur, spektakulär oder elitär.
Universelle Sprache
Wie können wir mit unserer Umgebung in Beziehung treten?
Dieser Frage widmet sich auch die Cie Marchepied von Corinne Rochet und Nicholas Pettit. In der Performance «Les Fleurs sauvages», die in Morges, Yverdon-les-Bains, Bern und Poschiavo gezeigt wird, thematisieren fünf Tänzer*innen die Beziehung zwischen dem vermeintlich «natürlichen» und dem «urbanen» Raum. «Die Performance spielt mit der Idee, dass sich die Natur den Raum wieder aneignet», sagt Pettit und erwähnt eine Anekdote aus dem Alltag: In Städten brechen Pflanzen den Asphalt auf, bahnen sich ihren Weg selbst dort, wo man es am wenigsten erwarten würde. Rochet ergänzt: «Es geht um eine Aneignung, die mit Sanftheit geschieht – nicht durch Dominanz. Das ist auch ein politischer Akt.»
Die Ambivalenz von Fragilität und Stärke wird nicht nur im Titel der Performance deutlich, sondern auch im Kostümbild mit seinen opulenten, floralen Hüten. Begleitet wird die Performance von Vivaldis «Vier Jahreszeiten» – ein Stück, das in der barocken Ästhetik der Kostüme aufgegriffen wird und dem Publikum bekannt sein dürfte. Denn Zugänglichkeit spielt für Corinne Rochet und Nicholas Pettit eine grosse Rolle: Sei das in der Ausrichtung ihrer Compagnie – einer Plattform für junge Tänzer*innen – oder in ihrem künstlerischen Schaffen. «Ich verstehe Tanz als körperliche Sprache, die universell ist», sagt Rochet. «Um den Leuten
die Berührungsängste zu nehmen, organisieren wir vor den Performances jeweils ein Sharing oder einen Workshop», fügt Pettit mit einem Schmunzeln an, denn: «Am schönsten ist es, wenn die Musik schon lange nicht mehr läuft und die Leute immer noch tanzen.»
Unterwanderte Erwartungen
Das «Tanzfest» findet schweizweit statt, auch die Veranstaltungen von «Zürich tanzt», obwohl eigenständig organisiert, sind Teil davon. Auf dem Programm steht zum Beispiel die Performance «Make Your Body Your Machine» von Ernestyna Orlowska, die sich dem neoliberalen Druck unserer Zeit widmet. Mit einem grossen Just-Eat-Rucksack fährt Orlowska auf dem Trottinett durch den öffentlichen Raum – und spielt damit auf die prekären Arbeitsbedingungen der Gig Economy an, welche die Effizienz und den Einsatz der Arbeiter*innen zum vermeintlichen Erfolgsrezept erklärt. Diesen Rucksack nutzt Orlowska als «choreografischen Partner»: Sie lässt sich damit wiederholt gegen eine Wand fallen oder wirft ihn mit voller Kraft auf den Boden. Die Choreografie wirkt anstrengend, erinnert an skurrile Fitness- oder Martial-Arts-Übungen.
In ihrer Performance schlägt Ernestyna Orlowska den Bogen von der beruflichen in die private Sphäre; schliesslich haben auch dort Optimierungswahn und das Streben nach unerreichbaren Körperidealen längst Einzug gehalten. Das verdeutlicht auch der Titel «Make Your Body Your Machine», ein Spruch, den Orlowska dem Werbeartikel eines Fitnessstudios entlehnt hat: «Mich interessiert, wie wir unseren Körper für ein bestimmtes Ziel zum Werkzeug machen.» Gleichzeitig unterwandert sie ebendiesen Optimierungswahn. «Ich komme eher aus der bildenden Kunst und weniger vom Tanz. Entsprechend sind meine Bewegungen oft unbeholfen, nicht so kontrolliert, wie man es vielleicht erwarten würde.» Dieser subversive Humor zieht sich durch die gesamte Performance. Am Schluss sitzt Orlowska verschwitzt und ausser Atem auf ihrem Just-Eat-Rucksack und isst gierig einen Teller Spaghetti. Im Hintergrund läuft der Song «Freed from Desire» von Gala – und Orlowska singt mit vollem Mund mit. Ein humorvoll ironischer Kommentar auf die Widersprüche unserer Gegenwart.
«Das Tanzfest», Mi, 14. Mai bis So, 18. Mai, diverse Spielorte in der Deutschschweiz, der Romandie und in Poschiavo. dastanzfest.ch
«Zürich tanzt», Do, 15. Mai bis So, 18. Mai. zuerichtanzt.ch
Architektur und Körper, Fragiles und Starkes, Selbstoptimierung und Ausbeutung – das «Tanzfest» bringt angeblich Unvereinbares zusammen.
Bühne Das diesjährige Festival «Wildwuchs» verhandelt die Macht der Sprache jenseits des Gesprochenen.
Am «Wildwuchs Festival» wird der machtvolle Begriff der «Muttersprache» in seine Einzelteile zerlegt: Muttersprache formt Identität, kann Zugehörigkeit und Community bedeuten, doch genauso bringt sie Abgrenzung mit sich. Wenn deine Muttersprache nicht mehr verstanden wird, bist du noch in ihr zuhause? Unter dem Begriff «m_other tongues» verhandeln Künstler*innen Sprache als soziale und politische Kategorie.
Jedes der drei Festival-Wochenenden widmet sich einem anderen Aspekt von Sprache, sei es als Tanz-, Musik-, Theater- und Performanceproduktion. So ringen die Künstler*innen unter dem Programmpunkt «_wortgeburt» mit dem Konzept der Sprache als erlernter Struktur und der Frage, wie diese die Realität formt: verstehen und verstanden werden als existenzielle Praxis. Da ist zum Beispiel die brasilianische Künstlerin Rubiane Maia. Für ihre «BookPerformance» greift sie auf autobiografische Texte zurück, erzählt auf intime Weise von ihrem Erleben als migrierte Frau in England und verknüpft dies mit ihren Mutterschaftserfahrungen.
Wie widerstandsfähig Sprache sein kann, wird unter dem Titel «körper-sprache» thematisiert. Das Geschichtenerzählen wird hier zur Körpersache, der Körper zum Ausdrucksmittel. Etwa bei den Künstlern Davi Pontes und Wallace Ferreira, die versuchen, mit ihrer Tanzperformance Repertório N.2 und N.3 die Gewalterfahrungen rassifizierter Körper zu verarbeiten und Tanz dabei gleichzeitig als Form der Selbstverteidigung verstehen.
Und unter dem Titel der «unmöglichen erzählungen» geht es um Fragen der Deutungshoheit. Darum, wer nicht spricht oder auch: nicht sprechen darf. Eine Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Denn das «Wildwuchs Festival» versteht sich auch als Raum, der Kunstschaffenden eine Bühne geben will, deren Werke womöglich keinem konventionellen Kunstverständnis entsprechen. Die etwa aufgrund struktureller Benachteiligung keinen Zugang zu Räumen haben, in denen Kunst in der Regel stattfindet.
Seit 24 Jahren bemüht sich Wildwuchs genau darum: Kunst zugänglich und inklusiv zu machen. Am Samstagnachmittag, 31. Mai, ist übrigens auch Surprise mit einem kleinen Beitrag vertreten: Protagonist Fabian Schläfli und Redaktorin Diana Frei sprechen auf der offenen Bühne über den Text «Die Welt lesen lernen», der im Oktober 2024 im Strassenmagazin erschienen ist. ADELINA
GASHI
«Wildwuchs Festival», drei Wochenenden zwischen 23. Mai und 8. Juni, Basel, diverse Spielorte, alternierende Festivalzentren: Roxy Birsfelden (Fr, 23. bis So, 25. Mai), Kaserne Basel (Fr, 30. Mai bis So, 1. Juni), Erle Perle (Fr, 6. bis So, 8. Juni). wildwuchs.ch
Zürich
«Krieg ohne Ende», Fotoausstellung, bis So, 11. Mai, Mi und So, 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa, 12 bis 21 Uhr, Sihlquai 125. photobastei.ch
Im April vor fünfzig Jahren endete der Zweite Vietnamkrieg. Die USA und ihre Verbündeten hatten bis dahin Millionen Liter hochgiftige, dioxinhaltige Herbizide als Chemiewaffe eingesetzt. Ziel: dem Gegner die Deckung nehmen und Nahrungsgrundlagen vernichten. Der Fotograf Roland Schmid erzählt auf 17 Wänden Einzelschicksale von Agent-Orange-Opfern und zeigt den Umgang mit Spätfolgen. Zudem berichten seine Bilder von den Millionen Landminen und anderen Blindgängern, die aus der Zeit des Krieges noch im Boden schlummern. Sie fordern auch heute noch, 50 Jahre danach, tote und verstümmelte Kinder, Männer und Frauen. Seit 1999 dokumentieren Schmid (der immer wieder auch für Surprise fotografiert) und der Journalist Peter Jaeggi die Folgen des massiven Einsatzes von Agent Orange und anderen Herbiziden. Manche der Pflanzenvernichtungsmittel schädigen auch das Erbgut. Heute werden im südostasiatischen Land laut vietnamesischen Quellen Kinder in der vierten Generation mit dioxinbedingten Geburtsgebrechen geboren. DIF
Basel
«Thomas Ott. From Scratch», Ausstellung, bis So, 22. Juni, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel –Zentrum für narrative Kunst, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch
Den Zeichner Thomas Ott (der auch Filmemacher und Musiker ist) kennt man von seinen düsteren, wortlosen Schwarz-Weiss-Comics, die sich mit einem Augenzwinkern unseren Urängsten widmen. Die humorvollen Erzählungen sind visuelle Meditationen über das Leben und den Tod. Die Retrospektive in Basel zeigt nun erste Schabkartonzeichnungen von ihm, unveröffentlichte Werke und auch makabre Rauminstallationen. Bekannt ge-
worden ist Ott 1989 mit «Tales of Error», Kurzgeschichten zwischen Horror und Humor, inspiriert von der französischen UndergroundComic- Szene der 1970er- und 80er-Jahre und von der Ästhetik des Film noir. Ott zeichnet die menschlichen Schattenseiten nach, indem er zum Messer greift: Er kratzt seine textfreien, aber bildgewaltigen Erzählungen aus schwarzem Schabkarton heraus. Da, wo er Material entfernt, wird Form sichtbar, Perspektive, Lichteinfall. DIF
St. Gallen
«Sofía Salazar Rosales: Imagínate vivir en Suiza y perderte esto» / «Majd Abdel Hamid: Resonances», Doppelausstellung, bis So, 18. Mai, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa / So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstr. 40. kunsthallesanktgallen.ch
Zweimal Materialpoesie in St. Gallen: Majd Abdel Hamid stickt geduldig gegen die schnelllebige Welt an. Der Künstler, 1988 in Damas-
kus geboren, arbeitet bewusst langsam an seinen kleinstformatigen Stickereien und Kreuzsticharbeiten. Es sind meditative Miniaturen, die auch die Zerbrechlichkeit mitreflektieren sollen, die politisch belastete Lebenswelten mit sich bringen. In St. Gallen, der Stadt mit ihrer Tradition von Stickerei und Textilindustrie, bekommen Majd Abdel Hamids Arbeiten natürlich einen speziellen Widerhall. Auch die ecuadorianische Künstlerin Sofía Salazar Rosales betont das Handwerkliche ihrer Arbeiten, allerdings nimmt sie noch ein paar Dinge mehr zur Hand als Tuch und Faden: Glasperlen, Paraffin, Epoxid, Bronzepulver, Polyesterharz, Glasfaser, Vinylkleber, Pflanzensamen, Bastelpapier, Kupfer, Beton, Farbpigmente, Eichenholz, Eisenspäne, Gips, Watte, Gaze oder Glasaggregat zum Beispiel – eine kaum zu bändigende Vielfalt an Materialien. Handwerkliches als widerständige Ästhetik, das ist die Idee. Ihre Ausstellung heisst auf Deutsch «Stell Dir vor, Du lebst in der Schweiz und verpasst das». Sie spielt auf ein in Lateinamerika beliebtes Meme an, bei dem absurde Situationen aus dem Alltag selbstironisch mit dem Klischee des wohlgeordneten Lebens in der Schweiz kontrastiert werden. Salazar Rosales’ Skulpturen und Installationen sind mit politischen und soziologischen Inhalten aufgeladen und hinterfragen Vorstellungen von Produktivität und Wert. DIF
Raum Zürich / Ostschweiz «Am Rande mittendrin –Erlebnisse eines SurpriseVerkäufers», Lesungen, Do, 15. Mai, 19.30 Uhr, Stadtbibliothek Opfikon; Mi, 21. Mai, 19.30 Uhr, Bibliothek Uznach; Fr, 30. Mai, 14.30 Uhr, Ref. Kirchgemeindehaus Mollis-Näfels; Do, 19. Juni, 19.30 Uhr, Bibliothek Brütten.
Wir wissen es: Urs Habegger hat ein Buch über seine Begegnungen beim Surprise-Verkauf in der Bahnhofunterführung in Rapperswil geschrieben, und es verkauft sich wie wild. Im Anschluss an seine Lesungen veranstaltet er nun jeweils eine kleine informelle Fragestunde über den Verkauf und über Surprise als soziale Institution. Beziehungsweise ergibt sich die Fragestunde wohl einfach bei einem aufgeschlossenen Zeitge-
nossen wie Habegger. Er erzählte uns jetzt, kürzlich habe ihm eine Frau gesagt, dass sie sich vor dem Besuch dieser Lesung nie getraut habe, eine*n Surprise-Verkäufer*in anzusprechen. Das hat sich nun offenbar geändert. Wir bedanken uns also bei Urs Habegger, unserem Sprachrohr bi de Lüüt. Gehen Sie hin und fragen Sie, was Sie sich bisher nie zu fragen trauten. DIF
Schaffhausen
«Catherine Leutenegger: Unnatural Studies», Kunstkästen, bis So, 22. Juni, verschiedene Standorte, siehe Plan online unter «Kunstkästen» bei der Vebikus Kunsthalle Schaffhausen. vebikus-kunsthalleschaffhausen.ch
Die Fotokünstlerin Catherine Leutenegger, 1983 in Lausanne geboren, experimentiert mit wissenschaftlichen Instrumenten und Technologien der erweiterten (Bild-)Realität. Das heisst: Ihre Fotografien entstehen ohne Kamera. Es sind Bilder von Naturelementen, die mit einem hochauflösenden Mikro-CT-Scanner aufgenommen wurden. Das Gerät (es steht an der technisch-naturwissenschaftlichen Hochschule EPFL in Lausanne) ermöglicht eine störungsfreie 3D-Reproduktion innerer und äusserer Strukturen und wird in Forschung und Wissenschaft vielseitig eingesetzt. Leuteneggers Werk «Unnatural Studies» nutzt das künstlerische und wissenschaftliche Potenzial dieser Technologie, die den Betrachtenden Einblicke ermöglicht, die über das menschliche Sehen hinausgehen. Die Schaffhauser Kunstkästen verhandeln 2025 das Thema Natur, acht Künstler*innen zeigen ihre Werke jeweils drei Monate lang in den zehn Kästen. DIF
Tour de Suisse
Surprise-Standort: Bahnhof
Einwohner*innen: 8957
Sozialhilfequote in Prozent: 4,6
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 45,8
Name: Die Stadt Aarburg verdankt ihren Namen dem Fluss Aare, im Wappen dagegen wurde aus der Aare ein Aar (Adler), weswegen dort neben der Burg ein Greifvogel abgebildet ist.
Aarburg: eines der schönsten Dörfer der Schweiz, so verkündet es die Flagge am durchaus schönen Gemeindehaus. Auch die Verwaltung ist in einem historischen Gebäude untergebracht, die hölzernen Fensterläden sind in den Farben des Wappens gelb und schwarz gestrichen. Dominiert wird der Ort von der gleichnamigen Burg, die wiederum auf den Fluss verweist, der vom Gemeindehaus her in wenigen Schritten erreicht ist. Hier wartet ein kleiner Park, ein von niedrigen Hecken umrahmtes Bänklein und ein Brunnen, gestiftet von der lokalen Apothekerfamilie. An einer Art Schuppen lehnt eine steinerne Figur, die den Teufel darstellt, der seinerseits einen kleinen Dämonen in den Armen hält. Teufelsstatuen sind eher selten – gut möglich, dass diese hier in Vollmond-
nächten Satanist*innen anzieht, die ihr heimlich oder lautstark huldigen. Zwischen Fluss und Strasse gibt es verschiedene kleine Geschäfte, unter anderem eine «Vintage World», die sich, dem Logo nach zu schliessen, vor allem den 1950er-Jahren widmet.
Zur Burg hinauf führt eine Treppe, die mit «Richtplatz» angeschrieben ist. Bei der Abzweigung ist ein Einfamilienhaus zu verkaufen. Der Burghang ist mit Bärlauch überwachsen, es duftet entsprechend. Aus dieser Perspektive ist die Anlage gewaltig, sie umfasst mehrere Gebäude aus verschiedenen Epochen. Gehisst ist die Kantonsfahne, während unten in einem Garten die Landesfahne flattert, indes der Rasenmäher knattert.
Der angekündigte Richtplatz ist leider nicht zugänglich. Eine vergitterte Türe versperrt den Weg. Für eine Begehung muss man sich anmelden, was früher, bei Hinrichtungen, kaum der Fall war.
Von der Aussichtsterrasse sieht man über ein Industriegebiet und moderne Neubauten bis zu den Alpen. Unten rauscht der Verkehr. War es beim Aufstieg eher kühl, so ist es hier, auf der Sonnenseite, schon fast heiss. Ein Paketlieferant hält vor dem Eingangstor der Festung, die als Jugendheim genutzt wird und nur samstags besichtigt werden kann. Umrunden lässt sie sich aber, bei einem engen Durchgang grüssen die Passant*innen freundlich.
Der Weg führt zur ebenfalls markanten Kirche hinauf, aber, darauf wird hingewiesen, nicht zur Festung. Es gibt Treppen, die nirgends hinführen, das Beklettern der Fels- und Mauerpartie ist ausdrücklich verboten.
Von der Terrasse aus bietet sich ein herrlicher Blick auf den Fluss, am Ufer ein Gebäude aus den 1970er-Jahren, das ein Ausflugsrestaurant sein könnte. Die Berge sind deutlich erkennbar und mithilfe der angebrachten Panoramatafel lassen sich Eiger, Mönch und Jungfrau identifizieren.
Die Kirche selber ist wider Erwarten geschlossen, dafür videoüberwacht –verständlich, ist doch der Vorgängerbau 1840 abgebrannt.
Zurück im Städtli, wo die Strassen teils kopfsteingepflastert, die Häuser alt und verwinkelt sind, stehen unter anderem ein mächtiges Wirtshaus, ein Hotel und eine Pizzeria. Dahinter verläuft eine schmale Strasse. Ein dort abgestelltes rotes Metallgestell, dessen Zweck nicht leicht zu erraten ist, darf gratis mitgenommen werden.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Automation Partner AG, Rheinau
SVIT Zürich
Stiftung Litar
Gemeinnützige Frauen Aarau
BODYALARM - time for a massage
Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich
Evangelisch-Lutherische Kirche Basel
Madlen Blösch, Geld & So, Basel
AnyWeb AG, Zürich
movaplan GmbH, Baden
Hagmann-Areal, Liegenschaftsverwaltung
Maya Recordings, Oberstammheim
Neurofeedback-tzk.ch, Kirchberg SG
TYDAC AG, Bern
CPLTS GmbH
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken
Holzpunkt AG, Wila
InhouseControl AG, Ettingen
ZibSec Sicherheitsdienst, Zürich
Mach24.ch GmbH, Dättwil
Martina Brassel - Grafik Design, Zürich
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Praxis Carry Widmer, Wettingen
Indian Summer AG, 8804 Au ZH
Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?
Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.
Spendenkonto:
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
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Fasse
Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.
Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.
Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen –und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden.
Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»
Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.
Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.
Unterstützungsmöglichkeiten:
1 Jahr CHF 5000.–½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–
1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.
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Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!
#597: Abstie g
«Jede
Beim Lesen des Artikels über Working Poor habe ich mich voll an uns erinnert (wir haben zwei Kinder, 10 und 12), genauso fühlen wir uns auch. Dauernd schlittern wir trotz Einkommen an der privaten Insolvenz vorbei. Wir bekommen trotz zweier Verdienste keinen Kredit. Wir waren als Familie noch nie im Urlaub in fremden Ländern, weil wir das Geld einfach nicht dazu haben. Jede Reparatur, jede grössere Anschaffung wird zum Hürdenlauf, jeder Urlaub innerhalb des Landes – wenn wir ihn uns denn überhaupt leisten können – muss sorgfältig überlegt sein. Auf jeden Fall möchte ich Eurem Artikel mein grösstes Lob rüberbringen und freue mich, dass auch Leute wie wir bei Euch ein offenes Ohr bekommen.
«Wer arbeiten will, findet Arbeit»
Der Artikel über die Working Poor hat mich furchtbar enttäuscht, denn die Beispielsfamilie ist wirklich schlecht gewählt, um dieses Thema zu repräsentieren, handelt es sich doch bei der Frau um eine Non-Working-Poor, eine Hausfrau, die aus eigenen Stücken seit Jahren auf eine Berufstätigkeit verzichtet und deshalb finanzielle Engpässe in Kauf nimmt und ihre Familie in die Lage bringt, in der sie nun ist. Eine Hausfrauenrolle ist kein Schicksalsschlag wie eine schwere Erkrankung oder eine schlimme Trennung und auf dem Arbeitsmarkt herrscht Fachkräftemangel. Wer arbeiten will und eine anständige Ausbildung hat, findet auch eine Arbeit. Ich finde es aus weltanschaulicher Sicht fragwürdig, ein selbst gewähltes, veraltetes und offensichtlich nicht tragfähiges Familienmodell als Grund für schwierige Lebensumstände hinzustellen. Der Artikel ist ausserdem ein Schlag ins Gesicht jeder tatsächlich vom Schicksal geschlagenen armen Person. Das Prinzip heisst Eigenverantwortung, und vielleicht sollten Sie lieber wieder über Leute schreiben, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen.
KATRIN AEGLER, o.A.
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«Nur
redet niemand darüber»
Ich möchte Euch von Herzen danken für den Beitrag über die Bieler Familie. In vielem habe ich mich wiedererkannt, auch wir (mein Mann und unsere drei Kinder) sind in einer ähnlichen Situation. Ich weiss, anderen geht es viel schlechter als uns und wir sind ja, wie es im Text auch heisst, nicht richtig arm. Aber was sich viele vielleicht nicht vorstellen können: Immer jeden Franken zweimal umdrehen, das macht einem Angst, man ist dauernd gestresst und hat das Gefühl, etwas falsch gemacht oder versagt zu haben. Dazu kommt die Scham und zugleich das Gefühl, man dürfe ja nicht jammern. Das alles ist sehr belastend. Ich glaube, es geht vielen so, nur redet niemand darüber. Umso mehr habe ich mich «gefreut», so etwas im Surprise zu lesen. Danke dafür!
R.A., Luzern
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Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Meine Frau und ich haben uns in Santander kennengelernt. Das liegt in Spanien, wo ich aufgewachsen bin. Meine Frau ist Rumänin. Im September werden wir seit zwanzig Jahren zusammen sein.
2010 bin ich ihretwegen nach Rumänien gezogen. Die wirtschaftliche Lage in Spanien war damals sehr schwierig. Aber auch in Rumänien war sie nicht einfacher. Gewissermassen habe ich ein ärmeres Leben für die Liebe gewählt.
Wir haben neun Kinder, darunter zwei Paar Zwillinge. Familiär gesehen bin ich also reich. Vor einem Jahr habe ich angefangen, in Schweden das Strassenmagazin Faktum zu verkaufen. Ich bin auf Arbeitssuche hierher gelangt. Seit Ende Dezember lebe ich mit einem schwedischen Mann zusammen in einer Wohnung. Vorher habe ich meistens in einem Zelt im Wald gelebt, das war sehr kalt.
Ich verkaufe Faktum um meiner Kinder willen. Ich muss arbeiten und für sie kämpfen. Jede Woche spare ich Geld und schicke es meiner Familie. Das ist mein Leben: das Leben eines Einwanderers. Meine Frau hat einen harten Job, sie kümmert sich Tag und Nacht um die Kinder. Sie putzt, wäscht, spült, kocht, erzieht und hilft bei den Hausaufgaben. Ich möchte, dass meine Kinder auf gute Schulen gehen und sich für die Zukunft gut gerüstet fühlen. Aber es sind harte Zeiten für sie im ohnehin schon armen Rumänien, und das dortige Bildungssystem kann man als unterdurchschnittlich bezeichnen.
Es sind auch allgemein dunkle Zeiten, in denen wir leben. Wir befinden uns in Rumänien sehr nah am Krieg in der Ukraine und an Russland – und was in den USA geschieht, ist eine Krise für die ganze Welt. Ich weiss schon, wie ich überlebe – aber ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder.
Wenn es meiner Familie gut geht, geht es mir auch gut, und wenn es meiner Familie schlecht geht, bin auch ich am Boden. Es ist hart, jeweils einen Monat lang zusammenzuleben und dann für drei bis sechs Monate weg zu sein. Meine älteste Tochter hat zwar Verständnis, aber die jüngeren Kinder fragen sich, warum ihr Vater nicht bei ihnen wohnt. Meine jüngste Tochter ist 18
Monate alt und wird jetzt sehr rasch grösser. Es tut mir weh, wenn ich an all das denke, was ich schon verpasst habe und noch verpassen werde.
Schweden war gut zu mir, ich hatte nie Probleme hier. Ich respektiere die Schwed*innen und sie respektieren mich. Ich achte auf meine Hygiene und danke meinen Kund*innen immer. Manchmal verkaufe ich nicht viele Hefte, wie in den Monaten Januar und Februar. Als ich vor sechs Jahren hierherkam, war es wirklich schwer, andere Jobs zu finden, also sage ich im Namen meiner Kinder: Danke Faktum! Danke für mein Leben und das meiner Kinder. Faktum hilft.
Mein Traum wäre ein Job, der ein ausreichendes Einkommen für meine Familie bietet, um hierher zu ziehen. Zusammenzuleben ist mein grösster Traum, ich träume ihn jeden Tag. Finanziell bin ich vielleicht nicht reich, aber ich bin reich, wenn es um Liebe und Familie geht.»
Aufgezeichnet von SIMÔNÉ KARLSSON
Mit freundlicher Genehmigung von FAKTUM / INSP.NGO
IN AARAU Naturama Aargau, Feerstr. 17 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN Familien- und Begegnungszentrum Reburg, Rathausplatz 1 Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café Spalentor, Missionsstr. 1 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Eiscafé Acero, Mörsbergerstr. 2 Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | KLARA, Clarastr. 13 | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Hirzbrunnen, Im Rheinacker 15 | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Becanto, Bethlehemstr. 183 | Boulderbad Muubeeri, Maulbeerstrasse 14 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Café Kairo, Dammweg 43 | Café Paulus, Freiestr. 20 | DOCK8, Holligerhof 8 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Kinderkiosk, Monbijoupark | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 | Restaurant Du Nord, Lorrainestrasse 2 | Rösterei, Güterstr. 6 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Tscharni, Waldmannstr. 17a IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Genusskrämerei, Rathausgässli 4 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | KafiFritz, mobiles Kaffee-Dreirad IN CHUR KULTURPUNKT, Planaterrastrasse 11 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN HAUSEN AM ALBIS Café Palaver, Törlenmatt 1 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Arlecchino, Habsburgerstr. 23 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Sommerbad Volière, Inseliquai IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OBERWIL IM SIMMENTAL Gasthaus Rossberg, Rossberg 557 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 | KULTURLABOR.sh, Bachstrasse 27 IN STEFFISBURG Offenes Höchhus, Höchhusweg 17 IN ST. GALLEN Barista Bar Hauptbahnhof, Bahnhofplatz 5 | DenkBar, Gallusstr. 11 | Schwarzer Engel, Engelgasse 22 S’Kafi, Langgasse 11 IN SUHR Alter Konsum, Bachstrasse 72 IN THUN Alpenrösli, Allmendstrasse 16 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN UETIKON AM SEE Fridies Cafi-Bar, Weingartenstrasse 1 IN USTER al gusto, Zürichstrasse 30 Kafi Domino, Gerbestrasse 8 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZOLLIKOFEN Café Mondial, Bernstrasse 178 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Barista Bar Sihlpost, Kasernenstrasse 97 | Bistro Karl der Grosse, Kirchgasse 14 | Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 Kleinwäscherei, Neue Hard 12 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431
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