

Weggesperrt
Bis sie auf unseren Tellern landen, leben die meisten Nutztiere hinter Mauern. Was sagt das über uns?
Seite 8
«Ich konnte nicht mehr kämpfen und gab auf»

Auf seinen Sozialen Stadtrundgängen durch Basel erzählt Benno Fricker, wie er trotz Ausbildung und Arbeit alles verliert und obdachlos wird. Er gibt Einblick in seine persönlichen Überlebensstrategien unter Bäumen und Brücken.
Buchen Sie einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich.

Editorial
Die, die nicht vorkommen
«In unserem Zimmer hatte mein Sohn keinen Platz zum Spielen, gegessen haben wir auf dem Bett.» Diesen Satz sagt die Eritreerin Nadira Edris, die mit ihrem Sohn viele Jahre in einem Rückkehrzentrum gelebt hat, in einem Gespräch mit einer Geflüchteten aus Georgien, einer Kinderpsychotherapeutin sowie einer Vertreterin des Kantons Bern, ab Seite 14. Wir erfahren darin viel über das Leben von Kindern in diesen Zentren, und einiges über die sozialpolitische Bürokratie in unserem Land.
Das Gespräch gibt Einblick in eine den meisten von uns verborgene Welt. Unsichtbarkeiten sind das bestimmende Thema vieler Beiträge in unserem Magazin. Auch wenn es nicht immer eindeutig zu belegen ist: Oft ist Unsichtbarkeit politisch oder gesellschaftlich gewollt.
Sichtbarkeit kann etwas auslösen – und die Folgen davon können unbequem sein. Was wäre, wenn wir wüssten, was in
4 Aufgelesen
5 Na? Gut! Weniger CO2
5 Vor Gericht Mehr Gewalt
6 Verkäufer*innenkolumne Es ist nie zu spät für Neues!
7 Die Sozialzahl Homogamie
8 Massentierhaltung Tiere hinter Mauern
14 Nothilfe Verlorene Kindheiten

den Rückkehrzentren wirklich passiert? Oder was wäre, wenn wir – wie mit der Kamera ab Seite 8 – hinter die Mauern der Tierfabriken und Schlachthäuser blicken könnten?
Gäbe es einen Aufschrei? Es wäre mindestens zu hoffen, dass sich Empathie regt, wir uns in Menschen und Tiere versetzen, die für uns bisher unsichtbar waren. Was noch nicht bedeutet, dass sich an den realen Verhältnissen auch wirklich etwas verändern und sich die Lebensbedingungen der Unsichtbaren verbessern würden. Dafür bräuchte es nicht alleine Mitgefühl, sondern konkrete Taten, auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene. Aber der Grundstein wäre schon mal gelegt. Denn unsichtbar zu sein, überhört und übersehen zu werden, heisst am Ende immer auch: Man existiert für die anderen schlicht nicht.
KLAUS PETRUS Redaktor

22 Film Schrei nach Sichtbarkeit
24 Theater Schonungslos ehrlich
26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse Pörtner in Zürich, Seilbahn Rigiblick
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30 Surprise-Nachruf Marcel Lauper
Auf g elesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.


Serbien in Aufruhr
Alles nahm seinen Anfang mit dem Einsturz des Bahnhofsdaches in der serbischen Stadt Novi Sad im vergangenen November. Seither haben sich die Proteste gegen die marode und korrupte Regierung von Präsident Aleksandar Vučić auf 400 Städte und Gemeinden ausgeweitet. Zu den Protestsymbolen gehören rote Handabdrücke mit der Aufschrift «Eure Hände sind blutig».
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bezeichnete die Proteste, die von über 5000 Universitätsprofessor*innen unterstützt werden, gar als «die grösste von Student*innen geführte Bewegung in Europa seit 1968».


Frühe Aufklärung
6000 Schüler*innen nahmen 2024 an rund 300 Workshops zum Thema Integration teil, die in ganz Österreich stattfanden. Im Fokus standen Mobbing, Hass im Netz, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung. Ziel der Workshops war es, Schüler*innen zu sensibilisieren und ihnen praktische Lösungsansätze zu vermitteln.
Kalte Zeiten
In Deutschland fehlt 5,2 Millionen Menschen das Geld zum Heizen. In Europa konnten sich diesen Winter 47 Millionen Menschen keine warme Wohnung leisten, wie eine Auswertung des Recherchenetzwerks Correctiv zeigt.

Weniger Chancen
In Österreich sind sieben von zehn Beschäftigten im Dienstleistungssektor sowie im Verkauf weiblich. Monatlich verdienen sie im Durchschnitt 2406 Euro brutto, das liegt unter dem durchschnittlichen Einkommen von 2790 Euro brutto. Somit haben diese Frauen auch eine deutlich schlechtere Ausgangslage, später von ihrer Pension leben zu können.

Weniger CO 2
Wo gebaut wird, gelangt viel CO2 in die Atmosphäre. Der Bausektor ist gemäss einer Studie der UNO gar für rund 40 Prozent der weltweiten
Treibhausgasemissionen verantwortlich. Jetzt will die Stadt Wien den Klimaschutz in diesem Bereich mit einem Pilotprojekt vorantreiben.
Auf zwei Baustellen werden bis zum Sommer Wasserrohre nur mit elektrisch betriebenen Maschinen erneuert. Der Bagger, die Walze, der Asphaltfertiger sowie fünf weitere E-Fahrzeuge arbeiten mit Strom. So wird nicht nur weniger CO2 ausgestossen, sondern es entsteht auch weniger Lärm.
Bereits 2019 gab es in Norwegen eine Baustelle mit fast ausschliesslich elektrischen Maschinen. Jene in der österreichischen Hauptstadt wird von der Technischen Universität Wien im Auftrag der Wiener Wirtschaftskammer wissenschaftlich begleitet und soll einen Forschungsbeitrag an CO2-neutrale Baustellen leisten. Im Fokus stehen die baubetriebliche Eignung der elektrischen Maschinen sowie die Arbeitsabläufe. Die erhofften technischen wie wirtschaftlichen Erkenntnisse sollen in die Planung künftiger Bauprojekte einfliessen.
Der zuständige Klimastadtrat Jürgen Czernohorsky (SPÖ) sagte gegenüber der Tageszeitung Kurier: «Klimaschutz ist Menschenschutz, daher drehen wir in Wien an allen Schrauben, um die klimaschädlichen Treibhausgasemissionen zu senken. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigt der Rückgang des Treibhausgasausstosses um zwölf Prozent im Jahr 2023» –das sei doppelt so viel wie im landesweiten Durchschnitt. LEA

Vor Gericht
Mehr Gewalt
Dieses Jahr sorgte die polizeiliche Kriminalstatistik für besonders viel Gesprächsstoff. Die jeweils Ende März publizierten Zahlen zeigen, wie viele Delikte im Vorjahr bei der Polizei registriert wurden. Insofern gelten die Erhebungen des Bundesamts für Statistik als Gradmesser für die gesamtgesellschaftliche Gemütslage. Und um die scheint es nicht zum Besten bestellt. So wurden 2024 in der Schweiz 563 633 Straftaten verzeichnet, was einem Anstieg von rund acht Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Das heisst, die Kriminalität stieg letztes Jahr im Vergleich zum Bevölkerungswachstum überproportional stark an. Versinkt das Land also im Verbrechen?
Schaut man sich das Ganze etwas genauer an, offenbart sich die Verfestigung verschiedener Trends. Erneut stieg die Cyber-Kriminalität steil an: plus 35 Prozent –das entspricht einer Verdoppelung seit 2020 und war zu erwarten. Denn zum einen verbringen ganz einfach mehr Menschen mehr Zeit online und hinterlassen immer mehr persönliche Daten im digitalen Raum. Und wie man so schön sagt: Gelegenheit macht Diebe. Krass zugenommen haben mit einem Plus von 56 Prozent Phishing-Angriffe. Auch das überrascht wohl niemanden, jede und jeder hat letztes Jahr wohl gefakte Messages der Polizei, der Post oder von der SBB erhalten. Zum andern ist zu beachten, dass die sprunghafte Zunahme insbesondere auf Identitätsmissbrauch zurückzuführen ist: ein neuer Gesetzesartikel, der seit dem 1. September 2023 in Kraft ist.
weit 2456 Fälle registriert – ganze 399 mehr als im Vorjahr, das ist eine Zunahme von fast 20 Prozent. Auffällig ist, dass diese Straftaten immer öfter zuhause verübt werden. Das traute Heim war 2024 auch der wahrscheinlichste Ort, sein Leben gewaltsam zu verlieren: 26 der 45 polizeilich registrierten vollendeten Tötungsdelikte waren auf häusliche Gewalt zurückzuführen. Eine weitere Konstante bleibt unverändert: Schwerer Gewaltstraftaten beschuldigt sind mit einem Anteil von achtzig Prozent vor allem Männer. Über die Hälfte der Opfer sind jedoch Frauen. Bei den gemeldeten Vergewaltigungen, die 2024 um satte 30 Prozent zunahmen, waren unter den 1086 Beschuldigten gerade mal vier Frauen. Der hauptsächliche Fokus der öffentlichen Abhandlung der aktuellen Kriminalstatistik war erwartbar: Dass Ausländer*innen insgesamt 57,7 Prozent der registrierten Straftaten begangen haben. Sogleich kamen wieder die wohlbekannten Forderungen auf den Tisch: Einsperren! Ausschaffen! Grenzen dicht!
Interessant ist aber auch, was in all den Artikeln, Kommentaren und Talk-Sendungen nie zur Sprache kam: Um sage und schreibe 50 Prozent stiegen die Straftaten bezüglich Diskriminierung und Aufruf zu Hass: Für das Jahr 2024 wurden 595 solcher Straftaten verzeichnet, fast 90 Prozent auf Rasse, Ethnie oder Religion, der Rest auf die sexuelle Orientierung. Und es wäre eigentlich dieser Wert, der uns besonders zu denken geben sollte.
An dieser Stelle berichten wir über positive Ereignisse und Entwicklungen.
Nachdenklich stimmt die anhaltende, massive Zunahme bei den schweren Gewaltdelikten. Insgesamt wurden schweiz-
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne
Es ist nie zu spät für Neues!
Es war Ende April im letzten Jahr; mit 68 Jahren habe ich mein erstes Buch mit dem Titel «Am Rande mittendrin, Erlebnisse eines Surprise-Verkäufers» veröffentlicht. Und es wurde gleich ein Bestseller. Was ich damit sagen will: Es ist nie zu spät für Neues!
Im Surprise, Heft Nr. 575, hat mich Diana Frei, Co-Leiterin der Surprise-Redaktion, in der Folge als «Nachwuchsautor» bezeichnet. In einer anderen Zeitung wurde ich als «immer noch jugendlich wirkend» beschrieben. An einem Senior*innennachmittag, während einer Lesung aus meinem Buch, habe ich mich keck als «Auch-Senior» vorgestellt. Eine Zwischenruferin aus dem vollbesetzten Saal hat mich korrigiert; ich sei noch kein Senior, vielleicht ein Jung-Senior. Und jemand hat mich verblüfft gefragt: «Was? Du machst Lesungen an Senior*innennachmittagen?»
Aber sicher mach ich das, und zwar oft, und es ist mir immer eine Freude und ein Vergnügen. Und auch daran gibt es
nichts zu rütteln: Ich bin Senior, und das ganz offiziell beglaubigt. Ich beziehe AHV. Mein Saison-Abo für die Badi ist ein Rentner-Abo. Mein GA von der SBB ist ein Senioren-GA.
Und trotz meinen inzwischen 69 Jahren stehe ich immer noch in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil und verkaufe dort meine Surprise-Hefte. Auch im nächsten Jahr, mit Sibezgi, werde ich noch dort stehen und meine SurpriseHefte verkaufen. So lang die Beine tragen, wird der Surprise-Verkauf Teil meines Lebens sein. Ich habe meine Gründe. Einer davon: Man muss etwas tun, solange man kann und mag. Man muss raus, unter die Leute. Das ist wichtig! Zumindest für mich. Viele Sprichwörter tragen eine Menge Weisheit und Wahrheit in sich. Eines davon besagt: Wer rastet, der rostet.
Aber natürlich stehe ich nicht mehr so oft in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil wie einst. Es wird weniger und weniger. Es funktioniert nicht mehr alles
so wie anno dazumal. Die Kräfte lassen nach, die Erholungsphasen werden länger, und es geht alles nicht mehr so leicht und locker und schnell wie einst. Aber ich geniesse die Langsamkeit des Lebens, denn Rennen muss ich keine mehr gewinnen.
Und doch, ich bin engagiert. In Altem und in Neuem. Was ich damit sagen will: Liebe Seniorinnen und liebe Senioren aus nah und fern. Wir gehören noch lange nicht zum alten Eisen.
URS HABEGGER, 69, verkauft Surprise seit 17 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Er hat einige Jahrzehnte Übung darin, aus jedem Tag das Beste herauszuholen.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Die Sozialzahl
Homogamie
«Gleich und gleich gesellt sich gern», weiss der Volksmund. In Fachkreisen spricht man von Homogamie, wenn Paare zum Beispiel das gleiche Bildungs- oder das gleiche Einkommensniveau aufweisen. Neue Zahlen des Bundesamtes für Statistik aus der Erhebung zu Familien und Generationen zeigen, dass bei rund zwei Dritteln aller Paare beide Personen das gleiche Bildungsniveau haben. Die zunehmende Akademisierung kommt auch hier zum Ausdruck: Bei 42 Prozent der Paare haben beide einen Tertiärabschluss gemacht, bei 21 Prozent weisen die Partner*innen einen Bildungsstand auf der Sekundarstufe II aus.
Ein wichtiges Merkmal der Bildungslandschaft ist der starke Anstieg der Bildungsabschlüsse auf universitärer oder Hochschulstufe bei den Frauen. Auch diese Entwicklung findet sich in den eben publizierten Zahlen wieder. War es bei den älteren Generationen noch häufig der Fall, dass der Mann einen höheren Bildungsstand erreichte als die Frau, so hat sich bei den 25- bis 39-Jährigen das Bild ausgeglichen, ja sogar leicht zugunsten der Frauen verschoben. In dieser Alterskohorte haben nur noch rund 16 Prozent der Männer einen höheren Bildungsstand als ihre Partner*innen, bei den Frauen beträgt dieser Anteil knapp 17 Prozent.
Bei den Einkommensvergleichen lassen sich ähnliche Verhältnisse beobachten. Auch hier überwiegen die Paare, die sich in ähnlichen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden. Eine Durchmischung der Gesellschaft jenseits von Bildung und Ein-
Paare nach Bildungsstand, 2023
Mann mit höherem Bildungsstand
Frau mit höherem Bildungsstand
Beide mit gleichem Bildungsstand
kommen findet immer seltener statt. Je stärker aber eine Gesellschaft von Homogamie geprägt ist, desto stabiler sind soziale Ungleichheiten und desto geringer ist die soziale Mobilität. Damit wird die Gesellschaft mit ihren Schichten zementiert. Die Gefahr steigt, dass man sich nicht mehr versteht und ein schichtübergreifender Austausch nicht mehr stattfindet.
Die Zahlen zeigen aber auch, dass in Paarbeziehungen eine Abkehr von den traditionellen Rollenbildern stattfindet. Es wird normal, dass Frauen in Beziehungen einen höheren Bildungsstand erreichen oder ein höheres Einkommen erzielen können.
In einer Hinsicht hat sich aber noch wenig geändert. Männer sind in Paarbeziehungen noch immer deutlich häufiger älter als Frauen. Bei rund 28 Prozent der Paare sind beide gleich alt. Aber bei 22 Prozent ist der Mann zwei bis drei Jahre und bei weiteren 15 Prozent vier bis fünf Jahre älter als die Frau. Umgekehrt sind nur bei sechs Prozent der Paare die Frauen zwei bis drei Jahre älter als der Mann, und bei drei Prozent findet sich ein Altersunterschied von vier bis fünf Jahren. Darüber, warum das so ist, lässt sich nur spekulieren.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Aus den Augen, auf den Teller
Massentierhaltung Der Mensch macht sich Tiere untertan, er besitzt und isst sie.
Seit der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion sieht er die Schweine, Hühner und Kühe, von denen er sich ernährt, kaum noch.

Wann haben Sie zuletzt ein Mastschwein gesehen? Auf diese Frage antwortete vor zwei Jahren im Kanton Luzern mehr als die Hälfte der Befragten mit: noch nie. Dabei leben dort 430 000 Schweine, das sind mehr als der Kanton Einwohner*innen hat. Insgesamt werden in der Schweiz jedes Jahr 83 Millionen «Nutztiere» allein für den menschlichen Verzehr gezüchtet, gemästet und geschlachtet, Fische nicht einberechnet – von ihnen ist nur in Tonnen die Rede. Eine schier unvorstellbare Zahl.
Dass wir die meisten dieser Tiere nicht zu Gesicht bekommen, hat auch mit der industrialisierten Nutztierhaltung zu tun, um die es im Folgenden geht. Der kapitalistischen Verwertungslogik folgend, werden auf einer möglichst kleinen Fläche möglichst viele Tiere gehalten, die in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Fleisch ansetzen, Milch geben oder Eier legen. Diese Intensivhaltung – auch «Massentierhaltung» genannt – findet abgelegen und versteckt in speziell ausgerüsteten Stallungen, Hallen oder Betonbuchten statt.
Zwar hält sich, auch dank der Werbung der Bauernverbände und Discounter, in der Schweiz nach wie vor das Bild einer Landwirtschaft aus Heidi-Filmen: kleinbäuerliche Betriebe mit Kühen, Schweinen und Hühnern auf saftig grünen Wiesen. Doch auch hierzulande ist die Massentierhaltung längst Realität. Seit Jahrzehnten gibt es immer weniger Bäuer*innen, dafür immer mehr Tiere: 18 000 Hühner in einer einzigen Halle, 10 Schweine auf der Grösse eines Auto-Stellplatzes, zeitlebens ohne Stroh und ohne Auslauf – das ist auch in der Schweiz inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm.
Dabei leben nicht alle Tiere gleichermassen hinter Mauern. Hunde oder Katzen – von letzteren gibt es in der Schweiz 1,85 Millionen – sind mitten unter uns. Dass ein Hund sichtbar ist, ein Schwein dagegen kaum, hat mit den Tieren selbst nicht viel zu tun. Kein Tier kommt als «Mastschwein», «Milchkuh», «Legehenne» oder «Schosshund» zur Welt. Das sind Kategorien, die wir uns zurechtlegen, und zwar je nach dem Zweck, den wir für diese Tiere vorgesehen haben. Wie willkürlich solche Einteilungen sind, zeigt das Kaninchen: Je nachdem ist es für uns Kuscheltier, Masttier, Zirkustier oder Versuchstier. Und doch prägen diese Kategorisierungen nachhaltig unser Verhältnis zu den Tieren, auf gesellschaftlicher, politischer und auch gesetzlicher Ebene. Wer beispielsweise sei-
nen Hund über längere Zeit angekettet in eine dunkle Box sperrt, muss mit Strafen oder Sanktionen rechnen. Wer dasselbe mit Kühen oder Schweinen tut, macht sich nicht strafbar, im Gegenteil: Ein solcher Umgang mit «Nutztieren» wird von weiten Teilen der stillschweigend akzeptiert, ist durch das Tierschutzgesetz legitimiert und darüber hinaus staatlich subventioniert.
Hunde tragen Namen, Schweine tragen Nummern Gerade bei Nutz- und Haustieren entspricht die Unterscheidung zwischen unsichtbar und sichtbar oft jener zwischen essbar und nicht-essbar. Dass Kälber oder Schweine auf unseren Tellern landen, ist normal. Hingegen käme es nachgerade einem Bruch des «Kannibalismus-Tabus» gleich, würden wir Hunde und Katzen verspeisen, denn für viele sind sie engste Gefährten oder gar Ersatzmenschen. Auch diese Einteilung ist nicht naturgegeben, sondern kulturell oder religiös bedingt. Das zeigt die wiederkehrende Empörung aus dem Westen, wenn in anderen Regionen der Welt Hunde oder Meerschweinchen geschlachtet und gegrillt werden; umgekehrt essen Menschen hierzulande Kinder von Tieren, die andernorts als heilig gelten.
Die «Verwandlung» von Tieren in Nahrungsmittel ist eine gängige Praxis, um sie unsichtbar zu machen. Nachdem Rinder oder Schweine geschlachtet wurden, werden sie ausgenommen, zerstückelt und steril verpackt zu einem Stück Fleisch. Und wir benennen sie um. Aus einem Rind (oder was von ihm übrigbleibt) wird ein «Hamburger» und aus einem Huhn ein «Poulet». Auf diese Weise werden sie als Nahrungsmittel und nicht mehr als Tiere wahrgenommen.
Dazu passt, dass wir namentlich Nutztiere als anonyme Masse behandeln, als austauschbare Objekte mit Nummern: ein Mastschwein für ein beliebig anderes. Andere Tiere betrachten wir als Subjekte, wir geben ihnen Namen (Lana, der Hund, ist Lana und nicht Rina), feiern ihre Geburtstage und bestatten sie.
Tiere, die wir als Individuen behandeln, sind Teil unserer Gesellschaft und entsprechend sichtbar (auch in Erzählungen, Märchen oder Filmen). Sie verschwinden aus unserer Wahrnehmung, je mehr wir in ihnen bloss Objekte sehen – ausser ihr Zweck besteht darin, uns zu unterhalten, so wie es Zirkustiere tun, oder für uns ausgestellt zu werden, etwa im Zoo (siehe Schema
Seite 12). Dass bestimmte Tiere hinter Mauern leben, ist also nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn zu nehmen: Sie werden, natürlich mit Ausnahmen, zum Verschwinden gebracht, indem sie bestimmten, von uns fabrizierten Kategorien zugeordnet werden, so etwa der Kategorie «Nutztiere». Eine solche Zuordnung wird gesellschaftlich eher akzeptiert, wenn die Tiere als Objekte behandelt werden. Diese Verdinglichung unterliegt natürlich keinem kognitiven Irrtum: Anders als etwa im 17. Jahrhundert, als auch in der Wissenschaft Tiere noch weitgehend als Maschinen betrachtet wurden, weiss man heute, dass sie empfindungsfähige Wesen sind. Und doch schreiben wir insbesondere Nutztieren nach wie vor Eigenschaften zu, die üblicherweise für Dinge gelten. In der industriellen Nutztierhaltung werden zum


In der Schweiz dominiert immer noch das Bild einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft – die Realität sieht anders aus.


Schweine sind empfindungsfähig, hochgradig sozial und ungemein intelligent – wie Hunde. Und doch werden die einen gestreichelt, die anderen geschlachtet.
Wie wir uns die Tierwelt zu unserem Nutzen einteilen:
sichtbar
Haustiere
Zirkustiere
Zootiere
Objekt Subjekt unsichtbar
Nutztiere
Versuchstiere
Pelztiere
Wildtiere

Beispiel Kühe ausschliesslich als Mittel zu einem bestimmten Zweck betrachtet, nämlich als Milchlieferantinnen.
Der Wert einer «Milchkuh» bemisst sich allein an der Menge Milch, die sie produziert; nimmt diese ab, verliert die Kuh an Wert, sie wird aussortiert und geschlachtet. Das trifft auf Nutztiere allgemein zu. Sie gelten als Produktionsressourcen. Mit möglichst wenig Input (z.B. Futter) sollen sie möglichst viel Output (z.B. Milch, Fleisch, Eier) generieren.
Auch werden Nutztiere, wie andere Dinge oder Maschinen, wenn nötig den Produktionsbedingungen angepasst: Weil sich Hühner auf engem Raum gegenseitig verletzen, was natürlich deren Produktivität verschlechtert, lötet man ihnen die Schnabelspitze weg; damit Kühe möglichst viel Milch für uns Menschen produzieren, werden sie jedes Jahr geschwängert und man nimmt ihnen die Kälber weg; oder man kupiert Schweinen die Schwänze, weil sie in beengten Buchten zu Kannibalismus neigen.
Dass besonders jene Tiere, die unsichtbar sind, wie Objekte behandelt werden, bedeutet nicht zwingend, dass man mit ihnen tun und lassen kann, was man will. In der Schweiz ist der Tierschutz in der Verfassung verankert, ja sogar die Würde des Tieres wird geschützt – kein anderes Land geht rechtlich so weit. Es ist verboten, Tieren «ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schaden» zuzufügen, und wer mit Tieren umgeht, hat für deren Wohlergehen zu sorgen – allerdings nur, und das ist der entscheidende Zusatz, «soweit es der Verwendungszweck zulässt».
Die Würde der Tiere ist antastbar Bei Nutztieren besteht dieser Verwendungszweck darin, dass sie Nahrungsmittel für den Menschen sind. Weil dies bisher nicht grundlegend hinterfragt wird, sind viele Praktiken im industriellen Umgang mit Nutztieren vom Gesetz her erlaubt –und das, obschon sie nachweislich das Tierwohl beeinträchtigen. Ein Leben in beengten Verhältnissen gehört dazu, ebenso die bereits erwähnten Verletzungen, das Unterbinden von Beziehungen, aber auch die Tatsache, dass die meisten dieser Tiere nur einen Bruchteil ihrer Lebenserwartung erreichen und geschlachtet werden, noch bevor sie erwachsen sind. So kann ein Rind bis 25 Jahre alt werden; als «Milchkuh» hat es aber bereits nach vier bis sechs Jahren ausgedient, als «Mastrind» wird es nach 20 Monaten geschlachtet, als Kalb schon nach fünf. Und obschon ein Huhn bis zu acht Jahre alt werden kann, kommt es als «Legehenne» nur auf eineinhalb Jahre und als «Masthuhn» gerade mal auf sechs Wochen. All das fällt, wie gesagt, nicht etwa unter Tierquälerei, sondern ist mit dem schweizerischen Tierschutzgesetz vereinbar und angeblich auch mit der Würde des Tieres. Aber wenn das Gesetz vorschreibt, dass das Tierwohl nur verletzt werden darf, wenn es wirklich nötig ist, es keine Alternativen gibt – sollte man dann nicht fra-
gen, ob die Menschen in einem Wohlstandsland wie der Schweiz tatsächlich auf tierliche Nahrungsmittel angewiesen sind oder ob wir uns nicht auch anders, pflanzenbasiert, gesund und ausgewogen ernähren könnten?
Obschon es etliche Belege dafür gibt, dass diese Frage bejaht werden kann, haben Tiere bis heute keine Rechte, die es verbieten würden, sie für menschliche Zwecke auszubeuten und zu töten. So konsumieren 97 Prozent der Schweizer Bevölkerung regelmässig tierische Produkte, aus Genuss, Tradition oder Gewohnheit. Das zeigt, dass dieses Thema bisher eher ein soziales ist und weniger ein moralisches im Sinne der Frage: Haben wir ein Recht darauf, Tiere zu essen?
Das Essen von Tieren ist trotz Alternativen gesellschaftlich immer noch weithin anerkannt, es ist normal.
Hinter dieser Normalität steht auch das Selbstverständnis des Menschen, über den Tieren zu stehen. Obschon die Evolutionsbiologie Gegenteiliges nahelegt, ist die Überzeugung nach wie vor verbreitet, dass wir Menschen etwas besitzen, das die anderen Tiere nicht einmal im Ansatz haben, – wie Intelligenz, Selbstbewusstsein oder Moral – und dieses Etwas uns berechtigt, uns Tiere «untertan zu machen». Und dass wir Tiere als unser Eigentum betrachten; sie gehören nicht sich selber, sie gehören uns. Obschon dies nicht bloss für Schweine, Kühe oder Hühner gilt, sondern auch für Hunde, Katzen und Meerschweinchen – auch sie sind Besitztum, das erworben, verkauft oder verschenkt werden darf –, sind es erneut die Nutztiere, die weniger zählen.
Was nicht verwunderlich ist, wo wir sie ja nie zu Augen bekommen. Ob sich in unserem Verhältnis zu ihnen etwas ändern würde, wenn – wie der Ex-Beatle Paul McCartney vorschlägt – Tierfabriken und Schlachthäuser gläserne Wände hätten, bleibt eine offene Frage.
Serie «Hinter Mauern»
In unserer neuen Serie blicken wir hinter unterschiedliche Mauern – bauliche, aber auch soziale oder symbolische.
Teil 1: Schutz und Freundschaft, Surprise Nr. 594
Teil 2: Diese Welt der Ausgrenzung, Surprise Nr. 596
«Ich versuche so wenig wie möglich über die Zukunft
KETEVAN KOBIASHVILI, 18, ist vor bald acht Jahren mit ihren Eltern aus Georgien in die Schweiz geflüchtet. Sie lebt im Kanton Bern im Rückkehrzentrum Aarwangen. Inzwischen hat sie ein eigenes Zimmer, ihre Eltern und ihr fünfjähriger Bruder teilen sich eines. Sie besucht die Fachmittelschule in Langenthal. Ein erstes Härtefallgesuch für die Familie wurde abgelehnt, das zweite ist seit einem Jahr hängig.

nachzudenken.»
Verlorene Kindheiten
Nothilfe Menschen mit einem negativen Asylentscheid leben in der Schweiz prekär. Besonders Kinder, wie eine Studie zeigt. Eine Jugendliche, eine Mutter, eine Psychotherapeutin und eine Vertreterin des Kantons Bern diskutieren, wie ihre Situation verbessert werden könnte.
TEXT LEA STUBER FOTOS JONATHAN LIECHTI
Claudia Ransberger kommt als Erste ins Surprise-Büro Bern. Sie, die hier den Kanton Bern vertritt, packt ein Mäppli aus ihrer Tasche, darin Zeitungsartikel zu Kindern in der Nothilfe sowie die im September 2024 erschienene Studie im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission. Dann treffen Sandra Rumpel und Nadira Edris (Name geändert) ein. Die Psychotherapeutin und die 28-Jährige, die zehn Jahre in der Nothilfe gelebt hat, sind beide aus Zürich angereist. Ketevan Kobiashvili, die vierte, hätte an diesem Nachmittag Pädagogik und Persönlichkeitsentwicklung, sie hat sich in der Schule entschuldigt.
Bis Menschen mit einem negativen Asylentscheid die Schweiz verlassen oder ausgeschafft werden, leben sie in der Nothilfe. Schon länger ist bekannt, dass die Zustände in den sogenannten Rückkehrzentren speziell für Kinder und Jugendliche besorgniserregend sind. Die Studie des Marie Meierhofer Institut für das Kind, die Ransberger im Mäppli dabeihat, kommt sogar – für Fachleute nicht überraschend – zum Schluss: Die Situation in der Nothilfe gefährdet die Gesundheit und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, alle sind mindestens einem unzumutbaren Umstand ausgesetzt. Würden Kinder ausserhalb der Nothilfe so leben, schreiben die Autorinnen, würde dies «mit hoher Wahrscheinlichkeit» zu einer Meldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) führen (siehe Seite 20). Laut dem begleitenden Rechtsgutachten der Universität Neuenburg ist die Situation weder mit der Bundesverfassung noch mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar.
Nur die Hälfte der Kantone ermöglicht gemäss Studie nach dem obligatorischen neunten Schuljahr den Zugang zu weiterer Ausbildung. Eine Lehre etwa ist nur dann möglich, wenn die Jugendlichen eine Ausnahmebewilligung beantragen können. Dafür haben zum Beispiel die Kantone Freiburg und Waadt Pilotprojekte eingeführt.
2020 lebten schweizweit 700 Kinder und Jugendliche von der Nothilfe, 390 – also mehr als die Hälfte – seit über einem Jahr, obwohl sie eine vorübergehende Lösung für wenige Monate sein sollte. Bern und Zürich, wo Ketevan Kobiashvili und Nadira Edris leben, sind zwei der Kantone, in denen die meisten Minderjährigen in der Nothilfe sind. Die beiden jungen Frauen setzen sich mit Sandra Rumpel und Claudia Ransberger um den Tisch – eine Jugendliche, eine Mutter, eine Psychotherapeutin und eine Vertreterin des Kantons Bern. Nach dem Gespräch gibt Ransberger Kobiashvili ihre Visitenkarte, sie schlägt ein Treffen vor, um über ein eigenes Härtefallgesuch, losgelöst von der Familie, zu sprechen.
Ketevan Kobiashvili, haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie es wäre, einfach ein Schweizer Kind zu sein, ohne Erfahrung mit der Nothilfe?
Ketevan Kobiashvili: Ja, schon öfter. Wenn ich mich um sechs Uhr morgens für die Schule bereit mache, begegne ich im Korridor manchmal einer Gruppe Polizist*innen, die gekommen sind, um eine andere Familie zu deportieren. Ich weiss nie, ob morgen ich dran bin. Jeder Tag ist stressig. Und ich kann im Rückkehrzentrum nicht wirklich lernen, manchmal ist es einfach zu laut.
Nadira Edris: Ja, der Stress! In unserem Zimmer hatte mein Sohn keinen Platz zum Spielen, gegessen haben wir auf dem Bett. Mein Sohn hat kaum gegessen, er hat lange nicht gesprochen. Wenn wir vom Spazieren zurückkamen, legte er sich vor dem Camp auf den Boden und weinte – er wollte nicht zurück in dieses Camp.
Kobiashvili: Während den drei Wochen Herbstferien war ich auf einmal nicht mehr sicher, ob ich die Fachmittelschule weiterhin besuchen darf. Zum Glück hat unsere Anwältin dann dafür gesorgt, dass ich wieder zur Schule gehen durfte. Ich habe mir immer vorgestellt, wie die Polizei in die Schule kommt und mich einfach deportiert. Ein paar Freundinnen sagten mir, ich sei so gestresst, das habe zu grosse Effekte auf sie. Ich habe sie als Freundinnen verloren. Ich glaube, als Schweizer Kind wäre es viel einfacher.
Claudia Ransberger: Ich kann verstehen, dass es für Sie als junge Frau sehr schwierig ist. Nichtsdestotrotz: Die Politik hat entschieden, und wir müssen den Auftrag umsetzen. Mir ist wichtig, dass es den Kindern und Jugendlichen gut geht. Wir haben zum Beispiel getrennte Unterkünfte, Familien leben in anderen Zentren als Männer. Aber natürlich bleibt es eine Herausforderung, Küche, Toiletten und Duschen mit anderen Familien zu teilen.
Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind beträchtlich, Schaffhausen etwa mietet für Menschen in der Nothilfe Wohnungen. Wäre das auch für Bern eine Option? Ransberger: Nein, der Grosse Rat (Anm. das kantonale Parlament) hat entschieden, dass Personen in der Nothilfe in Kollektivunterkünften untergebracht werden. Das wäre eine politische Richtungsänderung. Nur vulnerable Personen oder Familien dürfen in Ausnahmefällen in einer Wohnung leben.
Kobiashvili: Wer gilt denn als vulnerabel?
Ransberger: Etwa ein Kind, das schwerstbehindert zur Welt kommt und in der Nähe des Berner Inselspitals sein muss, weil es eine regelmässige medizinische Betreuung braucht. Jemand im Rollstuhl, denn die Unterkünfte sind nicht barrierefrei. Oder schwerkranke Menschen, die Krebs im Endstadium haben. Aber eine Familie mit Kindern ist nicht per se vulnerabel.
Sandra Rumpel: Doch, genau dafür plädiere ich. Ich weiss nicht, für wie lange die Nothilfe ursprünglich gedacht wurde, aber ich finde: Spätestens nach drei Monaten sollten die Kinder wieder weg sein.
Ransberger: Das ist ein politischer Entscheid.
Rumpel: Nein, ich spreche nur aus fachlicher Sicht.
Kobiashvili: Ich bin auch mit Männern aufgewachsen und das war wirklich schwierig, es gab oft Konflikte. Ich finde gut, dass die Männer jetzt getrennt von den Familien leben. Meine Cousinen leben in Lausanne und sie haben schon nach einem Monat eine Wohnung bekommen – auch sie hatten keine Bewilligung. Warum das in jedem Kanton anders ist, kann ich nicht ganz nachvollziehen.
Ransberger: Das verstehe ich. Aber so ist das System in der Schweiz.
Rumpel: Die Schweiz hat ja auch die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Inzwischen sehen wir einfach die Langzeitfolgen, die Kinder aus der Nothilfe mitbringen. Für Erwachsene ist es während ein, zwei Jahren aushaltbar, unter sehr schwierigen Umständen leben zu müssen. Danach können sie das durch Therapie oder gute Umstände ein Stück weit wettmachen.
Wie ist es bei den Kindern und Jugendlichen, welche Langzeitfolgen sehen Sie?
Rumpel: Das Kleinkindalter und das Jugendalter sind kritische Entwicklungsphasen. Kinder in der Nothilfe erleben eine Kumulation von unzumutbaren Umständen. Nur schon die regelmässigen Polizeieinsätze und die Angst in den Augen der Eltern, die sie in diesem Moment nicht trösten können – diese Erlebnisse hindern Kinder an einer gesunden Entwicklung. Bei Kleinkindern unter drei Jahren führt das dazu, dass ihr Immunsystem schwä-
cher ausgebaut wird, dass sie eher Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln. Ich spreche also nicht nur von Verhaltensauffälligkeiten, selbstschädigendem Verhalten, von Entwicklungsstörungen und schweren psychischen Erkrankungen. Deshalb appelliere ich an die Politik. Schon nur wirtschaftlich gedacht: Das ist extrem teuer.
Ransberger: Die politischen Fragen können wir hier nicht klären, das ist nicht meine Aufgabe, ich vertrete die Verwaltung.
Rumpel: In Zürich bekommen wir oft nicht einmal eine Antwort vom Kanton oder der KESB. Wir beschreiben, dass der Zustand eines Kindes sich verschlechtert aufgrund der Situation im Camp. Drei Monate später schreiben wir wieder, und ein Jahr später wieder. Keine Antwort, oder höchstens eine ausweichende. Am Ende sind wir es, die versuchen, die Kinder zu stabilisieren. Und am nächsten Tag rufen die Eltern weinend an, weil in der Nacht die Freundin des Kindes ausgeschafft wurde. Bei Ausschaffungen schreien die Menschen oft, die Kinder sehen, wie andere Eltern in Handschellen gelegt werden. Es ist schon vorgekommen, dass ein Elternteil sich suizidieren wollte. Stellen wir uns vor, in einer Schule klettert jemand aufs Dach und will Suizid begehen. Da wird ein Care-Team aufgeboten, die Schulleitung wird hinterfragt: Wie konnte das passieren? Die Schüler*innen und Eltern werden aufgefangen. Keinem Schweizer Kind würden wir eine solche Situation jeden Tag zumuten. Die Schweiz hat einen Zwei-Klassen-Kinderschutz.
Ransberger: Personen, die in einem Rückkehrzentrum untergebracht sind, haben einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid. Sie haben ein Asylverfahren durchlaufen, sind weggewiesen und aufgefordert worden, die Schweiz zu verlassen. Die Polizei packt die Familie nicht am nächsten Tag ein. Da gibt es im Vorfeld Gespräche. In einem Rückkehrzentrum muss man damit rechnen, dass die Polizei kommt und eine polizeiliche Rückführung durchführt. Die Eltern wissen das.
Rumpel: Nadira, haben Sie darüber nachgedacht, nach Eritrea zurückzukehren?
Edris: Einmal im Jahr wurde ich zu einem Gespräch eingeladen, um über meine Rückkehr zu sprechen. Ich wäre nie

«In einem Rückkehrzentrum

CLAUDIA RANSBERGER leitet beim Migrationsdienst des Kantons Bern den Bereich Nothilfe und Rückkehr, der zur Sicherheitsdirektion von Regierungsrat Philippe Müller (FDP) gehört.
muss man
dass die Polizei kommt.
Die Eltern wissen das.» damit rechnen,
«Alle meine Freundinnen und arbeiten jetzt.

Warum ich nicht?» haben eine Lehre gemacht
NADIRA EDRIS, 28, ist vor zehn Jahren alleine aus Eritrea in die Schweiz geflüchtet. Seit einem Jahr lebt sie mit ihrem fünfjährigen Sohn in einer Wohnung im Kanton Zürich, sie ist alleinerziehend. Zuvor lebte sie im Rückkehrzentrum Hinteregg. Im Oktober wurde ihr Härtefallgesuch bewilligt, seither hat sie eine Aufenthaltsbewilligung. Sie möchte anonym bleiben, Nadira Edris ist ein Pseudonym.
zurückgegangen. Ich wäre dort ziemlich sicher ins Gefängnis gekommen oder in den Militärdienst eingezogen worden. Es war sehr schlimm in Eritrea.
Ketevan Kobiashvili, Sie waren zehn Jahre alt, als Sie erfuhren, dass Ihre Eltern nicht in der Schweiz bleiben dürften?
Kobiashvili: Meine Eltern haben mir einfach gesagt: Wir können nicht zurück nach Georgien, wir müssen hierbleiben. Und inzwischen hätte ich dort nichts mehr. Ich bin hier aufgewachsen, mache eine Ausbildung, habe Freundinnen hier. Rumpel: Man darf Kinder nicht für die Entscheidung ihrer Eltern bestrafen. Aber genau das passiert hierzulande – und nicht zum ersten Mal, denken wir an die Kinder von Saisonniers, die nicht in die Schweiz kommen durften. Oder an die Kindswegnahmen bei den Jenischen. Auch wenn wir – politisch gewollt – Druck auf die Eltern ausüben, müssen wir die Kinder im Blick behalten. Ein Kind muss nicht verhätschelt werden, auf Schweizerdeutsch gesagt. Aber es braucht immer wieder Möglichkeiten zur Regulation. Mit Ruhe, mit Privatsphäre. Ein Umfeld, das ihm Sicherheit gibt und es zu trösten vermag. Es kann nicht sein, dass pubertierende Mädchen die Toilette und die Dusche mit zig anderen Leuten teilen, wo Männer vielleicht noch reinschauen können. Im ehemaligen Rückkehrzentrum Adliswil mussten die Kinder eine Zeit lang ausserhalb des Gebäudes aufs WC. Auch Familienväter können übergriffig werden.
Edris: Wenn zum Beispiel die Küche nicht aufgeräumt war, habe ich versucht, mich zu wehren.
Kobiashvili: Oder wenn die Duschen und Toiletten schmutzig sind. Das Einzige, was mir hilft: so wenig wie möglich im Zentrum sein. Nach der Schule gehe ich zum Lernen in die Bibliothek oder mit Freundinnen spazieren.
Ransberger: Hier finde ich die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen wichtig. Sie unterstützen bei Kindergeburtstagen, an Weihnachten oder Ostern. Damit die Kinder ein Osternest bekommen und ein Stück Normalität haben.
Rumpel: Dass in Kollektivunterkünften Aggressionen entstehen, ist logisch. Wer Stress hat, ist strenger. Stellen Sie sich vor, Sie rennen mit Ihren Kindern auf den Zug. Und die beeilen sich nicht. In dieser alltäglichen Stresssituation werden Sie auch schärfer mit ihnen reden. Geschweige denn Sie fühlen sich permanent bedroht.
Ransberger: Ob es Konflikte in der Küche gibt oder mit der Waschmaschine, kommt auch auf die Betreuung an. Das kann man steuern: Macht man wöchentlich eine Bewohner*innensitzung? Macht man einen Waschplan? Ist zu den Stosszeiten, wenn gekocht wird, genügend Personal da?
Rumpel: Ja, das ist wichtig. Und Freizeitangebote. So können die Kinder immer wieder Stress abbauen. Aber das ist eine zu mathematische Sicht auf die kindliche Entwicklung: Ich gebe etwas Gutes und dann erträgt es etwas Schlechtes – und dann kann ich das wieder ausgleichen mit einer guten Freizeitbeschäftigung. Gerade wenn Belastungen chronisch werden und mit Gewalt, Trennung und Bedrohung einhergehen, funktioniert dieser Effekt nicht.
Ransberger: Was wäre die Lösung?
Rumpel: Privatsphäre wäre wichtig. Wenn fünf Kinder und zwei Erwachsene ein Zimmer teilen, können sie sich nicht
zurückziehen. Weiter brauchen Kinder Kontinuität. Die vielen Transfers von einer Unterkunft zur nächsten gehen nicht. Als dritten Punkt sehe ich kleinere Unterkünfte – oder noch besser kleine Wohnungen. So gäbe es weniger Stress und man ginge verständnisvoller miteinander um.
Ransberger: Eine Unterkunft zu finden, ist schwierig. Alle finden es gut, aber niemand will eine Unterkunft in der eigenen Gemeinde oder Nachbarschaft. Dann müssen die Objekte eine gewisse Infrastruktur bieten: genügend sanitäre Anlagen, grosse Küchen etc.
Rumpel: Es ist nun mal so: Je grösser die Unterkunft, desto mehr Polizeieinsätze. Und desto mehr Menschen sehen, wie andere ausgeschafft werden. Wenn die Polizei einen Mann abholen und in Administrativhaft nehmen will, er aber das jüngste Kind bei sich hat, weil die Mutter die älteren in die Schule bringt, sollten die Polizist*innen das Kleinkind nicht einfach einer Freundin der Familie übergeben und den Vater mitnehmen. Auch wenn die Mutter nach kurzer Zeit wieder da ist und auch wenn der Vater nach drei Tagen aus der Administrativhaft zurückkehrt, weiss dieses Kleinkind von nun an: Hier kann jederzeit jemand kommen und meinen Papi oder mein Mami mitnehmen. Auch die Kinder, die diese Szene nur beobachten. Das ist für Kleinkinder beängstigend. Die Polizei sollte Kleinkinder nicht von ihren Eltern trennen, ausser die Eltern selbst stellen die Bedrohung dar.
Ketevan Kobiashvili, wenn Sie einen kleinen Wunsch frei hätten, um Ihre Situation zumindest ein Stück weit zu verbessern, wie würde der lauten?
Kobiashvili: Es ist ein bisschen unrealistisch, aber ich wünschte mir ein normales Leben. Ich weiss nicht, ob es etwas Kleines gibt, das mir helfen würde.
Ransberger: Was wäre für Sie ein normales Leben?
Kobiashvili: Wenn meine Eltern arbeiten könnten, wie sie wollen. Wenn ich mich auf meine Ausbildung konzentrieren könnte und nicht dauergestresst wäre.
Rumpel: Sie müssten die Sicherheit haben, dass nicht jeden Tag etwas Schlimmes passiert. Anhaltende Angst ist für das Nervensystem belastend. Diese Kinder haben ihr Leben lang einen erhöhten Cortisolspiegel, sie können Stress schlecht regulieren. Wir erkennen am Nervensystem des Kindes seinen Asylstatus. Wenn sie später, als Erwachsene, «nur» den Zug verpassen, reagieren sie gereizter als jemand ohne diese schlimmen Erfahrungen, so als wäre gerade wieder etwas sehr Schlimmes passiert. Darum wäre es für die Kinder so wichtig, eine Zukunftsperspektive zu haben, zu wissen: Ich kann diese Ausbildung fertig machen. Das bringt Ruhe in den Körper und die Psyche.
Nadira Edris, Sie durften zehn Jahre lang keine Ausbildung machen.
Edris: Ja, ich hatte keine Chance. Deutsch habe ich mir selber beigebracht. Ich musste den ganzen Tag im Camp bleiben. Dabei möchte ich selbständig sein, eine Lehre machen, am liebsten in der Pflege. Aber manchmal habe ich Angst davor, eine Lehre anzufangen. Wie soll ich auf einmal lernen können? Mir fehlt das Selbstvertrauen dafür.
Rumpel: Bei vielen Jugendlichen mit einer ähnlichen Geschichte beobachten wir, dass die Integration länger dauert.
Nicht, weil sie nicht motiviert sind, sondern weil sie an sich zweifeln. Wenn Jugendliche eine Beschäftigung haben und eine Zukunft sehen, brauchen sie vielleicht auch eine Therapie, aber die wirkt dann. Wenn sie keine Zukunft sehen, arbeiten wir nur daran, dass sie nicht aus Sinnlosigkeit von einer Brücke springen. Und solange der Mensch nicht in Sicherheit lebt, sondern in der ständigen Angst, ausgeschafft zu werden, können wir keine Traumatherapie machen. Sonst wird das Gehirn völlig konfus.
Mit 18 macht man sich viele Gedanken über die Zukunft. Wo will ich im Leben hin, was will ich alles machen. Ketevan Kobiashvili, wie ist das bei Ihnen?
Kobiashvili: Gedanken über die Zukunft habe ich mir nie machen können, mein Leben war nie stabil. Ich weiss nicht, was morgen passieren wird. Ich versuche so wenig wie möglich über die Zukunft nachzudenken. Für die nahe Zukunft hoffe ich einfach, dass ich meine Ausbildung fertig machen kann. Und dass ich hierbleiben darf.
Rumpel: Wenn wir Hoffnung haben, bleiben wir neugierig, mögen lernen, blicken in die Zukunft. Kinder mit diesen chronischen Verläufen können die Hoffnung oft nicht mehr aufrechterhalten. Vor allem im Jugendalter. Kleinkinder sind von Natur aus neugierig. Beim Spielen entdecken und lernen sie viel. Ein Beispiel: Ein Kind, vielleicht eineinhalb, spielt bei uns mit Klötzli. Auf einmal ertönt die Sirene eines Polizeiautos. Das Kind zuckt zusammen und rennt zum Fenster, die nächste Stunde kann es sich nicht mehr konzentrieren. Wenn das laufend passiert, lernt dieses Kind weniger. Der Stress absorbiert seine Lernfähigkeit.
Kobiashvili: Ich war ein verschlossenes Kind, das im Asylzentrum kaum mit anderen spielen wollte. In einem fremden Land sein, die Sprache nicht können, keine Freundin haben – es dauerte lange, bis ich mich integrieren konnte.
Ransberger: Leben noch andere Jugendliche im Zentrum in Aarwangen?
Kobiashvili: Nein, im Moment nicht. Als andere Jugendliche da lebten, hatten wir ein wenig Kontakt. Dann wurden sie entweder deportiert oder bekamen eine Aufenthaltsbewilligung. Niemand ist so lange dort wie ich.
Ransberger: Und Ihre Freundinnen aus der Schule, war mal eine zu Besuch?
Kobiashvili: Einmal. Aber wir haben nicht wirklich Platz. Lange habe ich mich auch geschämt, dass ich dort wohne. Ich wollte nicht, dass das andere wissen.
Edris: Alle meine Freundinnen haben eine Lehre gemacht und arbeiten jetzt. Warum ich nicht? Zehn Jahre sass ich nur herum, zehn Jahre sind einfach verloren.
Kobiashvili: Ich gehe seit acht Jahren in Therapie, denn ich habe in Georgien traumatische Dinge erlebt. Doch wie kann mir die Therapie überhaupt helfen, dass es mir psychisch besser geht, wenn sich bis heute nichts verändert hat? Wenn ich bis heute jeden Tag Traumata erlebe? Es fühlt sich an wie Zeitverschwendung.
Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Redaktorin Lea Stuber über Kinder in Nothilfe. surprise.ngo/talk
Besserung in Sicht?
Politik Nach einer Studie über die Situation von Kindern in der Nothilfe wurden in mehreren Kantonen Vorstösse eingereicht.
Im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission hat das Marie Meierhofer Institut die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe systematisch untersucht. Die Autorinnen sehen dringenden Handlungsbedarf bezüglich der psychischen und physischen Gesundheit, der Unterbringung, Beschulung und sozialen Teilhabe. Als Reaktion auf die Studie hat das Solinetz Zürich, das sich für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzt, zusammen mit vierzehn weiteren Organisationen (darunter Family-Help) im Oktober einen offenen Brief an den Zürcher Regierungsrat Mario Fehr (parteilos) geschrieben. Darin fordern sie den Kanton Zürich auf, die Handlungsempfehlungen der Studie umzusetzen, zum Beispiel familiengerechte Unterkünfte mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten oder einen besseren Zugang zur Volksschule und Berufsbildung. Eine Antwort haben sie nicht erhalten.
Die Kinderrechtsorganisation Save the Children arbeitet in mehreren Kantonen in Unterkünften, in denen Kinder in der Nothilfe leben. Ihre Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen der Studie. Weder würden derzeit die Kinderrechte eingehalten noch sei das Kindeswohl sichergestellt, schreibt Save the Children in ihrer Stellungnahme. Nina Hössli, die Leiterin der Schweizer Programme, sagt: «Politik, Behörden, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft müssen jetzt handeln. Und langfristig müssen wir Wege finden, damit Kinder in der Schweiz nicht mehr so aufwachsen müssen.»
Im Kanton Bern verlangen Politiker*innen in drei Motionen für Kinder in der Nothilfe eine Verbesserung der Wohnsituation, altersgerechte Tagesstrukturen und eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Zudem soll der Regierungsrat prüfen, ob die Kinderrechte im Asyl- und Nothilfesystem generell eingehalten werden.
Bereits in Kraft sind zwei Neuerungen im Kanton Luzern, wie die Dienststelle Asyl- und Flüchtlingswesen schreibt: Kinder im Vorschulalter haben neu Zugang zu Spielgruppen. Und Jugendliche bekommen nach der obligatorischen Volksschule Zugang zu vorbereitenden Angeboten für die berufliche Grundbildung, zu Integrationsbrückenangeboten sowie zur Berufslehre. Vorstösse für bessere Bedingungen für Kinder in der Nothilfe sind auch in den Kantonen Basel-Landschaft, Zürich, Schwyz, Thurgau, Waadt und Wallis eingereicht worden. LEA

«Die Schweiz hat einen ZweiKinderschutz.»
SANDRA RUMPEL ist Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Geschäftsleiterin des Vereins Family-Help. Das 30köpfige Team von Ärzt*innen und Therapeut*innen behandelte im Kanton Zürich im vergangenen Jahr 225 Kinder und Jugendliche aus dem Asylbereich, etwa 15 Prozent beziehen Nothilfe.
Klassen-



Schrei nach Sichtbarkeit
Kino Der Dokumentarfilm «Immortals» begleitet zwei Aktivist*innen während und nach der Oktoberrevolution im Irak. Wie viel Empathie ist möglich, wenn wir diese Bilder sehen?
INTERVIEW GIULIA BERNARDI
Maja Tschumi, 2019 und 2020 protestierte eine junge Generation in Baghdad gegen die politische Elite, gegen Korruption und den Einfluss der USA. Das Regime schlug die Proteste brutal nieder. Sie dokumentieren die Geschehnisse in Ihrem Film. Ich fand ihn sehr eindrücklich, war gleichzeitig aber auch skeptisch, aus welcher Position Sie sich als Schweizer Filmemacherin diesem Thema widmen würden. Was war Ihr Zugang dazu?
Maja Tschumi: Ich habe mir diese Frage von Anfang an gestellt: Wer hat das Recht oder die Pflicht, eine Geschichte zu erzählen?
Mein Interesse am Thema hat sich über Jahre hinweg entwickelt. Ich wurde 2003 durch den Irakkrieg politisiert. Später habe ich im Rahmen eines Workshops in Berlin einen Aktivisten aus Baghdad kennengelernt – das war 2019, als die Proteste ihren Höhepunkt erreicht hatten. Ich war schockiert, wie wenig man hierzulande über die Situation im Irak weiss. Während meiner Recherchen wurde mir schnell klar, dass alles, was man über die Proteste auf Social Media findet, ein Schrei nach Sichtbarkeit ist. Meine Motivation rührte aber auch daher, dass der Irak im Westen zu einer Chiffre für Terrorismus und politischen Islamismus wurde und die von der Jugend angeführten Proteste ein ganz anderes Gesicht hatten.
Inwiefern?
Politische Diskussionen, die zuvor in den Hinterzimmern des Regimes stattfanden, wurden nun öffentlich geführt. Die Demonstrant*innen forderten Freiheit und ihre seit 2003 versprochenen bürgerlichen Rechte. Auf Plätzen wurden Zeltstädte errichtet, die bedeutendste auf dem Tahrir-Platz in Baghdad. Sie waren eine neue Vision des Iraks: gewaltfreie Formen des Protests, Geschlechtergleichheit, Meinungsfreiheit, Kunst sowie die Ablehnung von Korruption und Islamismus.
Wir folgen im Film zwei Protagonist*innen: Mohammed al-Khalili und Milo. Wie haben Sie sie kennengelernt?
Als ich 2021 zum ersten Mal nach Baghdad gereist bin, habe ich zusammen mit dem irakischen Aktivisten, den ich in Berlin kennengelernt hatte, rund vierzig Aktivist*innen getroffen und mit ihnen über eine mögliche Kollaboration gesprochen. Unter ihnen war auch der Filmemacher Mohammed al-Khalili, der mir seine Aufnahmen der Proteste gegeben hat mit den Worten: «Ich will, dass die Welt sieht, was im Irak passiert.» Das war wie ein Auftrag, den ich gebraucht habe, um den Film zu machen. Das ist die Realität. Wir wünschen uns im Westen oft, dass die Leute vor Ort ihre Geschichten selbst erzählen – die strukturellen Ungerechtigkeiten stehen dem aber oft im Weg.
Welche Aspekte sind Ihnen bei diesem (Mit-)Erzählen wichtig? Mir ist beim Erzählen von Geschichten anderer wichtig, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes Narrativ behalten. Deshalb sind sie Co-Autor*innen des Films. Mohammed al-Khalili hat eigenes gefilmtes Material zum Film beigesteuert und Milo hat viele Ideen eingebracht, was man filmen könnte, weil gerade ihre Geschichte schwieriger dokumentarisch einzufangen war. Aber es gab kein Script.
Die eigene Position und das Machtgefälle zu reflektieren, das damit einhergeht, ist zentral in einer solchen Arbeit. Interessant ist aber, dass sich diese Frage in gewissen Kontexten neu stellen muss. Zum Beispiel, weil die dringliche Notwendigkeit zu berichten besteht.
Es war sehr wichtig, dass ich meine Position und die damit verbundene Verantwortung reflektiere, einschliesslich geopolitischer Beziehungen und Orientalismus. Ich fühlte auch eine Verantwor-

Die Position hinter der Kamera mitreflektieren –herausfordernd, aber notwendig.
ZVG
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tung. Der Westen hat im Irak die Kriege nach 2003 mitverursacht. Wenn man es so anschaut, sehe ich sogar ein Problem darin, sich als Nicht-Iraker*in aus der Verantwortung zu ziehen.
Sie plädieren also dafür, die Oktoberrevolution im Irak als Teil einer globalen und auch westlichen Geschichte anzuerkennen?
Genau. Eine der zentralen Forderungen der irakischen Oktoberrevolution war der Sturz des Post-2003-Systems. Der Irak ist nach dem Krieg gegen den IS ein dunkler Fleck auf unserer politischen Landkarte geworden. Ich finde es wichtig, dass wir nicht vergessen, was dort passiert. Ich bin der Meinung, dass der Standpunkt, ich könne eine Geschichte nur als Irakerin erzählen, voraussetzt, dass man an abgeschottete Identitäten glaubt. Mein Weg war aber Kollaboration.
Die Aufnahmen der Proteste vom Protagonisten Mohammed al-Khalili machen deutlich: Dokumentation ist für die Menschen ein Akt der Selbstermächtigung und eine Möglichkeit, ein Unrecht aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen, auch der eigenen.
Diese Form der Dokumentation hat während des Arabischen Frühlings und des syrischen Bürgerkriegs begonnen. Das Equipment wurde erschwinglicher und Dokumentation demokratisiert. Im Irak haben insbesondere junge Männer – weil sie viel freier sind als Frauen – die Proteste dokumentiert. Sie wissen, dass das sonst niemand macht, weil die Regierung die Proteste unterdrücken wollte.
Milo, die zweite Protagonistin, erzählt, dass sie sich als Mann kleiden, ihr Aussehen männlich codieren musste, um an den Protesten teilzunehmen. Als ihr Vater davon erfuhr, sperrte er sie ein Jahr lang ein und verbrannte ihre Kleider und ihren Pass. Ihre Lebensrealität steht in starkem Kontrast zu jener von Mohammed al-Khalili, der sich viel freier bewegen und sogar filmen kann.
Frauen haben im Irak ganz andere Biografien als Männer. Ich habe eine weibliche Protagonistin gesucht, die aufgrund der Proteste eine ähnliche existenzielle Reise wie Mohammed durchmacht. Das war sehr schwierig, weil die meisten Frauen von An-
fang an nicht dabei sein wollten oder sich später zurückgezogen haben. Milo und ihre Freundin Avin waren dabei, weil sie wussten, dass sie das Land verlassen würden.
Sichtbarkeit bringt auch eine Gefahr für die Protagonist*innen mit sich. Wie sind Sie während der Dreharbeiten damit umgegangen? Sie selber konnten das Land im Gegensatz zu den lokalen Protagonist*innen ja wieder verlassen.
Die Iraker*innen sind die Expert*innen ihrer eigenen Geschichten, auch in Sicherheitsfragen habe ich viel von ihnen gelernt. Von Anfang an war ich in täglichem Austausch mit Milo und Khalili. Und unser irakischer Co-Produzent wurde mein Sparringpartner. Er half mir, die einzuhaltenden Sicherheitsschranken zu verstehen. In seiner Form ist der Film für alle Beteiligten sicher.
Enthält der Film deswegen Erzählmomente, die die Realität nicht direkt abbilden?
Was Milo betrifft, mussten wir einige Szenen aus Sicherheitsgründen nachstellen. Wir entschieden uns gegen heimliche Filmaufnahmen und hatten eine Drehgenehmigung, um die Sicherheit aller zu gewährleisten. Trotzdem waren spontane Aufnahmen schwierig. Gleichzeitig wollte ich einen Film machen, der immersiv ist, einem Spielfilm nahekommt, weil ein Spielfilm wie ein Roman sein kann, der sich auf das Innenleben von jemandem konzentriert und darauf, wie dieses durch politische Umstände verändert wird.
Die Philosophin Susan Sontag stellte die Überlegung, dass Bilder aus Kriegs- oder Konfliktgebieten Empathie erzeugen, grundsätzlich infrage. Wie beurteilen Sie diese Haltung?
Ich habe viel zu Susan Sontag gelesen, weil sie auch darüber schreibt, wie man Gewalt darstellt, was ja auch im Film vorkommt. Meine Grundprämisse ist, dass Empathie möglich ist. Das ist die Grundprämisse von meinem ganzen Schaffen. Ich glaube, dass zum Beispiel der Konflikt zwischen Milo und ihrem Vater etwas Universelles an sich hat, an das ich anschliessen kann, auch wenn er nicht deckungsgleich ist mit meiner Lebensrealität. Oder wie Milo sich männliche Strategien aneignet, um in der Gesellschaft sichtbarer zu sein. Ich wollte, dass wir einen Zugang zu ihrer Lebensrealität bekommen. Und das geschieht für mich über Empathie.
MAJA TSCHUMI wurde 1983 in Basel geboren. Sie hat Philosophie und Literatur an der Universität Zürich studiert und Regie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Heute arbeitet sie als freischaffende Autorin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Für «Immortals» hat Tschumi im Rahmen der Solothurner Filmtage den «Prix de Soleure» erhalten.
«Immortals», Regie: Maja Tschumi, Dokumentarfilm, CH/IRQ 2024, 94 Min. Läuft ab 24. April im Kino.
Schonungslos ehrlich
Theater In «Monopoly» erzählen sieben von Armut betroffene Frauen und Männer aus ihrem Leben. Das braucht Mut.
TEXT ADELINA GASHI
Wie viel Geld befindet sich in diesem Moment auf Ihrem Konto? Wofür haben sie zuletzt unnötig Geld ausgegeben? Würden Sie sich wohl dabei fühlen, diese Fragen einer fremden Person zu beantworten? Über Geld redet man nicht. Eine stillschweigende Vereinbarung unter Schweizer*innen, an der bis heute kaum gerüttelt wurde. Nun trauen sich die Regisseur*innen Rebekka Bangerter und Jonas Egloff in ihrem Theaterstück «Monopoly» genau das: sehr direkt die Geldfrage zu stellen. Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Laut dem Global Wealth Report 2024 liegt sie aktuell sogar auf Platz eins der Liste der vermögendsten Staaten. «Es ist so einfach, in diesem Land wegzuschauen, weil es ja so vielen gut geht», sagt Regisseurin Rebekka Bangerter. «Ich habe schon oft gehört: ‹In der Schweiz gibt es doch keine Armut.›» Die Realität ist jedoch eine andere. Laut Statistik des Bundes leben in der Schweiz ca. 708 000 Menschen unter dem Existenzminimum, müssen also mit weniger als 1061 Franken pro Person und Monat durchkommen. Das sind 8,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung.
Alles ist wahr, nichts ist Fiktion Wie sieht der Alltag dieser Menschen aus? Welche Fragen beschäftigen sie? Und wie ist ihr Verhältnis zu Geld? Rebekka Bangerter und Jonas Egloff laden das Publikum dazu ein, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Die beiden fordern es von den Zuschauer*innen so gar regelrecht ein. «Das ist das Schöne an Theater», sagt
Bangerter. «Es bedeutet Commitment.» Was sie damit meint, wird an der ersten Probe mit Testpublikum deutlich. Es ist ein Montagabend Anfang April in der Aarauer Tuchlaube. Das siebenköpfige Ensemble wird sich gleich zum ersten Mal vor Publikum beweisen müssen. Nervös brüten die einen noch über ihren Texten, andere wollen nochmals die Regieanweisungen durchgehen.
In «Monopoly» stehen keine professionellen Schauspieler*innen auf der Bühne, alle sind Laien, die wissen, was Geldsorgen bedeuten. Es sind Gesichter und Geschichten, die die anonymen Zahlen aus den Statistiken zur Armutsbetroffenheit mit Leben füllen. «Sie erhalten eineinhalb Stunden Zeit, ihre Lebensrealität zu teilen», so Regisseurin Bangerter. Nichts davon ist Fiktion, es sind Wahrheiten, basierend auf den persönlichen Erlebnissen der Darsteller*innen. «Wir wollten ein Puzzle aus verschiedenen Erfahrungen schaffen», erklärt Rebekka Bangerter.
Da ist zum Beispiel Nadja Chahdi. Die Vierundzwanzigjährige ist alleinerziehende Mutter einer vierjährigen Tochter und ausgebildete Kleinkinderzieherin. Das Geld reicht kaum. «Ein Kitaplatz in der Schweiz ist wahnsinnig teuer, gleichzeitig wird Care Arbeit nicht geschätzt und schlecht entlöhnt», sagt Chahdi.
Über dieses Missverhältnis und ihr Leben am Existenzminimum spricht die junge Frau mittlerweile offen und bereitwillig. Auf Social Media folgen ihr viele. «Das ist Aufklärungsarbeit, die immer noch

«In der Schweiz wirst du, je nach finanzieller Situation, in eine Schublade gesteckt», sagt Nadja Chahdi, Influencerin und Darstellerin im Stück «Monopoly».

dringend nötig ist», sagt Chahdi. Darum habe sie sich auch dazu entschieden, bei «Monopoly» mitzuwirken. «In der Schweiz wirst du, je nach finanzieller Situation, in eine Schublade gesteckt. Und gerade Armutsbetroffene sind Stigmata ausgesetzt.» «Monopoly» ist ein Versuch, diesen Stigmatisierungen und dem grossen Schweigen etwas entgegenzusetzen. Dafür wird auch das Publikum in die Pflicht genommen. Das Stück will Berührungsängste abbauen, klar machen: Armut geht alle etwas an. «Uns gibt es», sagt sodann auch Nadja Chahdi, mit eindringlichem Blick an die Menge gewandt. Die Schauspieler*innen durchbrechen die vierte Wand und suchen immer wieder den Dialog mit den Besucher*innen. Sie schaffen Betroffenheit und machen die Geldfrage so zur gemeinsamen Sache. Das ist keine inszenierte Armutsschau, sondern ein ständiges Aushandeln mit dem Publikum. Das interaktive Element bricht mit der Schwere und Ernsthaftigkeit der Thematik und sorgt immer wieder für Lacher. Das schmälert die Dringlichkeit des Stücks jedoch in keiner Weise. Die Schauspieler*innen beweisen Mut im Erzählen und wirken durch ihre schonungslose Ehrlichkeit immer wieder entwaffnend. Etwa, als sie ihre jeweiligen Budgets preisgeben. Claudia Rohner erhält jeden Monat 1500 Franken von der IV. Sie lebt mit ihrer Freundin in einer kleinen Wohnung. Andere Freundschaften hat sie nicht mehr. «Das Leben mit wenig Geld kann ziemlich einsam sein», erzählt sie, während das Publikum gebannt zuhört. Und fügt an: «Das zu sagen, das braucht viel Überwindung.»
«Monopoly», Sa/So, 10./11. Mai und Di/Mi, 13./14. Mai, jeweils 20 Uhr, Sonntag 17 Uhr, Bühne Aarau, Alte Reithalle. Mit Surprise Stadtführerin Lilian Senn. So, 11. Mai, 16 Uhr: Auftritt Surprise Strassenchor. buehne-aarau.ch




Demo 1. Mai, 10 h Helvetiaplatz











Fest 1.5.—3.5.2025 Kasernenareal 1mai.ch










































Veranstaltungen
Winterthur
«Strings of Affection», Ausstellung, bis So, 4. Mai, Fr, 16 bis 20 Uhr, Sa / So, 14 bis 17 Uhr, oxyd-Kunsträume, Untere Vogelsangstr. 4. oxydart.ch

Ein Foulard hängt an einem Kleiderhaken, wie zufällig darüber geworfen. Daneben ein paar goldene Schmuckstücke, eine Zahnbürste, ein Waschbecken mit ein paar losen Perlen, ein kleiner Vogel, der wie ein Amulett vor rosafarbenen Wandfliesen schwebt. Eine ganze Reihe von Gegenständen und Elementen der Inneneinrichtung fügen sich in dieser installativen Arbeit von Sultan Çoban (*1994, lebt in Amsterdam und Zürich) zu einer Eingangssituation. Und zwar in ein Haus oder eine Wohnung, wie sie Çoban aus ihrer eigenen Familie kennt. Die Künstlerin schafft Inszenierungen, um Erinnerungen zu rekonstruieren und vergangene Momente wiederzubeleben. Dabei schöpft sie aus den mündlichen und visuellen Traditionen ihres kurdischen Erbes, und immer wieder auch aus der Popkultur der Neunziger- und Nullerjahre. «Strings of Affection», Fäden der Zärtlichkeit, heisst diese Gruppenausstellung, die von den emotionalen Verstrickungen innerhalb der Familie handelt. Nebst Çoban gehen Anna Hilti, Alizé Rose May und Juli Sando diesen mal zärtlichen, mal zähen familiären Fäden nach. Ihnen gemeinsam ist das Interesse an autobiografischen Verflechtungen und an transgenerationalen Beziehungen. Daran, wie sich Vergangenes im Jetzt weiterspinnt. DIF
St. Gallen
«Ich Tier Wir – Eine sonderbare Beziehung» und «Jeannette Vogel», Ausstellungen, bis So, 27. Juli; Di bis Fr, 14 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr; Open Art Museum, Davidstrasse 44. openartmuseum.ch

Der Mensch denkt sich ja gerne, es drehe sich alles um ihn hier auf dieser Welt. Entsprechend werden manche Beziehungen immer kom-
malisch individuell? Jedenfalls bleibt der Mensch gegenüber den Tieren unbedeutend.) Über Jeannette Vogel ist nicht viel mehr bekannt, als dass sie seit ihrem ersten Lebensjahr an Epilepsie litt und ihr gesamtes Leben in der EPI Klinik Zürich verbrachte. DIF
Thun
«Soldevian Surf Shop», Ausstellung, bis So, 30. Nov., Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Thun-Panorama, Schadaupark. thun-panorama.ch

plizierter. Zum Beispiel die von Mensch und Umwelt. Oder die von Mensch und Tier. Letztere wird auch immer widersprüchlicher: ausgebeutete Nutztiere auf der einen, hochgezüchtete und verhätschelte Haustiere auf der anderen Seite. Herzige Tierchen werden zu Sinnbildern für menschliche Empfindungen. (Kennen Sie die Kätzchen, die auf Instagram «APT.» von Rosé & Bruno Mars singen? Eben.)
Für die Wanderausstellung «Ich Tier Wir» haben sich das auf Outsider Art, Art Brut und Naive Kunst spezialisierte Open Art Museum in St. Gallen, das Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen und das Naturama Aargau vernetzt. Die Ausstellung im Open Art Museum legt den Fokus auf künstlerische Reflexionen der Mensch-Tier-Beziehung. Ergänzt wird sie um eine Einzelschau zu Jeannette Vogel. In ihrer Tierwelt erhalten die Wesen einen eigenen Ausdruck, sie wirken schüchtern, keck, neugierig, bereit, aus dem Bild zu springen. (Ist das jetzt auch menschlich? Oder ani-
lassen die Besucher*innen über die Grenzen, Möglichkeiten und Wechselwirkungen zwischen beiden Welten nachdenken. DIF
Basel
«Suzanne Lacy: By Your Own Hand», Ausstellung, bis So, 7. Sept., Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 21 Uhr, Museum Tinguely, Paul Sacher-Anlage 1. tinguely.ch
Die Videoinstallation «De tu puño y letra (By Your Own Hand)» der US-amerikanischen Künstlerin Suzanne Lacy über geschlechtsspezifische Gewalt ist eine ihrer zentralen Arbeiten. Lacy ist eine Pionierin der feministischen und aktivistischen Performancekunst seit den Siebzigerjahren, und sie hat schon früh Kunst mit sozialem Engagement verbunden. Ihre Werke entstehen oft in Kollaboration mit lokalen Communitys und rücken gesellschaftliche Missstände in den Fokus, thematisieren häusliche Gewalt, Altersdiskrimi-
Ein Surfer-Paradies im Thuner Schadaupark! Genauer: Eine detaillierte farbenfrohe Nachbildung eines Surf-Shops aus Karton, der Zürcher Künstler Patrick Graf hat sich dafür von lokalen Flusssurfer*innen inspirieren lassen. Wasserfest sind die Artikel hier zwar nicht, aber die sommerlichen T-Shirts, Badehosen und Bikinis aus Karton dürfen gerne anprobiert werden. Wer sich nicht auf eigene Faust umsehen möchte, kann sich das Sortiment vom Schauspieler, Drehbuchautor und Kunst-Enthusiasten Beat Schlatter zeigen lassen (2. Mai, 18. Sept. und 19. Okt.). Für diejenigen, die die digitale Welt lieber mögen als jene aus Karton, hat Graf mit Gamedesignern das 3D-Spiel «Soldevia Space Surfers Club» entwickelt, das über einen QR-Code kostenlos abrufbar ist. Graf ist für zwei Arten von Bildwelten bekannt: einerseits für seine detaillierten Zeichnungen und Gemälde von Fantasiewelten, bevölkert von Figuren aus der Popkultur und von Bildern, denen er in seiner Kindheit begegnet ist –andererseits schafft er gerne physische, begehbare Umgebungen. Der reale und der virtuelle Raum ergänzen sich nicht bloss, sondern

nierung und Migration. In der Videoinstallation «De tu puño y letra (By Your Own Hand)» treten nacheinander männlich gelesene Personen vor, die in sachlichem Ton Auszüge aus Briefen von Frauen lesen: Zeugnisse brutaler geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Beklemmung auslösen, sie berichten von sexuellen Übergriffen bis hin zu Gruppenvergewaltigungen und Femizid. Die Filmaufnahmen entstanden in einer Stierkampfarena in Quito (Ecuador), einem männlich konnotierten Raum, der traditionell von Gewalt und Dominanz geprägt ist. Es war eine Performance im Rahmen von «Cartas de Mujeres» – einem Projekt in Quito zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. 600 männlich gelesene Personen nahmen teil, vorausgegangen waren Workshops mit Männern und Jungen zu genderspezifischer Gewalt und dem sozialen Konstrukt von Maskulinität. DIF

Pörtner in Zürich, Seilbahn Rigiblick
Surprise-Standorte: Migros
Einwohner*innen: 448 664
Sozialhilfequote in Prozent: 5,5
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 33,7
Gründungsjahr Seilbahn Rigiblick: 1978 – 79, Neubau 2011
Wer die in Aussicht gestellte Aussicht auf den berühmten Berg geniessen will, muss dazu die Standseilbahn benutzen, die in sechs Minuten fährt, bei Andrang frühere Abfahrt möglich. Andrang herrscht keiner, selbst von der Bergstation aus wird bei diesem trüben Wetter nichts zu sehen sein, und im gleichnamigen Theater findet um diese Zeit keine Vorführung statt. Hingegen rollt am Platz bei der Talstation der Verkehr, Autos, Lastwagen, Trams, Busse, Velos, Roller, alles fährt vorbei an verschiedenen Coiffeur- und einem Nail-Salon, der Fingernägel und Augenwimpern im professionell amerikanischen Stil anbietet. Wer sich nicht über die viel befahrene Strasse traut, kann diese unterqueren und gelangt auf einen schmalen Weg, der auf die Stolze-Wiese führt, wo einmal
im Jahr ein legendäres Gratis-Open-Air steigt. Direkt an der Strasse liegen zwei Traditionslokale, der alte Löwen und die Linde, letzteres ist gleichzeitig das Haus der Zunft Oberstrass, so heisst das Quartier. Beide Lokale verfügen über eine Anzahl Aussenplätze, die Saison ist aber noch nicht gestartet oder bereits wieder unterbrochen. Das gegenüberliegende, moderne Restaurant, das nur pflanzenbasierte Speisen anbietet, verfügt über einen geheimen Garten, etwas versteckt, aber gut ausgeschildert und darum nicht ganz so geheim.
Etwas diskreter, nämlich mit einem hölzernen Wegweiser ausgeschildert ist die Trainingshalle des Schwingklubs Zürich, ein Gebäude, dessen Existenz mitten in der Stadt viele überrascht.
Der Weg führt an einem Minimalspielplatz vorbei. Auch eine Burger-Boutique findet sich, sie ist Teil eines BoutiqueHotels. Dahinter wirbt eine auf die Hauswand gemalte Werbung für einen Kartenverlag, der allerdings nicht hier residiert.
Stufen führen hinab zum Kiesplatz neben dem alten Löwen, eine kleine Flutlichtanlage steht bereit, damit das bereits laufende Boule-Spiel bis in die Nacht fortgesetzt werden kann. Das Wirtshaus wird von einem Wandgemälde einer wilden Kutschenfahrt geziert.
Wie es sich für die Stadt gehört, wird hier auch gebaut. Ein grosses Mehrfamilienhaus, das eigentlich noch gut in Schuss zu sein scheint, ist abgesperrt und wird saniert oder gar abgerissen. Fast fertig ist ein Neubau aus bronzefarbenem Stahl und Glas mit einem kleinen, runden Turm, ein Gebäude, das über modernste Technik verfügen wird, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen, wie eine Infotafel informiert. Schon länger steht die Villa, die über der Talstation der Seilbahn thront. Ein blauer Kleber am Neubau ruft zur Wohnungsnotdemo auf.
Bei der Tramstation gibt es eine Telefonkabine, der rote Hörer hängt herunter, solange es Telefonzellen gibt, werden sie vandalisiert. Wahrscheinlich öfter als zum Telefonieren benutzt. Wer zu Hause das Geschirr zerschlagen hat, findet hier Ersatz in einem Fachgeschäft, dessen Öffnungszeiten aber nur online zu erfahren sind. Auch für sonstige Schäden im Haushalt steht eine Werkstatt bereit, die von Schuhen über Fahrräder bis hin zu Haushaltsgeräten alles repariert.

STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Stiftung Litar
Gemeinnützige Frauen Aarau
BODYALARM – time for a massage
Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich
Evangelisch-Lutherische Kirche Basel
Madlen Blösch, Geld & So, Basel
AnyWeb AG, Zürich movaplan GmbH, Baden Hagmann-Areal, Liegenschaftsverwaltung Maya Recordings, Oberstammheim
Neurofeedback-tzk.ch, Kirchberg SG
TYDAC AG, Bern
CPLTS GmbH
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken
Holzpunkt AG, Wila
InhouseControl AG, Ettingen
ZibSec Sicherheitsdienst, Zürich Mach24.ch GmbH, Dättwil
Martina Brassel – Grafik Design, Zürich
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Praxis Carry Widmer, Wettingen Indian Summer AG, 8804 Au ZH
Büro Dudler, Raum- & Verkehrsplanung, Biel Fäh & Stalder GmbH, Muttenz
Scherrer & Partner GmbH, Basel
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?
Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.
Spendenkonto:
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel
Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.
Fasse
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA
Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?
Das Programm Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-Verkäufer tätig. Entweder verkauft der gebürtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 65-Jährigen beginnt frühmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstützt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende
Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
Spendenkonto:
Unterstützungsmöglichkeiten:
· 1 Jahr: 6000 Franken
· ½ Jahr: 3000 Franken
· ¼ Jahr: 1500 Franken
· 1 Monat: 500 Franken
· oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90
info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
#Strassenma g azin
«Entmutigend, deprimierend und belastend»
Surprise verkaufen ist ein harter Job. Ich stehe zurzeit für eine Friedensmahnwache für eine Stunde jeweils am Freitag an der FraumünsterKirche in Zürich. Schon das ist hart, besonders wenn es kalt ist. Wieviel härter muss es dann sein, vier bis acht Stunden täglich bei jedem Wetter irgendwo zu stehen. Und das –wie ich vermute – für einen äusserst bescheidenen Lohn. Hinzu kommt, dass wahrscheinlich die meisten Menschen Surprise nicht wegen der guten Artikel kaufen, sondern um den Verkaufspersonen wenigstens ein bescheidenes Einkommen zu ermöglichen. Es ist also verdeckte Bettelei. Wobei ich nichts gegen Bettelei habe. Allerdings wünsche ich mir für die Verkäufer von Surprise eine Arbeit, die als Arbeit anerkannt ist und die auch entsprechend honoriert wird. Seit der Erhöhung des Verkaufspreises hat sich die Situation wahrscheinlich noch verschärft. Ich jedenfalls kaufe nur noch selten die Zeitschrift, sondern gebe den Verkaufspersonen einen Betrag zwischen 5 und 6 Fr. und gelegentlich 8 oder 10 Fr direkt, ohne Surprise. Damit wenigstens sie nicht noch weniger verdienen. Soweit ich das überhaupt beurteilen kann, beruhen alle Artikel im Surprise auf Tatsachen, sind aufklärerisch und beschreiben zum grossen Teil das Leben auf der untersten sozialen Stufe – ehrlich und ungeschminkt. Es ist also guter Journalismus. Die Artikel sind aber auch oft entmutigend, deprimierend und belastend. Ich vermute, dass Surprise sowieso nur von einem sehr kleinen Personenkreis gekauft wird. Schon von den sogenannten Massenmedien wird man ständig mit Horrorgeschichten bombardiert. Das ist nicht gerade wohltuend. Wie wäre es darum, wenn Surprise seinem Namen wirklich gerecht wird und bewusst nur noch über echte positive Überraschungen berichtet?
WILLIAM MÖRITZ, Zürich
Imp ressum
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Redaktion
Verantwortlich für diese Ausgabe:
Klaus Petrus (kp)
Esther Banz, Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win)
T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Ralph Schlatter, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Philipp Bear, Giulia Bernardi, Adelina Gashi, Polina Grozenok, Jonathan Liechti, Urs Habegger
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
Druck
AVD Goldach
Papier
Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Auflage 25 520
Abonnemente CHF 250.–, 25 Ex./Jahr
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Antwort der Redaktion:
Surprise ist ein Angebot für Menschen, die temporär oder dauerhaft keinen Anschluss im ersten Arbeitsmarkt finden. Sie können bei uns einer Verkaufstätigkeit nachgehen, die sie weitgehend selbstbestimmt einteilen und gestalten können. Der Verkauf des Magazins ist mit anderen Verkaufstätigkeiten zu vergleichen (z.B. am Kiosk), nur dass es keine festen Arbeitszeiten gibt. Der Lohn der Verkaufenden ist von Person zu Person unterschiedlich, für die einen ist es ein notwendiger Zuverdienst, für die anderen das einzige Auskommen. Es ist ein Trugschluss, dass reine Geldzuwendungen ohne Heftverkauf den Verkäufer*innen mehr nützen. Denn weder gibt es auf diese Weise Sozialabgaben noch könnte Surprise überleben, wenn das Schule machen würde – und ohne das Heft würden die Verkäufer*innen ihre Arbeit verlieren. Das Strassenmagazin ist ein reguläres Presseprodukt mit einer professionellen Redaktion. Mit unserem Journalismus möchten wir den Leser*innen die Ursachen von Armut und Ausgrenzung sowie die Lebenswelten der Verkäufer*innen näherbringen. Wir verstehen diese Sensibilisierung als unseren Auftrag. Die beglaubigte Auflage von Surprise liegt bei 18 613 Exemplaren (WEMF 2025). Das Magazin hat keinen Unterhaltungsauftrag – auch wenn wir uns freuen, wenn die Geschichten gern gelesen werden. Dass die Perspektive von Armutsbetroffenen oft keine leichte und unbeschwerte ist, liegt uns auch auf der Seele. Wir dürfen gerade deswegen nicht aufhören, hinzuschauen.
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Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.
25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50.–)
Gönner*innen-Abo für CHF 320.–
Probe-Abo für CHF 40.– (Europa: CHF 50.–), 4 Ausgaben Reduziert CHF 28.– (Europa: CHF 35.–)
Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.–
Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.
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Email: info@surprise.ngo Telefon: 061 564 90 90 Post: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel
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Marcel Lauper
*18. November 1974 bis †23. Februar 2025
Zu Surprise kam Marcel Lauper über die «Schrägen Vögel», eine Zürcher Theatergruppe mit Menschen vom sogenannten Rand der Gesellschaft. Ein toller Schauspieler sei er gewesen, sagen die, die ihn von da kannten. Nicole Stehli, die die «Schrägen Vögel» heute noch leitet, arbeitete 2014, als die Sozialen Stadtrundgänge im Aufbau waren, für eine kurze Zeit bei Surprise – und schlug Marcel als Stadtführer vor. Von Beginn an bildete er zusammen mit dem Surprise-Verkäufer Daniel Stutz ein Team, ihre Tour hiess «Armutsfalle Sucht». Nicht nur die Drogenabhängigkeit, auch die Wohnungslosigkeit wurde mit Marcels Biografie Thema der Führung. Er lebte im Wohnheim der franziskanischen Gassenarbeit im Zürcher Kreis 5, und sein Zuhause wurde so zur Station auf der Tour.
Marcel war es ein grosses Anliegen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Er erklärte auf seinen Touren die Schweizer Drogenpolitik mit ihrem Vier-Säulen-Prinzip, basierend auf Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Er würdigte die Lehren, die die Stadt Zürich aus der Zeit der offenen Drogenszene auf dem Platzspitz und dem Letten zog und deren Ansätze später von Ländern weltweit übernommen wurden. Ein menschenwürdiger Umgang mit der Drogenproblematik, die ärztlich kontrollierte Heroinabgabe für Schwerstabhängige. Marcel verstand sich immer als Sprachrohr seiner Generation von Drogenabhängigen, und er wollte mit seinen Erfahrungen ganz speziell die jungen Menschen erreichen. Auch bei der franziskanischen Gassenarbeit wirkte er bei Präventionsveranstaltungen mit.
Ihn interessierte ganz grundsätzlich, wie Gesellschaft funktioniert. Anlässlich der Kunstausstellung Manifesta verfasste er 2016 für ein Surprise-Sonderheft einen Text über eine Videoinstallation. «Ich weiss sofort, darüber will ich schreiben» notierte er. Es waren Gruppendiskussionen zu unterschiedlichsten gesellschaftlichen Themen zu sehen: «Man spricht über Sexualität früher und heute, Migration, Integration, kulturelle Unterschiede, Verzeihen und Verzeihen lernen und darüber, wie man Ängste erkennt. Was wissen wir schon voneinander? Wo sind Gemeinsamkeiten, und wie fest sind wir geprägt vom Gegenüber?», schrieb er dazu.
Auf den ersten Blick konnte Marcel schüchtern wirken, zurückhaltend, bubenhaft mit seinen meist etwas zerzausten Haaren. Aber er traute sich hinzustehen und von seinen Erfahrungen zu erzählen. An seinen guten Tagen war er aufgeweckt, interessiert, lebendig, zugewandt. Gleichzeitig traf man ihn immer wieder auch in Momenten an, in denen es ihm offensichtlich nicht gut ging. In Zeiten, in denen er Stimmen hörte, gegen innere Dämonen kämpfte, sich selber und die Welt um sich herum verlor.

Als Surprise-Stadtführer war es ihm ein persönliches Anliegen, Aufklärungsarbeit in der Drogenproblematik zu leisten. Besonders die jungen Menschen wollte Marcel Lauper damit erreichen.
Oft ging er tanzen – Techno, elektronische Musik war sein Ventil. Die Technoszene bot Fluchtmöglichkeiten. Eine Welt, in der auch Drogen präsent sind. Eine Welt, die gleichzeitig befreien und herunterziehen kann. Im Alltag kümmerte er sich aber auch geradezu leidenschaftlich um das Bienenvolk auf dem Dach des «Haus Zueflucht», der Wohn- und Arbeitsstätte, wo er lebte. Verkaufte den eigenen Stadthonig des Hauses. Machte viel und gerne Gartenarbeit. Die Bienen, die Pflanzen. Die Natur konnte ihn erden.
Die Stadtführungen musste Marcel 2017 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, das Strassenmagazin verkaufte er weiterhin, meist am Sihlquai, manchmal auf der Bahnhofbrücke, immer mal wieder mit Unterbrüchen, in letzter Zeit eher wieder aktiver als zuvor.
Bei fast allem, was er tat, war spürbar, dass Marcel seinen Beitrag zur Gesellschaft leisten wollte. Dass er leben wollte, trotz seiner Probleme. Seine Energie reichte nun doch nicht ganz aus. Marcel Lauper starb am 23. Februar, im Alter von 50 Jahren.
Aufgezeichnet von DIANA FREI

Hörkombinat :Politik – ein Podcast von Elvira Isenring und Dominik Dusek, jeweils im Hintergrundgespräch mit Journalist:innen von der WOZ, «Tsüri.ch», «Das Lamm», «Surprise» und WAV.


Hörkombinat :Politik – Folge 66

Die unsichtbaren Dritten
Zur Migrationsagentur ICMPD
Zu Gast: Lorenz Naegeli und Reto Naegeli (WAV)
79 Millionen Euro Budget, ein Engagement in einem viel und heiss diskutierten Bereich, der Leiter ist ein ehemaliger österreichischer Vizekanzler –und trotzdem kennt kaum jemand die ICMPD. Die Agentur dient als Schaltstelle zur Abwicklung von Aufträgen im Migrationsbereich. Sie arbeitet mit hoch bedenklichen Körperschaften wie dem libyschen Grenzschutz zusammen, jüngst wurden Korruptionsfälle aufgedeckt. Es gibt also eine Reihe von Gründen, die Tätigkeit des «International Center for Migration Policy Development» zu durchleuchten.
Ab 1. September 2024 überall, wo es Podcasts gibt.
Ausserdem zu hören auf:
→ Radio Rasa (2. September, 11 Uhr)
→ Radio RaBe (3. September, 12 Uhr)
→ Radio LoRa (5. September, 15 Uhr)
→ Radio Stadtfilter (6. September, 19 Uhr)

SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer
Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Alle
Ein
Strassenmagazin kostet 8 Franken.
Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.

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