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Strassenmagazin Nr. 566 5. bis 18. Januar 2024

CHF 8.–

davon gehen CHF 4.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Integration

Kampf um Anerkennung Lucy Oyubo macht man es schwer, hierzulande anzukommen. Obwohl sie wirklich alles gibt. Seite 8

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Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.

Ein Strassenmagazin kostet 8 Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.

Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.

info@surprise.ngo

Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.


TITELBILD: KLAUS PETRUS

Editorial

Kunterbunt Könnten Sie sich vorstellen, wie das ist in einem fremden Land? Sie kennen die Sprache nicht, haben keine Freund*innen und kaum Geld. Sie wissen: Ich muss dringend Fuss fassen, doch bei allem, was Sie tun, haben Sie Hindernisse zu überwinden, es werden Ihnen Steine in den Weg gelegt, nur weil Sie angeblich «anders» sind als die Übrigen. Wann würde Sie der Mut oder die Kraft verlassen? Lucy Oyubo aus Kenia lebt seit bald zwanzig Jahren in der Schweiz; manchmal schritt sie mit Siebenmeilenstiefeln voran, manchmal war es bloss ein Tippeln – aufgegeben aber hat sie nie, ab Seite 16. Oder haben Sie sich schon mal ausgemalt, wie ein Leben 3500 Kilometer von hier entfernt im Arktischen Meer, auf irgendeiner Insel wäre? Wo es manchmal um die sechs Grad hat, die allermeiste Zeit aber Temperaturen unter null herrschen? Und wo es verboten ist, ohne Gewehr aus dem Haus zu gehen – und das nicht wegen den Wilden Kerlen, sondern aus

4 Aufgelesen 5 Na? Gut!

Anspruch auf Bleiberecht 5 Vor Gericht

Die Storen der Credit Suisse 6 Verkäufer*innenkolumne

Bei Regen und bei Sonnenschein

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7 Die Sozialzahl

Kinderspezifische Deprivation 8 Arktis

Die Angst, offen zu reden

Angst vor Eisbären? Also, ich weiss nicht recht; jedenfalls hatte ich meine Zweifel vor der Lektüre der Reportage aus dem hohen Norden, ab Seite 8. Die Frage «Könnten Sie sich das vorstellen?» klingt harmlos, doch sie hat es in sich. Weil sie uns auffordert, uns an andere Orte oder in andere Menschen zu versetzen. Die eigene Brille abzulegen und sich eine andere aufzusetzen. Dinge, die sich fest­ ge­setzt haben, in neuem Licht zu sehen, den Blick zu öffnen, wieder einmal die Perspektive zu wechseln. Mir gefällt die Vorstellung, dass ein simples «Könnte es auch anders sein?» gerade in Zeiten von Krisen, Kriegen und der Polarisierung der Gesellschaft uns darin erinnert, die Dinge statt schwarz-weiss viel öfter in Grautönen zu sehen – oder auch mal kunterbunt. KL AUS PETRUS

Redaktor

16 Integration

Schlechte Chancen trotz guter Ausbildung 22 Kino

Der Lauf der Lebens­zyklen 24 Buch

Abgründe in Landschaftsbildern 26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse

Pörtner in Frenkendorf 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Nie hätte ich gedacht, noch einen Job zu finden»

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Aufgelesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTOS: SCARP DE’ TENIS

Symbole des Neuanfangs Ilaria Santambrogio ist fast 50 und hat vor kurzem aufgehört, Perücken zu tragen. Seit ihrem 10. Lebensjahr wurden ihre Kopfhaare immer weniger, lange trug sie aus Angst vor Aus­ grenzung Kunsthaar. Nun hat sie sich zum radikalen Gegenentwurf ent­ schieden: keine Perücke mehr, dafür ein auffälliges Tattoo. Gestochen hat es Gilberta Vita, nur ein Jahr jünger als Santambrogio und studierte Bildhauerin aus Mailand. Mithilfe ihrer vor allem floralen Motive formt sie die durch Krankheit und Operationen versehrten Körper zu Kunstwerken um. Es gehe um einen Prozess der Transformation, sagt die Künstlerin. «Meine Entwürfe sollen nicht verdecken, kaschieren oder verstecken – es sind Symbole der Wiedergeburt, eines Neuanfangs.»

SCARP DE’ TENIS, ITALIEN

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Geschlecht medizinisch relevant

Wo Vertrauen beginnt

Anatomisch begründet dauert der Transit von Medikamenten durch den Dickdarm bei Frauen länger als bei Männern, sagt Sabine Ludwig, Direktorin des Instituts für ­Diversität in der Medizin an der Uni Innsbruck. Dementsprechend verbleiben Wirkstoffe länger im Körper einer Frau, weshalb es nötigt ist, Arzneistoffe an beiden Geschlechtern zu testen und Unterschiede im B ­ eipackzettel entsprechend auszuweisen. Auch bei psychischen ­Erkrankungen gebe es geschlechtsbezogene Differenzen: Depressionen und Angststörungen kommen bei Frauen öfter vor, Männer unter­nehmen häufiger erfolgreiche Suizidversuche. Recht bekannt ist bereits, dass die Symptome von Herz­infarkten bei Frauen und Männern verschieden sind – alles klare B ­ eweise für die Notwendigkeit geschlechtssensibler Medizin, die das Institut in Innsbruck vorantreiben will.

Laut einer Bertelsmann-Studie sind 46 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands davon überzeugt, der gesellschaftliche Zusammenhalt sei schlecht. 54 Prozent ­haben den Eindruck, er sei gefährdet. Im Westen sind beide Werte zehn Prozent niedriger. Ein Lichtblick: Auf beiden Seiten der ehemaligen innerdeutschen Grenze meinen etwa 70 Prozent, der Zu­ sammenhalt in der ­eigenen Wohngegend sei gut oder sehr gut.

AUGUSTIN, WIEN

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Na? Gut!

Anspruch auf Bleiberecht Um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu gefährden, harren Migrantinnen, die häusliche Gewalt erleben, ­oftmals in ihren Beziehungen aus (siehe Surprise 563/23). Nun soll ihre ­ausländerrechtliche Situation verbessert werden. Der Bundesrat u ­ nterstützt eine Vorlage der Staatspolitischen Kommission des ­Nationalrats, die dafür das Aus­ länder- und Integrationsgesetz (AIG) ändern will. Die Härtefallregelung im AIG soll laut Gesetzesentwurf für einen ­grösseren Kreis von Menschen gelten, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Neu sollen Angehörige von Menschen mit einer Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), einer Kurz­ aufenthaltsbewilligung (Ausweis L) sowie von vorläufig Aufgenom­ menen (Ausweis F) eine Aufenthaltsregelung erhalten. Bisher konnten diese eine solche zwar beantragen, hatten aber keinen rechtlichen ­Anspruch darauf. Nur ausländische Angehörige von Schweizer*innen und von Menschen mit einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) hatten dies bisher. Der Begriff «eheliche Gewalt» soll zudem durch «häusliche Gewalt» ­ersetzt werden und dadurch verdeutlichen, dass nicht nur Eheleute ­Anspruch haben, sondern auch deren Kinder, Personen in einer einge­ tragenen Partnerschaft und neu auch Lebenspartner*innen. Als Erstes wird der Nationalrat über die Vorlage diskutieren. LEA

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Surprise 566/24

Vor Gericht

Die Storen der Credit Suisse Seit Jahren ist aus Strafjustizkreisen zu hören, die Lage sei dramatisch, das Schweizer Rechtssystem stehe vor dem Kollaps. Von über 100 000 unerledigten Fällen war im letzten Sommer in den Medien zu lesen. Von Tötungsdelikten, die wegen Überlastung der Strafverfolgungsbehörden ungeahndet verjährten. Von Ressourcenmangel und ausuferndem Formalismus. Umso verwunderlicher – oder eben nicht – sind dann Fälle wie der folgende: Anlässlich der offiziellen 1.-Mai-Demonstration kam es 2022 in Zürich entlang der Umzugsroute zu den üblichen Sprayereien und Klebereien. Betroffen war auch eine Filiale der Credit Suisse. An die heruntergerollten Storen wurde ein Plakat gekleistert, bestehend aus 36 einzelnen A4-Seiten, die sich zu einem Bild fügten, die Aufschrift: Smash Fascism! Auf Anzeige der Bank ermittelten die Strafverfolgungsbehörden fast neun Monate lang. Ein heute 23-jähriger, einschlägig vorbestrafter junger Mann wurde wegen «Sachbeschädigung aus Anlass einer öffentlichen Zusammenrottung» angeklagt – und vom Bezirksgericht Zürich im April dieses Jahres erstinstanzlich schuldig gesprochen. Die Strafe: 140 Tagessätze zu 30 Franken, unbedingt. Diesen Entscheid zog der Mann weiter. Nein, er werde weder Fragen zu seiner Person noch zur Sache beantworten, macht er gleich eingangs des Prozesses klar. Das sei sein gutes Recht, erwidert der Oberrichter. Nur eine Sache: Im Laufe des bisherigen Ver-

fahrens habe er den Sachverhalt anerkannt – ob er dies auch heute anlässlich der Berufungsverhandlung bestätige. Tut er – allerdings erst nachdem seine Strafverteidigerin zehn Minuten auf ihn eingeredet hatte. Nicht viel länger braucht sie, um die Anklage der Staatsanwaltschaft und den erst­ instanzlichen Schuldspruch gründlich zu zerpflücken. Erstens, indem sie den von der Credit Suisse geltend gemachten Sachschaden von 4311 Franken für die Reinigung der Storen infrage stellt. Auf den ­Bildern sei zu erkennen, dass sich die Papierbögen teils von selbst lösten und zu Boden fielen, was die Staatsanwaltschaft nie kritisch überprüft habe. Ein feuchter Lappen hätte gereicht, um die Kleisterrückstände zu entfernen, so die Verteidigerin. Dann wäre, zweitens, von einem «geringfügigen Sachschaden» auszugehen. Bagatelldelikte aber werden im vereinfachten Verfahren als Übertretungen mit einer Busse geahndet, Fall erledigt. Genau so hätte das auch vorliegend laufen sollen, stattdessen habe die Staatsanwaltschaft eine Staatsaffäre gesponnen, so die Anwältin sinngemäss. All dem könne man nur beipflichten, sagt der Gerichtspräsident bei der Urteilseröffnung. Das Gericht folgt den Argumenten der Verteidigerin durchs Band. Die Beweisgrundlage für den Schaden sei in der Tat: dünn. Eine «öffentliche Zusammenrottung» könne dem Beschuldigten nicht nachgewiesen werden und schon gar kein Vorsatz, einen grösseren Schaden anzurichten. Das Gericht brummt dem Mann eine Busse von 500 Franken auf – und nach weniger als zwei Stunden ist die Sache gegessen.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: ADELINA LAHR

Verkäufer*innenkolumne

Bei Regen und bei Sonnenschein Da ist nichts Genaues, nichts Verlässliches. Keine Linie, kein Plan. Nichts, das mir helfen könnte. Ich tappe im Ungewissen. Selbst langjährige Erfahrungen taugen in dieser Angelegenheit nicht als Werte, nach denen ich mich richten könnte, taugen nicht als Präferenz, sind nur müder Tand, eine Illusion. Mit Verwunderung musste ich das im Lauf der Jahre zur Kenntnis nehmen. Wenn ich nur die nächsten paar Stunden der Zukunft lesen und wissen könnte, es wäre mir viel geholfen. Es geht darum: Wenn ich in der Bahn­ hofunterführung zu Rapperswil stehe und meine Surprise-Hefte verkaufe, ist alles möglich, immer. Der Heftverkauf kann gut oder mager sein, egal zu welcher Tageszeit, egal unter welchen Umständen und egal bei welchem Wetter. Es giesst aus schwarzen Wolken. Eine kalte Bise weht. Weltuntergang ist nicht, aber so ähnlich könnte der aussehen. Dennoch stehe ich hier mit meinen Surprise-Heften. Offen bleibt die Frage: Warum nur fahre ich bei diesem Wetter nach Rapperswil, wo sein Haus wahrscheinlich nur verlässt, 6

wer unbedingt muss? Na ja, genau an solchen Tagen habe ich, gegen jede Erwartung, auch schon ganz hübsch Hefte verkauft. Das ist nicht die Regel, aber es kam vor. Umgekehrt bin ich an warmen, prächtigen Sonnentagen, wo man meint, jedes Menschenherz müsse jubilieren und nach einem Strassenmagazin be­ gehren, leer ausgegangen. Auch das ist nicht die ­Regel. Wie gesagt: Es gibt in dieser Sache keine Regel, weder Foul noch Offside noch Hands. Aber jedes verkaufte Heft, egal ob bei Sonnenschein oder ­Regen, lässt mein Herz vor Freude hüpfen, wie bei einem Goal für die unsrigen. Ich bin mir ­sicher: All meinen Verkaufskolleg*innen geht es genauso. Aber ich zweifle: Wessen Sinn, Stimmung und Laune soll heute, bei dieser Tristesse, nach einem Surprise stehen? Was soll’s, wo ich schon mal hier bin, mache ich mein Wägeli verkaufsklar und hole im Kiosk gegenüber einen Kaffee zur Aufmunterung. Was soll ich sagen? Die Laune von uns Menschen ist nicht allein vom Wetter abhängig. Es gibt sogar welche, die solch

trübe Regentage direkt mögen, sich darin wohlfühlen und sie gar geniessen. Viele sind an diesem Tag nicht unterwegs, aber viele von den wenigen, die unterwegs sind, kaufen mir trotz aller äusseren, düsteren Widerwärtigkeit scherzend und gut gelaunt ein Heft ab. Wahrlich: Wie es ausserhalb von uns aussieht, können wir nicht immer beeinflussen. Wie es in uns drin aussieht, aber immer.

Urs Habegger, 67, verkauft Surprise seit 15 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Er findet Regeln im täglichen Leben ganz praktisch. Aber beim Surprise-­ Verkaufen weiss man nie.

Die Texte für diese Kolumne werden in gemeinsamen Workshops von sozialer Arbeit und Redaktion erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 566/24


INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2023). MEDIENMITTEILUNGEN VOM 10.10.23 UND 16.11.23. NEUCHÂTEL.

Die Sozialzahl

10,5 Prozent der Kinder in Haushalten mit Zahlungsrückständen, 15 Prozent der Kinder aus Einelternhaushalten und 17,6 ­Prozent der Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten häufig sozialer Benachteiligung ausgesetzt.

Kinderspezifische Deprivation Kinderspezifische Deprivation: welch ein sperriger Begriff, den das Bundesamt für Statistik verwendet, um die Benachteiligung von Kindern in unserer Gesellschaft zu beschreiben. Kinder er­ fahren diese Benachteiligung, weil sie in Familien leben, die mit knappen finanziellen Mitteln auskommen müssen. Gemessen wird diese Benachteiligung oder eben Deprivation mit verschiedenen, für Kinder wichtigen Indikatoren; insgesamt sind es deren 17. Dazu gehören neben passenden Kleidern und ausgewogenen Mahlzeiten beispielsweise auch altersgerechte ­Bücher, Spielsachen sowie die Möglichkeit, Freund*innen ein­ zuladen. Kinder, denen solche Dinge fehlen, sind schon früh ­sozial ­isoliert. So können beispielsweise 6,1 Prozent der Kinder nicht eine Woche Ferien weg von zuhause machen, und 5,5 Prozent können nicht regelmässig an einer kostenpflichtigen Freizeitbeschäftigung ausser Haus teilnehmen. Die Gefahr ist gross, dass diese Einschränkungen zu frühen Erfahrungen der Stigmatisierung führen. Kinder, bei denen 3 der gemessenen 17 Indikatoren zutreffen, ­gelten nach EU-Massstab als depriviert. Im EU-Durchschnitt liegt die Quote bei 13 Prozent. In der Schweiz leben 6,4 Prozent der Kinder, die jünger als 16 Jahre sind, in dieser Situation. Diese Quote entspricht fast 90 000 von sozialer Benachteiligung betroffenen Kindern. Das sind mehr, als die Stadt Luzern ­Einwohner*innen hat.

Soziale Benachteiligung in frühen Jahren kann das ganze Leben prägen. Betroffene Kinder laufen Gefahr, den Anschluss im Kindergarten und in der Schule zu verpassen. Sie riskieren, als Erwachsene selbst wieder in prekäre Lebenslagen zu geraten. Sie sind die Working Poor von morgen. Die Gesellschaft ist gut beraten, alles daran zu setzen, dass sich diese vorgezeichneten Lebensläufe nicht realisieren. Wichtig ist eine Sozialberatung, die auch nach der Situation der Kinder fragt. Eine Betreuung in Kindertagesstätten, welche nicht nur auf das Hüten angelegt ist, sondern das Fördern betont, ist unabdingbar. Das Wichtigste aber ist: Eltern sollten materiell so unterstützt werden, dass das soziale Existenzminimum der ganzen Familie gewährleistet ist, wenn sie dies nicht mehr aus eigener Kraft schaffen. Für viele ist das selbst dann nicht mehr der Fall, wenn sie von der Sozialhilfe unterstützt werden. Deshalb fordern ­soziale Organisationen wie Caritas Schweiz oder der Berufsverband der Sozialen Arbeit AvenirSocial seit geraumer Zeit eine ­Erhöhung des Grundbedarfs sowie eine stärkere Berücksich­ tigung der Familiengrösse – nichts anderes wird in Fachkreisen von einem investiven, vorsorglichen Sozialstaat erwartet.

Besonders betroffen sind Kinder mit ausländischer Staats­ angehörigkeit. Hier beträgt die Quote 11,7 Prozent. Weiter sind

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Anteil deprivierter Kinder unter 16 Jahren nach sozioökonomischen Merkmalen.

6,4% Alle Kinder

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10,5% Kinder aus Haushalten mit Zahlungsrückständen

11,7% Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit

15,0%

Kinder in Einelternhaushalten

17,6%

Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten

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Das grosse Tabu Arktis Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist bis an den Nordpol

zu spüren: Auf Spitzbergen versuchen die Bewohner*innen einer russischen Siedlung, «die aktuelle Lage» einfach wegzudrängen. TEXT UND FOTOS MARIO HELLER

SPITZBERGEN

Barentsburg

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Isolation und Freiheit: Museumsdirektorin Barbara Mockstadt verweilt an den Rändern Russlands, obwohl sie mit der Politik ihres Landes nicht einver­standen ist.

«Ich liebe mein Land, die Sprache und die Menschen.» BARBAR A MOCKSTADT

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«Es gibt eine Tradition in Barentsburg: Wann immer man auf dem Festland ist, soll man einen Baum umarmen, denn hier gibt es keine», erzählt Barbara Mockstadt, eine 30-jährige Moskauerin, die vor einem Jahr nach Barentsburg gezogen ist. Eingepfercht zwischen weiteren 23 Passagier*innen, gleitet sie in einem dunkelblauen Mi-8-Hubschrauber durch die Dunkelheit. Unter ihnen breitet sich eine Landschaft aus Schnee und Eis aus, die sich nur schemenhaft im Mondlicht zeigt. In Barentsburg, der russischen Siedlung auf Spitzbergen in der Arktis, leben rund 380 Menschen, die meisten davon ukrainische Bergbauarbeiter und junge Städter*innen aus Russland, die als Tour-Guides für das lokale Tourismusunternehmen arbeiten. Für Mockstadt, die als Museumsdirektorin tätig ist, verkörpert Barentsburg eine Mischung aus Abenteuer und Heimweh. «Seit dem Kriegsausbruch ist ein Leben in Russland für mich eigentlich undenkbar», sagt sie. Doch ganz ohne ihre Heimat will sie nicht sein: «Ich liebe mein Land, die Sprache und die Menschen.» Barentsburg ist für Mockstadt der ideale Kompromiss: eine russische Enklave auf europäischem Boden. Gegründet wurde die Stadt 1932 auf Anordnung Stalins, der für die Industrialisierung der Sowjetunion dringend Kohle benötigte. Hier lebten einmal über tausend Menschen. Trotz der spärlichen Vegetation, der Tundra, gab es sogar Gewächshäuser und einen Bauernhof mit Milchkühen, Schweinen und Hühnern. Das Klima ist extrem, von Oktober bis Februar herrscht Polarnacht: vollständige Dunkelheit. «In den Winternächten fühlt es sich an, als wären wir die letzten Menschen auf der Erde», erzählt Mockstadt. Im Gegensatz dazu geht die Sonne in den vier Sommermonaten nicht unter. Auf Spitzbergen sind zudem Eisbären eine latente Bedrohung; etwa 300 dieser «Könige der Arktis» bewohnen die Inselgruppe. Obwohl Eisbären normalerweise Robben jagen, nähern sie sich

Klein genug, dass alle Bewohner*innen einander kennen – Barentsburg ist seit Kriegsbeginn noch isolierter.

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gelegentlich menschlichen Siedlungen. In Barentsburg ist es daher strikt verboten, das Dorf ohne Gewehr zu verlassen. Mockstadt erinnert sich an eine besonders eindrückliche Begegnung: «Einer der Eisbären näherte sich um 6 Uhr morgens unserer Unterkunft. Wir hörten die Warnung durch das Funkgerät und sahen den Bären direkt vor unserem Fenster.» Als der Eisbär anfing, mit den Pfoten gegen die Scheibe zu drücken, bekam Barbara Mockstadt Angst. «Ich war geschockt und gleichzeitig fasziniert. Man denkt sich: Hilfe, das ist ein echter Bär! Aber er ist auch so gross, schön und flauschig!» Kurze Zeit später drehte er ab und zog weiter. Identische Wohnungen, gemeinsame Kantine Der Helikopter landet und die Passagiere steigen aus. Sie kehren von einem Sportturnier zurück, das alle zwei Monate zwischen Barentsburg und dem norwegischen Longyearbyen ausgetragen wird – ein Symbol russisch-norwegischer Freundschaft. Ein Bus aus Sowjetzeiten wartet bereits und transportiert die Menschen holpernd die letzten drei Kilometer ins Zentrum von Barentsburg. Während der Fahrt dorthin passieren sie die Ruinen der Gewächshäuser und eine Horde bellender Huskys, die am Ortseingang in einem grossen Zwinger gehalten werden. Sie werden für touristische Schlittenfahrten eingesetzt. Auf dem Dorfplatz stoppt der Bus, die Passagiere verschwinden in alle Richtungen. Lichter aus den Fenstern der umliegenden Plattenbauten flackern auf, neugierige Gesichter erscheinen, um die Ankömmlinge zu begutachten. In der Mitte des Platzes thront immer noch eine Lenin-Büste mit strengem Blick über Barentsburg. Auch einige Schritte weiter erhebt sich ein Denkmal mit dem kyrillischen Schriftzug «Unser Ziel ist der Kommunismus». Offenbar dringen nicht alle Veränderungen bis hierher durch – oder werden einfach ignoriert. Anderes hat Priorität, zum Beispiel, dass nur einmal im Monat frisches Gemüse geliefert wird – wenn überhaupt. Wegen des Krieges drohte Norwegen letztes Jahr, die lebenswichtige Versorgungsroute durch die Barentssee komplett zu kappen. Russland reagierte empört und verwies auf den Spitzbergenvertrag von 1920. Der Vertrag, der alle militärischen Aktivitäten in der Region verbietet, erlaubt es den Völkern der 46 Unterzeichnerstaaten, hier zu leben und zu arbeiten. Trotz oder wegen des harten Lebens in Barentsburg ist der Gemeinschaftssinn ausgeprägt: Auf der Strasse grüssen sich die Bewohner*innen immer. Die Wohnungen in den vier Plattenbauten des Ortes sind identisch geschnitten und mit Ikea-Möbeln eingerichtet. Singles haben Einraumwohnungen, Paare wie Mockstadt und ihr Freund oder Familien haben ein Zimmer mehr – und sogar eine Badewanne. In der Kantine kommen die Bewohner*innen dreimal täglich zusammen, um einfache Gerichte wie Borschtsch oder Pelmeni, gefüllte Teigtaschen, zu essen. Der einzige Laden im Dorf bietet eine begrenzte Auswahl an Lebensmitteln, die alle paar Monate per Schiff aus Russland geliefert werden. Um den Geldfluss einfach zu halten, bezahlt man in Barentsburg mit einer ortseigenen Kreditkarte, scherzhaft «Spitzcoin» genannt. Der Betrag wird direkt vom Lohn abgezogen. «Barentsburg ist wie ein Raumschiff: Es gibt alles, was man zum Überleben braucht, aber man kann hier nicht weg», sagt Vitali Shatilov, Allgemeinmediziner des Krankenhauses. Der 32-Jährige zog erst kürzlich aus St. Petersburg hierher, als in Barentsburg schon wochenlang komplette Dunkelheit herrschte. «Nachts träumte ich sehnsüchtig von der Sonne. Es war surreal.» Neben Shatilov arbeiten im Krankenhaus nur noch sein Vorge11


Der Arzt Vitali Shatilov sieht aufgrund «der Lage» in seiner Heimat schwarz für die Zukunft.

setzter aus Tadschikistan, eine Zahnärztin und zwei Krankenschwestern. Am Wochenende ist das Spital geschlossen. «Wenn du sterben musst, warte bitte bis Montag», lautet ein lokaler Scherz. Doch Shatilov und seine Kolleg*innen tragen eine grosse Verantwortung. «Wir können Patient*innen nicht einfach zu einem anderen Arzt schicken, sondern müssen die Diagnose selber stellen – und diese muss korrekt sein.» Das nächstgrössere Krankenhaus befindet sich auf dem norwegischen Festland, zweieinhalb Stunden mit dem Flugzeug entfernt. Shatilov hat einen Vertrag über zwei Jahre. Was danach kommt, weiss er nicht. «Die Lage in meiner Heimat macht es schwer, an die Zukunft zu denken.» Damit spricht er ein Thema an, das in Barentsburg so behandelt wird wie der Name von Lord Voldemort in Harry Potter: Den Angriffskrieg in der Ukraine nennt man hier euphemistisch-verschleiernd «die aktuelle Situation», statt «Spezialoperation» wie in Russland. Wer nach Russland zurückkehren will, passt gut auf, wer wann welche Wörter benutzt. Aber es gibt auch lokale Beweggründe für Vorsicht: «Jeder Mensch hat andere Wurzeln. Wir haben hier 380 verschiedene Ansichten zu diesem Thema», sagt Shatilov. Das Leben in Barentsburg ist ein bisschen wie eine Sitcom: Aufgrund der wenigen Einwohner*innen sehen sich die Menschen oft mehrmals am Tag. Teilweise wirkt das wie im Drehbuch. Geheimnisse wie zum Beispiel verborgene Liebschaften gibt es hier nicht, alles spricht sich herum. Viele Menschen schliessen nicht mal ihre Wohnungstüren ab. Am Abend verabredet man sich über die ortseigene Telegram-Gruppe zu Sport, Kino oder Sauna, am Wochenende finden gemeinsame Wanderungen statt. Natürlich ist niemand wegen der Geselligkeit in die Arktis gekommen. Für die Bergarbeiter etwa ist Barentsburg vor allem eins: lukrativ. Und eine stabile Heimat fernab vom zehnjährigen Krieg im Osten der Ukraine. «Barentsburg ist ein sicherer Hafen in dieser tobenden Welt», sagt Alexander Yatsunenko aus Lu12

hansk – einem Brennpunkt der Kämpfe. Der 45-jährige Bergarbeiter hat soeben seine Schicht in der Kohlemine beendet. Sein Gesicht ist vom Kohlestaub geschwärzt. Er stottert leicht beim Sprechen. Zum Krieg hat er eine Haltung: «Wir sind alles Russen. Es gibt nichts zu trennen.» Kohleabbau ohne Profit An den Wänden des Holzkorridors, der aus dem Schacht führt, hängen verblasste Poster aus der Sowjetzeit, welche die Bergarbeiter als grosse Helden darstellen. Yatsunenko knipst die Taschenlampe aus, die an seinem Helm befestigt ist, und bringt die Ausrüstung ins Büro. Er trinkt hastig ein Glas Wasser. «Meine Arbeit fühlt sich sinnvoll an. Ich mache die richtige Sache für die richtigen Leute.» Der Kohlebergbau liegt in der Familie: Schon sein Vater und Grossvater waren Kumpel. Yatsunenko kam vor fünf Jahren nach Barentsburg. Seine Erfahrung wird hier geschätzt, sein Gehalt ist bis zu dreimal höher als in der Ukraine. Das Leben in der Bergbaustadt gefällt ihm; er schätzt die Freundlichkeit der Menschen und die Ruhe der Arktis. «Im ersten Sommer bin ich mit ein paar Freunden aufs Meer hinausgefahren, um Weisswale zu beobachten. Das werde ich nie vergessen.» Paradoxerweise ist die Kohleförderung in Barentsburg völlig unwirtschaftlich: Gerade einmal 120 000 Tonnen Kohle werden jährlich ans Tageslicht geholt. Mehr als das Doppelte müsste gefördert werden, um Profit zu machen. Ein Viertel der Fördermenge wird allein für die Strom- und Wärmeversorgung der Siedlung gebraucht. Der Abbau im arktischen Permafrost ist schwierig: Je tiefer man gräbt, desto kälter wird es. Die Bergarbeiter fahren mit einer Grubenbahn bis zu 500 Meter unter den Meeresspiegel. Eine Fahrt kann bis zu zweieinhalb Stunden dauern. In der Vergangenheit gab es immer wieder Unfälle. Trotzdem hält Russland an diesem strategisch wichtigen Aussenposten fest. Unter den meterdicken arktischen Eisschichten rund um den Nordpol werSurprise 566/24


Nach der Schicht schwitzen die Bergarbeiter sich in der Sauna den Schmutz aus den Poren. Abkühlung und einen klaren Kopf gibt es im Schnee. Unten: Die Isoliertheit lassen die Menschen näher zusammen­ rücken.

Es et alis vollor aut voles earit re, eiciistia dolupiet velescidem apelitature porerrum ius ulparum a ne aut apienisciate verro mil ipidis.

«Jeder Mensch hat andere Wurzeln. Wir haben hier 380 verschiedene Ansichten zu diesem Thema.» VITALI SHATILOV

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«Tourismus wird die Zukunft von Barentsburg bestimmen.» ILDAR NEVEROV

Ildar Neverov ist Direktor der Kohlemine und quasi der Bürgermeister von Barentsburg.

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den 20 bis 30 Prozent der weltweiten Ölvorkommen und bis zu 47 Billionen Kubikmeter Erdgas vermutet, ausserdem reiche Vorkommen an anderen Bodenschätzen wie Gold oder Platin. Das russische Forschungszentrum in Barentsburg beobachtet genau, wie sich das Klima verändert. In etwa 20 Jahren könnte der erste eisfreie Sommer den Zugang zu diesen enorm wertvollen Ressourcen ermöglichen. Norwegische Konkurrenz Bis dahin aber wird die Kohle längst ausgebeutet sein. Was wird dann aus Barentsburg? «Tourismus wird die Zukunft von Barentsburg bestimmen», ist sich Ildar Neverov sicher. Der 42-jährige Moskauer ist seit letztem Jahr der Direktor von Arktikugol, der russischen Betreiberin der Kohlemine in Barentsburg. Er ist damit auch so etwas wie der Bürgermeister des Dorfes. Elegant gekleidet sitzt er am riesigen Sitzungstisch in seinem Büro, sein Blick ist streng. Das Unternehmen ist in staatlicher Hand: An der Wand hängt ein Putin-Porträt, daneben steht die russische Flagge. Derweil raten norwegische Tourismus-Organisationen seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine davon ab, die von russischer Seite angebotenen Touren nach Barentsburg zu besuchen. Die Norweger*innen argumentieren, mit einem Besuch finanziere man direkt den Krieg in der Ukraine. In der russischen Gemeinschaft glaubt man eher, dass sich die norwegischen Unternehmen unter dem Deckmantel der Politik einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffen möchten: Tatsächlich betreiben russische Staatsbürger*innen selbst ein Hostel in Longyearbyen und bieten Touren an, was sie zu direkten Konkurrenten der norwegischen Anbieter*innen macht. Laut einer Umfrage kurz nach Beginn des Krieges befürwortet eine Mehrheit der norwegischen Bevölkerung auf Spitzbergen den Boykott. In Barentsburg führt dies zu absurden Situationen: Eine Schneiderei stellt Pullover aus Baumwolle her. Diese werden in einem Souvenir-Shop verkauft, der fünf Tage die Woche offen ist – aber es gibt kaum Tourist*innen, und mit einer ausländischen Kreditkarte kann man momentan auch nicht bezahlen. Und selbst für russische Staatsbürger*innen ist es fast unmög-

lich, nach Barentsburg zu reisen. Existierten früher wöchentliche Charterflüge aus Moskau, muss man heute aufgrund des für russische Flugzeuge gesperrten Luftraums den langen Weg mit Bus und Fähre über Sankt Petersburg, Estland und Finnland nehmen – sofern Norwegen überhaupt ein Visum erteilt. Sorgen macht sich auch Barbara Mockstadt: «Die Menschen in Barentsburg leben in einer Parallelwelt. Da sie weit weg von Russland sind, ist es noch leichter, den Krieg zu ignorieren.» Ihr Arbeitsplatz, das mintgrüne Museum, ist das schönste Gebäude in ganz Barentsburg, Mockstadts persönliches Königreich in der Arktis. «Als ich in Barentsburg ankam, war es für mich wie ein anderer Planet. Alles ist an einem Ort, alles ist so nah. Für mich ist es auch eine Art soziales Experiment», sagt Mockstadt über ihre ersten Eindrücke. Die Abgeschiedenheit erlebt sie als zweischneidig: «Manchmal fühle ich mich sehr isoliert. Aber es gibt auch eine grosse Freiheit. Der Ozean, die Berge. Hier spüre ich meinen Körper, meinen Atem viel mehr.» Zugleich schätzt Mockstadt den Gemeinschaftssinn. «In kürzester Zeit habe ich viele Freundschaften geschlossen. Wir feiern zusammen regelmässig im Museum kleine Feste mit Musik, gehen wandern oder machen Yoga in der Sporthalle.» Dennoch schwebt «die aktuelle Lage» wie ein Damoklesschwert über den Beziehungen: «Jedes Gespräch ist wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld. Man muss behutsam vorgehen und herausfinden, wie die anderen zum Krieg stehen, auch mit engen Freunden spreche ich teilweise kaum darüber.» Manchmal, sagt Mockstadt, könne sie beim Lesen der Nachrichten gar nicht recht glauben, dass Russland diesen Krieg tatsächlich führt. Die meisten, die klar gegen den Krieg waren, sind bereits ausgereist. Was bleibt, ist eine eng verbundene Gemeinschaft, die in einer fragilen Harmonie lebt. Streitigkeiten kann sich hier kaum jemand erlauben. Inzwischen ist Barbara Mockstadt müde geworden. Über Telegram schreibt sie, dass sie ihren Vertrag nicht verlängern werde. «Die Diskussionen um den Krieg und das Gefühl der Freiheitslosigkeit haben mich erschöpft.» Anstatt in der Arktis zu bleiben, plant sie, zu einer Freundin in ein Surf-Camp auf Kamtschatka zu gehen, einer abgelegenen Halbinsel im Osten Russlands.

In den Plattenbauten in Lenins Rücken leben vor allem Singles. Dass hier noch vom «Ziel Kommunismus» die Rede ist, stört niemanden.

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Lucy Oyubo lebt ein Leben zwischen vielen Jobs, rassistischen Vorurteilen und dem unbedingten Willen, nicht aufzugeben. 16

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In Kenia Lehrerin, in der Schweiz selbständig Integration Wie viele qualifizierte Migrant*innen fand Lucy Oyubo keine Arbeit,

als sie in die Schweiz kam. Also machte sie sich vor 20 Jahren mit ihrer ersten Sprachschule selbständig und möchte jetzt Fahrlehrerin werden. TEXT LEA STUBER

Wie neu anfangen geht, das weiss Lucy Oyubo. Ihre neuste Ausbildung, jene zur Fahrlehrerin, begann sie vor vier Jahren. Oyubo fährt gerne Auto, sie mag alles an Autos, und sie hat Freude am Unterrichten, erzählt sie, gerade 56 Jahre alt geworden. Auf der Website von Hakuna Matatas, der Fahrschule, die ihr Praktikumsleiter Nyangi Matondo und Oyubo zusammen gegründet haben, schreiben sie: «Wir erklären dir alles in Ruhe und haben viel Geduld. Wir wissen nämlich, wie es ist: Als Migrant*innen hatten wir selbst wegen der Sprache Schwierigkeiten bei der Prüfung.» Neben Deutsch bieten sie Fahrstunden auf Englisch, Spanisch, Französisch, Kiswahili, Kikongo, Lingala und Luhya an. Ein verhangener Morgen im November. Lucy Oyubo montiert einen Spiegel, so gross wie ein Smartphone, vor sich auf der Frontscheibe. Erste Fahrstunde des Tages mit Fahrschülerin Homi D’Elna, sie ist Teil von Oyubos Ausbildungspraktikum. D’Elna kam 2010 nach Abschluss des Gymnasiums aus Maroantsetra, einer kleinen Stadt im Nordosten Madagaskars, nach Basel. Bei einer Fahrschule Surprise 566/24

FOTOS KLAUS PETRUS

machte sie bereits sechs Fahrstunden. An einem Fest der madagassischen Community erzählte sie einer Freundin, dass sie nun eine andere Fahrlehrerin suche. Die Freundin rief Oyubo an – und zwei Tage später sitzt D’Elna in Oyubos Fahrschulauto und kurvt aus der Tiefgarage ins Basler Quartier Gundeli. «Okay, am Ende der Ausfahrt musst du links abbiegen. Ganz langsam aus der Garage fahren, jemand könnte auf dem Trottoir unterwegs sein, siehst du? Du bremst – und hältst an. Genau. Yeah, du hast es geschafft!» Sie fühle sich nicht sehr wohl auf der Strasse, sagt D’Elna, sie bremse spät und ruppig. «Das üben wir heute», sagt Oyubo und lotst sie neben Lieferwagen, Bussen und Lastwagen zum Industrieareal Dreispitz. Lucy Oyubo, in Kenia dreisprachig aufgewachsen – mit Kiswahili, Luhya und Englisch –, ist ausgebildete Lehrerin. An der Kenyatta University in Nairobi studierte sie 17


Kiswahili und Religionsphilosophie. In Kajiado, knapp 80 Kilometer südlich von Nairobi, unterrichtete sie an der Oberstufe zehn Jahre lang Englisch, Kiswahili und Religionsphilosophie. «Ich verdiente nicht viel, aber lebte gut.» Auch ihr damaliger Freund und heutiger Ex-Mann, ein Schweizer, sagte ihr: In Kenia lebst du besser als ich in der Schweiz. Dort hatte sie eine Fünf-Zimmer-Wohnung, zur Verfügung gestellt von der Schule. In der Schweiz lebte er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Er wäre gerne nach Kenia gezogen, doch weil es für ihn schwierig gewesen wäre, dort einen Job zu finden, entschieden sie sich für die Schweiz. Oyubo, damals 33, begann Deutsch zu lernen und dachte: Diese Sprache werde ich nie beherrschen. Gleichzeitig versuchte sie, ihre kenianischen Diplome anerkennen zu lassen. Können wir nicht machen, hiess es bei der ersten Stelle. Oyubo wurde weitergeschickt, aber auch da hörte sie: Mit kenianischen Diplomen kenne man sich nicht aus. «Niemand konnte mir weiterhelfen, irgendwann gab ich auf.» «Beschleunige auf 30 km/h – und dann: Bremsen und anhalten. Ganz gemütlich. Du musst wirklich ganz stoppen.» Weil sie lieber Erwachsene und auch weiterhin Kiswahili unterrichten wollte, ging Oyubo nicht an die Pädagogische Hochschule, sondern nach London. Sie machte das

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WINNER AUDIENCE AWARD CLOSING NIGHT SELECTION

CELTA-Zertifikat, mit dem sie überall auf der Welt Englisch unterrichten konnte. In der Schweiz erwarb sie ein Diplom zur Erwachsenenbildnerin. In der Schweiz sei das Bild, dass Migrant*innen keine gute Bildung haben, sehr verbreitet, sagt Susanne Bachmann, Soziologin an der Fachhochschule Nordwestschweiz, in der SRF-Doku «Das ungenutzte Potenzial». Dabei widersprechen die Zahlen diesem Bild: 2022 hatten 40,3 Prozent der Migrant*innen der ersten Generation laut dem Bundesamt für Statistik eine Tertiärausbildung. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund waren es nur 35,3 Prozent. Dieser Unterschied kommt vor allem aufgrund des unterschiedlichen Bildungsniveaus bei den Frauen zustande: Von den Migrantinnen der ersten Generation haben 39,6 Prozent einen Tertiärabschluss, bei den Schweizerinnen nur 29,2 Prozent. Doch Bildungstitel werden oft nicht anerkannt, teilweise wird auch die Berufserfahrung nicht ausreichend wertgeschätzt. Zu diesem Schluss kommt die Soziologin und Ethnologin Amina Trevisan in ihrer Dissertation «Depression und Biographie» von 2020. Das führt dazu, dass qualifizierte Mi­grant*innen häufig erwerbslos oder für ihre Arbeit überqualifiziert sind. Ihre soziale und berufliche Position ist dadurch häufig niedriger als in ihrem Herkunftsland. Einmal wurde Oyubo zu einem Vorstellungsgespräch an eine Gewerbeschule eingeladen. Auf ihrer Bewerbung hatte sie auch ihren zweiten Nachnamen notiert, den Namen ihres damaligen Schweizer Mannes. Ob sie wirklich Frau Osterwalder sei, wurde sie gefragt. «Sie hatten eine weisse Frau erwartet. Schon während des Vorstellungsgesprächs war mir klar, dass ich die Stelle nicht bekommen würde.» «Jetzt bis 40 km/h. Los, los, los! Stopp. Super! Das ist viel besser. Einfach das Gefühl haben: Hey, ich muss ganz sanft auf die Bremse drücken.»

EIN FILM VON NOOR A NIASARI

«Ergreifend lebendig.» «Ein starker Spielfilm über den unerschütterlichen Mut einer iranischen Frau.»

AB 11. JANUAR IM KINO 18

In einem Raum in einem Altersheim begann Oyubo bei Pro Senectute Thurgau Englisch zu unterrichten. Der Leiter sagte neuen Kursteilnehmer*innen am Telefon: Erschrecken Sie nicht, wenn Sie in die Klasse kommen, die neue Lehrerin sieht anders aus. Als sie davon erfuhr, kündigte Oyubo. Wir kommen mit, sagten ihre Schüler*innen, und nach drei Monaten bei Pro Senectute unterrichtete Oyubo in ihrer Stube. Als diese zu eng wurde, konnte sie vom Sohn eines Schülers günstig einen Raum mit Blick auf den Bodensee mieten. Und so gründete Oyubo das Lakeside English Centre, pro Jahr unterrichtete sie rund 500 Erwachsene in Kiswahili oder Englisch. Daneben gab sie an der Bénédict-Schule in St. Gallen Prüfungsvorbereitungskurse und unterrichtete in einer Firma in Romanshorn Englisch als Geschäftssprache. Laut einem im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission verfassten Bericht von 2019 über Migrantinnen in der Schweiz ist die Selbständigkeit eine Strategie, um mit Dequalifizierung umzugehen. So können sich Migrantinnen aus den Strukturen und Normen lösen, die Surprise 566/24


Irgendwann wurde es Oyubo zu viel, sie brauchte eine Auszeit und erkannte: «Du musst dein Leben weiterführen.»

in einem Betrieb dazu führen würden, dass sie nicht angestellt würden, nicht aufsteigen könnten oder ihre Stelle verlieren würden. Mit der Gründung und Führung eines eigenen Unternehmens können sie sich der Wirkung von Stereotypen entziehen und gesellschaftliche Anerkennung erhalten. 2022 waren laut dem liberalen Think-Tank Avenir Suisse bei 45 Prozent der Unternehmensgründungen Ausländer*innen beteiligt. Sie machen sich damit überproportional häufig selbständig, denn der Ausländeranteil beträgt 26 Prozent. Ähnlich sieht es etwa in Deutschland aus. Dort haben gemäss dem Global Entrepreneurship Monitor in den vergangenen drei Jahren 19,9 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung ein Unternehmen gegründet oder sind gerade dabei. Bei jenen ohne Migrationserfahrung waren es mit 8,3 Prozent nicht einmal halb so viele. Irgendwann hörte Oyubos damaliger Mann auf zu arbeiten, die Ehe wurde schwierig. Oyubo trennte sich und zog aus. In dieser Zeit arbeitete sie viel, verdiente gut. Sie kaufte sich ein Auto, zog in eine grössere Wohnung. Sie hatte es geschafft. «Jetzt bis 50 km/h. Der Weg ist frei! Geniesse es. Du fährst geradeaus, kein Problem. Dann stopp! Ja, sehr gut. Und wenn wir jetzt weiterfahren: Bevor du blinkst, was musst du machen?» Surprise 566/24

Nach zwei Jahren, in denen alles richtig gut lief, ging es Oyubo nicht mehr gut. Sie beschloss, das Lakeside English Centre zu schliessen. Ohne ihre Schule, ohne Arbeit, dazu eine Operation, das war ein schwieriges Leben, fand Oyubo. Ihre Freund*innen waren für sie da, und doch fühlte sie sich alleine mit ihrer Situation. Sie hatte keinen Mut, keine Lust mehr, irgendetwas zu machen. Zu einer Ärztin ging sie nicht, doch es fühlte sich für sie an wie eine Depression. Sie lieh Geld bei Freund*innen und nahm einen Kredit auf, bevor sie zum Sozialdienst ging. Sie wollte aus Romanshorn weg, erst ging sie nach St. Gallen zu einer Freundin, dann nach Zürich. Ein Bekannter, ein ehemaliger Schüler, gab ihr den Schlüssel zu seiner Ferienwohnung im Kiental im Berner Oberland. Drei Monate machte Oyubo dort eine Auszeit, nur mit sich und vielen Büchern. «Mir wurde klar: Du musst dein Leben weiterführen.» Die Erfahrung von arbeitsmarktlichem Ausschluss und beruflicher Marginalisierung, die viele Migrantinnen machen, wirkt sich auf die psychische Gesundheit aus, stellt Soziologin Trevisan fest. Die berufliche Identität zu verlieren – in Kombination mit privaten und sozialen Verlusterfahrungen, finanziellen Problemen und Abstiegserfahrungen –, ist psychisch häufig belastend. Als Oyubo einen Bekannten in Basel besuchte, war sie begeistert. Heute, 15 Jahre später, ist die Stadt ihr Ein und Alles. Im Sommer packt sie manchmal zwei Mal am Tag 19


Als Oyubo Taxi fuhr, sagte mal ein Gast: «Sie sind die Fahrerin?» Da bot sie ihm den Autoschlüssel an und fragte: Wollen Sie fahren?

ihre Kleider in den Wickelfisch, den wasserdichten Badesack, und schwimmt rheinabwärts vom Museum Tinguely bis zur Dreirosenbrücke. Viele ihrer Freund*innen lernte sie bei InterNations kennen, einem Netzwerk für Expats. Oyubo organisierte gemeinsame Abendessen in verschiedenen Restaurants, sie gingen tanzen und wandern. Damals, nach ihrem Umzug nach Basel, fehlte Oyubo weiterhin die Energie, um selbständig zu arbeiten. Selber Sprachschüler*innen suchen, selber Rechnungen schreiben, das alles erschien ihr nun anstrengend. Sie suchte nach angestellter Arbeit – egal was, einfach irgendetwas, in der Administration etwa –, doch sie fand nichts. Erst als sie ein paar Jahre später am Sprachenzentrum der Uni Basel Kiswahili unterrichtete, dachte Oyubo wieder darüber nach, sich selbständig zu machen. Student*innen, die Kiswahili lernen wollten, meldeten sich bei ihr, sie begann wieder in ihrer Stube zu unterrichten. Oyubo besuchte einen Kurs bei Crescenda, einem Zentrum für Existenzgründungen von Migrantinnen, und gründete mit Hakuna Matata Sprachen- und Kultur-Austausch ihre zweite Sprachschule. Ihr Dilemma: In einer Grossstadt wie Basel gibt es ein grosses Angebot an Englischkursen, gleichzeitig ist die Nachfrage nach Kiswahilikursen nicht sehr gross. Oyubo versuchte, auch ausserhalb von Basel 20

Schüler*innen zu erreichen, indem sie den Unterricht auch online anbietet. Seit November hat sie nun drei neue Kiswahilischüler*innen – einen Arzt, der nach Tansania will, eine Frau, die in Tansania Safaris anbieten will, und eine Sozialarbeiterin, die nach Kenia gehen möchte. Das sei zwar gut, sagt Oyubo. Insgesamt hat sie derzeit aber nur neun Schüler*innen. 2022 waren es gerade mal drei oder vier. Und für das Dolmetschen hat Oyubo mal mehr, mal weniger Aufträge. Seit Jahren dolmetscht sie für das Hilfswerk Heks, vor Gericht, für die AOZ (Asylorganisation Zürich), manchmal im Spital. Beim Heks hat sie eine Ausbildung für interkulturelles Dolmetschen gemacht, später auch einen CAS für Behörden- und Gerichtsdolmetschen. Und doch ist das Geld meistens knapp. «Jetzt kommt eine ganz scharfe Kurve. Langsam. Langsam! Und bleib auf deiner Spur. Das ist zu schnell. Siehst du diese Linie? Hier wolltest du die Kurve schneiden.» Warum lässt du dich nicht zur Fahrlehrerin ausbilden, wurde Oyubo von Freund*innen immer wieder gefragt, denen sie das Parkieren beigebracht hatte. Die Ausbildung kostet allerdings viel, und wenn Oyubo bei FahrlehrschuSurprise 566/24


len anrief, sagten sie ihr: Hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Das schaffe ich nicht, dachte Oyubo erst und wollte es dann trotzdem versuchen. Um das erste Modul zahlen zu können, begann sie, kurz bevor die Corona-Pandemie die Schweiz erreichte, für Uber Taxi zu fahren. Oyubo hatte Spass daran. Doch manche, insbesondere ältere Gäste äusserten sich rassistisch. «Sie sind die Fahrerin?» Dann bot Oyubo ihnen den Autoschlüssel an, wollen Sie fahren? Oh! Nein. So sei das nicht gemeint gewesen. An einem Sonntag im Januar 2020 lud eine Freundin zu einem Kleidertausch. «Eine Uber-Fahrerin? Das habe ich noch nie gesehen.» – «Du als Frau?» – «So geil!» Den anderen Frauen erzählte Oyubo von der Fahrlehr-Ausbildung, die sie gerne machen würde. Und von Modul 1, das am Freitag begann, für das sie aber nicht genug Geld hatte. Ich zahle den Rest, sagte eine der Frauen. Auch für das zweite Modul unterstützte sie Oyubo finanziell. Insgesamt kostete die Ausbildung mit den acht Modulen mehr als 35 000 Franken. «Unser Ziel heute war, dass du sanft bremsen kannst und die Blicksystematik betätigst, bevor du abbiegst. Ich möchte, dass du nach Hause gehst und denkst: Ja, ich mache es ein bisschen besser. Dann fühlst du dich auch wohler.» Drei Mal wechselte Oyubo die Fahrlehrschule. Das erste Mal nach dem zweiten Modul, das sie nicht bestanden hatte. «Ich verstand kein Wort.» Auch an der zweiten Schule war Schweizerdeutsch die Unterrichtssprache. Bei der Prüfung bat Oyubo die Prüfer*innen, die Fragen auf Hochdeutsch zu stellen. Ein Prüfer entgegnete: Sie sind hier in der Schweiz, hier sprechen wir Schweizerdeutsch. Danach war die Stimmung nicht mehr so gut. Zwar bestand Oyubo die Prüfung zu Modul 2 und zu Modul 3. «Doch ich konnte nicht mehr. Auch hier war ich verloren.» Sie suchte eine neue Fahrlehrschule und hatte Glück. Denn bei der dritten war die Leiterin aus Deutschland. Als Oyubo vom Uber-Fahren genug Geld hatte, machte sie das vierte Modul. Extra für Oyubo fand der Unterricht auf Hochdeutsch statt, doch die Mitschüler*innen antworteten meistens auf Schweizerdeutsch. Sie fühlten sich auf Mundart wohler, sagten viele. «Was werden sie machen, wenn in ihrem Verkehrskundeunterricht Leute sitzen, die nur wenig oder kein Schweizerdeutsch verstehen?» Normalerweise dauert die Ausbildung zur Fahrlehrerin bis zwei Jahre, Oyubo hat den eidgenössischen Fachausweis noch immer nicht. «Ich staune selber, dass ich trotz allem weitergemacht habe.» Als sie ein Praktikum suchte, wurde sie gefragt, ob sie denn Auto fahren könne. Oder auch: Was, Sie? Sie wollen Fahrlehrerin werden?

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Lucy Oyubo über Höhen und Tiefen ihres Lebens. surprise.ngo/talk Surprise 566/24

In eigener Sache

Ankommen trotz Vorurteilen Ab März 2024 wird Lucy Oyubo als Surprise-Stadtführerin tätig sein. Auf ihrer zweistündigen Tour durch das Quartier Gundeli in Basel führt sie die Besuchergruppen durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens in der Schweiz: Vom Restaurant du Coeur, einem Integrationsprojekt für Migrant*innen, zum Coiffeur-Salon ihrer Kollegin aus Nigeria oder in den Quartierladen einer eritreischen Familie, die in die Schweiz geflüchtet ist und sich hier eine neue Existenz aufgebaut hat. Lucy Oyubo stellt jene Institutionen vor, die sie auf ihrem Weg in die Schweiz begleitet haben und schildert ihren Alltag zwischen vielen Dolmetscher-Jobs, rassistischen Vorurteilen, dem Enga­gement für ihre Community und ihrem grossen Traum, den sie hart­näckig verfolgt: eine Ausbildung als womöglich erste Schwarze Fahrschullehrerin in der Schweiz abzuschliessen. Als Expert*innen der Strasse schaffen Lucy Oyubo und die weiteren 13 Surprise Stadtführer*innen ein Bewusstsein für die Hintergründe und Folgen von Armut und Ausgrenzung. Die Touren in Basel, Bern und Zürich sind eng mit den Biografien der Stadt­führer*innen verwoben und infor­ mieren über verschiedene Themen wie Schuldenspiralen, Obdachlosigkeit, Suchterkrankung oder Arbeitslosigkeit. Die persönlichen Erfahrungen und Biografien der Stadtführer*innen werden mit Armutsstatistiken und Hintergrundwissen verknüpft. So entstehen differenzierte und authentische Einblicke in Lebenswelten, die vielen Menschen in der reichen Schweiz fremd sind. NICOL AS FUX, Verantwortlicher Kommunikation und Marketing

Alle Informationen und Anmeldung unter surprise.ngo/Stadtrundgang 21


Der Lauf der Lebenszyklen Kino In seinem filmischen Tagebuch erforscht der schweizerisch-kanadische

Filmemacher Peter Mettler Werden und Vergehen am Beispiel seiner Eltern.

Ein abgestorbener Nadelbaum ragt in einen Wasserfall hinein. Stamm und Äste sind bereits blank gescheuert von der unablässigen Wucht des herabstürzenden Wassers, die Wurzeln sind immer noch fest im Felsen verankert. Die etwa eine halbe Minute dauernde Einstellung macht klar: Der alte Baum wird nicht mehr lange standhalten, sein Lebenszyklus schliesst sich. So wie auch jener von Alfred Mettler, dem 90-jährigen Vater des Filmemachers Peter Mettler. Sich langsam seinem Lebensende nähernd, ist er von Kanada noch einmal zu seinen Schweizer Wurzeln zurückgekehrt, um gemeinsam mit seinem Sohn die Asche seiner Frau Julia in der Natur zu verstreuen. Doch kaum hat Alfred den feierlichen Akt auf einer Brücke vollzogen, erlischt die Erhabenheit des Augenblicks, als sich Schritte nähern: Eine Frau mit Walking-Stöcken, nicht gewahr, was sich soeben abgespielt hat, grüsst kurz und geht weiter. «Mann, die gehen aber schnell», stellt Alfred fest, während er der Hobbysportlerin nachschaut. Das Leben geht auch nach einem Schicksalsschlag irgendwann wieder einfach weiter. Es sind Momente wie dieser, die dem essayistischen Dokumentarfilm «While the Green Grass Grows» die 22

Schwere nehmen. Sie machen den Blick weit für die urtümliche Schönheit jener Prozesse, die Leben hervorbringen und wieder beenden. «So schreite ich voran, lasse eines zum anderen führen», sagt Mettler aus dem Off an einer Stelle und beschreibt damit auch das Konzept hinter seinem episch anmutenden Filmprojekt; es ist ein Sichtreibenlassen im Strom des Lebens, ein Beobachten der Welt mit wachen Sinnen. Die Dokumentation, die nun in die Kinos kommt, umfasst die Teile 1 und 6 von insgesamt sieben Episoden. Alle sieben Teile zusammen sollen einen 12-stündigen Film ergeben, ein audiovisuelles Tagebuch. Die Episoden 1 und 6 sind der Vergänglichkeit gewidmet, dem Abschied des Filmemachers von seinen Eltern. Dafür erhielt er 2023 den Grand Prix am internationalen Dokumentarfilmfestival Visions du Réel in Nyon sowie die goldene Taube an der DOK Leipzig. Begonnen im Jahr 2019, greifen persönliche Erlebnisse und Begegnungen sowie weltumspannende Ereignisse kontinuierlich ineinander. Allen voran die Coronapandemie. Peter Mettler tauscht sich mit einigen Menschen auf Waldspaziergängen während des Lockdowns darüber aus, wie man durch diese notgedrungene Entschleunigung die Natur wieder Surprise 566/24

FOTOS: LOUISE VA AU CINÉMA

TEXT MONIKA BETTSCHEN


bewusster wahrnehmen kann. Er beugt sich über Blütenkelche und erfährt dabei von einem Bekannten, wie passend ihr Wuchs auf die Bedürfnisse der sie bestäubenden Insekten abgestimmt ist. Peter Mettler geht in allen sieben Episoden von der Redewendung «Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner» aus. Im Dialog mit sich selbst und mit seinen Gesprächspartner*innen, darunter in Teil 1 und 6 mit seinen Eltern, einer Mäzenin oder einem Tattookünstler, geht er der Frage nach, ob dem so ist. «Ich liebe den Ausdruck, weil er auf so viele Arten interpretiert werden kann. Er spricht etwas Zentrales im menschlichen Dasein an, man könnte es als unseren Wunsch nach etwas Besserem bezeichnen. Aus Sicht der Wissenschaftler*innen geht es bei diesem Drang jedoch um Forschung und Erkundung als Teil unserer menschlichen Evolution», wird Mettler im Pressedossier zitiert. So begibt man sich mit dem Film auf eine erhellende Forschungsreise, die der Lebensgeschichte von Peter Mettlers nach Kanada ausgewanderten Eltern nachspürt. Denen demnach das Gras jenseits des Ozeans auch grüner erschien als in der Schweiz. «Wie bin ich hierhergekommen?», fragt sich Mettler hoch über dem Nebelmeer auf der Insel La Gomera mit Blick auf den Atlantik. Daran schliesst unvermeidbar die nächste Frage an: «Wer waren meine Eltern?» Weiter unten hängt der Nebel zwischen den Bäumen, üppige Flechten bewegen sich leise im Wind. Mettler rezitiert dazu eine Textpassage des vietnamesischen Mönchs Thícha Nh t H nh über die Wechselwirkungen zwischen Erde, Wind, Wasser und Sonne, das Ineinandergreifen der Elemente, welche die Geburt einer Wolke ermöglichen: Surprise 566/24

«Die Wolke entspringt nicht dem Nichts. Sie verändert nur die Form.» Mit Neugier und Demut folgt Mettler Wasserläufen in Kanada und der Schweiz und verbringt viel Zeit mit seinem Vater vor dessen Tod. Er nimmt wahr, wie die Jahreszeiten wechseln. Wie im Gebälk seines Elternhauses in Toronto in einem Vogelnest neues Leben erwacht, während Alfred von einer wachsenden Müdigkeit erfasst wird. Im Haus fällt Sonnenlicht auf einen gläsernen Türknauf und zaubert Reflexionen an die Wand, wie ein Nachhall der zuvor geäusserten Betrachtungen über den Tod und ein mögliches Danach. Licht ist im Œuvre des preisgekrönten Dokumentarfilmers und Regisseurs Peter Mettler ein immer wiederkehrendes Element. Zum Beispiel in «Picture of Light» aus dem Jahr 1994, das eine kräftezehrende Suche nach dem Polarlicht im hohen Norden Kanadas dokumentiert. Oder in «Gambling, Gods and LSD» (2002), wo er mit dem Einsatz von hypnotisierendem Sound und entrückenden Bildern einen dreistündigen Rausch erzeugte, einen Trip in die Welt der Transzendenz. Auch «While the Green Grass Grows» ist von solchen Elementen durchzogen. Wobei hier nun eher der Weg als das Ziel im Mittelpunkt steht, ebenso die Bedeutung von Übergängen. Oder wie es Peter Mettler formuliert: «Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, und der wird von dem beeinflusst, was zuvor geschehen ist. Ich finde es spannend, dieser Logik zu folgen.» «While the Green Grass Grows», Regie Peter Mettler, Dokumentarfilm, CH/CDN 2023, 166 Min. Läuft zurzeit im Kino. 23


BILDER: DIMITRI GRÜNIG

Berglandschaften, Orte der eigenen Jugend und immer wieder Kirchen: Die Abgründe stecken in den menschenleeren, skizzenhaften Bleistiftzeichnungen.

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Abgründe in Landschaftsbildern Buch Der Schweizer Illustrator Dimitri Grünig dokumentiert in seinem Buch

«Aber schwul bin ich immer noch», wie das evangelikale Christentum homosexuelle Menschen in eine existenzielle Zerrissenheit stossen kann. TEXT DIANA FREI

Das Buch liegt einem in der Hand wie eine Reisebibel. Hellbraun kunstlederner Einband, darüber eine Papiermanschette mit einem Schweizer Bergpanorama. Der Umschlag wurde bei einer nord­ita­lienischen Firma hergestellt, die tatsächlich auf Bibeln spezialisiert ist. Bloss, auf dem Titel steht: «Aber schwul bin ich immer noch.» Und schlägt man das Buch auf, stösst man auf Zitate wie dieses: «Wenn schon das Sprechen über Körperlichkeit zwischen Männern und Frauen tabu ist, wird es bei allem anderen erst recht schwierig.» Es sind Auszüge aus Interviews mit an die zehn Gesprächspartner*innen, die der Illustrator ­Dimitri Grünig in den letzten drei Jahren geführt hat. Mit Personen, die eine sogenannte Konversionstherapie hinter sich haben, einer Freikirche angehören oder angehörten und sich im Spannungsfeld der eigenen Homosexualität und ihrem Glauben befinden. In den meisten Gesprächen ging es um Biografisches, um eigene Erfahrungen und Erlebnisse, hinzu kamen Interviews mit Personen, die sich politisch mit dem Thema auseinandersetzen. «Als ich begann, war das Thema, bedingt durch das Verbot der Konversiontherapien in Deutschland und Frankreich, medial sehr präsent. Ich bin selber eher atheistisch geprägt, meine Eltern sind nicht religiös. Aber im Berner Oberland, wo ich aufgewachsen bin, ist das evangelikale Mindset vielerorts sehr stark spürbar, die Freikirchen sind verbreitet.» Mit der eigenen Homosexualität habe er dagegen auch einen eigenen Bezugspunkt, sagt Grünig: «Den brauchte es für mich auch, um mit dem Thema zu nähern und sehr assoziativ an eigenen Emotionen anknüpfen zu können.»

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Begleitveranstaltungen: «Literaare Thun», Lesung, Sa, 9. März; «Bestform», Ausstellung, Kornhausforum Bern, Do, 21. März bis So, 28. April.

FOTO: ZVG

Vielschichtiger als Kirchenkritik Dass Grünig der Religion, dem Christentum, der Bibel in seinem Buch viel Raum gibt, ist eine mutige Entscheidung, zumal der Autor angetreten ist, die Konversionstherapien anzuklagen – evangelikale Angebote zur angeblichen «Heilung» von Homosexualität. Ins Vorwort steigen wir mit einem Psalm ein, es folgt ein Interview mit Roland Weber vom Verein Zwischenraum Schweiz, einem Netzwerk christlicher LGBTIQ+-Menschen mit vorwiegend freikirchlichem, evangelikalem Hintergrund. Es ist ein differenziertes Gespräch über Perspektive, Identität, die Zerrissenheit zwischen Glauben und Sexualität. Nichts vordergründig Skandalisierendes. Die Abgründe stecken in den fragmentarischen Interviewauszügen, die zusammen mit den durchwegs menschenleeren, skizzenhaften Bleistiftzeichnungen gesetzt sind, entstanden auf Spaziergängen durchs Berner Oberland: sozusagen im Nachhall auf die geführten Interviews. Grünig landet mit diesem Ansatz schnell bei seinem eigentlichen Thema, das um einiges vielschichtiger ist als eine blosse Kirchenkritik: der Frage nach Identität. Oder beim existenziellen Vakuum, das entsteht, wenn der eigene Glaube den gelebten Gefühlen ihre Existenz abspricht – und jede Identitätsfindung von vornherein unterbindet. «Als ich vor drei

Jahren mit dieser Arbeit begonnen hatte, hatte sie noch einen ganz anderen Sound», sagt Grünig. Da war der aktivistische Blick, die klar antireligiöse Haltung. «Durch den Prozess hindurch habe ich nochmals viel über Religion und Identität gelernt, auch im Gespräch mit den Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet und die ich durch meine Recherche kennengelernt habe. Es kam für mich etwas Versöhnliches dazu – nicht mit der Religion per se, aber mit der Frage der Identität. Denn die findet für viele wiederum Gestalt in ihrem Glauben.» Während der Recherchegespräche stiess er auf Erfahrungen von Exorzismus, auf Erzählungen von Suiziden und Suizidversuchen. All dies kommt explizit nicht vor im Buch. Es sind die Leerstellen, die bleiben, die Projektionsflächen, die dieses Berner Oberland bietet. Diese Berglandschaften, die Holzscheunen, Heuhaufen und Güllenlöcher, die Industrieareale und die Landi. Immer wieder die Kirchen. Grünig setzt Zitate wie dieses: «Ich fühlte mich völlig orientierungslos. Ich hätte es unter keinen Umständen gewagt, jemandem meine Gefühlswelt anzuvertrauen. (…) Du entfernst dich so Schritt für Schritt von dir selbst, bis du gar nicht mehr weisst, wer du eigentlich bist.» Die Bilder sind auch eine Auseinandersetzung des Zeichners mit sich und seiner Biografie und Prägung. Die Turnhallendusche im eigenen Primarschulhaus etwa: Spuren der Erinnerung, der eigenen Identitätsfindung. Politische Aufklärung bleibt ein wichtiger Bestandteil dieser gezeichneten Recherche. Ein Glossar umreisst zentrale Begriffe, benennt konkrete Programme, die Homosexualität zu «heilen» vorgeben, und zentrale Figuren sowohl aus dem evangelikal-homophoben Lager wie auch solche, die aus christlicher Perspektive für die Rechte von Homosexuellen kämpfen. Das Nachwort verfolgt die historischen Linien der Konversiontherapien, die aus dem amerikanischen Raum nach Europa und in die Schweiz importiert wurden. Es wird klar benannt, dass sie einen Missbrauch der therapeutischen Machtstellung darstellen. In der Schweiz wurde eine Vorlage für ein Verbot von Konversionstherapien im Dezember 2022 angenommen und befindet sich in der Ausarbeitung. In dem Sinn versteht Dimitri Grünig das Buch nicht zuletzt als Archivarbeit mit journalistischem Ansatz.

Dimitri Grünig: «Aber schwul bin ich immer noch», edition clandestin 2023

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Zürich «Vor aller Augen», Theater, Do, 18., Fr, 19., Sa, 20. Jan., jeweils 20 Uhr, Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4. winkelwiese.ch

cher illustriert, Plakate für den Filmemacher Alain Resnais oder das Jazzfestival Banlieues Bleues gestaltet und für Libération, The New Yorker und Les Inrockuptibles gezeichnet. DIF

Bern «13. Norient Festival», interdisziplinäres Kunstfestival, Mi, 10. bis So, 14. Jan. norient-festival.com

Sie haben Berühmtheit erlangt und sind doch zumeist Unbekannte geblieben: Frauen, die grossen Künstlern (wir gendern hier jetzt mal nicht) Modell gestanden haben. Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, die Dame mit dem Hermelin und unzählige andere Frauen auf weltberühmten Gemälden von Rembrandt van Rijn, Gustave Courbet, Vincent van Gogh, Ernst Ludwig Kirchner und Ferdinand Hodler. Martina Clavadetscher, Autorin, Dramatikerin und Schweizer Buchpreisträgerin 2021, begab sich mit ihrem Buch «Vor aller Augen» auf biografische Spurensuche und verlieh den porträtierten Frauen in Monolog-Miniaturen eine Stimme. Die Gemälde wurden zum Ausgangspunkt für überraschende wie berührende literarische Skizzen von den auf Leinwand gebannten Persönlichkeiten. «Vor aller Augen» dreht sich um die Eigenwilligkeiten der Kunstproduktion, das Modellsitzen ebenso wie den brutalen Markt dahinter, aber auch um das Objekt-Sein, das Angeschaut-Werden und die persönlichen Verstrickungen zwischen Modell und Maler. Unterdessen wurden diese Figuren auch auf der Bühne lebendig, verkörpert von der Schauspielerin Friederike Becht (unter der Regie von – oh nein, einem Mann: Jan Stephan Schmieding). Das Solo war in Bochum und Duisburg ein Erfolg, nun ist es dreimal in Zürich zu sehen. Das Mädchen mit dem Perlenohrring: endlich live bei uns. DIF

Basel «Blutch. Demain!», Ausstellung, bis So, 11. Feb., Do bis So, 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

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In seinen oft experimentellen Arbeiten überschreitet der französische Comiczeichner Blutch immer wieder die Grenze zur Abstraktion oder überlässt es der Leserschaft, Leerstellen frei zu assoziieren – wie in seinem Frühwerk «Péplum» etwa. Seine Geschichten spielen mit allen möglichen Genres: Science-­Fiction, Mystery, Western, Drama, Komödie. 1988 erschienen seine ersten Kurzgeschichten, später folgte die heitere autobiografische Kurzgeschichtensammlung «Le petit Christian», die seine Kindheit im Elsass der 1970erJahre beschrieb. Dann kamen die Alben in Schwarz-Weiss und später in Farbe, «Vitesse moderne». Die grosse Leidenschaft von Blutch für den Jazz hallt im Sprunghaften, Assoziativen seines Werks nach und hat ihn zu Büchern wie «Total Jazz» von 2004 sowie zu Plakaten und Porträts inspiriert. Er hat Bü-

Das Norient Festival wird seit Jahren immer vielfältiger und ambitionierter. Weil Musik dabei wichtig ist, hat es einen gewissen berauschenden Anteil, auch wenn es sich inhaltlich ernsten Dingen wie den globalen Herausforderungen unserer Zeit widmet und einen offenen Dialog über unser aller Zukunft anregen will – per Sound, Film und Video. In elf Berner Kinos, Clubs und Kulturzentren finden rund 20 interdisziplinäre Festivalveranstaltungen statt, die von einem internationalen Kurator*innenteam unter der künstlerischen Leitung der multidisziplinären Künstlerin Emma Nzioka aka Coco Em aus Nairobi zusammengestellt wurden. Eröffnet wird mit einer A/V-Show des katalanischen Recherche- und Musikkollektivs Jokkoo mit der Künstlerin Marie Kamau. Spannend hört sich auch das audiovisuelle Live-Erlebnis «Messengers» von Rebecca Salvadori an, das künstlerische Beziehungen innerhalb der experimentellen Underground-­Musikkultur Londons in der Dampfzentrale aufrollt. Oder die Theater-Sound-Performance «Body of Fear» des transnationalen Kollektivs Les Mémoires d’Helène im Tojo Theater. DIF

Biel «Prix Photoforum 2023», Ausstellung, bis So, 4. Feb., Mi bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/So 11 bis 18 Uhr, Pasquart, Kunsthaus Centre d’Art, Seevorstadt 71, Faubourg du Lac. pasquart.ch

Die Teilnehmenden dieser Gruppenausstellung werden jeweils durch den jährlichen Open Call des Prix Photoforum ausgewählt. Speziell ist, dass Kunstschaffende aus allen Bereichen der Fotografie eine Chance haben sollen, unabhängig von Nationalität, Alter oder Karrierestufe. So reichten denn auch 130 Fotograf*innen aus allen Bereichen ihres Fachs ihre Arbeiten ein, 11 sind nun ausgestellt: Naara Bahler, Anna-Tia Buss, Jonas Feige, Laura Gauch, Laura Paloma, Mahmoud Khattab, Thomas Annaheim Lambert, Pablo Lerma, Mathilda Olmi, Mikko Rikala und Pedro Rodrigues. Jurys müssen ja jeweils Begründungen für ihre Auswahl formulieren, und so kann man in ihren eigenen Worten hervorheben, dass die ausgestellten Künstler*innen alle ihre ganz eigene visuelle Sprache haben und dass ihnen allen ein kritischer Blick auf die Welt um uns herum eigen ist. Das klingt so allgemein, dass man alldem ohnehin zustimmen würde. Wir sind aber keine Jury, sondern klicken uns einfach durch die Auswahl und finden: Coole Bilder! Es ist tendenziell weniger Queres als sauber Ästhetisches dabei, und der erste Preis geht an Laura Gauch, die zahlreiche Firmenkunden im Portfolio hat, aber eben auch künstlerisch unterwegs ist, zum Beispiel mit einer filmischen Reflexion über Immigration vor dem Hintergrund der latino-hispanischen Community in New York. DIF

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BILD(1): SASCHA KREKLAU, BILD(2): © BLUTCH, BILD(3): ROCIO CHACON, BILD(4): LAURA GAUCH

Veranstaltungen


gebracht sind. Das Gewerbe ist hier gut vertreten, in den engen Strassen, in denen sich kleine Häuser der unterschiedlichsten Baustile aneinanderreihen, gibt es ­zahlreiche Werkstätten und alte Schuppen, kleine Gebäude, deren genauer Zweck sich nicht immer gleich erschliesst. Klar ist es beim Treibhaus, der gelben Garage oder dem Pizza-Zelt. Nicht ganz hingegen bei einem niedrigen gelben Häuschen mit grossem Flachdach, das wie der Kiosk einer Badeanstalt wirkt, aber inmitten der Häuser steht. Im Noble Art Boxing Center kann ebendiese noble Kunst erlernt werden, im Solarium O Sole Mio gibt es die gesunde Bräune dazu. Direkt an der Strasse liegt die Chemische Reinigung mit dem Hemdenservice, vor der ein Plakat «Zukunft statt Krisen» fordert, darauf hält eine Frau die Rote Fahne hoch. Verboten ist das Reiten auf dem engen, abfallenden Trülliweg.

Tour de Suisse

Pörtner in Frenkendorf Surprise-Standort: Coop Einwohner*innen: 6601 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 35,3 Sozialhilfequote in Prozent: 5,1 Wappen: Frenkendorfs Wappen (ernst blickender weisser Halbmond auf blauem Grund) wurde erstmals 1865 erwähnt und gehört zu den ältesten im Kanton Baselland.

Die Surprise-Verkäuferin hat sich in der Tiefgarage stationiert, offenbar kommen hier mehr Leute vorbei als beim ober­ irdischen Eingang, wo es neben Holzkohle bereits die ersten kleinen Tannenbäume zu kaufen gibt. Hinter dem Eingang warten verschiedene Schneeschaufeln auf Käufer*innen, der Winter kann kommen. Noch ist allerdings für einmal ein ­strahlender Tag, der gegenüberliegende Hang badet im Sonnenschein. Die Plakate entlang der Strasse weisen auf die diversen feiertäglichen Attraktionen hin, die meisten finden im nahegelegenen Basel statt, wohin unter anderem ein Weihnachtsmarkt lockt, der wohl ungleich grösser ist als der hiesige vom Fasnachtsverein organisierte, der nur einen Tag dauert. Hinzu kommen die Martinu FestSurprise 566/24

tage, ein Pferdespektakel, ein Spectaculum in einer Kulturkirche, das Gässli Film­ festival sowie ein Day & Night Rave. Langeweile kommt im Dezember also nicht auf. Auf der Säule eines sechseckigen Brunnens wacht ein Hahn, das Alterszentrum ­verfügt über eine eigene Fussgängerüberführung, die aber, so wird gewarnt, bei Glatteis nicht benutzt werden darf. Da zurzeit Wartungsarbeiten am Lift statt­ finden und der Winterdienst wie ausgeschildert bloss reduziert durchgeführt wird, ist man froh, dass noch kein Schnee gefallen ist. Dieser liegt aber in der Luft. Der Wohngeist weht in einem blauen Haus neben einem Gewerbegebäude, in dem eine Kinderzahnarztpraxis, ein Hunde­salon und ein Treuhandbüro unter-

Der Bahnhofplatz wird umgebaut, hier entsteht etwas Grösseres. Weiter hinten findet sich eine Skulptur aus rostigen Eisenelementen, Spiegeln und Leitern. Das Kebab Haus hat noch geschlossen, ein Zettel informiert «Ych chumme am 16.30 zurück!» Auf einem Tischchen liegen Zeitung und Aschenbecher für die Kundschaft bereit. Im Ort gibt es einen Fitnesspark sowie den Swiss Mega Park, der aufgeteilt ist in ­einen Sport- und einen Fun Park. Es wird wohl schwierig werden, eine Aktivität zu finden, die sich nicht in einer dieser drei Anlagen ausüben lässt. Wer nur Spazieren will, gelangt am Skulpturengarten Claire Ochsner vorbei in den alten Dorfkern hinauf, wo es auch noch einen D ­ orfladen gibt und man sich ungleich weiter weg vom Trubel entfernt fühlt als im unteren Teil des Dorfes.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Inosmart Consulting GmbH

02

Eva näht: www.naehgut.ch

03

Gemeinnützige Frauen, Aarau

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Flowscope GmbH, Biglen

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IceFishing.ch

06

Lebensraum Interlaken GmbH

07

Madlen Blösch, Geld & so.

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Scherrer + Partner GmbH

09

SISPROCOM GmbH, Zürich

10

Wag Genossenschaft, www.wag-buelach.ch

11

Kaiser Software GmbH, Bern

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Kaehlin Bodenbeläge GmBH, Waedens

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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TYDAC AG

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Hofstetter Holding AG, Bern

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EnviroChemie, Eschenbach SG

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Die Mappe – Agentur für Dies und Das, Basel

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Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

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iris-schaad.ch Qigong in Goldau

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

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Breite-Apotheke, Basel

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Pub Pfiff, Haltbergstrasse 16, 8630 Rüti

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www.tanjayoga.ch, Lenzburg

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Zubi Carosserie, Allschwil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Aleksandra Bruni Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 52 I marketing@surprise.ngo

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze. Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage. Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «Vor wenigen Jahren bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen – und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden. Im Asylzentrum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Surprise eine neue Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Schaffen Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende. Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher. Unterstützungsmöglichkeiten: 1 Jahr CHF 5000.– ½ Jahr CHF 2500.– ¼ Jahr CHF 1250.– 1 Monat CHF 420.– Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: Surprise, 4051 Basel IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Vermerk: Chance Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo oder surprise.ngo/spenden nk n Da liche chtigen z r e H i ren w für Ih Beitrag!


Wir alle sind Surprise #564: Wie die Schweiz zu ihren Working Poor kam

«Ein Krampf, der ans Lebendige geht» Es geschieht nicht aus Erbarmen oder aus lauter schlechtem Gewissen, wenn ich vor dem Coop beim Römertor in Oberwinterthur von der Verkäuferin, die mich inzwischen kennt, Surprise beziehe, sondern weil ich dieses Magazin einfach immer wieder gut finde und jedes Surprise eine «surprise» ist. Entschieden in der Stellungnahme und der Ausrichtung, aber nicht anklägerisch und aufreizend, sondern klug, ­einladend und anregend, enthält es eine stets neue Vielfalt von sonst oft vernachlässigten Themen. So in der neuesten Nummer das Thema der Working Poor, den Artikel von Carlo Knöpfel. Hierzu möchte ich eine kleine Lesefrucht beisteuern. Ich war überrascht, als ich im Werk «Das Kapital» von Karl Marx, im ersten Band, erschienen 1867, in einer Anmerkung den Satz fand: «Der Ausdruck ‹labouring poor› findet sich in den englischen Gesetzen vom Augenblick, wo die Klasse der Lohnarbeiter bemerkenswert wird. Die ‹labouring poor› stehen im Gegensatz, einerseits zu den ‹idle poor›, Bettlern usw., anderseits zu den Arbeitern, die noch keine gepflückten Hühner, sondern Eigentümer ihrer Arbeitsmittel sind.» Die Ausdrucksweise mag leicht antiquiert wirken, die Sache ist es leider nicht. Und wer im Englischen bewandert ist, hört hier vielleicht einen Unterschied: «labouring» mag zu verstehen geben, dass das «working» ein hard working, zu deutsch: ein Krampf ist, der ans Lebendige geht. Wofür es dann allerdings keine Entschädigung gibt. Und zuletzt: «Das Kapital» ist zwar alt, dick, umständlich, kompliziert und schwierig, aber höchst aktuell, und wer verstehen will, könnte darin lesen. BEAT K ASPAR WEBER, Winterthur

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

Ständige Mitarbeit

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo surprise.ngo

Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel,

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Urs Habegger, Mario Heller, Adelina Lahr,

Regionalstelle Bern Beundenfeldstrasse 57, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen,

«Frieden ernst nehmen» Klasse – diese Kolumne! Frieden ernst nehmen. Danke! JA AP ACHTERBERG, ohne Ort

#Strassenmagazin

«Das Einzigartige an Surprise» Seit Jahren kaufe ich mein Surprise von den liebenswürdigen Ver­ träger*innen in der Stadt Bern. ­Insbesondere der nette Herr vor der Rösterei an der Länggassstrasse und die Frau im Coop Länggasse ehemals Alkoholverwaltung haben es mir angetan. Ich kaufe circa jedes zweite Heft. Das Gespräch mit den Verkäufer*innen und etwas in den Händen zu halten, das eben gerade nicht aus dem Briefkasten kommt, sind das Einzigartige am Surprise. Schliesslich auch, dass ein Deal zwischen der Verkaufsperson und mir stattfindet, der ein wenig ausserhalb formalisierter Verträge spontan entsteht. Auch wenn ich erst mit der Preiserhöhung nicht einverstanden war, finde ich es jetzt ok und gebe oft dann 10 CHF. Arbeit und Asyl war ein g ­ utes Thema! Vielleicht machen Sie mal eine Reportage über die Käufer*innen von Surprise oder über die Gedanken und Gefühle im Moment der Begegnung. MARION PANIZZON, Bern

Ich möchte Surprise abonnieren Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.

Yvonne, Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50.–)

Mitarbeitende dieser Ausgabe Valentina Visentin Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Gönner-Abo für CHF 320.– Probe-Abo für CHF 40.– (Europa: CHF 50.–), 4 Ausgaben Reduziert CHF 28.– (Europa: CHF 35.–) Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.– Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.

Druck AVD Goldach

Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo

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Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Surprise 566/24

#563: Moumouni antwortet: Wie komme ich mit Unbekannten in einen Dialog?

Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage

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FOTO: SCARP DE’ TENIS

Internationales Verkäufer*innen-Porträt

«Nie hätte ich gedacht, noch einen Job zu finden» Giorgio Abebe wurde in Addis Abeba geboren, der Hauptstadt Äthiopiens. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Eritrea, der Vater verdiente in Addis Abeba sein Geld als Mechaniker, die Mutter besorgte den Haushalt. Als er starb, musste Giorgios Mutter arbeiten gehen, um ihn und seine beiden Schwestern über die Runde zu bringen. Als Teenager machte Abebe bei ei­ nem Unternehmen eine Aus­bildung als Hydrauliktechniker. Nach fünf Jahren ging die Firma jedoch Konkurs und Giorgio be­ gann als Taxifahrer zu arbeiten. Allerdings war die Konkurrenz in diesem Gewerbe so gross, dass er schon bald mit dem Fahren aufhören musste. Zu jener Zeit war die eine Schwester von Abebe bereits auf der Suche nach einem besseren Leben nach Italien ausgewandert, und er beschloss, ihr zu folgen. «Meine Mutter war dagegen, schliesslich war ich der einzige Mann im Hause und hatte eine grosse Verantwortung gegenüber der Familie», erinnert sich Abebe. «Am Ende konnte ich sie davon überzeugen, dass ich in Europa bessere Chancen hätte, Geld zu verdienen und so der Familie zu helfen.» Und so zog Abebe 1997 nach Italien; über die Reise mag er nicht reden, es sei hart gewesen. In Italien ange­ kommen, beantragte er Aufenthaltspapiere, was einige Monate dauerte. Dann fand er eine Wohnung sowie einen Job in einem Bekleidungsgeschäft, wo er die nächsten zehn Jahre arbeitete. Bis 2008 die Finanzkrise auch Italien traf. Das Unternehmen, für das Abebe arbeitete, musste schliessen. Es sei keine einfache Zeit gewesen, sagt Abebe, denn zu jener Zeit wurde auch noch seine Mutter krank. «Ich machte mir grosse Sorgen und fühlte mich hilflos, so weit weg von ihr. Ich wollte dafür sorgen, dass sie die nötige Pflege bekommt.» Also beschloss Abebe, für ein paar Wochen nach Äthiopien zurückzukehren. Obwohl der Gesundheitszustand seiner Mutter sich verschlim­ merte, musste Abebe wieder nach Italien, weil er sonst riskierte, seine Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Nach einem Jahr fand er erneut einen Job in der Textilbranche; dort blieb er bis 2015. Als ihm wegen Sparmassnahmen ge­ kündigt wurde, konnte er die Miete nicht mehr bezahlen und war gezwungen, zuerst bei s­ einer Schwester unterzukommen und dann in einer Notschlafstelle. «Ich wollte meiner Schwester nicht weiter zur Last fallen, sie hatte selber kaum genug Geld. Dann kam die Nachricht vom Tod meiner Mutter und meine ganze Welt brach zusammen.» Die Wende brachte ein Wohnheim, das ihm einen Schlafplatz anbot sowie die Möglichkeit, die Strassenzeitung Scarp de’ tenis zu verkaufen. «Zuerst zögerte ich, denn ich hatte Angst, von den Leuten entweder ignoriert oder aber abgestempelt zu werden», sagt Abebe. Aber bald fand er Freude daran, die Zeitung zu ­verkaufen. «Die Leute kamen auf mich zu, sie waren alle freundlich, wir hielten einen Schwatz. Bis heute habe ich viele ­Kontakte knüpfen können.» 30

Giorgio Abebe, 66, verkauft in Vicenza im Nordosten Italiens die Strassenzeitung Scarp de’ tenis und glaubt fest daran, dass man niemals aufgeben sollte.

Vor zwei Jahren bot die Caritas Abebe ein Zimmer in einem Wohnheim an. Seit langem hatte er endlich wieder eine eigene Wohnung mit Privatsphäre. Und mit der Wohnung kam der Job. Abebe begann bei einem Hersteller landwirtschaftlicher Maschinen zu arbeiten, zuerst auf Probe, heute hat er eine 50-Prozent-Stelle. «Als ich den unbefristeten Arbeitsvertrag be­ kam, habe ich vor Glück geweint. Nie hätte ich gedacht, dass ich mit Mitte sechzig noch einen Job finde», sagt Abebe. Noch im­ mer verkauft er die Strassenzeitung, um seine Finanzen auf­ zubessern und Familie und Verwandte in Äthiopien zu unter­ stützen – und um den Kontakt mit den Menschen zu halten, die Scarp de’ tenis kaufen. Eine eigene Wohnung sowie die Möglichkeit zu arbeiten hätten ihm die Würde zurückgegeben, sagt Abebe heute. Er halte sich nicht für einen religiösen Menschen, aber als er meinte, alles verloren zu haben, da habe er sich an die Worte seines Vaters ­erinnert: Niemals aufgeben, immer weiter hoffen. «Ich glaube, dass er mir von irgendwo dort oben die Kraft und die Hoffnung gesandt hat, die ich brauchte, um auf die Beine zu kommen und wieder an mich zu glauben.»

Aufgezeichnet von VALENTINA VISENTIN Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von SCARP DE’ TENIS / INSP.NGO

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Bild: Marc Bachmann

SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG Ermöglichen Sie Selbsthilfe. Spenden Sie jetzt. Spendenkonto: Verein Surprise, CH-4051 Basel IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 www.surprise.ngo


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