Surprise Nr. 434

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Strassenmagazin Nr. 434 21. Sep. bis 4. Okt. 2018

CHF 6.–

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Frauenarmutstouren

Expertin Die Basler SurpriseStadtführerin Danica Graf weiss, wovon sie redet Seite 8 Surprise 000/18

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Strassenmagazin Nr. 434 21. Sep. bis 4. Okt. 2018

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Frauenarmutstouren

Expertin

Die Berner SurpriseStadtführerin Franziska Lüthi weiss, wovon sie redet Seite 8 Surprise 000/18

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TITELBILDER: ANGELIKA ANNEN

Editorial

Expertinnen für Armut Sie sind mutige, starke Frauen, die Surprise Stadtführerinnen Lilian Senn, Danica Graf, Franziska Lüthi und Sandra Brühlmann, die Sie auf den vier Umschlagseiten dieser Ausgabe sehen. Sie wagen mit ihren Lebensgeschichten den Schritt in die Öffentlichkeit: Auf den neuen Surprise Frauenarmutstouren erzählen sie, wie sie selbst zu Expertinnen für Armut geworden sind, im Gespräch ab Seite 8. Es gibt eine Theorie zum Zusammenhang zwischen Frausein und Armut. Die schwedische Autorin Liv Strömquist fasst diese in «Der Ursprung der Welt» wie folgt zusammen: Weil Männer stärker sind als Frauen, haben sie das ganze Geld. Deshalb sind die Frauen abhängig von ihnen. Alles, was die Frauen den Männern im Austausch für Verpflegung, Unterkunft und Schutz bieten können, ist der exklusive Zugang zu Sex. So entstanden Institutionen wie die Ehe (sowie das Dogma der Monogamie oder auch die Prostitution). Natürlich ist das grob verallgemeinert. Und dennoch: Trotz

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Prügel statt Achtsamkeit

6 Moumouni …

über Chemnitz und Mütter

7 Die Sozialzahl

Ist Armut weiblich?

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8 Frauenarmutstouren

Die Expertinnen erzählen

16 Krise

So schnell geht es abwärts

Emanzipation, #metoo und Gleichstellungsbeauftragten stecken wir immer noch in diesen Abhängigkeitsstrukturen fest. Frauen tragen in der Schweiz ein deutlich höheres Armutsrisiko als Männer, stecken besonders häufig in prekären Einkommenssituationen und sind häufiger langfristig abhängig von Sozihilfe. Auch sind Frauen am häufigsten Opfer häuslicher Gewalt. Wie schnell es für jede von uns abwärts gehen kann, zeigt die Geschichte von Sabine, deren Beziehung zu einem manipulativen Mann sie fast das Leben gekostet hätte, ab Seite 16. Auf der Gasse sind Frauen seltener anzutreffen als Männer. Vermutlich weil sie bessere Netzwerke haben oder länger schmerzhafte Kompromisse eingehen. Denn Rückzugsräume für Frauen auf der Gasse gibt es viel zu wenige, ab Seite 22. SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

22 Obdachlosigkeit

Kein Ort für Frauen

26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

«Ich schätze die Menschlichkeit»

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTOS: KUNG FU NUNS

Kung-Fu-Nonnen Die Nonnen der Drugpa-Schule, einer Richtung des tibetischen Buddhismus, haben zusammen mit aufgeschlossenen männlichen Kollegen die patriarchale Ordnung buddhistischer Orden aufgelöst. «Wir haben alles gelernt, was Mädchen in den frühen Tagen unseres Ordens untersagt war», sagt DrugpaNonne Jigme Wangchuk Lhamo. Die Nonnen bringen Frauen und Mädchen in Nepal und Nordindien bei, wie sie sich mit den Techniken des Kung Fu verteidigen können. «Ich möchte, dass Eltern ihre Töchter lehren, stark zu sein und sich zu verteidigen. Man muss nicht zwingend Kung Fu können. Es geht mehr um die Geisteshaltung, die sie verändern müssen», sagt Ordensschwester Jigme Konchok Lhamo.

THE BIG ISSUE, LONDON

Keine Passagiere

Mehr Obdachlose

Dass vereinzelt Obdachlose an Flughäfen wohnen, ist kein neues Phänomen. Mittlerweile sind es aber Dutzende, an manchen Flughäfen gar Hunderte. An Deutschlands zweitgrösstem Flughafen, dem Airport Franz Josef Strauss in München, sind es schätzungsweise 80 bis 120 Obdachlose über das Jahr verteilt. Es wurden schon Bussen bis 900 Euro verhängt, doch das sei nicht in ihrem Interesse, sagt die Flughafenbetreiberin. Seit letztem Jahr stehen nun zwei Sozialarbeiter im Einsatz.

Die jährliche Zählung des Strassenmagazins Denver Voice verzeichnet dieses Jahr einen Anstieg der Zahl chronisch Obdachloser. Insgesamt wurden in der Metropolitanregion Denver im US-Bundesstaat Colorado 5317 obdachlose Personen gezählt, 1596 oder rund ein Drittel davon sind Langzeitobdachlose. Im vergangenen Jahr fand die Zählung 701 chronisch Obdachlose. Landesweit nahm die Zahl der Langzeitobdachlosen einer Erhebung der US-Regierung zufolge um 12 Prozent zu.

BISS, MÜNCHEN

DENVER VOICE, DENVER

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Der andere Baumarkt Im Wiener Stadtbezirk Matzleinsdorf, rund fünf Kilometer von der Touristenattraktion Prater entfernt, befindet sich der sogenannte Arbeiterstrich. Zwischen Autobahnzubringer und Baumarkt bieten hier Männer aus Osteuropa ihre Expertise, Erfahrung und auch ihre Körper für Jobs auf dem Bau an. Und zwar zu Dumpingpreisen. Denn auch wenn die Auftraggeber von grossen Bauunternehmen wie Strabag kommen, zahlen sie oft nicht einmal einen Stundenlohn von sieben Euro. Während ihrer Arbeit auf Privatund Grossbaustellen sind die Männer in den allermeisten Fällen weder sozial- noch kranken- oder unfallversichert.

AUGUSTIN, WIEN

Jeden Tag zwei Räumungen In Dortmund wurden 2017 653 Wohnungen geräumt, also fast zwei pro Tag. Im gesamten Ruhrgebiet sind die Mieten in den vergangenen Jahren gestiegen: In Dortmund zahlt man heute im Schnitt 38 Prozent mehr Miete als 2008. Der Druck hat längst auch Normalverdiener erfasst, zuerst aber diejenigen, die auf das untere Preissegment angewiesen sind. Der Bund pumpt derzeit jährlich 1,5 Milliarden Euro in die Wohnraumförderung, trotzdem sinkt die Zahl der Sozialwohnungen in ganz Deutschland kontinuierlich, allein 2017 um 46 000.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Prügel statt Achtsamkeit Erste Sonnenstrahlen, Vogelgezwitscher: Am Sonntagmorgen ist die Welt noch in Ordnung. Normalerweise. Herr Schmidt* öffnet die Fenster seines Schlafzimmers und beginnt die Morgenmeditation. Er lässt seinen Atem fliessen. Innere Bilder kommen auf, das Gefühl von Tatkraft erfüllt ihn. Da dringt der Geruch von Cannabis in seine Nase und Gebrüll an sein Ohr. Unter dem Fenster seiner Hochparterrewohnung lassen zwei junge Männer die durchzechte Nacht lautstark ausklingen. Einer lässt auf dem Smartphone Deutsch-Rap laufen. Der andere grölt mit. Und weg ist die Ausgeglichenheit. Herr Schmidt fordert diese «Ruhe!»-schreiend ein. Die Jungs schreien ihrerseits «Ruhe, Mann!» Der Mann geht runter, und bevor er das Haus verlässt, erblickt er vor der Kellertür einen Strohbesen. Vor Gericht bestreitet Herr Schmidt, den Besenstiel als Waffe eingesetzt zu haben. Der 49-jährige Deutsche, der sich als Coach vorstellt, trägt den blassblonden Kopf kurzgeschoren, das weisse Hemd mit Stehkragen erinnert an einen Geistlichen. «Ich habe nicht zugeschlagen», erklärt er dem Richter. «Ich wollte mich schützen.» Als er erneut Ruhe forderte, sei die Situation eskaliert: Erst soll der 23 Jahre alte Kontrahent ein herumstehendes Kindervelo genommen und ihm ans Schienbein geworfen haben. In der anschliessenden Rangelei wollte derselbe ihm den Besenstiel entwinden und auf den Kopf schlagen, sagt Herr Schmidt. «Ich habe mich lediglich dagegen gewehrt.» Dann hätte seine Frau vom

Fenster aus «Aufhören!» geschrien. Die Männer hätten voneinander abgelassen. Er sei zurück in die Wohnung gegangen. Die beiden Jüngeren riefen die Polizei. Bei der Befragung stritt der 23-Jährige nicht ab, dass er und sein Freund laut gegrölt hätten und vor dem Platz des Mehrfamilienhauses noch einen Joint zum Einschlafen rauchten. Der Angeklagte sei mit dem Besenstiel in beiden Händen auf ihn losgegangen, «wie mit einem Kampfstock», heisst es in der Anklageschrift. Zweimal sei der junge Mann im Gesicht getroffen worden – an der Schläfe und am Jochbein. Wegen versuchter einfacher sowie wegen fahrlässiger Körperverletzung fordert die Staatsanwaltschaft eine Bewährungsstrafe von zehn Monaten für Herrn Schmidt. Die Verteidigerin hingegen plädiert auf Freispruch, der Tathergang sei nicht zweifelsfrei ermittelbar. Doch der Richter findet keine Widersprüche in den Aussagen des Geschädigten, es spreche für ihn, dass er die Polizei gerufen habe. Er könne zwar nachvollziehen, dass sich der Angeklagte gestört fühlte. Unverständlich sei aber dessen aggressives Verhalten. Er hätte am besten einfach in der Wohnung bleiben und die Polizei rufen sollen. Der Richter verhängt eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten und eine bedingte Geldstrafe von 3000 Franken. Mit Schadensersatz, Genugtuung, Parteientschädigung sowie Verhandlungs- und Verfahrenskosten muss Herr Schmidt allerdings rund 10 000 Franken bezahlen. «Wir sind nicht im Wilden Westen, wo man das auf eigene Faust regelt», mahnt der Richter. * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

nannte besorgte Bürger gegen sogenannte Ausländer demonstrierten, ebenfalls in Chemnitz. Auf Fotos sieht man den SVP-Nationalrat mit Anhängern der militanten Neonaziszene. In einem Interview mit 20 Minuten sagt er, er sei nur als Journalist da gewesen, das Thema sei schliesslich interessant und relevant. Das ist es sicher, vor allem für den Chefredaktor eines rechten Blatts. Ausserdem meinte er: «Die überwiegende Mehrheit waren ganz normale Menschen, die gegen die Asylkriminalität und die abgehobene Politik in Berlin demonstrierten.» Roger Köppel, die Mutter aller Beschönigung von Neonazidemos! Wenn auf einer Demonstration Leute mitlaufen, die Menschen verprügeln, weil sie diese für Ausländer halten, dann weiss ich nicht, was die «normalen Menschen» da noch suchen, ausser sie wollen die Gewalt verhindern. Aber das haben sie nicht gemacht, diese normalen Menschen mit ihren normalen Müttern auf dieser interessanten und relevanten Demo gegen die nicht normalen Menschen.

Moumouni …

… über Chemnitz und Mütter Ich würde gerne die Mutter des deutschen Bundesinnenministers Horst Seehofer beleidigen. Wenn diese wirklich nur die Kunstfigur wäre, von der man im BattleRap immer redet, dann würde ich das tun. «Seehofers Mutter ist soooo fett …, ihre Blutgruppe ist Nutella», das würde ich sagen, das ist mein Lieblings-Deine-MutterWitz. Mit Seehofers echter Mutter müsste man wohl eher ein ernstes Wörtchen reden, darüber, ob sie ihm die Ohren lang ziehen könnte zum Beispiel, oder ob sie ihn nicht einfach unter Hausarrest stellen wolle. Aber damit würde man ihr eine ganz schöne Verantwortung auferlegen, eigentlich sollte sich ja die Demokratie um Politiker wie Seehofer kümmern. Unerhört, was der so an unhaltbaren Aussagen gebiert. Wenn Seehofer in Reaktion auf die Nazimobs in Chemnitz findet, die Mutter aller Probleme sei die Migration, dann möchte ich, die Regeln 6

der Mutterwitze befolgend, sagen: «Deine Mutter ist die Mutter aller Probleme!» Das wäre natürlich gar nicht wahr, aber so verhält es sich auch mit der Aussage, Migration sei die Mutter der prü-gelnden Neonazimeute, die durch Chemnitz zog. Denn das Problem ist, dass prügelnde Neonazis in Deutschland herummarschieren. Und die Mutter dieses Problems ist nicht die Migration, sondern dass es in Deutschland prügelnde Neonazis gibt, die in letzter Zeit immer selbstbewusster auftreten. Ich möchte auch Roger Köppel beleidigen. Nicht als Mutter aller Probleme, nein: «Alle Probleme» sind schliesslich eine ziemlich komplexe Angelegenheit. Vielleicht als «Mutter aller schlechten Ausreden». Köppel war an dem Wochenende, an dem Hitlergruss zeigende und rassistische Parolen singende soge-

Und von wegen Ausländer und «kriminelle Asylanten»: Es wurden offenbar auch Deutsche verprügelt, die nicht deutsch genug aussahen, vielleicht weil ihre Mütter oder Grossmütter nicht deutsch waren, aber tut das was zur Sache? Vielleicht doch nicht immer die Mutter ins Spiel bringen. Das ist weder als Beleidigungsmotiv noch als ausgelutschte Metapher des Ursprungs angebracht. Statt zu sagen, Migration sei die Mutter aller Probleme, könnte man auch einfach sagen: Die prügelnden Nazis in Chemnitz sind ein Problem. Statt Seehofers Mutter zu beleidigen, könnte man einfach Horst und Roger abwählen. Mutter-Witze sind nämlich sexistisch. Und Seehofers Zitat eine Beleidigung für die Mutter als Metapher des Ursprungs und der Weisheit.

FATIMA MOUMOUNI findet, Seehofers Mutter hat mit all dem nichts zu tun.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): ERHEBUNG ÜBER DIE EINKOMMEN UND LEBENSBEDINGUNGEN SILC 2016. BERN, SEPARATE AUSWERTUNG.

Die Sozialzahl

Ist Armut weiblich? Männer

Obligatorische Schule

Frauen

13,5% 9,7%

Sekundarstufe II

8,5% 7,0%

Tertiärstufe

5,4% 4,4%

Armutsquoten nach Geschlecht und Bildung, 2016

Armut könne alle treffen: Das ist schnell dahingesagt, Einzelfälle sind rasch aufgezählt. Doch die Fakten aus einer europaweiten Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen erzählen eine andere Geschichte. Hier finden sich zahlreiche Armutsquoten, die darüber Auskunft geben, wie viele Prozent der Gesamtbevölkerung mit einem bestimmten sogenannten sozioökonomischen Merkmal zur armutsbetroffenen Bevölkerung zählen. Sozioökonomische Merkmale sind zum einen das Geschlecht, die Nationalität oder das Alter, zum anderen die Bildung, das Einkommen oder die Stellung, die jemand in der Gesellschaft einnimmt. Diese Armutsquoten beziehen sich auf das Haushaltseinkommen und können auch als Armutsrisiken interpretiert werden. Sie geben an, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Person mit einem bestimmten sozio-ökonomischen Merkmal zur armutsbetroffenen Bevölkerung eines Landes gehört.

2016. In jenem Jahr betrug die Armutsquote in der Gesamtbevölkerung 7,5 Prozent *. Das entspricht einer Zahl von rund 616 000 armutsbetroffenen Personen in der Schweiz.

Die Armutsrisiken sind keinesfalls gleichmässig über die Gesamtbevölkerung verteilt. Die neuesten Zahlen zur Armut in der Schweiz stammen aus dem Jahr

Wirklich interessant wird es, wenn man diese Armutsrisiken kombiniert betrachtet. Schliesslich weisen Menschen ja eine ganze Palette von

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Untersucht man die Daten genauer, werden ganz bestimmte Armutsrisiken sichtbar. Zum Beispiel das Geschlecht: Frauen sind deutlich häufiger arm als Männer. Die Armutsquote der Frauen betrug 2016 8,5 Prozent, jene der Männer 6,5 Prozent. Ein weiteres, hinlänglich bekanntes Armutsrisiko ist die Bildung. Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede. Wer lediglich die obligatorische Schulzeit absolviert hat, trägt mit einer Armutsquote von 12 Prozent ein deutlich höheres Armutsrisiko als jene mit einem Berufsabschluss auf Sekundarstufe II (Mittelschule, Berufslehre) oder einem tertiären Bildungsabschluss (Universität, Hochschule). Hier betragen die Armutsquoten 7,8 beziehungsweise 4,8 Prozent.

sozio-ökonomischen Merkmalen auf. Untersucht man zum Beispiel die Armutsrisiken Geschlecht und Bildung miteinander, so zeigt sich, dass Frauen mit niedriger Bildung bei einer Armutsquote von 13,5 Prozent ein sehr viel höheres Armutsrisiko aufweisen als Männer mit der gleich tiefen Bildung (9,7 Prozent). Diese Schere schliesst sich mit steigendem Bildungsniveau. Für Frauen mit einem Tertiärabschluss liegt die Armutsquote bei 5,4 Prozent, für die Männer mit dem gleichen Bildungsstand bei 4,4 Prozent. Naheliegenderweise könnte man weitere sozio-ökonomische Merkmale wie den Zivilstand oder das Einkommen in die Untersuchung einbeziehen und so ein immer genaueres Bild der Armut in der Schweiz gewinnen. Leider stösst man rasch an statistische Grenzen, weil die Stichprobe für solche Auswertungen zu klein ist. Trotzdem sind schon solche zweidimensionalen Armutsquoten für die Armutspolitik von grosser Relevanz. Sie erlauben eine bessere Fokussierung der knappen Mittel auf Massnahmen für bestimmte soziale Gruppen mit besonders hohem Armutsrisiko. In unserem Beispiel spricht alles dafür, junge Frauen mit schulischen Schwierigkeiten speziell zu unterstützen. Sonst landen diese später als Putzfrauen oder Kellnerinnen in der Sozialhilfe. * Anmerkung: Die aus einer Stichprobe gewonnenen Zahlen basieren auf einem Vertrauensintervall von 95 %. Lesebeispiel: Die Armutsquote für die Gesamtbevölkerung wird hier als Mittelwert mit 7,5 % angegeben. Faktisch liegt der «wahre» Wert zwischen 6,9 % und 8,1 %.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Fast 20 Jahre nahm Franziska Lüthi keine Drogen, bis eine Scheidung ihr den Boden unter den Füssen erneut wegzog. Heute ist sie wieder clean.

Im Gespräch mit Redaktorin Sara Winter Sayilir (Mitte) wurde auch mal gelacht.

Bern: Armut und Sucht Franziska Lüthi erzählt auf ihrer Tour durch Bern, wie Sucht in die Armut und an den Rand der Gesellschaft führen kann. Job weg, Wohnung weg, Familie weg – wie überlebt man, wenn man ganz unten angekommen ist? Wer hilft den Betroffenen wieder auf die Beine? Zusammen mit Roger Meier berichtet Franziska Lüthi zudem vom Elend der früheren offenen Drogenszenen und stellt verschiedene Angebote der Suchthilfe vor, die aus dieser Zeit hervorgegangen sind. www.surprise.ngo/frauenarmutstouren

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«Die Leute sollen hinschauen» Frauenarmutstouren Die Surprise-Stadtführerinnen Lilian Senn, Danica Graf,

Sandra Brühlmann und Franziska Lüthi wissen aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, arm und weiblich zu sein. Ab September starten sie mit neuen Stadtrundgängen. INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Armut ist weiblich: Von den rund 570 000 Armen in der Schweiz sind 330 000 Frauen. Überdurchschnittlich oft sind sie in prekären Lebenslagen: Sie arbeiten in befristeten Arbeitsverhältnissen oder gehen zur Existenzsicherung mehreren Jobs nach. Frauen suchen nach höheren Pensen, um über die Runden zu kommen, und finden keine. Werden sie ausgesteuert, tragen sie ein höheres Risiko als Männer, ganz aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Bei den Lang- und Dauerempfangenden von Sozialhilfe sind Frauen überdurchschnittlich vertreten. Ihre Armutsquote liegt mit 8,5 Prozent zwei Prozentpunkte über derjenigen der Männer. Aber was heissen diese Zahlen konkret für die Betroffenen? Wir haben uns mit vier Expertinnen an einen Tisch gesetzt, um dieser Frage nachzugehen. Danica Graf und Lilian Senn aus Basel, Franziska Lüthi aus Bern und Sandra Brühlmann aus Zürich wissen aus eigener Erfahrung, warum die Frauenperspektive auf Armut mehr Beachtung braucht. Es sind ihre persönlichen Geschichten, mit denen sie sich ab September auf die Strasse stellen und Interessierten einen Einblick geben. Danica Graf, was macht Sie zur Expertin für Armut? Danica Graf: Wir hatten eigentlich nie viel Geld. Ich bin in einer grossen Familie aufgewachsen. Aber wir hatten es gut. Später heiratete ich einen Mann, der hoch verschuldet war. Gleichzeitig machte ich mich selbständig. Mit 25 bekam ich meine Tochter. Damit sie nicht bei uns pfänden kommen, musste ich meine Ersparnisse aufbrauchen. Später liess ich mich scheiden. Wegen der Schulden? Danica Graf: Nein. Mit 14 war ich von einem Unbekannten missbraucht worden. Dazu habe ich in der Ehe sehr viel Gewalt erlebt, auch sexuelle. Dadurch wurde ich psychisch krank. Ich verlor meine Wohnung, ich war alleinerziehend und ohne Job. Damals kam ich notfallmässig bei einem Freund unter. Surprise 434/18

FOTOS ANGELIKA ANNEN

Sie waren damals noch jung. Hätten Sie nicht zurück zu Ihren Eltern ziehen können? Danica Graf: Nein. Ich zog zu meinem damaligen Freund, der uns auch finanziell mitversorgte. Der Vater des Kindes hat lange nicht gezahlt. Dann bin ich wieder psychisch krank geworden, ich litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Und heute? Heute bin ich wieder alleinerziehend, meine Tochter ist 17. Ich arbeite in Teilzeit, habe aber nur ein geringes Einkommen. Ich hatte grosse Mühe, wieder eine Wohnung zu finden, aber habe etwas gefunden Ende letzten Jahres. Nun schlage ich mich irgendwie durch. Franziska Lüthi, warum kennen Sie sich mit Armut aus? Franziska Lüthi: Ich habe früh die Lehre abgebrochen und danach immer nur niederschwellige Jobs gehabt. Und ich habe Drogen konsumiert. Da bist du automatisch armutsbetroffen. Was waren das für Jobs? Franziska Lüthi: Putzen, Service oder auch in der Pflege, privat. Später war ich alleinstehend mit drei Kindern. Das ist auch nochmal so eine Armutsfalle. In dieser Zeit war ich übrigens clean, fast 20 Jahre lang. Waren Sie von Anfang an alleinerziehend? Franziska Lüthi: Nein. Die erste Beziehung ist auseinandergegangen, als das Kind ein Jahr alt war. Später war ich zwölf Jahre mit einem anderen Mann verheiratet. Das hat aber auch nicht funktioniert. Während der Scheidung bin ich wieder abgestürzt. Was ist damals passiert? Franziska Lüthi: Ich hatte das Vertrauen ins Leben verloren. Mein erster Freund mit 18 hatte mich geschlagen, danach bin ich vergewaltigt worden und fast zeitgleich 9


hat sich mein bester Freund das Leben genommen. Und nun lief meine Ehe schlecht. Wir haben zwar eine Therapie gemacht, aber es hat nicht funktioniert. Ich habe probiert, den Kindern viel Liebe mitzugeben. Aber ich habe versagt. Damit habe ich heute noch Mühe. Fühlen Sie sich schuldig? Franziska Lüthi: Ja, schon ein bisschen. Ich hätte nicht rückfällig werden müssen. Wie ist der Kontakt zu Ihren Kindern heute? Franziska Lüthi: Ich habe durch den Rückfall mit den Drogen damals unter anderem meine Wohnung verloren, meine Tochter zog aus und der Jüngste ging zum Vater. Heute lebt die Tochter wieder bei mir. Sie ist mittlerweile 23. Die beiden anderen sind ebenfalls erwachsen: der Älteste lebt im Ausland, der Jüngste in Bern. Sandra Brühlmann, was ist Ihre Geschichte? Sandra Brühlmann: Mein Vater hatte kein grosses Einkommen. Wir haben Kleider von den Nachbarn bekommen und hatten auch viel zu wenig zu essen. Meine Mutter war psychisch krank und konnte nicht arbeiten. Sie musste immer wieder in die Klinik. Als ich in der Pubertät war, hat sich mein Vater selbständig gemacht. Da mussten wir noch ein bisschen mehr zurückstecken. Als sein Geschäft dann lief, war ich schon 18 und musste raus. Mein Vater wollte uns nicht mehr im Haus haben. ANZEIGE

«Ein Film, der der Seele guttut.»

Was haben Sie dann gemacht? Sandra Brühlmann: Ich habe oft den Job gewechselt. Ich wollte immer arbeiten, obwohl es mir schlecht ging. An einem Arbeitsort ging es immer etwa drei Monate gut, und dann bin ich eingebrochen. Die Lehre habe ich auch abgebrochen. Als ich mit 18 meine eigene Wohnung hatte, nahm ich meinen Freund mit zu mir nach Hause. Das war nur Terror, die anderthalb Jahre, die ich dort gewohnt habe. Er hat mich geschlagen. Und ich bin betrieben worden. Warum? Sandra Brühlmann: Weil ich nie gelernt hatte, mit Geld umzugehen, und naiv war. Mein Vater hat mir mit 18 einfach all meine Unterlagen in die Hand gedrückt und gesagt: Hier, du bist jetzt 18. Aber ich habe überhaupt nicht gewusst, was ich damit anfangen soll. Ich ging aufs Sozialamt, weil ich den Job verloren hatte, und fragte, ob sie mir helfen, aber die haben gesagt, dass mein Vater zuständig ist, bis ich 25 bin oder die erste Ausbildung beendet habe. Ich hätte vor Gericht ziehen müssen. Das wollte ich nicht. Mein Vater hatte sowieso schon gesagt, ich sei für ihn gestorben. Ich verlor meine Wohnung, war mit 19 obdachlos. Ich habe damals schon sehr viel getrunken. Früh ist dann auch die IV ins Spiel gekommen. Weshalb die IV? Sandra Brühlmann: Ich war in psychiatrischer Behandlung, seit ich 16 bin. Unter anderem wurde bei mir eine bipolare Störung diagnostiziert. Ich konnte nicht 100 Prozent arbeiten. Das war zu viel Belastung. Dann habe ich wieder mehr getrunken, weil ich mich dafür geschämt habe und nicht verstanden habe, was mit mir los ist.

Radio Bayern 1

ELMAR WEPPER

EMMA BADING

EIN FILM VON

ARTWORK: CHRISTIANE FENEBERG

FOTOGRAFIE: MATHIAS BOTHOR

FLORIAN GALLENBERGER

EINE

BENJAMIN HERRMANN PRODUKTION

MONIKA BAUMGARTNER

DAGMAR MANZEL ULRICH TUKUR www.filmcoopi.ch

SUNNYI MELLES

AB 20. SEPTEMBER IM KINO 10

Haben Sie es geschafft, aus diesem Teufelskreis auszubrechen? Sandra Brühlmann: Ich habe es versucht und eine Ausbildung als Töpferin gemacht, die wurde von der IV mit Taggeldern bezahlt. Danach habe ich nochmal eine Lehre angefangen. Ich habe damals von sieben bis sieben gearbeitet, das ist mir schnell zu viel geworden. Später habe ich 50 Prozent als Verkäuferin gearbeitet – das ist eigentlich sehr gut gegangen. Doch dann wurde die Filiale geschlossen, und ich hatte Angst, dass ich wieder in die Depression rutsche. Meine Mutter empfahl mir, zum Arzt zu gehen. Hat Ihnen das geholfen? Sandra Brühlmann: Nein, im Gegenteil. Der Arzt verschrieb mir drei verschiedene Antidepressiva-Höchstdosen, und ich hatte mit starken Nebenwirkungen zu kämpfen. Meine neue Stelle in einer Bäckerei wollte ich nicht verlieren, also gab der Arzt mir zusätzlich Ritalin. Innerhalb kurzer Zeit hat er mir 50 Tabletten am Tag verschrieben. Dann bekam ich eine Psychose, die gut sieben Jahre dauerte. Heute bin ich megafroh, dass das alles vorbei ist und ich aufhören konnte zu trinken. Wie haben Sie das geschafft? Sandra Brühlmann: Ich habe mich selbst irgendwann aus Surprise 434/18


Basel: Überleben auf der Gasse Lilian Senn und Danica Graf zeigen, wie obdachlose Frauen in der Stadt Basel zurechtkommen und stellen Orte wie die Frauenoase, das Frauenwohnhaus oder die Gassenküche vor. Lilian Senn weiss aus eigener Erfahrung, welche Strategien wohnungslose Frauen entwickeln, um nicht auf der Strasse zu landen, oder was das Übernachten im Mehrbettzimmer der Notschlafstelle erleichtert. Danica Graf berichtet zudem über die Unterstützung durch die Opferhilfe – und wie sie sich selbst aus ihrer Opferrolle befreite. www.surprise.ngo/frauenarmutstouren

Danica Graf engagiert sich für den Opfer-Täter-Ausgleich, bei dem Opfer und Täter in einen Dialog treten. Sie begleitet derzeit ein Projekt im Gefängnis Lenzburg.

«Ich habe eigentlich bei allem mir selbst die Schuld gegeben.» DANICA GR AF

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Basel: Vom Missbrauch zur Selbsthilfe Lilian Senn und Danica Graf besuchen Orte wie eine Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen, eine Frauenwohngruppe, das Internetcafé Planet13 oder das Zentrum Selbsthilfe. Danica Graf litt jahrelang unter den Folgen von Gewalt und engagiert sich heute in Selbsthilfegruppen für andere Frauen, die Opfer von Gewalt und Missbrauch wurden. Lilian Senn weiss, wie wichtig Chancen im Leben sind – und dass persönliche Entwicklung nichts mit Geld zu tun hat. www.surprise.ngo/frauenarmutstouren

Als Kind sehnte sich Lilian Senn auf die Gasse, um Gewalt und Missbrauch zuhause zu entfliehen.

«Es ist schwierig für eine Frau auf der Gasse. Schon beim Kleider wechseln fängt es an.» LILIAN SENN

allem herausgeholt. Auch das Wohnen im Suneboge (soziale Einrichtung in Zürich, Anm. d. Red.) hat mir dabei geholfen, wieder Boden unter den Füssen zu kriegen. Lilian Senn, wie sind Sie zur Armutsexpertin geworden? Lilian Senn: Ich bin in eine armutsbetroffene Familie geboren worden. Meine Mutter war 18, als sie das erste Mal schwanger wurde. Damals war sie noch nicht mündig, das Kind war unehelich. Ich war die zweite Tochter. Meine ältere Schwester kam ins Kinderheim und ich blieb als Übungsbaby für werdende Mütter und Väter in dem Spital, in dem meine Mutter mich bekommen hatte. Meine Mutter hatte keine zusätzlichen Kosten und ich hatte ein 12

warmes Bett, Kleider und genug zu essen. Mit einem Jahr verlor ich meinen Vater, er beging Selbstmord. Mit zwei Jahren kam ich zu einer Pflegefamilie. Dort ist es mir eigentlich gut gegangen. Aber? Lilian Senn: Meine leibliche Mutter hatte Besuchsrecht und hat mich manchmal abgeholt. Bei diesen Besuchen hat mich mein Grossvater sexuell missbraucht und weitergereicht. Das ging so, bis ich etwa fünf oder sechs war. Mit etwa sieben Jahren kam ich zurück zu meiner Mutter und meinem Stiefvater sowie vier neuen Geschwistern. Mit zwölf wurde ich noch einmal missbraucht. Was hat das mit Ihnen gemacht? Lilian Senn: Ich bin schon sehr früh erwachsen geworden. Meine Mutter hat mich verkauft in der Familie. Da bricht etwas in dir. Du schämst dich. Und wartest, bis es vorbei ist. Dann ziehst du dich wieder an und gehst dich waschen. Du gehst stundenlang duschen, bis du das Gefühl hast, wieder sauber zu sein. Wusste jemand davon? Lilian Senn: Meine Mutter hat immer gesagt, wenn ich je irgendwem etwas erzähle, dann würde sie mich töten. Das sind Einschüchterungstaktiken. Als ich mich einmal jemandem anvertraut habe, ist die Frau zu meiner Mutter gegangen und hat ihr alles brühwarm erzählt. Meine Mutter hat Surprise 434/18


Sind Sie wütend auf die, die Ihnen das angetan haben? Lilian Senn: Ich wäre fast zur Mörderin geworden, das sage ich ganz ehrlich. Sandra Brühlmann: Ich bin wütend, aber auch traurig. Ich musste beispielsweise immer anfangen zu weinen, wenn ich mit meinem Freund intim geworden bin. Und ich wusste nicht, warum. Mir ist schon ein kurzer Film durch den Kopf geschossen, aber ich konnte den nicht festhalten. Und plötzlich ist es mir eines Tages gelungen. Da habe ich gemerkt, dass genau so die Vergewaltigung gewesen ist. Und dass dieser kurze Moment immer auslöst, dass ich weinen muss. Können Sie sich vorstellen, mit einem der Männer, die Sie misshandelt haben, nochmal in einen Dialog zu treten? Sandra Brühlmann: Es ist schon vorgekommen. Aber es ist schwierig. Mein Vater und ich haben uns inzwischen wieder angenähert. Ich habe diejenigen, die mich geschlagen haben, nie verurteilt. Für mich war es normal, was sie taten, da schon mein Vater mich schlug und mein erster Freund. Für mich war es irgendwie auch ein Zeichen von Liebe, auch wenn das blöd klingt. Deswegen habe ich es auch lang nicht als schlimm empfunden.

mich an den Haaren gepackt und quer durchs Zimmer geschleudert. Ich hatte überall blaue Flecken. Haben Sie sich gewehrt? Lilian Senn: Eines Tages habe ich zurückgeschlagen. Ich kam heim aus der Lehre, komme in die Wohnung und fange mir eine. Ich habe gar nicht gewusst, wieso. In dem Moment habe ich zurückgeschlagen. Dann musste ich natürlich rennen, und sie mir nach. Wie ging es Ihrer Familie finanziell? Lilian Senn: Wir hatten kein Geld. Das, was ich sparen konnte, gab ich der Mutter weiter. Mit zwölf wusste ich nicht mehr, wie ich meine Kleider bezahlen sollte. Also ging ich vor der Schule morgens um fünf Zeitungen austragen. Ich lernte, mit Geld umzugehen und hauszuhalten. Franziska Lüthi und Sandra Brühlmann, Sie nicken verständnisvoll. Sehen Sie Parallelen zu Ihren eigenen Erlebnissen? Franziska Lüthi: Ich habe eben auch sexuellen Missbrauch erlebt, aber ich war damals älter als Lilian. Man fühlt sich schutzlos, man hat niemanden, dem man sich anvertrauen kann. Es macht sehr einsam. Sandra Brühlmann: Ich habe mir lange selbst die Schuld gegeben für das, was passiert ist. Ich merke es eigentlich erst jetzt, was es mit mir gemacht hat, dass ich geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Surprise 434/18

Heute sehen Sie das anders. Wie kam es dazu? Sandra Brühlmann: Seit ich bei Surprise im Rahmen der Ausbildung zur Stadtführerin daran arbeite, merke ich, wie mein ganzes Leben lang ständig meine Grenzen verletzt wurden. Sei es mit Gewalt, sei es sexuell, sei es psychisch. Abgrenzung ist ein grosses Thema für mich. Gerade als Frau auf der Strasse ist man aber ausgestellt. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten. Franziska Lüthi: Es ist schon ein furchtbares Gefühl. Wenn man jung ist, ist es vielleicht noch besser zu verkraften, als wenn man älter wird. Bis vor fünf Jahren lebte ich in einer Institution. Mich hat das manchmal einfach sehr beelendet, keinen richtigen Rückzugsort zu haben. Lilian Senn: Ich hingegen wollte immer auf die Gasse, weil ich mich zuhause wie in einem Gefängnis gefühlt habe, aus dem ich nicht ausbrechen konnte. Dort bist du denen ausgeliefert, die dir wehtun. Die haben mich mit Knüppeln und allem möglichen geschlagen, mich eingesperrt. Irgendwann hat es mir nichts mehr ausgemacht. Ich habe mich hingesetzt und habe sie ausgelacht. Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen hatten Sie später ein relativ erfolgreiches Berufsleben. Lilian Senn: Ja, ich musste funktionieren. Du musst überleben in der Gesellschaft. So kannst du dich aber nicht mit dir, mit deinem Herz und deiner Seele, auseinandersetzen. Und wie kam es dazu, dass Sie sich plötzlich doch damit auseinandergesetzt haben? Lilian Senn: Weil ich zu einem dummen Zeitpunkt meine Stelle gekündigt habe. Danach war ich nicht mehr in der Lage, die Krankenkasse zu zahlen und meinen anderen Verpflichtungen wie der Wohnungsmiete nachzukommen. Ich habe dann Gelegenheitsjobs gemacht, aber ich hätte im Monat 2300 Franken gebraucht, das habe ich nicht 13


geschafft. Ich geriet total in die Bredouille. Fast viereinhalb Jahre habe ich auf der Gasse verbracht und teilweise draussen geschlafen. Ich war selbst schuld. Heute bin ich 61, mich nimmt niemand mehr im ersten Arbeitsmarkt. Danica Graf, ist die Frage nach der eigenen Schuld für Sie auch ein Thema? Danica Graf: Lange Jahre ja. Ich habe eigentlich bei allem mir selbst die Schuld gegeben. Wenn man mal in so einer Gewaltspirale drin ist, ist es schwer, da rauszukommen. Ich habe mir den Mann ja ausgesucht und geheiratet. Aber es gibt auch vieles in meinem Leben, bei dem ich weiss, dass ich nicht selbst schuld bin: Schicksalsschläge, wie dass meine Schwester gestorben ist, als ich zwölf war. Das hat die ganze Familie jahrelang beschäftigt. Aber ich habe auch immer wieder zu hören bekommen: Du bist ja selber schuld, du hättest es schon lange beenden können. Sandra Brühlmann: Es macht mich sauer, dass die Leute meinen, es sei so einfach. Das ist es nicht. Weil ich als Kind schon keine Geborgenheit gespürt habe! Und dann lernst du jemanden kennen, der dich ja nicht nur schlägt, sondern auch um den Finger wickelt. Er sagt dir, wie fest er dich liebt, aber dazu schlägt er dich. Du aber siehst nur das Liebe, streichst all das Böse, denn wenigstens nimmt der dich mal in den Arm, was mein Vater nie gemacht hat, soweit ich mich erinnern kann. Und das willst du nicht mehr hergeben. Du weisst ja nicht, ob er der Einzige ist, der das je tut. Drei von Ihnen haben Kinder. Mit Ihren Geschichten im Hintergrund fragen Sie sich doch sicherlich: Was kann ich und was will ich weitergeben? Wie ist das Mutter-Sein für Sie? Franziska Lüthi: Ich hatte wahnsinnige Angst, meinen Kindern könnte etwas passieren. Mir hat der Glaube viel Kraft gegeben. Für mich war Beten das Einzige, das mir geholfen hat: zu wissen, dass sie ein wenig Schutz haben. Lilian Senn: Ich war eine furchtbare Glucke. Ich war auch gewalttätig, ich habe geschlagen. Bis ich meinem Sohn einmal eine Ohrfeige gegeben habe und deswegen mit ihm zum Arzt musste. Ich habe dem Arzt gesagt: Hören Sie, mit mir stimmt etwas nicht. Danach habe ich nie wieder geschlagen. Du gibst das Dumme einfach weiter, weil du nichts anderes kennst. Heute geht es meinen Söhnen gut, sie erziehen ihre Kinder ganz anders als ich. Und meiner Mutter habe ich vergeben dafür, dass sie mich geschlagen hat. Wir hatten eine Aussprache, und dabei habe ich erfahren: Ihr ist in ihrer Jugend dasselbe passiert. Danica Graf: Dadurch, dass es mir selbst einige Jahre sehr schlecht ging, konnte ich meiner Tochter nicht wirklich Halt geben. Sie hat schon relativ früh funktionieren müssen, als wäre sie eigentlich schon viel älter. Als ich zwei Mal stationär in der Klinik war, hat mein damaliger Freund auf sie aufgepasst. Anfangs ist das gut gegangen, aber dann kam sie in die Pubertät und dann hat es nicht mehr funktioniert. Jetzt sind wir wieder allein. Ich hoffe, ich kann sie unterstützen und mit ihr ein bisschen aufarbeiten, was sie in der Kindheit mitbekommen hat und miterleben musste. 14

Zürich: Frauen auf der Gasse Sandra Brühlmann absolviert derzeit im Team Zürich die Ausbildung zur Surprise-Stadtführerin und wird voraussichtlich ab Winter 18/19 ihre eigene Tour in Zürich durchführen. www.surprise.ngo/frauenarmutstouren

Heute sind Sie Surprise Stadtführerinnen – wann haben Sie den Entschluss gefasst: Ich stelle mich jetzt mit einem Teil meiner Geschichte vor andere Leute? Ich stelle mir das als riesige Herausforderung vor. Lilian Senn: Ist es auch. Das ist ein Prozess. Und wenn der einmal angefangen hat, hört der auch nicht mehr auf. Warum setzen Sie sich der Öffentlichkeit aus? Lilian Senn: Ich sehe es als Aufklärungsarbeit. Die Menschen laufen sehr blind durch die Strassen. Oft werden wir behandelt wie Aussätzige. Sind wir aber nicht. Ich möchte die Leute sensibilisieren, dass Armut und vor allem Frauenarmut immer noch ein Stiefkind ist. Es wird nicht genug beachtet. Franziska Lüthi: Ich finde es wichtig, die entsprechenden Organisationen vorzustellen, damit man sieht, was es alles gibt. Damit man es besser organisieren kann, wenn man selbst in eine solche Lage gerät. Mir hätte es beispielsweise sehr geholfen zu wissen, dass es die Gassenarbeit gibt. Ich habe das selber alles nicht genutzt, bin auch nie in eine Therapie gegangen. Erst später, als alles schon zusammengebrochen war, habe ich gelernt, Hilfe anzunehmen. Danica Graf, haben Sie in Basel Hilfe bekommen, als Sie sie gebraucht haben? Danica Graf: Ich kannte nur das Zentrum Selbsthilfe und die Opferhilfe und habe ebenfalls lang gebraucht, bis Surprise 434/18


«Er sagt dir, wie fest er dich liebt, aber dazu schlägt er dich.» SANDR A BRÜHLMANN

Grund zur Freude: Seit einem Monat wohnt Sandra Brühlmann wieder allein, nach Jahren auf der Gasse und betreutem Wohnen.

ich mir Hilfe geholt habe. Durch Surprise habe ich viele Institutionen kennengelernt. Ich war eigentlich erstaunt, was es in Basel alles gibt. Lilian Senn: Ich vermisse eine Anlaufstelle, wo Frauen 24 Stunden duschen können, Kleider wechseln, Kleider waschen und einfach da sein. Es ist hundert Mal schwieriger für eine Frau, auf der Gasse zu leben, als für einen Mann. Schon beim Kleider wechseln auf der Gasse fängt es doch an. Nicht jede hat Jiu Jitsu oder Wing Tsun gemacht. Danica Graf: Mir wäre auch wichtig, dass die Mitmenschen – beispielsweise Nachbarn – nicht einfach wegschauen. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass viele Leute sich zurückziehen, wenn es einem schlecht geht. Da fühlt man sich allein und ausgestossen. Ich möchte, dass die Leute hinschauen und die Menschen auch mal drauf ansprechen. Wie haben Sie das in Zürich erlebt, Sandra Brühlmann? Sandra Brühlmann: Mir hat das auch gefehlt. Dass damals die Polizei vor meiner Tür stand, war eigentlich nur Zufall. Sie waren eigentlich wegen eines Nachbarn gekommen. Da haben sie mich entdeckt. Ich steckte mitten in einer Psychose, war Alkoholikerin und habe drei Flaschen Schnaps am Tag getrunken. Ich schlief auf Müllsäcken und litt unter Muskelrückbildungen, weil ich monatelange nur in der Ecke gehockt hatte und nur zum Alkohol kaufen rausging. Damals hiess es, ich sei daheim verwahrlost und bekäme nun einen Beistand. Dann wurde mir die Wohnung gekündigt. Ich sass also auf der Strasse, und meine Beiständin hat mir keine Tipps gegeben, wo ich hingehen könnte. Auch sonst Surprise 434/18

niemand. Ich habe lange draussen geschlafen. Irgendwann ist mal ein älterer Mann mit mir in den Suneboge gegangen, eine Suppe essen. Dann sind Sie durch Zufallsbegegnungen zu der Einrichtung gekommen, in der Sie später gelebt haben? Sandra Brühlmann: Ja, ich habe mich dort zum Wohnen beworben, nachdem ich schon eine Weile draussen geschlafen hatte. Ich bekam einen Monat Wartezeit, aber noch bevor der Winter richtig anfing, vor Weihnachten, konnte ich einziehen. Ich war recht froh, im Winter ist es draussen echt nicht lustig. Hatten Sie dort Ihre eigene Wohnung? Sandra Brühlmann: Ein eigenes kleines Zimmer. Ich war so froh, endlich wieder ein Bett zu haben. Vor einem Monat durfte ich nun nach vielen Jahren endlich wieder eine eigene Wohnung beziehen. Auch jetzt noch gehe ich wie eine Grossmutter jeden Tag um acht ins Bett, nur um das Bett zu ehren. Ich danke Ihnen vielmals für das offene Gespräch. Mehr Informationen zu den Frauenarmutstouren und das ausführliche Gespräch zum Nachhören finden Sie unter: www.surprise.ngo/frauenarmutstouren Die Frauenarmutstouren werden von der Christoph Merian Stiftung unterstützt.

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«Opfer wollte ich nicht sein» Krise Sabine hat ihr Leben als Alleinerziehende gut im Griff. Bis sie Andrew kennenlernt.

Eine Geschichte darüber, wie schnell es abwärtsgehen kann. TEXT SARA WINTER SAYILIR

«Einmal in einem Streit mit ihm habe ich mir die Haare abgeschnitten. Es ging mal wieder um meine Frisur, die angeblich anders war als am Morgen. Ich war so am Ende, da habe ich einfach die Schere genommen.» Sabine * ist eine Frau mittleren Alters mit halblangen Haaren, blasser Haut und einem einnehmenden Lächeln. Sie wirkt selbstbewusst in ihrer eleganten Kleidung, mit passender Handtasche und dezentem Make-up. Sabine wird bald 50, sie lebt mit ihren beiden Kindern in einer schönen Wohnung, hat einen Job, den sie mit viel Leidenschaft ausfüllt. Doch es ist nur wenige Jahre her, dass sie sich beinahe das Leben genommen hätte. Es war der Tiefpunkt in ihrer Beziehung mit einem Mann, der sie und ihr Kind terrorisierte, der Geldprobleme hatte, spielte, krankhaft eifersüchtig war und Drogen nahm. Sie lernt Andrew auf dem Fussballplatz kennen, das war vor etwas mehr als acht Jahren. Ihr Sohn Noah, damals sieben, spielt in derselben Mannschaft wie einer von Andrews Söhnen. Sabine ist allein, die Beziehung zu Noahs Vater war früh gescheitert. Zeitgleich zur Trennung hatte sie ihren Job verloren. Noah war damals anderthalb. Surprise 434/18

ILLUSTRATIONEN LISA SCHWEIZER

Alleinerziehend, ohne Arbeit und ohne Wohnung, Sabine machte ihre Lage keine Angst: «Mit 36 denkt man noch: Das kriege ich schon hin.» Und tatsächlich: Bald fand sie eine Wohnung für sich und den Kleinen, dann bekam sie ein Jobangebot, zwar nicht sonderlich gut bezahlt, dafür spannend und aussichtsreich. Das 80-Prozent-Pensum forderte Sabine, abends arbeitete sie weiter, wenn Noah im Bett lag. Tagsüber war er in der Kita. Der Kontakt zu ihren Kollegen war gut, sie war beliebt mit ihrer offenen, interessierten Art. Bald sass sie im Management der aufstrebenden Eventagentur. Sie zahlt gern für ihn mit Und doch hinterliess das Zerbrechen der kleinen Familie seine Spuren: Noah begann, nachts ins Bett zu machen, obwohl er schon trocken war. Ihr Sohn sei in jener Zeit «zu einem sensiblen Kind mit wenig Selbstvertrauen» geworden, erinnert sich Sabine. Zum Ausgleich unternimmt sie viel mit Noah, so wie sie auch am Spielfeldrand steht, wenn er Fussball spielt. Und dort steht auch Andrew. Er gefällt ihr mit seiner eloquenten Art, sein britischer Humor bringt sie zum Lachen, seine

breiten Schultern suggerieren Stärke. Er ist etwas jünger als sie und arbeitet in guter Position bei einem international tätigen Industrieunternehmen. Dass seine drei Söhne bei den beiden Müttern leben und der Jüngste nur am Wochenende Zeit mit ihm verbringen darf, erscheint Sabine zunächst nicht ungewöhnlich. Andrew kann alles glaubhaft erklären. Anfangs ist auch Noah begeistert vom neuen Freund der Mutter. Zwar bemerkt Sabine früh, dass Andrew trotz seines gut bezahlten Jobs immer knapp bei Kasse ist. «Es kamen immer irgendwelche Ausreden. ‹Meine Bankkarte funktioniert nicht, der Automat hat die Karte eingezogen und spuckt sie nicht mehr aus.›» Doch sie glaubt ihm, zahlt gern für ihn mit. Es wird Sommer, und es beginnt jene Zeit im Jahr, in der Sabines Firma einen jährlichen Grossanlass organisiert. Andrew und Sabine sind seit knapp zwei Monaten ein Paar. Noah ist – wie immer zur Festivalzeit – bei seinen Grosseltern, und Sabine freut sich auf die kommenden Wochen, die den Höhepunkt ihres Arbeitslebens bilden. Sie ist zuständig für die Betreuung der VIP-Gäste und das Sponsorenmanagement. Sie geniesst das, obwohl sie fast rund 17


«Ich wollte die Probleme in den Griff kriegen und nicht noch einmal alleinerziehend sein.»

um die Uhr auf den Beinen ist. Doch diesmal kommt es anders: Andrew taucht jeden Abend an den Veranstaltungen auf, betrinkt sich, folgt Sabine auf Schritt und Tritt. «Wenn ich nur einen Mann angeschaut habe, ging er verbal auf mich los», erzählt sie. Er bezeichnet sie als Schlampe, macht ihr eine Szene nach der anderen, packt sie am Arm, zerrt sie vor die Tür, vor aller Leute Augen. Sabine ist geschockt. Im Nachhinein entschuldigt er sich, sagt, er sehe seine Fehler ein. Sabine schämt sich für all die peinlichen Szenen. Aber sie ist verliebt. «Ich hätte mich damals eigentlich aus der Beziehung verabschieden sollen, aber ich dachte: Das legt sich irgendwann.» Schwanger mit 43 Im Herbst stellt sie fest: Sie ist bekommt noch ein Kind. Andrew behauptet zunächst, es sei nicht von ihm. «Das war der nächste schlimme Angriff auf mich: Dass er mir unterstellt, dass ich ihn betrogen habe.» Doch anstatt die Beziehung zu beenden, rutscht sie immer tiefer rein. «Ich wollte die Probleme in den Griff kriegen. Mein Sohn war damals sieben, ich wollte nicht noch einmal alleinerziehend sein.» Die Schwangerschaft abzubrechen, kommt für sie nicht infrage, auch wenn sie sich Sorgen um die Auswirkungen all der Streite auf das Ungeborene macht. Trotz seiner anfänglichen Zurückweisung akzeptiert Andrew das Kind schliesslich. Es ist ein Spiel, das er gut beherrscht: 18

Erst ausrasten, um dann später zu beschwichtigen und einzulenken. Er zieht zu Sabine und Noah in die Wohnung. Seine Eifersucht wird zum Dauerthema. «Er spionierte mir hinterher, behauptete am Abend, ich hätte nicht dieselben Kleider an wie am Morgen, die Frisur, das Make-up seien verändert.» Sabine kippt in einen AngstModus, wie sie sagt: Angst vor Auseinandersetzungen mit Andrew. Angst, dass Noah von den täglichen Streiten etwas mitbekommen könnte. Sabine ist 43 und schwanger. Es vergeht keine Woche, ohne dass die Fetzen fliegen. Auch mit seinen eigenen Söhnen geht Andrew hart um, er setzt sie unter Druck, ständig fliessen Tränen. «Sobald ich das kritisiert habe, kam gleich die Retourkutsche: Das würde mich nichts angehen, das sei seine Art, die Kinder zu erziehen.» Nach aussen lässt Sabine sich nichts anmerken. «Ich habe es niemandem erzählt, nicht einmal meiner engsten Freundin. Ich bin in eine Art Abhängigkeit gerutscht, die sich aus Ängsten zusammensetzte. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, dass diese Beziehung funktionieren muss.» Andrew ist sehr geschickt darin, ihr in den Pausen zwischen den Streiten zu vermitteln, sie bekämen das schon alles in den Griff. Und sie glaubt ihm. «Er hat ja auch seine Stärken. Ich wollte es nicht sehen.» Derweil wird die finanzielle Situation der Familie immer prekärer. Irgendwann fragt Andrew, ob sie ihm 5000 Franken leihen könnte. Es ist das erste Mal, dass er um eine so grosse Summe bittet. Sabine nimmt bei ihrem Arbeitgeber ein Darlehen auf. Ab dann treibt sie immer wieder grössere Beträge für ihn auf. Wie gross seine Geldprobleme sind, kann Sabine nicht überblicken. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, den Alltag am Laufen zu halten. «Es gab gar keine Erholungsphasen mehr. Ich habe krampfhaft versucht, alles zusammenzuhalten.» Sie zahlt die Miete, die Krankenkasse, den Familieneinkauf sowie gemeinsame Ausflüge. «Ich kam natürlich auch selbst mit den Rechnungen in Verzug. Und da wusste ich immer noch nicht, dass er Surprise 434/18


zwischendurch kifft, Kokain nimmt und spielt sowie auf virtuellen Sexplattformen aktiv ist.» Sozial zieht sich Sabine immer stärker zurück. In Andrews Augen sind alle ihre Freunde schlechter Umgang. Mit der Geburt ihrer Tochter Lily spitzt sich die Situation weiter zu. «Immer, wenn Noah zu dicht an das Baby kam, wurde Andrew dermassen gemein zu ihm.» Sabine versucht, ihr älteres Kind zu schützen. Doch wenn sie dazwischengeht, streitet Andrew umso heftiger mit ihr. Teller und Tassen fliegen. Körperlich angreifen tut er sie nicht. «Manchmal habe ich gedacht, es wäre gut, er würde zuschlagen. Dann hätte ich einen Grund gehabt zurückzuhauen. Die Auseinandersetzungen nahmen ein Ausmass an, an dem ich merkte: Ich verändere mich total.» Im Büro fragen die Kollegen nach, warum Sabine nicht mehr an die Apéros kommt. Sie kapselt sich immer weiter ab. «Ich bin oft mit geschwollenen Augen ins Büro gekommen, weil ich nachts viel geweint und wenig geschlafen hatte. Ich legte auch gar keinen Wert mehr darauf, wie ich aussah, weil er ja sowieso immer behauptete, ich würde mich für irgendwelche Surprise 434/18

«Ich habe nicht gesehen, dass die Beziehung zu beenden auch ein Ausweg gewesen wäre.» Männer zurechtmachen.» Sabine fährt alles zurück, was ihr selbst an ihrem Erscheinungsbild einmal wichtig war, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Selbstmordgedanken Langsam wächst es ihr über den Kopf: die Kinderbetreuung und der Haushalt, die katastrophale Finanzsituation und Lily, die nachts oft aufwacht. Wenn Andrew auf Geschäftsreise ist, ruft er jede Nacht mehrmals an, um zu kontrollieren, was Sabine tut. Alles wird zum Misstrauensgrund. Sabine fängt an, sich selbst zu verletzen, ritzt sich die Arme, um Druck abzubauen. Als ihre Tochter zwei Jahre alt ist, will Sabine

nicht mehr leben. «Ich habe nicht gesehen, dass die Beziehung zu beenden auch ein Ausweg gewesen wäre. Ich dachte nur: Ich halte das nicht mehr aus, ich bin völlig erschöpft.» Doch anstatt sich etwas anzutun, wählt sie geistesgegenwärtig den Gang in die psychiatrische Notfallaufnahme. Dort bekommt sie ein Antidepressivum verschrieben, das sie die folgenden zwei Jahre nimmt, und man empfiehlt ihr eine Therapeutin. Endlich kann Sabine für sich formulieren, wie gross die Probleme sind, mit denen sie sich herumschlägt. Zu einer Trennung kann sie sich nicht durchringen. «Klar hat die Therapeutin gesagt: Sie müssen gehen. Für 19


Ihre Kinder, für Ihren Sohn. Aber sie hat mir nie ein schlechtes Gewissen gemacht.» Doch langsam beginnt die Fassade zu bröckeln. Als Andrew Noah wieder einmal zusammenstaucht, stellt sich ihm Sabines Schwester entgegen. Er solle nicht so mit ihrem Neffen reden. Andrew rastet aus. Die Schwester bleibt ungerührt. Später redet sie Sabine ins Gewissen. Es ginge nicht, wie Andrew Noah behandele. Sabine weiss zwar, dass sie recht hat, kann aber keine Kraft mobilisieren, fühlt sich zusätzlich angegriffen. Während der nächsten Festivalperiode, Lily ist mittlerweile drei, kommen Sabines Eltern zu Besuch. Wie immer während des Festivals ist die Stimmung besonders angespannt. Als Sabine eines Nachts um eins nach Hause kommt, macht Andrew ihr eine Szene: Sie habe sich mit ihrem Ex getroffen, dem Vater von Noah, er habe das Auto in der Stadt gesehen. Es eskaliert derart, dass Sabine im Pyjama über den Balkon rausklettert und schreiend auf die Strasse läuft. Davon wachen ihre Eltern auf. Nun wissen sie, dass etwas

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«Jetzt werde ich zur Alkoholikerin, dachte ich. Das hat mir auch Angst gemacht.» nicht stimmt, und Sabine kann endlich ein Stück weit mit ihnen über ihre häusliche Situation sprechen. Die Familie stellt sich hinter sie. Von ihren Finanzen allerdings sagt sie nichts. «Sonst wären sie noch auf die Idee gekommen, sich zu beteiligen, und das wollte ich nicht.» «Als Mutter versagt» Tagsüber hält das Antidepressivum sie einigermassen stabil, abends trinkt sie Gin Tonic zum Einschlafen. «Jetzt werde ich zur Alkoholikerin, dachte ich. Das hat mir auch

Angst gemacht.» Sie überzeugt Andrew, eine Paartherapie zu versuchen. Dort streitet Andrew alles ab, was Sabine an Szenen schildert. «Er hat die Therapeutin einfach um den Finger gewickelt.» Eifersucht sei ein typisch männliches Verhalten, das sei genetisch bedingt und könne man nachvollziehen, konstatiert die Therapeutin. Nach zehn Sitzungen schliesst sie damit, dass bei Andrew aus ihrer Sicht kein Problem bestünde. Sabine steht auf und geht. «Zuhause angekommen, dachte ich: Ich muss jetzt hier raus. Sonst gehe ich unter.» Sie fühlt sich, als sei ihr der letzte Anker verloren gegangen. Die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller. Während Sabine aufhört zu rauchen, «um mir zu beweisen, dass ich doch auch stark bin», wird ihr der Job beim Festival gekündigt. Von Umstrukturierungen und Lohneinsparungen ist die Rede. Für sie aber steht etwas anderes dahinter: «Mein neue Introvertiertheit passte nicht mehr zu meinem Job.» Wenig später eröffnet ihr die Therapeutin von Noah in einer der gemeinsamen Sitzungen, die sie wegen des Bettnässens immer noch regelmässig besuchen, dass der Jugendliche massiv gefährdet ist, sich etwas anzutun, und eine Weile aus der Familie genommen werden müsse. «Als Mutter hatte ich total versagt.» Für sieben Monate wird Noah in die Kinderpsychiatrie eingewiesen, wo er in die Schule geht. Nur an den Wochenenden kann er zu seiner Familie. Sabine, die mittlerweile eine neue Stelle gefunden hat, trifft einen Entschluss: Sie muss Andrew verlassen. Während er Surprise 434/18


mit Lily und seinen Söhnen im Urlaub ist, bereitet Sabine sich darauf vor, ihn zu konfrontieren. Doch ausgerechnet in dem Moment, als es vorwärtszugehen scheint, wird ihr auch der neue Job gekündigt. «Da hat es mich einen Moment lang total überfordert. Bei welcher Baustelle sollte ich denn beginnen?» Sie muss eine Wohnung für sich und die Kinder suchen, einen neuen Job finden und das Noch-Zusammenleben mit Andrew aushalten. Sie macht sich Listen, beginnt ihr Leben wie ein Projekt anzugehen. «Dienstags gehe ich in die Psychiatrie, danach heule ich zwei Stunden. Was tue ich dann, wenn ich mich beruhigt habe? Ah, dann gehe ich nach Wohnungen schauen.» Die ersten Pfändungsandrohungen flattern ins Haus. «Die hätten mir alles wegnehmen können. Wir hatten eine eingetragene Partnerschaft und keine Gütertrennung.» Glücklicherweise beginnt auch Andrew zu begreifen, dass sie die Schulden nicht mehr im Griff haben, und schaltet den Sozialdienst seiner Firma ein. Von einem Tag auf den anderen übernimmt der Konzern seine offiziellen Schulden in Höhe von über 150 000 Franken. Solange Andrew seinen Job gut mache, habe es keinerlei Konsequenzen für ihn, sagt der zuständige Mitarbeiter vom Sozialdienst zu Sabine, als sie diesen zufällig am Telefon hat. «Das verstehe ich bis heute nicht. Die haben sein ganzes Betreibungsregister bereinigt. Sie haben die Augen davor verschlossen, dass er privat weiterhin Schulden machte.» Die Wohnungssuche gestaltet sich schwierig. Zuhause wird es immer angespannter. Auch Lily leidet unter der Situation. Eine Freundin rät Sabine, zur Opferhilfe zu gehen, damit sie sofort aus der Wohnung raus kann. «Das konnte ich mir irgendwie nicht eingestehen. Opfer wollte ich nicht sein.» Endlich findet sie etwas, ihre Schwester und ihr Mann helfen ihr bei der Finanzierung des Umzugs. Zwei Freundinnen helfen ihr Tag und Nacht beim Packen der Kisten. «Wären sie nicht gewesen, hätte ich viel mehr improvisieren müssen. Ohne Hilfe hätte ich das nicht geschafft, keine Chance.» Sabine legt den Umzug auf Surprise 434/18

den letzten Tag von Andrews nächster Geschäftsreise. Es klappt: Als er nach Hause zurückkehrt, ist die Wohnung leer. Wohin Sabine mit Lily gezogen ist, weiss er nicht, dafür hat sie gesorgt. Freunde und Familie helfen Am nächsten Morgen sitzt Sabine mit ihren beiden Kindern zwischen den Kisten in der neuen Wohnung. Es ist Wochenende und Noah ist auf Besuch zuhause. Langsam fällt der Druck der letzten Monate von Sabine ab und eine Welle der Verzweiflung schwappt über sie herein. Das Chaos, die Kinder, kein Job, allein mit Ende 40. «Ich wollte nicht heulen vor den Kindern, die hätten es wahrscheinlich auch gar nicht verstanden. Noah war einfach nur froh, von dem Typen weg zu sein, Lily aber war sauer, weil sie das kleineste Zimmer in der neuen Wohnung hatte.» Ungefragt kommen Freunde zu Besuch und packen mit ihnen aus. Ein Wochenende später rücken Sabines Mutter, Bruder und Schwester an und machen weiter. «Mein Bruder hat alle Möbel aufgebaut, meine Mutter hat gekocht und nach den Kindern geschaut, ich habe mit meiner Schwester eingeräumt.» Zwei Monate später wird Noah aus der Psychiatrie entlassen. Es geht ihm sichtlich besser. Endlich zieht Sabine die Familienberatung hinzu und lässt sich bei allen Aushandlungen mit Andrew über die Besuchsregelungen für Lily und die Finanzen begleiten. «Das kann ich jedem nur raten, das hat mich enorm entlastet.» Mittlerweile ist die Trennung von Andrew ausgestanden, die wenigen Zusammentreffen im Alltag laufen gesittet ab. Doch die Verarbeitung der letzten sieben Jahre hat Sabine noch vor sich. Dass sie ihren Kindern so viel Leid zugemutet habe, vor allem ihrem Sohn, laste schwer auf ihr. Dass sie all das mitgemacht habe, anstatt einfach zu gehen. «Aber es hat mich niemand gezwungen», sagt Sabine. «Ich muss selbst Verantwortung dafür übernehmen.» * Alle Namen im Text geändert.

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Auf der Suche nach Sicherheit Obdachlosigkeit Frauen landen weiger schnell auf der Gasse als Männer. Sie lassen sich eher helfen, haben bessere Netzwerke, sind auf der Strasse aber auch schutzloser. TEXT SAMANTA SIEGFRIED

Am liebsten lebt Maria* im Verborgenen. Vor zehn Jahren, einen Tag vor Heiligabend im Jahr 2008, hat sie ihr neues Zuhause gefunden. Es liegt mitten im Wald in einem Vorort von Bern, im Schutz einer überhängenden Felswand. Niemand sieht ihr Versteck von aussen, nur Eingeweihte wissen, wo es sich befindet. Zum Beispiel der Bauer, dem das Land gehört und der ihr die Erlaubnis gab, dort ihr Lager aufzuschlagen. Maria ist obdachlos. Das heisst, sie hat keinen offiziellen Wohnsitz in der Schweiz. Selten übernachtet sie bei Freunden, denen sie im Gegenzug beispielsweise das Abendessen kocht. Ansonsten lebt sie 22

FOTOS FLAVIA SCHAUB

draussen. Dieses Leben hat Maria ein Stück weit selbst gewählt. Aber geplant war es nicht. Angefangen hat alles mit einer Infektion durch einen Zeckenbiss. Es folgte ein Marathon von Arzt- und Klinikbesuchen, und Maria hatte das Gefühl, niemand könne ihr richtig helfen. Die Kortisonkur, die man ihr verschrieb, nützte nur vorübergehend. Vom Sozialamt fühlte sie sich drangsaliert, mit der IV-Abklärung war sie überfordert. Als man ihr schliesslich die Wohnung streitig machen wollte, hatte Maria endgültig «die Schnauze voll» und entschied sich für einen Wandel. «Ich wollte ausprobieren, Surprise 434/18


«Ich wollte ausprobieren, wie es ist, als Vagabundin unterwegs zu sein.» MARIA , 57, OBDACHLOS

Nüchtern, funktional und männerfrei: Blick in die Räumlichkeiten der neu eröffneten Frauennotschlafstelle in Basel.

wie es ist, als Vagabundin unterwegs zu sein», erzählt die heute 57-Jährige. Also nahm sie ihren Schlafsack und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz. Marias Erscheinung ist gepflegt, die Kleidung sorgfältig ausgewählt. Heute trägt sie ein halblanges schwarzes Kleid mit Rüschen an den Ärmeln, darunter blaue Pluderhosen. Ihre Füsse stecken in silberfarbenen Sandalen, um ihren Hals liegt eine türkisfarbene Kette. Als Gepäck reicht ihr ein schlichter Tagesrucksack. Das wenige, das sie besitzt – eine Fleecedecke, zwei Schlafsäcke, Kleider und Essensvorräte – lässt sie im Wald. Wenige Angebote Frauen sieht man die Wohnungslosigkeit meist nicht an, daher fallen sie auf der Gasse weniger auf als Männer. Barbara Kläsi, Geschäftsführerin des Vereins für Kirchliche Gassenarbeit in Bern, sieht die Ursache dieser sogenannten versteckten Obdachlosigkeit vor allem in der Stigmatisierung. «Viele versuchen, so lange es geht ihre Situation zu verharmlosen», so Kläsi. Neben der aufsuchenden Arbeit auf der Gasse öffnet die Kirchliche Gassenarbeit Surprise 434/18

an der Speichergasse jeden Dienstag- und Donnerstagnachmittag ihre Räumlichkeiten für Bedürftige. Der Dienstagnachmittag ist für Frauen reserviert. Dann gibt es Essen von der Schweizer Tafel, Kaffee, einen Schrank mit Kleidern, Hilfe bei administrativen oder juristischen Fragen oder einfach ein Sofa, um sich von den Strapazen auf der Gasse zu erholen. Durchschnittlich kommen rund 18 Besucherinnen vorbei, schätzt Kläsi. Jeden zweiten Dienstag produzieren sie zudem das Magazin Mascara, in dem die Betroffenen über ihre Erfahrungen auf der Gasse schreiben. Der Frauendienstag der Kirchlichen Gassenarbeit in Bern ist eines der wenigen Angebote in der Deutschschweiz, das sich speziell an Frauen auf der Gasse richtet – und damit nicht ausschliesslich Sexarbeiterinnen meint. Die wachsende Besucherinnenzahl im letzten Jahr sowie die Besucherinnen selber bestätigen den Bedarf. «Die Stimmung ist angenehmer als an den gemischten Besuchstagen. Weniger Chaos, weniger Lärm», sagt Maria, die das Angebot wöchentlich nutzt. Maria hat viel Erfahrung auf der Gasse, sie kennt die Orte in und um Bern, an denen es Kleidung und Essen gibt, sie sich waschen oder mit Hausarbeiten etwas dazuverdienen kann, wo sie Ruhe findet oder andere Leute trifft. Zum Schlafen aber geht sie lieber wieder an ihren Platz im Wald. Bei Übernachtungsmöglichkeiten für Menschen in Not ist Bern nicht gerade ein Vorzeigebeispiel. Notschlafstellen bieten einzig das Passantenheim der Heilsarmee und der Verein Sleeper; letzterer finanziert sich mit den Einnahmen der darunterliegenden Bar Dead-End. Die Stadt selbst betreibt kein niederschwelliges Angebot. «Katastrophal», findet das Barbara Kläsi. Im Passantenheim sind zwölf, im Sleeper gerade einmal sechs Betten für Frauen reserviert. Im Sleeper sind die sanitären Einrichtungen nicht nach Geschlechtern getrennt. Immerhin heisst es dort auf Nachfrage, das Personal würde kontrollieren, dass «kein Mann auch nur einen Fuss über die Schwelle des Frauenzimmers setzt». Das knappe Angebot für Frauen, wie in Bern, wird meist mit fehlender Nachfrage begründet. Denn Frauen sind nicht nur versteckter, sondern tatsächlich auch weniger von Obdachlosigkeit betroffen als Männer. Konkrete Zahlen gibt es keine, das Bundesamt für Statistik (BFS) führt keine Daten zur Wohnungslosigkeit. Laut Einschätzungen von Mitarbeitenden sozialer Institutionen in den Städten Basel, Bern und Zürich machen Frauen rund ein Drittel der Personen aus, die ihre Anlaufstellen aufsuchen. Auf der Gasse seien es meist etwas weniger. Warum das so ist? Alle vermuten dieselben Ursachen: Frauen holen sich früher Hilfe als Männer, sind offener für professionelle Unterstützung und haben dadurch die Situation 23


meist länger im Griff. Ausserdem sind sie in der Regel besser vernetzt, während Männer nach einer Trennung nicht selten alleine dastünden. «Frauen wehren sich oft bis zuletzt gegen ein Leben auf der Gasse», beschreibt es Manuela Jeker, Co-Geschäftsleiterin des Vereins für Gassenarbeit Schwarzer Peter in Basel. Sie kennt nur wenige Frauen, die sich über längere Zeit alleine auf der Gasse durchschlagen. «Die meisten schlüpfen irgendwo unter», so Jeker. Manchmal bei Freundinnen, oft bei einem Mann. Das könne ein Partner sein, ein Kumpel oder - bei Frauen, die anschaffen gehen - ein Freier. Frauen, die am Rand der Gesellschaft leben, hätten ein besonderes Bedürfnis nach Sicherheit. Viele glauben, diese bei einem Mann zu finden. «Das ist leider oft ein Trugschluss. Wir haben es sehr häufig mit Gewalt in Beziehungen zu tun», so Jeker. Separate Räume für Frauen auf der Gasse könnten da Abhilfe schaffen. Laut Jekers Erfahrung sei das jedoch gar nicht so einfach. Auch der Schwarze Peter hatte einst einen Frauennachmittag lan-

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«Von den Frauen, die wir draussen aufsuchen, haben 80 Prozent eine Suchtthematik.» MANUEL A JEKER, GASSENARBEITERIN

ciert, diesen aber nach zwei Jahren wieder eingestellt. «Die Stimmung unter den Frauen war angespannt und das Konfliktpotenzial zu hoch», erzählt Jeker. Auch Sonja Tena, Gassenarbeiterin bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber in Zürich, erlebt viel Misstrauen unter den Frauen auf der Gasse. «Von den Frauen, die wir draussen aufsuchen, haben 80 Prozent eine Suchtthematik», so Tena. «Geniessen, abschalten und zur Ruhe kommen gehört meistens nicht zu ihren Prioritäten.» Drogen sind heute wie früher allgegenwärtig auf der Gasse. Ein neueres Phänomen, das den Gassenarbeiterinnen Sorgen macht, ist die wachsende Zahl psychisch Erkrankter unter den Obdachlosen. Das betrifft zwar auch die Männer, bei den Frauen zeigt es sich jedoch verschärft: Von den Frauen, die tatsächlich auf der Gasse lebten, hätten so gut wie alle eine psychische Erkrankung, heisst es unisono von den Fachleuten. Mangel an geschultem Personal Eine Ursache für diese Entwicklung ist das 2013 eingeführte neue Erwachsenenschutzrecht, das auf ambulante Behandlungen in den Psychiatrien setze. Was grundsätzlich positiv sei, sagt Gassenarbeiterin Jeker vom Schwarzen Peter, schliesslich seien «Zwangseinweisungen ja keine Lösung». Allerdings landeten die Leute danach direkt wieder auf der Gasse – und somit als Erstes bei den niederschwelligen Anlaufstellen, denen es an entsprechend ausgebildetem Personal fehle. Fest steht für Manuela Jeker: «Es braucht dringend psychiatrische Fachpersonen, die aufsuchend und niederschwellig tätig sind.» Dieser Meinung ist auch Elfie Walter, Leiterin der Basler Frauenoase. Entstanden 1994 als Anlaufstelle für Sexarbeiterinnen, ist sie heute ein Schutzraum für alle Frauen, die aus irgendeinem Grund durch das Netz gefallen sind. «Die meisten kommen als Erstes mit ihrer Wäsche zu uns», erzählt Walter. Neben Waschmaschinen gibt es für

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Kein reines Dach über dem Kopf: In der Basler Frauennotschlafstelle sind an mindestens fünf Abenden auch Sozialarbeiterinnen vor Ort.

die Besucherinnen dort Kleider, saubere Spritzen, Kondome, einen Fernseher oder einfach Raum, um in Ruhe einen Kaffee zu trinken. In der Deutschschweiz gibt es derzeit kein vergleichbares Angebot für Frauen auf der Gasse, weitere Anlaufstellen gibt es nur für Sexarbeiterinnen. Aktuell kommen täglich rund 19 Besucherinnen in die Frauenoase, Tendenz steigend. Darunter auch viele mit psychischen Erkrankungen. «Es braucht jetzt neue Angebote, um die Betroffenen aufzufangen», sagt Leiterin Walter. Die Frauenoase könne zwar bisher gut damit umgehen, solle aber kein therapeutisches Angebot werden. «Die Frauen kommen auch zu uns, weil sie hier in Ruhe gelassen werden», so Walter. Etwas Abhilfe schaffen könnte die neue Notschlafstelle für Frauen in Basel, die Anfang September 2018 ihre Türen öffnete. 850 000 Franken hat der Grosse Rat für das zweijährige Pilotprojekt bewilligt. Die Trennung der Geschlechter solle einen sicheren Rückzugsort ermöglichen und damit für Frauen die Hemmschwelle senken, das Angebot in Anspruch zu nehmen, schreibt der Regierungsrat im Antrag. In der neuen Einrichtung an der Rosentalstrasse 70 gibt es einerseits mehr Platz und Privatsphäre: Insgesamt stehen den Frauen 28 Betten zur Verfügung, die sich auf Zweibett-Zimmer mit privater Dusche und WC aufteilen. Andererseits wurde auch das Betreuungsangebot ausgebaut: Zusätzlich zu den Nachtwachen sind neu an mindestens fünf Abenden pro Woche Sozialarbeiterinnen der Frauenoase anwesend. Neben der Notschlafstelle gibt es vier «Übungszimmer», in denen für einzelne Frauen abgeklärt werden kann, ob sie bereit sind, wieder eine eigene Wohnung zu beziehen. Manuela Jeker vom Verein Schwarzer Peter begrüsst das Angebot. «Mehr Platz kann helfen, Konflikten vorzubeugen.» Elfie Walter von der Frauenoase sagt: «Gewisse Dinge muss man einfach ausprobieren.» Sie vermutet ausserdem, dass nicht jede Frau auf das Angebot eingehen wird. «Ich kenne auch solche, die sich bereits so sehr an die Obdachlosigkeit gewöhnt haben, dass sie es gar nicht mehr aushalten würden in einer Wohnung.» So wie Maria aus Bern. Sie hat sich gut eingerichtet in ihrem Waldstück. Das Wasser holt sie von einem nahen Brunnen, waschen tut sie sich in einer Anlaufstelle oder am Fluss. Wenn sie auf ihrer Tour durch die Essensausgaben oder beim Containern in der Stadt etwas Gemüse findet, kocht sie einen Eintopf über dem Feuer. Nur jetzt, wenn die Nächte länger und kälter werden, tauchen auch bei Maria Sorgen auf. Ob sie den Winter gut überstehen wird? «Mein Gefühl sagt mir, es wird viel Schnee geben.» Ansonsten mache sie sich wenig Gedanken über die Zukunft, aber: «Ein Leben in vier Wänden kann ich mir nicht mehr vorstellen.» Surprise 434/18

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Veranstaltungen Zug «Komödie des Daseins – Kunst und Humor von der Antike bis heute», Ausstellung, So, 23. September bis So, 6. Januar 2019, Di bis Fr 12 bis 18 Uhr, Sa und So 10 bis 17 Uhr, Kunsthaus Zug, Dorfstrasse 27. www.kunsthauszug.ch

Spätestens seit Charlie Hebdo hat die alte Frage nach Humor in der Demokratie neue Relevanz. Das Kunsthaus Zug nimmt uns mit auf eine Forschungsreise, von der Antike über Mittelalter und Reformation bis ins Heute. Thema ist die Beziehung zwischen Kunst und Humor. Heikle Themen wie Geschlechterbeziehungen und der Tod werden verhandelt, wobei der Humor als Ventil dient. Die Ausstellung geht von Nietzsche aus, der das Leben als Komödie des Daseins beschreibt. Freie Geister müssten lachen können. Auch über sich selbst. DIF INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Basel «Museum of Lungs», Premiere Di, 25. Sept., 19 Uhr, Do, 27. September, 21 Uhr und Fr, 28. September, 19 Uhr, Kaserne Basel, Englisch mit deutscher Übertitelung, ab 16 Jahren. kaserne-basel.ch Acht Jahre lang lebte die Performerin Stacy Hardy mit einer unheimlichen Krankheit, bis ihr die Diagnose Tuberkulose gestellt wurde. In «Museum of Lungs» stellt Hardy ihre persönliche Geschichte in den gesellschaftlichen Kontext Südafrikas, verwebt ihr Tagebuch mit historischem Archivmaterial. Tuberkulose gilt in Südafrika noch immer als «schwarze» Krankheit. Die Performance thematisiert den Körper in Bezug auf Rasse und Geschlecht und die Gewalt des politischen Systems. DIF Aarau «Surrealismus Schweiz», Ausstellung, bis Di, 2. Januar 2019, Di bis So 10 bis 17 Uhr, So 10 bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Wir kennen Meret Oppenheims Pelztasse und Alberto Giacomettis beklemmende Objekte und Käfige. Aber ergibt das tatsächlich bereits einen «Schweizer Surrealismus»? Das Aargauer Kunsthaus findet: Ja. Und trägt die Werke von rund 60 Künstlerinnen und Künstlern zusammen. Im Zentrum stehen die Teilnahme von Schweizer Kunstschaffenden an der 1924 begründeten surrealistischen Bewegung in Paris und die Bedeutung dieser künstlerischen Haltung im konservativen kulturellen Klima der Schweiz der Dreissiger- bis Fünfzigerjahre. DIF

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: 12-551455-3 | IBAN CH11 1 0900 0000 1255 1455 3 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 PC 09.05.17 15:43 Seite

Erlebnis


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 17

Thorsten Was bisher geschah: Kriminalpolizistin Vera Brandstetter wendet auf der Suche nach dem Mörder eines Ingenieurs Gewalt an, um sich Zugang zu einer illegalen Spielrunde in Hinterzimmer eines lokalen Bordells zu verschaffen. Der Schlag auf die Nase des Rockers erweist sich als Schlag ins Wasser, ermittlungstechnisch. Es war Thorsten, der Brandstetter anrief. «Ich bin früher mit der Arbeit fertig», sagte er. «Wo bist du?» «Auf einem Parkplatz.» Thorsten lachte. «Musst du gerettet werden?» «Nein. Diesmal nicht.» Vera hatte ihn auf einem Parkplatz kennengelernt. Das Internet-Date, mit dem sie essen gegangen war, hatte sie dort stehenlassen, weil sie nicht mit ihm «auf einen Schlummi» kommen wollte. Innert weniger Minuten war sie vom zauberhaften Wesen mit den schönsten Augen zur verklemmten, undankbaren Trulla degradiert worden. Der Typ konnte es einfach nicht fassen, dass sie sich nicht in ihn verliebt hatte oder zumindest so beeindruckt von ihm war, dass sie mit ihm ins Bett gehen wollte. So wurde aus dem Türaufhalten-Blumenmitbringen-Indenmantelhelfen-Gentleman in Nullkommanichts ein fieser kleiner Kerl, der Gift und Galle spuckte. Just in dem Moment, in dem Brandstetter innerlich mit der Männerwelt abgeschlossen hatte, tauchte Thorsten neben ihr auf. Er arbeitete als Koch in dem Lokal am Stadtrand und hatte die Tirade mitbekommen. «Alles okay?», fragte er. «Ja – oder nein, eigentlich nicht.» «Du siehst aus, als könntest du einen Schnaps vertragen.» «Das siehst du vollkommen korrekt.» Das Lokal hatte sich geleert, nur noch das Personal sass an der Bar. Er offerierte ihr einen Williams, sie unterhielten sich, sie trank noch zwei weitere Schnäpse und klagte ihm ihr Leid. Er selber trank nur einen mit und fuhr sie danach mit dem Auto nach Hause, obwohl sie in der entgegengesetzten Richtung wohnte. Er machte keine Anstalten, sich selber in ihre Wohnung einzuladen, sondern gab ihr seine Telefonnummer und sagte, dass er sich freuen würde, sie wiederzusehen. Sie liess sich drei Wochen Zeit, ehe sie die Nummer wählte und mit ihm essen ging. «Willst du mich nicht küssen?», fragte Vera, als sie nach dem dritten Date Surprise 434/18

unschlüssig vor ihrem Haus herumstanden. «Eigentlich schon», sagte er. «Warum tust du es dann nicht?« «Ich kann mir einfach nicht vorstellen, bei einer Frau wie dir eine Chance zu haben. Du bist doch in einer ganz anderen Liga.» Sie musste lachen, küsste ihn und nahm ihn mit in ihre Wohnung. Seither waren sie zusammen. Thorsten war drei Jahre jünger, hatte schüttere rote Locken und war leicht übergewichtig. Dass er ausschliesslich abgedrehten Metal hörte, wusste sie damals noch nicht. Dass er in der Stadt wohnte, wusste sie hingegen, und wenn sie ehrlich war, hatte das bei ihrer Entscheidung, ihn zu küssen, eine winzig kleine Rolle gespielt. Wenn sie sich sahen, dann meist in seiner Wohnung, sodass sie das Gefühl haben konnte, in der Stadt zu wohnen, die ihr so fehlte. Weil sie Mitte dreissig war, war es unvermeidlich, dass sie bald über Kinder sprachen. Genauer gesagt darüber, dass sie keine wollte. «Ich auch nicht», hatte er geantwortet. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Immer wieder musste sie sich rechtfertigen und hören, dass sie einen bitteren Preis zahlen müsse, wenn sie ihrer natürlichen Bestimmung zur Fortpflanzung nicht nachkäme. Die meisten ihrer Freundinnen hatten irgendwann einen Mann mit Bart und bald darauf drei Kinder. Vera war mit drei Geschwistern aufgewachsen und mochte Kinder. Dass sie bei der Arbeit sah, wie es in Familien zugehen konnte, wenn der Lack ab war vom Idyll, hatte auch nichts mit ihrer Entscheidung zu tun. Sie hatte schon immer gewusst, dass sie keine Kinder wollte. Nur hatte ihr das niemand geglaubt. Bis auf Thorsten, den sie allein dafür liebte. Dass er überzeugt war, mit ihr den Fang seines Lebens gemacht zu haben, schmeichelte ihr. Bei Renato hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass er am Vergleichen sei. Gab es nicht noch eine Passendere, Schönere, Schärfere oder bei Bedarf Verständnisvollere, Mütterlichere, Häuslichere? Thorsten hielt sie für perfekt, was wahrscheinlich auch daran lag, dass sie sich nicht so oft sahen und nicht zusammenwohnten. Hätte er eine grössere Wohnung gehabt, wäre sie sofort zu ihm gezogen. Und wenn es nicht gegangen wäre, hätte sie ihn rausgeschmissen.

STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi

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0. AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Hervorragend AG, Bern

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Praxis Colibri, Murten

03

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

04

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

05

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

06

Anyweb AG, Zürich

07

Leadership LP3 AG, Biel

08

Echtzeit Verlag, Basel

09

Maya-Recordings, Oberstammheim

10

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

11

Scherrer & Partner GmbH, Basel

12

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

13

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

14

Lotte’s Fussstube, Winterthur

15

Cantienica AG, Zürich

16

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

17

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Coop Genossenschaft, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

23

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Bern

#432: Von einem, der auswandern will

«Verständnis fördern» Roger, Franziska, André und Hanspeter haben uns auf offene, natürliche und humorvolle Art ihre Lebensgeschichte nähergebracht. Für uns als medizinische Notfallpraxis war es sehr spannend, einmal all die Orte zu sehen, von denen uns unsere Patienten oft erzählen. Wir haben nach den Führungen noch lange zusammengesessen und darüber diskutiert. Wir sind uns einig, dass diese Führungen eine super Sache sind und das Verständnis für Menschen fördern, welche es nicht immer leicht haben im Leben.

«Unseriös und enttäuschend» Im zweiten Teil der Serie über Surprise-Verkäufer Urs Saurer steht: « ... in Sigriswil wohnt man zu weit ab von allem, man braucht ein eigenes Auto oder ist immer angewiesen auf andere. Kein Laden im Dorf, kein Arzt, keine Arbeit.» Ich lebe ohne Auto in Sigriswil und finde, diese Aussagen dürfen nicht unwidersprochen bleiben. Es gibt in Sigriswil mehr Geschäfte des täglichen Bedarfs als in manchem Stadtquartier. Es hat zudem eine Post, eine Bank, Restaurants sowie einen Arzt. Ich verstehe, dass jemand, der vielleicht keine gute Kindheit hatte, seinen Herkunftsort nur negativ sieht. Dies aber unbesehen zu übernehmen, ist unseriös und enttäuschend. E. WINIGER, Sigriswil

#432: Ruha, Raquel und Lafortune

Stadtrundgang Zürich

«Gefälschte Pässe?»

«Am anderen Ende»

Erfolgsgeschichten, wie Flüchtlinge sich mit gefälschten Pässen nach Schweden durchschlagen? Warum Schweden und nicht Ungarn? Wieso verkauft mir Ihr mehr als herzlicher Verkäufer im Spälemart Ihr Magazin, wenn es doch so einfach mit gefälschten Pässen weiter nach Schweden geht?

Wir möchten uns herzlich für die alternative Führung durch Zürich bedanken. Einblicke, die man sonst nicht kriegt als unbeteiligter Bürger. Der Rundgang war sehr gut aufgebaut. Ein herzlicher Dank geht an Hans, der uns einen sehr persönlichen Einblick in sein Leben gegeben hat sowie spannend und interessant über das Leben am andern Ende der sozialen Struktur berichten konnte.

A . ABR AHAM, Basel

R. CUL AT TI, Gemeinderat Steinerberg

B. ISCHI, City Notfall AG und LocalmedGruppe, Bern

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Amir Ali (ami), Georg Gindely (gg) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Angelika Annen, Flavia Schaub, Lisa Schweizer, Samanta Siegfried, Isabel Mosimann, Ruben Hollinger Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 27400 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Die Menschlichkeit gibt mir viel Kra!» «Beim Familiennamen ‹Weiss› vermuten die wenigsten Leute, dass ich aus Serbien komme. Und doch ist es so. Mein verstorbener Mann stammt aus einer deutschen Sinti-Familie, die sich während der Nazizeit im damaligen Jugoslawien in Sicherheit brachte. Mein Mann und ich wuchsen beide in derselben Region auf, nicht weit entfernt von Belgrad, und heirateten, als ich 17 und er 19 Jahre alt war. Am Anfang lebten wir mit unseren zwei Söhnen einige Jahre in Ex-Jugoslawien, zogen dann aber – in der umgekehrten Richtung wie die Grosseltern meines Mannes – wegen des Krieges nach Deutschland, wo schliesslich noch unsere Tochter zur Welt kam. Nachdem sich die Situation auf dem Balkan beruhigt hatte, wollten wir eigentlich in unsere Heimat zurückkehren. Doch das Ende des Krieges bedeutete in Serbien auch das Ende der Rechte und Akzeptanz von Sinti und Roma. Dieses Leben wollten wir uns und unseren Kindern nicht antun, deshalb verliessen wir unsere Heimat erneut und beantragten im Jahr 2000 in der Schweiz Asyl. Im bernischen Laupen fanden wir ein neues Zuhause, wo wir wieder ein normales, ruhiges und friedliches Leben führen konnten. Doch die Ruhe hielt nicht sehr lange – 2006 ereilte uns ein heftiger Schicksalsschlag: Mein Mann starb unerwartet mit 41 an einem Herzinfarkt. Er war mit unserem ältesten Sohn im Auto unterwegs und kippte von einer Sekunde auf die andere gegen den am Steuer sitzenden Sohn. Sein plötzlicher Tod hat mich und meine Kinder komplett aus der Bahn geworfen. Ich kann bis heute nicht glauben, dass das wirklich passiert ist. Vor zehn Jahren traf dann mich der Schlag – in Form eines Hirnschlags. Ich konnte danach eine Weile nicht mehr sprechen und nicht laufen, sass einige Zeit im Rollstuhl. Obwohl es danach dank Therapien stetig aufwärts ging, bin ich bis heute gesundheitlich angeschlagen. Dass ich vor ein paar Monaten mit dem Verkauf von Surprise angefangen habe, ist daher ein Erfolg für mich. Ich habe mich überwunden, etwas Neues anzupacken und aus dem Haus und unter die Leute zu gehen. Lange stehen und Hefte verkaufen kann ich zwar nicht, aber ein bis zwei Stunden schaffe ich schon. Danach schmerzen der Rücken und die Beine zu stark. Dann gehe ich wieder nach Hause. Ans Aufhören denke ich aber nicht: Ich schätze den Kontakt mit den Kunden beim Heftverkauf sehr. Die Menschlichkeit, die ich spüre, wenn sich die Leute 30

Anda Weiss (50) verkauft seit Kurzem Surprise in Langenthal und schätzt den Kontakt zu den Menschen, die ihr begegnen.

Zeit nehmen für ein Gespräch und mich fragen, wie es mir geht, gibt mir sehr viel Kraft. Ausserdem helfen mir die Einnahmen aus dem Heftverkauf beim Begleichen meiner Schulden. Ich erhalte seit dem Tod meines Mannes für mich und meine Tochter eine Hinterbliebenenrente und dazu Ergänzungsleistungen. Als die Tochter heiratete und auszog, bekam ich von einem Monat auf den anderen weniger Geld, wohnte aber noch in der für mich allein zu teuren Wohnung. Ich habe damals das System zu spät verstanden. Bis ich eine günstigere Wohnung gefunden hatte, waren die Schulden schon da. Die finanziellen Sorgen belasten mich. Aber die Schulden und dazu meine angeschlagene Gesundheit sind nur ein Teil meiner Last. Der andere bedrückende Teil ist mein Aufenthaltsstatus. Seit der Ankunft in der Schweiz vor 18 Jahren lebe ich mit einer Aufenthaltsbewilligung F für vorläufig aufgenommene Ausländer. Das heisst, ich lebe Tag für Tag in der Angst, irgendwann doch noch ausgeschafft zu werden. Aber wohin? In ein Land, das ich vor mehr als 18 Jahren verlassen und nie mehr betreten habe und das Sinti und Roma gar nicht haben will?» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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Strassenmagazin Nr. 434 21. Sep. bis 4. Okt. 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Frauenarmutstouren

Expertin Die Basler SurpriseStadtführerin Lilian Senn weiss, wovon sie redet Seite 8 Surprise 000/18

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Strassenmagazin Nr. 434 21. Sep. bis 4. Okt. 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Frauenarmutstouren

Expertin Die Zürcher SurpriseStadtführerin Sandra Brühlmann weiss, wovon sie redet Seite 8 Surprise 000/18

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